Der Winter ist ein anderes Land - Gabriel Gafita - E-Book

Der Winter ist ein anderes Land E-Book

Gabriel Gafita

4,4

Beschreibung

Die Hochschuldozentin Ana und der Journalist Filip sind seit einem Jahr glücklich verheiratet, als sie das gleiche Berufsschicksal trifft: Beide werden wegen Rationalisierungsmaßnahmen aus ihren Dienststellen entlassen. Ohne feste Anstellung fristet Filip sein Dasein mit Gelegenheitsarbeiten, zu einem permanenten Provisorium verurteilt und zusätzlich belastet durch die Sorge um seine Frau Ana, die nach dem Abbruch ihrer wissenschaftlichen Karriere und einem Selbstmordversuch in einem Nervensanatorium Heilung sucht. Der Autor konfrontiert seine beiden Haupthelden mit einer Reihe von Ereignissen und Personen, die es ihm ermöglichen, Mentalitäten und Haltungen, menschliche und soziale Unzulänglichkeiten darzustellen und die Frage nach der Verantwortung des schöpferisch tätigen Intellektuellen im Sozialismus auszuloten. Der im sozialistischen Rumänien spielende Roman von 1979 wendet sich mit scharfer Kritik gegen Autoritätsmissbrauch, Karrierismus, Korruption, Diktatur und Engstirnigkeit in vielen Bereichen.

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Impressum

Gabriel Gafita

Der Winter ist ein anderes Land

ISBN 978-3-86394-959-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1983 beim Verlag Volk und Welt, Berlin.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Holda Schiller

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Ging dies zuende ertrüge ich das Fernsein in der Nacht, Hände, erreichbar nicht durch andre Hände, Name, genannt, doch als mein Name nicht, Bildnis, erkannt, doch nie mit klarer Sicht. Ich könnte alles dies ertragen, verging der Herbst und käm das kalte Licht.

Archibald MacLeish Der Winter ist ein anderes Land

1. Kapitel

„Du wirst krepieren, Filip, du wirst elend krepieren, und kein Mensch wird etwas über dich erfahren."

Filip lächelt. Ständig fühlt Tapornea sich bemüßigt, an seine Vernunft zu appellieren, denn er ist überzeugt, dass diese dem jüngeren Freund völlig abgeht.

Seit fast zwei Jahren schon stellt Filip immer wieder fest, dass man nicht so leicht krepiert und schon gar nicht leicht elend krepiert, wie Tapornea behauptet. Es ist vielmehr beinahe erquickend, gewahr zu werden - das hat er mit Bestürzung an sich selbst erfahren -, wie jede weitere Niederlage stets eine Stufe abwärts führte und wie jede weitere Ablehnung, wurde sie ihm nun entschieden oder mehr oder minder verbrämt zur Kenntnis gebracht, ihn, und das schien ihm die Höhe zu sein, von Herzen erfreuen konnte und er einen Aufschub oder eine Hinhaltetaktik dort, wo er keine direkte Absage erhielt, jedes Mal als große Erleichterung empfand.

Manchmal kleidete er sich morgens korrekt, band die Krawatte um und zog das Jackett an. War er jedoch weniger konformistisch gestimmt, dann stieg er in die kratzige Hose und machte sich auf den Bettelweg durch die Büros. Er fing an, jenes Talent, das dem Bewerber wohl ansteht, ihn aber anfangs so sehr verdross, mit beharrlichem Eifer zu pflegen, besonders dann, wenn er ruhig und heiter, zuweilen bis zu einer Stunde lang in irgendeinem Vorzimmer wartete, um sich in weniger als einer Minute auf die eleganteste Art aus dem Arbeitszimmer des Chefs wieder hinausexpediert zu sehen. Er stieß jedoch überall auf Sympathie und Mitgefühl, seine Gesprächspartner streckten ihm oft beide Hände entgegen, drückten die seinen und sprachen ihm, in den meisten Fällen nachträglich, ihr Beileid aus. Die überschwänglicheren umarmten ihn stumm, waren erschüttert, beschworen mit wenigen, außerordentlich gefühlvollen Worten das lichte Antlitz des toten Vaters herauf, erinnerten sich daran, wie sie ihn noch am Unglückstag oder am Tag davor gesehen und was sie zu ihm gesagt hatten, an seine Antworten und an die Versprechungen, daran, wie er gekleidet gewesen war - er hatte den allen bekannten grauen Prince-de-Galles-Anzug getragen -, daran, wie er noch so voller Lebenskraft und was er überhaupt für ein Mensch gewesen war. Mein Gott, wenn man daran dachte, wie absurd das Schicksal zuweilen sein konnte! Durfte ein so wertvoller Mensch wie er einfach sterben! Warum musste er ausgerechnet zu jener Zeit an jenem Ort sein? Es war erschütternd, geradezu erschütternd! Und die Mutter, was hat sie dazu gesagt? Hat sie sich vom ersten Schock erholt? Wie? Sie sind beide tot? Aber das ist ja fürchterlich, was Filip da gesagt hat! Sie sind also beide umgekommen, o Gott, o Gott! Das Gerücht, sie seien zusammen gewesen, trifft also zu. Es ist unglaublich. Und was für eine fröhliche und energische Frau die Mutter doch gewesen ist, auch sie voller Lebenskraft. Keiner hätte sich je vorstellen können, dass sie den Vater überlebte oder der Vater sie, so innig waren diese beiden Menschen miteinander verbunden. Was für ein Unglück! Was für ein Unglück! Und das Auto? Konnte vom Auto noch etwas gerettet werden?

An dieser Stelle gönnte Filips Gesprächspartner seinen Gesichtszügen meistens ein wenig Lockerung, nachdem er bis dahin, überwältigt und in äußerster Spannung, die Schicksalsschläge vernommen hatte. Nach und nach beruhigte er sich wieder und sagte: „Ich kann mir denken, dass es sehr schwer für Sie gewesen ist."

Dabei bekamen die Wangen wieder Farbe, und die Kiefer bewegten sich freundschaftlich mummelnd, als kaue er etwas. Das Auto war neben dem Vater und der Mutter in die Ewigkeit eingegangen, zutiefst betrauert, weil es verbrannte. Die Schmerzerfüllten hätten es ihm niemals verziehen, wenn es heil geblieben wäre, davon war Filip überzeugt.

War das Thema über den Tod der Eltern abgehandelt, pflegte der Mitteilungsdrang der Gesprächspartner meistens erschöpft zu sein, und sie blickten mit einem Ausdruck auf die Uhr, als seien sie verzweifelt darüber, sie noch am Arm zu sehen. Natürlich, helfen könnten sie ihm jetzt nicht, es sei sehr schwierig und der Augenblick außerordentlich ungünstig für eine Einstellung. All die Veränderungen in den Normen, an denen man arbeite, deshalb müsse er Geduld üben, ein wenig Zeit vergehen lassen, denn Versprechungen, leere Worte, das sei sehr einfach, aber es habe ja keinen Sinn, Illusionen zu nähren. Was er, Filip, jetzt brauche, das seien keine falschen Hoffnungen, sondern Gewissheiten, und Kraft brauche er, viel Kraft, um weiterzuleben und um das so außerordentlich großmütige Werk seines Vaters weiterzuführen, der ein Menschenleben lang ihr Kollege gewesen sei, ja, und um zu arbeiten, vor allem aber, um weiter zu schreiben, damit den Verunglückten dort, wo sie weilten, wenigstens dieser Seelenfrieden beschieden sei, die Gewissheit, dass ihr Sohn ihnen Ehre mache ...

Filips Augen begannen jedes Mal ein wenig feucht zu werden. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Er konnte gehen. Und nun kommt Tapornea und erzählt ihm, er werde krepieren. Weshalb? Wegen der höflich in Bedauern und Ansporn gekleideten Absagen? Seien wir doch vernünftig! Aber das ist es ja gerade, was Tapornea von ihm verlangt. Er soll vernünftig sein. Doch Filip kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er seinen ehemaligen Chef anhört, der ihn am frühen Morgen, noch vor dem Aufstehen, anruft und an seine Vernunft appelliert.

„Ja, noch vor dem Aufstehen", sagt Tapornea, sich verteidigend, „zu einer anderen Zeit bist du ja nicht zu erreichen, oder du geruhst nicht, an den Apparat zu gehen. Jetzt bin ich wenigstens sicher, dich aus dem Bett gescheucht zu haben."

„Aber ich will nicht ..."

Nein, Filip hat keine Lust, zur Zeitschrift zurückzukehren. Die frei gewordene Stelle interessiert ihn nicht. Seinetwegen können hundert Stellen frei geworden sein. Er zieht es vor, weiterhin jeden Morgen von Neuem mit dem vergeblichen Herumlaufen nach Arbeit zu beginnen und mittags, spät schon, erschöpft und verschwitzt, doch beinahe erleichtert nach so vielen Misserfolgen, die jeder Neuheit entbehren, wieder heimzukehren.

„Glaubst du, es weiß jemand etwas davon, dass du zwischen deinen vier Wänden sitzt und den Noblen spielst?"

Filip streckt die Hand nach der Uhr aus, die vergessen auf dem Tisch liegt. Es ist kurz vor sieben.

„Rufen Sie von zu Hause an oder aus der Redaktion."

„Von zu Hause, aber glaub ja nicht ..."

Filip schweigt und lauscht, und Tapornea setzt sein Schwatzen in den Apparat hinein fort. Jetzt bringt er sogar Argumente an, eins, ein zweites, ein drittes. Wahrscheinlich wird es heute wieder sehr heiß werden, denkt Filip. Der Morgen ist angenehm kühl, lässt aber einen heißen Nachmittag ahnen. So ist es immer. Wenn es morgens etwas frischer ist, hängt dir mittags vor Hitze die Zunge heraus.

„Ja natürlich ... ich verstehe das ... selbstverständlich ..."

Filip beginnt langsam klarer zu denken. Als das Telefon zu klingeln angefangen hatte, war er verwirrt aus dem Bett gesprungen, ins Nebenzimmer gelaufen, hatte einen Stuhl umgestoßen und den Hörer abgenommen, das alles mehr oder minder automatisch zwischen zwei Tang anhaltenden schrillen Klingelzeichen des Fernsprechers. Er hatte gerade wieder von ihnen geträumt, wie sie diskutierten und der Disput sich in eine abschnittsweise Rekapitulation früher geführter Gespräche mit irgendwelchen Typen verwandelte, zu denen er gegangen war, um eine Arbeitsstelle zu bekommen, die ihn aber abgewiesen hatten, und plötzlich vernahm er Taporneas pathetische Stimme am Telefon: „Du wirst krepieren, Filip, du wirst elend krepieren", und so weiter.

„Nein, Vater Tapornea, ich kann nicht mehr zur Zeitschrift zurückkehren, das müssen Sie einsehen."

„Ich sehe es ja ein, aber ebenso musst du einsehen, dass du keine andere Wahl hast. Also ist es ...

„Auch wenn ich keine andere Wahl habe, ich komme trotzdem nicht. Ich werde Sie besuchen, das ist alles, Ihnen zuliebe dort einkehren, weil Sie immer freundlich zu mir sind und an mich denken."

„Dann tut es mir leid, dich gestört zu haben."

„Sie haben mich nicht gestört. Ich war schon wach."

„Was du nicht sagst!"

Filip bedauert es, Tapornea eine Absage geben zu müssen, doch es scheint ihm auch wiederum nicht gerade die übelste Tat von der Welt zu sein, deshalb macht er sich keine allzu schweren Selbstvorwürfe. Er weiß, Tapornea versteht ihn, verurteilt ihn nicht, im Gegenteil, er bewundert ihn im Stillen. Der arme Vater Gigi würde es niemals fertigbringen, auch nur mehr als fünf Minuten eingeschnappt zu sein. Kam es dennoch mal vor, quälte er sich einen Monat lang, um es wiedergutzumachen, und dabei ist er nicht einmal mehr im Alter überschwänglicher Mutsbezeugungen.

„Stell dir vor", beginnt er von Neuem und bringt einen absurden Vergleich an. „Stell dir vor, ich, ein Mann, der schon Enkelkinder hat, stritte mich mit aller Welt wegen meiner Prinzipien herum."

Filip spürt, wie Vater Gigi sich im Stillen freut, dass er, der Jüngere, nicht auf ihn hört, nicht dorthin zurückgeht, wo man ihn hinausgeworfen hat, und wie er ihn bewundernd beneidet, weil er es ihm nicht mehr nachtun kann. Er erfüllt jedoch korrekt seine Pflicht, Filip zurückzuholen, ihn aus seiner Lethargie und Inaktivität zu reißen, worin er schon länger als ein Jahr, seit Anas Aufenthalt in der Nervenheilstätte, verharrt.

Filip findet es unpassend, sich jetzt Anas zu erinnern, an sie wird er wohl oder übel später denken müssen. Die Uhr zeigt inzwischen sieben Uhr und zehn Minuten.

„Dann auf Wiedersehen, und es tut mir leid."

„Auf Wiedersehen, mir auch."

Obwohl es Filip um Tapornea ehrlich leid tut, lässt ihn das mit ihm geführte Gespräch kalt. Er würde ihm gerne erklären, dass alles, was ihm widerfahren ist, von seinem Standpunkt aus überhaupt keine Bedeutung hat, es ihm völlig gleich ist, ob er am Ersten oder am Fünfzehnten des Monats oder am Ersten des nächsten Monats Arbeit bekommt, denn er hat gelernt, das Gute wie das Schlechte anzunehmen. Zum Guten gehören die Vertretungen, die ihm das zuständige Schulinspektorat vermittelt, wenn eine Lehrerin erkrankt ist, Schwangerschaftsurlaub hat oder ins Ausland reist. Dann besetzt er die Stelle zwei Wochen, einen Monat oder ein Trimester lang, je nachdem, bis sie ihren Unterricht wieder aufnimmt, sich herzlich bei ihm bedankt und der Hoffnung Ausdruck gibt, die Schüler mögen ihn während ihrer Abwesenheit nicht allzu sehr geärgert haben. Dann immer wieder das gleiche: gelegentliche Betreuung einer Reisegruppe, die zur Besichtigung der Stadt nach Bukarest kommt, mal eine Sendung im Rundfunk oder für irgendjemand eine Übersetzung übernehmen. Er würde Tapornea gerne sagen, dass seine Wiedereinstellung bei der Zeitschrift, nachdem man ihn dort hinausgeworfen hat, Ana nicht aus der Nervenheilstätte zurückbringt, ihre Krankheit nicht heilt und auch seine Eltern nicht wieder lebendig macht. Ja, er würde durch seine Wiedereinstellung nicht einmal die Genugtuung haben, Ion Citu Albei eins auszuwischen, denn Ion Citu Albei hat ein dickes Fell und würde sich zweifellos ihm gegenüber so verhalten, als sei in den letzten zwei Jahren überhaupt nichts vorgefallen.

Filip berührt das alles nicht mehr. Er hat sich in Gleichgültigkeit geübt, und er freut sich der Ungebundenheit, die ihm die freiberufliche Tätigkeit gewährt. Er durchquert die Stadt von einem Ende zum anderen, ohne sich um die Zeit zu kümmern, es gibt nichts Bestimmtes, zu dem er verpflichtet wäre. Ungezwungen bewegt er sich zwischen dem Elternhaus und Anas Wohnung, sucht sich aus, wo er schlafen will, oder bleibt dort, wo ihn die Nacht gerade überrascht, und genießt auf diese Weise die Vorteile beider.

Nach der Eheschließung mit Ana hatte er sich nicht umgemeldet, sondern war sicherheitshalber bei den Eltern eingetragen geblieben. Er weiß nicht, was eigentlich hätte geschehen können ... Hier hält er im Denken inne. Nein. Über Ana später.

Filip erhebt sich vom Stuhl und geht ins Schlafzimmer zurück. Die Müdigkeit ist endgültig verflogen, er möchte etwas anderes tun als schlafen, weiß aber nicht recht was. Er würde sich freuen, wenn Marta zu dieser Stunde nicht mehr in seinem Bett läge, sondern in ihrem, zu Hause bei sich oder ganz gleich in welchem, nur nicht mehr hier bei ihm, in seinem. Schön fände er es, wenn sie von sich aus darauf käme, dass es Zeit sei, zu gehen, damit er seinen Tag beginnen (er möchte sagen „die Arbeit", wenn er Arbeit hätte), seinen Gedanken nachhängen kann. Was auch immer, sie sollte jedenfalls gehen und von sich aus verstehen, dass, was gewesen ist, der Nacht angehört. Jetzt aber ist es Tag, und es gibt andere Dinge zu tun. Ihr tiefer, sorgloser Schlaf macht ihn geradezu nervös, der Druck in seinen Adern steigt an, denn er hat das Nächtliche und das, was ihn vorher beschäftigt hat, völlig abgestreift - er möchte es Gewissensbisse nennen, wenn er an das Risiko denkt, das Marta einging, als sie zu ihm kam. Direkt vom Flughafen, zu dem sie Florica, ihren Mann, begleitet hatte, der nach Buenos Aires flog, war sie zu ihm gekommen. Filip hatte eine Münze hochgeworfen, Kopf oder Zahl, Kopf - sie kommt, Zahl - sie kommt nicht. Zahl hatte gewonnen, Marta war trotzdem gekommen.

Filip findet es sonderbar, dass sie eingewilligt hat, zu ihm zu kommen. Was hat die Frau eines Mannes von Malinoius Format bewogen, zu einem armen Schlucker zu gehen? Im Vergleich zu Malinoius Ansehen, zu seinen Deklarationen im Ausland, zur Höhe der Warte, von der aus er zum Rest der Welt sprach, stellt Filip überhaupt nichts dar. Vor längerer Zeit einmal war er wegen eines Interviews für die Zeitschrift bei ihm gewesen. Dann baten ihn seine Freunde vom Rundfunk, Malinoiu ein zweites Mal aufzusuchen, vielleicht gelinge es ihm, etwas Persönliches, Vertraulicheres aus ihm herauszubekommen. So wurde die alte Bekanntschaft erneuert. Floarea Malinoiu hatte Filips Interview, das in der Zeitschrift „Heute" eine ganze Seite eingenommen hatte, nicht vergessen, er lud ihn nach der Aufzeichnung zu einer Tasse Kaffee ein. Sie tranken und sprachen über allerlei, was in der Welt so geschieht und warum, und als Filip dabei war, sich zu verabschieden, befiel den sonst so berechnenden Malinoiu ein Augenblick der Schwäche. Er wurde lyrisch und gestand seinem Interviewer, wie angenehm für ihn diese Begegnung gewesen sei, habe er doch einmal auch über seine eigene Person sprechen können und nicht immer nur über andere. Filip möge doch wieder einmal vorbeikommen, auch ohne Tonbandgerät, und er kam vorbei, ohne Tonbandgerät, aber nur, wenn Malinoiu im Ausland weilte.

Marta war fast fünfundzwanzig Jahre jünger als ihr Mann. Beim dritten oder vierten Besuch Filips vertraute sie ihm das große Geheimnis ihres Lebens an: Sie langweilte sich mit Malinoiu ganz schrecklich. Sie habe vorher nicht gewusst, wie unerträglich die Ehe mit diesem Mann sein werde, sagte sie.

Malinoiu reiste sehr viel ins Ausland und immer allein. Zu Hause führte er sie in Kreise ein, in denen nur ältere Leute verkehrten, alles Menschen in seinen Jahren, und auch dort ließ er sie mit den Damen allein, die durchweg älter als ihre Mutter waren, während er sich mit den Herren in einen Nebenraum zurückzog, wo sie bis zur Erschöpfung diskutierten. Marta befiel stets eine entsetzliche Müdigkeit in der guten Gesellschaft. Sie wusste nicht, worüber sie mit diesen Leuten reden sollte, die Dinge kannten, von denen sie überhaupt keine Ahnung hatte. Und Florica ignorierte sie völlig, solang auch nur eine Person zugegen war. Er sagte höchstens am Schluss hochmütig zu dem einen oder anderen noch Anwesenden: „Siehst du, so eine schöne Frau habe ich mir genommen." Dabei schnalzte er anerkennend mit der Zunge. Die anderen aber setzten ein Lächeln auf, das er selbst nicht bemerkte, bei dem Marta jedoch jedes Mal erschauerte. Sie stammte aus einer einfachen Familie und erzählte Filip, wie sehr man es zu Hause bei ihr verstehe, sich des Lebens zu freuen. Sonntags wanderten alle ins Grüne hinaus. Früher, als sie noch nicht verheiratet gewesen sei, hätten die Brüder sie manchmal zum Fußballspiel mitgenommen, wo sie alle zu „Rapidul" hielten, sie habe viele gleichaltrige Cousins und Cousinen, sodass es bei Hochzeiten und Kindtaufen immer etwas zu feiern gab. Man habe ein offenes Haus und sei gastfreundlich, im Gegensatz zu Florica, der sie zwinge, einsam zu leben, und ihr jede Teilnahme an den Familienfreuden der Verwandtschaft untersage.

Filip streichelte Marta verständnisvoll, wenn sie von ihrem Kummer als verheiratete Frau erzählte, in Malinoius Abwesenheit murrte und sich beschwerte. Sie tat ihm leid und brachte ihn gleichzeitig gegen sich auf. So viel naive Beschränktheit war in das Gesicht der jungen Frau gezeichnet, wenn sie ihr fades Leben vor ihm ausbreitete, dass ihn die Lust ankam hineinzuschlagen.

„Warum hast du ihn dann geheiratet?", fragte er einmal.

Sie schniefte durch die Nase und war eingeschnappt.

„Du hast dich doch selbst in die Nesseln gesetzt."

„Wusste ich denn, dass er gar so ..."

„Gar so was?"

„... gar so egoistisch und geizig sein würde? Ich glaubte, er sei etwas ... etwas Besonderes."

Zu dieser Stunde überquert Florica wahrscheinlich den Atlantischen Ozean, denkt Filip. In Paris ist er zwischengelandet, hat sicherlich ein oder zwei Stunden Aufenthalt gehabt und dann, mitten in der Nacht, die Maschine nach Buenos Aires genommen. Jetzt fliegt er gerade über den Atlantik und liest die „Scinteia", die er vor der Abreise auf dem Flughafen gekauft hat, eigens zu dem Zweck, sie beim Überfliegen des Ozeans zu lesen. Zu Hause schläft seine Frau ruhig bei einem ehemaligen Redakteur, jetzt gelegentlichem Reporter oder Übersetzer, der ebenfalls verheiratet ist, dessen Frau aber in einem tief in den Bergen gelegenen Sanatorium weilt und der morgens schon um sieben Uhr Telefonanrufe bekommt mit der Mitteilung, sich doch endlich zu besinnen und die einmalige Chance, zu der Stelle zurückzukehren, von der er vor Jahresfrist gefeuert wurde, nicht mit Füßen zu treten.

Wenn er sie jetzt weckt, kommt sie vielleicht von selbst auf den Gedanken, sich anzuziehen und zu gehen, ohne ihn zu einer Lüge wie etwa „Weißt du, ich werde um neun Uhr beim Rundfunk erwartet" oder zu einer ähnlichen Ausrede zu zwingen. Filip berührt Martas Schulter und streichelt sie sanft. Sie brummt: „Mmm."

„Bitte steh auf, es ist bald Mittag."

Marta öffnet die Augen und betrachtet ihn schlaftrunken, dann dreht sie sich auf den Rücken und schließt sie wieder. Soweit genau wie Ana. „Wie spät ist es?"

„Halb acht. Weißt du", sagt Filip, „ich überlege eben, was wohl deine Tochter von dir denkt, weil du abends nicht nach Hause gekommen bist. Am Ende lässt sie dich suchen."

„Sie ist nicht meine Tochter."

„Sie ist auch deine Tochter, durch die Heirat, also bitte."

Marta öffnet die Augen wieder. „Sie ist für eine Woche verreist."

„Wohin?"

„Was weiß ich, wohin. Sie sagt mir niemals, wohin sie geht und wann sie wiederkommt. Wahrscheinlich ist sie bei ihrer Großmutter."

Es wäre einfach für Filip, Marta weiter auszufragen, damit sie sich konzentrieren muss und auf diese Weise endgültig wach wird. Doch er zieht es vor, zu hoffen, sie werde von selbst daraufkommen, dass sie gehen muss, weil es Zeit oder weil es angebracht ist, zu gehen. Ihr Feingefühl, das sie nur einmal trog, nämlich bei der glücklichen Wahl ihres Ehepartners, müsste ihr sagen, wie die Dinge in der augenblicklichen Situation stehen, dass alles klar und ihr kleiner Ausbruch zu Ende ist.

„Ich gehe Milch holen, hoffentlich ist sie inzwischen nicht wieder sauer geworden", sagt Filip und verlässt das Schlafzimmer.

Draußen beginnt die Hitze zu brüten, er würde bis zum Abend mindestens zehnmal schweißgebadet dastehen und nicht jedes Mal duschen können, und der Gedanke, sich klebrig und widerwärtig wie ein fremder Körper zu fühlen, entsetzt Filip.

Mit Ana, so scheint es ihm, kam er leichter durch die heißen Tage. Sie saß auf der Terrasse und las, er hielt sich in der Stube, im Schatten, auf. Ana liebte die Sonne, mit Ana, so kommt es ihm jetzt vor, spürte er die Hitze gar nicht. Ana ...

Der Versuch, gerade jetzt an sie zu denken, sozusagen als Ausgleich, um sich freizusprechen, hat keinen Sinn, er ist ebenso vergeblich wie die Hartnäckigkeit, mit der er sich einzureden versucht, Taporneas Anruf habe ihn völlig kalt gelassen. Der Gedanke an die Möglichkeit, die sich unerwartet geboten hat, quält ihn. Wie gut und wie viel einfacher wäre es gewesen, er hätte nichts davon erfahren, dann könnte er weiter ungestört in seinem Provisorium verharren, frei von Sorgen und von Mitteln, aber auch von der Verpflichtung, wählen und entscheiden zu müssen. Martas Besuch hat er dennoch akzeptiert.

Es ärgert Filip, dass er mit seinen Gedanken und seinen Möglichkeiten von einem Tag zum anderen lebt und es nicht schafft, die ganze Kette von Zwischenfällen, die seinem Rausschmiss bei der Zeitschrift vorangegangen sind, zu vergessen und den augenblicklichen Zustand zu überwinden, in dem er alles, was nicht zwei plus zwei ist, zu verstehen, kategorisch ablehnt. Er klammert sich an Kleinigkeiten, ein Verhalten, das er anderen so übel nimmt, und bringt es bei allem guten Willen nicht fertig, Groll und Zweifel auseinanderzuhalten. Filip glaubt sich berufen, wie eine Fackel zu lodern, dabei gelingt es ihm kaum, wie ein Feuerzeug zu brennen. Auch wenn er die Tage bei der Wochenzeitschrift „Heute" mit unzähligen Interviews, die einander beinahe aufs Haar glichen, zerplieserte und eine Menge kürzerer oder längerer Dienstreisen durch das Land unternehmen musste, um nach Arbeitstaten und Lebenstaten zu fahnden und Material für die beiden ihm übertragenen Spalten zu sammeln, auch wenn er nichts von seinem Roman erfuhr, auf dessen Erscheinen Ana und er so sehnsüchtig gewartet hatten - nur wenige wissen von seinen literarischen Plänen, und die davon gehört haben, halten ihn für einen Zyniker, der allenfalls dazu taugt, das Werk, das zu schreiben er nicht imstande ist, zu betrauern -, trotz alledem und trotz der vielen Streitereien jede Woche, jeden Tag fehlt ihm die Arbeit bei der Zeitschrift.

Es fehlen ihm der ständige Trubel, der ihn zuweilen aufzureiben drohte, das Material im letzten Augenblick, die Diskussionen in der Redaktion, die ihn belebten, sosehr Ion Citu Albei das Niveau auch zu drücken versuchte, wenn er in seinem Eifer jedes Wort zusammenhanglos auslegte oder einen ganzen Abschnitt mit dem Vermerk „unpolitisch", „nicht parteilich", „trifft nicht das Wesentliche", „voll schwerer Fehler" oder „falsch" und ähnlichen Randbemerkungen pauschal abtat. Veränderte Filip dann die Reihenfolge der Wörter innerhalb eines Satzes und schrieb den Artikel noch einmal ab, akzeptierte Albei ihn überraschend mit den Worten „na bitte", „endlich", „so geht es schon eher" oder aber „das ist das letzte Mal ...

Filip fehlen selbst die Stunden, die er in der Druckerei verbrachte, wenn er an der Reihe war, dort Dienst zu tun. Zusammen mit den Jungs, die ungefähr in seinem Alter waren und unter der Fuchtel des schnurrbärtigen Meisters mit den runden Augengläsern und dem schmutzigen Kittel arbeiteten, hielt er als erster die neue Nummer der Zeitschrift in den Händen, die dann hinausging und in den Schaufenstern und Regalen der Zeitungskioske auf ihren Leser wartete.

Einmal hatte Filip den Vorschlag eingebracht, das Fernsehprogramm der Woche abzudrucken oder Raum für einen Sportkommentar zu schaffen. Herodontiu aber war nicht einverstanden gewesen, er hatte Albei aufgetragen, streng darüber zu wachen, dass die Zeitschrift auch ohne solche Tricks eine ständige Verbesserung erfahre, und war nach Kanada gereist, wo er an einem Symposium zum Thema „Die Natur - Freund oder Feind des Menschen" teilnahm.

„Guten Morgen, Herr Filip! Ich hoffe, Sie sind gesund."

Der liebenswürdige Herr Abraham Rosenbaum ist inzwischen der einzige Mensch, der sich täglich mit Filips Gesundheitszustand befasst. Sie treffen sich beim Anstehen, auf der Straße, an der Ampel des Straßenüberganges, im Café, und jedes Mal greift ihn der freundliche Herr direkt mit der Frage nach seiner Gesundheit an. Dabei vermeidet er es stets taktvoll, sich über die eigenen Beschwerden auszulassen, die ihm seine „für ein Herz, das weiß Gott genug durchzustehen hatte", viel zu robuste körperliche Verfassung bereitet, wie der alte Mann sich vorsichtig auszudrücken pflegt, um damit von Anfang an ein Thema abzuschließen, auf das Filip vielleicht einzugehen versucht sein könnte.

Sie kennen sich schon lange, noch aus der Zeit, als Filip Kind war und Herr Rosenbaum nach der Entlassung aus der Strafanstalt vom Verkauf der Waren „aus seinen Paketen" lebte, denn er bekam fast von überallher Pakete. Filip erinnert sich, wie Herr Rosenbaum in ewig demselben blauen Überrock aus Schantungseide und einem Strohhut, der ganz offensichtlich ebenfalls aus dem Ausland stammte, sportlich und leutselig vom gegenüberliegenden Gehsteig aus herübergrüßte, wenn er, Filip, mit seinen Eltern spazieren ging. Herr Rosenbaum zwinkerte der Mutter zu - der Vater machte sich häufig über diesen harmlosen Kavalier lustig - und sagte, komplicenhaft lächelnd: „Was glauben Sie, wo ich jetzt hingehe? Sie werden lachen" - er zeigte mit dem Finger auf das Ziel - „zur Post. Ich habe eine Benachrichtigung erhalten."

Um das Gesagte zu beweisen, zog er den Zettel aus der Brusttasche des blauen Überrocks aus Schantungseide und zeigte ihn. Den ganzen Tag über konnte man Herrn Rosenbaum auf dem Weg von oder zu dieser Amtsstelle antreffen. Entweder er ging mit Siegerblick, die Benachrichtigung in der Brusttasche, zur Post, oder er kam von dort und schleppte japsend und schweißtriefend ein voluminöses Paket, auf das viele große Stempel aufgedrückt waren, herausfordernde ein- oder zweiköpfige Adler, bereit, zu töten und zu morden. Die Pakete waren von weit hergekommen, aus Ländern, über die Filip in der Schule zu hören bekommen hatte, sie seien der Inbegriff des Verfalls, Stätten der Kriegshetze, Infektionsherde des Grauens, Schauplätze der Lynchjustiz, wo die Schwarzen verfolgt würden, und der erbarmungslosen Ausbeutung des arbeitenden Volkes. Er bangte jedes Mal um die Mutter, wenn sie sagte, sie wolle zu Rosenbaum gehen und sehen, was er bekommen habe. Der Junge stellte sich vor, wie das Paket mit den aufgestempetten Adlern plötzlich aufsprang und ein Atompilz oder eine Maschinenpistole oder wer weiß welch grässliche Folterwerkzeuge für Schwarze daraus hervorkamen. Filip war einfach krank vor Neugierde und fühlte, er würde keine Ruhe finden, bevor er nicht mit eigenen Augen gesehen habe, was die von den Kolonialisten und Imperialisten an Herrn Rosenbaum geschickten Pakete enthielten. Er teilte seine Ratlosigkeit dem Vater mit, der sein Partner für problematische und ernsthafte Gespräche war. Mit ihm beredete er Dinge, von denen er mutmaßte, dass schon die Erwähnung zu Informationszwecken gefährlich sein könne, zum Beispiel die Fragen: Wie verhält es sich mit der Bibel? Was ist Klu-Klux-Klan? Was bedeutet das Hakenkreuz? Haben wir die Atombombe? Ist es erlaubt, an Gott zu glauben? Werden in Herrn Rosenbaums Paketen wirklich Waffen geschickt?

Der Vater hatte gelacht und die Mutter, die gerade wieder einmal sehen wollte, was es bei Rosenbaum Neues gab, gebeten, Filip mitzunehmen. Von allen Kundinnen Rosenbaums, und er hatte eine Menge, kam der Mutter das ausschließliche Recht zu, dabei zu sein, wenn ein neues Paket geöffnet wurde. Sie gingen also zusammen hin und wurden mit einer Tasse heißen Kaffees empfangen. Frau Rosenbaum, Tante Sela, brachte eine lange, dreikantige gelbe Schachtel aus dem Nebenzimmer, auf der mit Feuerbuchstaben Toblerone geschrieben stand, und ein Päckchen „amerikanische Catcher", wie Filips Klassenleiterin ironisch dazu sagte.

„Nimm nur, Liebling", forderten ihn Frau und Herr Rosenbaum auf, und die Mutter nickte, lächelte und bedeutete ihm, dass er sie ruhig annehmen könne. Und dann begannen sie, das Paket mit den Adlerköpfen auszuräumen. Zu Filips größter Enttäuschung kam nichts heraus als bunte Blusen, ein Kleiderstoff, Damenstrümpfe, ein Paar Schuhe, vorn spitz zulaufend wie eine Nadel und mit endlos hohen Absätzen, die seine Mutter sofort beiseite nahm und neben den zerschlissenen Sessel stellte, in dem sie saß. Dann kamen andere Kleidungsstücke zum Vorschein, durchsichtige, von der Sorte, wie sie stets vor ihm verborgen gehalten wurden, Fächer, Plunder, Kinkerlitzchen, ein anderer Kleiderstoff, alles höchst uninteressant, nichts Sensationelles. Und damit verflüchtigte sich für den kleinen Filip von damals die ganze Aura des Geheimnisses, das Herrn Rosenbaums Person bis dahin umwittert hatte, der Mann kam ihm mit einem Mal ganz und gar alltäglich vor, wie ein einfacher Ladenverkäufer.

Als Filip nach Hause kam, fragte der Vater, welchen Eindruck ihm der Besuch gemacht habe. Der Sohn schnitt eine verächtliche Grimasse und gestand dem Vater, er habe gehofft, Herr Rosenbaum werde sich wenigstens als Spion entpuppen, aber leider sei er das nicht. Schade. Sein Name scheine geradezu prädestiniert für einen Spion: Abraham Rosenbaum oder Abi, wie Frau Sela ihn nenne.

„Ich habe Zeitschriften bekommen", sagt Herr Rosenbaum.

Immer dieselbe Geschichte. Der Alte, inzwischen ein wenig verkalkt, bekommt keine Pakete mehr, sondern Zeitschriften. In Erinnerung an Filips Mutter, die er wie sein eigenes Kind geliebt hat, borgt er die Lektüre Filip für ein paar Tage. Herr Rosenbaum kann sich immer noch nicht mit dem Gedanken abfinden, dass die Frau, die so viele Sachen bei ihm gekauft hat, nicht mehr lebt.

„Kommen Sie doch gleich mit, ich gebe sie Ihnen", sagt Herr Abi. „So manches davon wird Sie interessieren, da bin ich sicher."

Filip verspricht, ein wenig später zu Herrn Rosenbaum zu kommen. Er ist nach Milch ausgegangen und fürchtet, keine mehr zu bekommen.

„Gut, dann erwarte ich Sie etwas später", sagt Herr Rosenbaum. Er lächelt Filip zu, reicht ihm die ewig feuchte Hand und zwinkert ermutigend.

Später. Später wird Marta vielleicht weggegangen sein, wenn er nach Hause kommt. Später werden vielleicht viele wunderbare Dinge geschehen oder viele entsetzliche Dinge, unbekannte Wege und ungeahnte Möglichkeiten werden Filips Gedanken in Versuchung führen. Eine sonderbare Ruhe senkt sich in sein Herz, als er zu dieser Morgenstunde, ziemlich spät schon, die erste Berührung mit der Stadt erlebt, die bereits in das tägliche Ritual ihrer kleinen nichtigen Beschäftigungen getaucht ist. Es ist Tag, und es ist heiß, die Sonne strahlt schon drückende Hitze aus, und Filip denkt voller Freude an die um diese Zeit kühle Terrasse von Anas Wohnung, wo er heute bestimmt noch hingehen wird, um den Rest des Tages, banal und entnervt, zu verbringen. Vielleicht wird er lesen, vielleicht wird er auch schreiben.

Während er in Gedanken versunken nach Milch ansteht und aus dem Hintergrund des Ladens die charakteristischen Geräusche aneinanderstoßender Flaschen und in der Schlange den Zank alter dicker Weiber, von denen sich die eine oder andere immer wieder vorzudrängeln versucht, wie aus weiter Ferne vernimmt, scheint es ihm plötzlich so, als seien alle Aufregungen, alle kleineren oder größeren Streitigkeiten bei der Zeitschrift, ausgebrochen durch das Aufeinanderprallen verschiedenartiger Interessen, alle Intrigen, die in den Fluren und Büros gesponnen werden, nichts als das Spiel erwachsener Menschen, die Probe von Stücken. Eines Tages wird der gelehrte und feinsinnige Herodontiu wie ein unzufriedener Regisseur in die Hände klatschen, die Probe unterbrechen und mit seiner Miene eines von den Jahrtausenden der Kulturgeschichte niedergebeugten Humanisten zu erklären beginnen, was falsch gespielt, was noch nicht gut sei, welche Passagen mehr hergäben und besser herausgearbeitet werden müssten und wo man mit Andeutungen auskomme, damit das Publikum, der Saal, die Zuschauer noch stärker den Eindruck natürlichen Geschehens erhielten und mit der Überzeugung nach Hause gingen, es handele sich bei der Feindschaft zwischen den Montague und Capuleti um einen Kampf um Anschauungen, um eine gesunde, wünschenswerte und für den weiteren Fortgang der Geschichte und das Wohl Veronas geradezu unentbehrliche Fehde.

In Filips Fantasie nehmen die ehemaligen Kollegen zu dieser morgendlichen Stunde spaßige Züge an. Sie sehen Figuren aus klassischen Stücken ähnlich und hüpfen mit grotesker Mimik herum - Maloto wie ein kleiner maliziöser Ariel, Magdalena wie Helena, ständig auf der Jagd nach einem willig aufgelegten Demetrius, Albei wie Jago oder Malvolio, Pintea Voinescu wie ein feiger Shylock und, über ihnen allen thronend, Herodontiu wie Heinrich VI.

Filip lacht still vor sich hin, ungeduldig schiebt ihn jemand aus der Reihe weiter und sagt: „Anstatt so für sich allein zu lachen, rücken Sie lieber nach, mein Herr, sonst stehen wir heute Mittag noch hier."

Gewiss, es gibt für alles eine Erklärung: für Albeis Antipathie ihm gegenüber, für Magdalenas komplizenhafte und ein wenig schulmädchenhafte Sympathie und Taporneas väterliche Sorge. Vater Tapornea hat einen etwas ungeratenen Sohn, der schon zum dritten Mal verheiratet ist und für Kinder aus drei Ehen Geld aufbringen muss. Es geht ihm schlecht, die Sorgen für so viele Familien, die Verpflichtungen gegenüber drei verschiedenen Linien der Nachkommenschaft drücken ihn nieder, wachsen ihm über den Kopf. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Filip sich so manche Predigt von Vater Tapornea anhören muss. Damals war er sogar gegen seine Heirat mit Ana gewesen. Nicht weil er Ana nicht mochte (Ana selbst hält große Stücke von ihm), sondern, und das sprach er seinem jüngeren Freund gegenüber offen aus, weil sie sieben Jahre älter war, und einen solchen Altersunterschied fand Vater Tapornea zumindest gefährlich. Doch sonderbar, Filip nimmt Vater Gigi niemals etwas übel. Er kennt ihn und weiß, man darf seiner nicht achten, wenn ihm beklommen zumute wird, und kann ihn ernst nehmen, wenn er sinnvoll spricht, versucht er aber seine Reden mit Argumenten zu untermauern, muss man ihn liebevoll ignorieren, wie zum Beispiel heute Morgen, als er um sieben Uhr anrief und ihn, Filip, nun schon zum zweiten Mal dazu überreden wollte, die Arbeit bei der Zeitschrift wieder aufzunehmen. Nachdem Pintea Voinescu das Land verlassen hat, ist eine Stelle frei geworden, nun tut Tapornea so, als habe Filip ausgerechnet wegen Pintea Voinescu nicht zur Zeitschrift zurückgehen können und als gebe es jetzt, wo das ärgerliche Hindernis beseitigt sei, keinen Grund mehr, noch länger zu zögern.

Filip kennt seine früheren Kollegen bei der Zeitschrift. Es will ihnen nicht in den Kopf, dass eine Sache einfach passieren kann und fertig, ohne versteckten Sinn, ohne Hintergründigkeit. Stets muss bei ihnen etwas für oder gegen jemand geschehen. Dem künftigen bundesdeutschen oder amerikanischen Staatsbürger Pintea Voinescu wird es, ob er nun auf diesem unserem Kontinent bleibt oder sich auf dem anderen jenseits des Ozeans ansiedelt, mit Sicherheit vollkommen gleich sein, wer ihn bei der Zeitschrift „Heute" ersetzt und wie die Meinung des Genossen Puicea von der Kaderabteilung in dieser Sache ist; ob sie als Niederlage Albeis oder als Sieg Taporneas ausgelegt wird, als Versuch, Herodontius Stellung von innen her zu unterminieren, oder ob die ganze Geschichte als Rehabilitierung Filips im Rahmen einer groß angelegten Wiederaufnahmekampagne all derer, die vor einem Jahr gefeuert wurden, anzusehen sei.

Filip weiß, bald werden auch Gerüchte und Vermutungen zu kursieren beginnen, dass er zu Albei gegangen sei und um seine Wiedereinstellung gebeten habe oder Albei sei zu ihm gekommen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Es kann ja nicht sein, so wird man sagen, dass Filip in der ganzen Zeit nach seiner Entlassung sich nicht mit Beschwerden und Eingaben an diese oder jene Stelle gewandt hat, um auszupacken, um alles über Albei und Herodontiu zu sagen: Entweder sie fürchten ihn nun, oder er hat da oben irgendjemand, der Herodontiu kurz ans Telefon befehlen kann ... und so weiter und so weiter.

Filip geht durch alle Geschäfte in der Nähe seines Hauses, steht lange vor den ärmlichen Schaufenstern, die er mit den Blicken durchforscht, betrachtet drinnen die Ladentische aus Glas, die Regale mit ewig denselben Waren, auf denen der Staub sich schon lange heimisch fühlt, und kauft ein Brot und ein wenig Käse. Dabei muss er unwillkürlich an Pintea Voinescus ewig mit gepresstem, von der Hitze aufgeweichtem Schafkäse belegte Schnitten denken, die aussahen, als seien sie verschwitzt. Kurz nach elf Uhr pflegte er sie diskret aus der Aktentasche hervorzuholen, die einem verspäteten Studenten zu gehören schien. Er hielt sie mit allen zehn Fingern fest, wenn er seine Zähne vorsichtig hineingrub, die tief in das weiche Brot eindrangen und bis zum Käse vorstießen. War es ihm gelungen, einen Bissen loszureißen, fiel ihm fast jedes Mal ein Brocken hinunter, den er eilig vom Boden aufhob und zwischen die Brotkanten zurückstopfte, aus Angst, es könne ein Krümel verloren gehen.

Der Gedanke an Pintea Voinescu erinnert Filip an das Herrn Rosenbaum gegebene Versprechen. Er geht zu Herrn Abi, klingelt an der Tür, und er ist sich seiner Verstellung bewusst, wenn er so tut, als merke er gar nicht, wie er seine Abwesenheit absichtlich in die Länge zieht und dabei hofft, er habe Marta genügend Zeit gelassen, nach Hause zu gehen, bevor er wieder auftaucht, ja sogar mehr Zeit, als sie zum Duschen, Anziehen und Verschwinden braucht.

Herr Rosenbaum öffnet umständlich die Tür, nachdem er vorher grämlich und misstrauisch gefragt hat: „Wer ist da?" Er jagt den Hund in die Wohnung zurück, und Filip tritt in den Flur, wo ihm Waldi im halbdunklen Hintergrund seine liebenswürdige Gastfreundschaft bekundet. Obgleich Filip häufig bei seinem Zeitschriftenlieferanten einkehrt, ist es ihm bis jetzt nicht gelungen, sich mit dem Tier anzufreunden. Herr Rosenbaum bittet ihn in sein Zimmer. „Kommen Sie nur herein, Herr Filip, nehmen Sie Platz. Sei still, Waldi! Sela, was glaubst du, wer da ist?"

Frau Sela kommt aus der Küche. Sie trägt ein verwaschenes Hauskleid und versucht ihrerseits, Waldi zu beschwichtigen und Filip zum Sitzen einzuladen. „Nehmen Sie Platz, bitte, nehmen Sie Platz!"

Filip möchte nicht, er ekelt sich, denn er weiß, Waldi sitzt auf allen Stühlen und in allen Sesseln.

„Womit darf ich Sie bewirten, bitte, sagen Sie es nur", fragt Herr Rosenbaum und ist erfreut über den Besuch. „Darf es ein Likör sein oder ein Kaffee?"

Es ist genauso wie früher. Bestimmt hat der Gastgeber eine kleine, eigenartig geformte Flasche mittelmäßigen Likörs bereitstehen, den sein Bruder mit der Versicherung geschickt hat, es sei eine auserlesene Spezialität. Und obwohl Herr Abi weiß, dass es sich um überhaupt keine Spezialität handelt, bietet er ihn, weil er von dort kommt, mit einer Miene an, die kundzutun scheint, man verpasse die Gelegenheit seines Lebens, wenn man nicht davon koste.

„Eine Tasse Kaffee", getraut sich Filip zu sagen, „aber nur, wenn auch Sie trinken."

„Neiiin", antwortet der gute Herr Rosenbaum bedauernd, „wir trinken keinen Kaffee. Wir sind krank, sehr alt und sehr krank."

Er verschwindet im Flur, wo er auf die Küche zusteuert, um Sela bei der Vorbereitung der Bewirtung zu helfen. Filip bleibt allein im Zimmer, nur der Hund ist noch da. Auf dem Tisch liegen drei an den Ecken umgeknickte, zerlesene Zeitschriften. Wahrscheinlich hat der Bruder sie zuerst gelesen und dann Herrn Abi geschickt, genauso wie die angebrochene Likörflasche, um ihm damit ein wenig unter die Arme zu greifen. Filip nimmt eine Zeitschrift und blättert darin. Er sieht sich die Bilder an, ohne den Text zu lesen, genießt im Voraus die Stunden, wo er sich dieser Lektüre in Anas Zimmer ausschließlich und in Ruhe widmen kann.

Plötzlich spürt er, dass ihn jemand beobachtet, und hebt den Blick. Etwa einen Meter von ihm entfernt sitzt Waldi Ihm gegenüber, klein und lang, die Vorderbeine gespreizt, die Ohren schlaff wie Wäsche an der Leine, und fixiert den Gast mit seinen großen, wässrigen schwarzen Augen. Etwas Sonderbares liegt in diesem Blick, trotz der träge herabhängenden Ohren. Waldi bleibt unbeweglich, sie sitzen und sehen einander an. Dann wedelt der Dackel mit dem Schwanz, als wolle er Filips Geisteszustand erforschen. Ein Augenblick höchster Spannung entsteht, in dem sich die Zeit zu komprimieren scheint, bis sie zu einem Energieknäuel wird, zu einer dichten Masse, die sich immer weiter zusammenzieht, um dann plötzlich zurückzuschnellen und lautlos zu platzen. Filip glaubt, sein angezogenes Bein müsse, wie von der Sehne geschnellt, voll in den Hund hineinschlagen und diesen wie einen Ball in den Flur hinausschleudern. Doch Waldi ist nicht im Flur gelandet, er hat sich nicht von der Stelle gerührt, sitzt immer noch Filip gegenüber, betrachtet ihn noch eine Weile höchst unsicher, dann ringelt er sich ein und wartet auf ein Geräusch aus der Küche. Doch alles scheint so fern zu sein, so fremd, und nichts ist zu hören.

Als Filip nach Hause kommt, findet er Marta noch immer in seiner Wohnung, was ihn verdrießlich stimmt. Als er im Flur die blaue Jacke auf dem Bügel hängen sieht, wirft er den Schlüssel nervös in den Aschenbecher auf dem Tischchen neben der Tür. Sie hat seine absichtliche Verspätung nicht verstanden. Sie wartet auf ihn, sitzt auf einem Stuhl, ist so angezogen, wie sie am Abend vom Flughafen zu ihm gekommen ist, fühlt sich ein wenig gehemmt in der Einsamkeit des Hauses und lächelt sinnlos unter dem an der Wand hängenden Bild seines Vaters.

„Was machst du?"

„Ich habe mich angezogen und ein wenig Ordnung geschaffen ... Ich wusste nicht, was mit dir ist, weil du nicht kamst. Ich fürchtete ..."

Filip geht mit den Milchflaschen in die Küche und schielt im Vorbeigehen ins Schlafzimmer, wo das, gemessen an seiner Größe, beinahe mittelalterlich anmutende Bett steht. Die Decken und Kissen sind zusammengepackt und schön ordentlich am Rand gestapelt.

„Ich wusste nicht, wohin damit."

„Hier rein!" Er zeigt ihr den Wandschrank, und Marta hört auf, sich ihm an die Fersen zu heften.

Filip spürt, wie er immer nervöser wird. Ein Gefühl des Überdrusses breitet sich in ihm aus, ohnmächtige Schwäche verschleiert seinen Blick. Er setzt sich auf einen Stuhl und lehnt die Schläfe an die kühlen Fliesen der Küchenwand. Es tut wohl. Er sehnt sich nach völliger Einsamkeit, absoluter Abwesenheit, möchte sich am liebsten auflösen, inexistent werden, nicht mehr sein. Trübe, widerstreitende Gedanken bedrängen ihn, alles, was er tut, scheint ihm unnütz zu sein, nichts als absurde Gestikulation bei leisem Register, der Versuch, zu vergessen, sich etwas vorzumachen, so zu tun, als handele er ganz normal, als gehe das Leben weiter, trotz Tod und Nervenkrankheit, mit der er von nun an wird leben müssen. Ihm ist bewusst, dass er an seiner Tatenlosigkeit leidet, an der mangelnden Bedeutung seiner Person. Man ruft ihn nicht mehr an, um ihn einzuladen oder seine Hilfe in irgendeiner Sache in Anspruch zu nehmen, sondern um ihm Ratschläge zu erteilen und an seine Vernunft zu appellieren. Solche Anrufe kommen von Tapornea, von dem einen oder anderen Verwandten, von früheren sogenannten Freunden („gib nicht nach, nimm eine Stelle an, ganz gleich, was es ist"), auch Marta sorgt sich um ihn („ich wusste nicht, was mit dir ist"), und alle beschwören das Bild der toten Eltern herauf, um ihn zur Einsicht zu bewegen und ihn zu überzeugen, dass er seine Lethargie überwinden und etwas unternehmen muss. Er soll bitten gehen, um Hilfe anhalten und sich auch mit einer untergeordneten Stellung zufriedengeben, denn das erwarte man jetzt von ihm. Eine Reihe ehemaliger Freunde und Kollegen des Vaters wären in der Lage gewesen, Filip im Verlaufe der Zeit eine Arbeit zu verschaffen, wenn er zu ihnen gegangen wäre, „ich bitte dich" gesagt und sich auf ihre Großmütigkeit berufen hätte, trotz des Risikos, eine Absage zu erhalten. Onkel Iorgu riet ihm: „Du musst deine Bewerbungen wiederholen. Sie schmeißen dich zur Tür hinaus, und du kommst zum Fenster wieder herein."

Der Vater hatte sich die Antipathie vieler Menschen zugezogen, und Filip hat sie zusammen mit dem Haus und anderen Dingen als Erbschaft bekommen. Es ist höchste Zeit, sich darüber im Klaren zu sein, dass viele, die sich am Vater im Nachhinein rächen wollen, jetzt versuchen, ihn, Filip, in die Lage des ständig Bittenden und ständig Abgewiesenen hineinzulavieren. Am Ende hat der eine oder andere doch etwas für ihn, wenn er zu allen hingeht und bittet. Nur Tapornea bietet ihm eine Lösung an, um die er nicht gebettelt hat.

„Was ist mit dir?"

Schon wieder Marta!

„Ist dir schlecht?"

„Nein."

Sie steht in der Tür, den einen Arm auf die Klinke gestützt, der andere hängt schlaff herab. „Ich habe die Betten in den Schrank gepackt."

„Gut."

„Ist noch etwas zu tun, soll ich dir ein Hemd bügeln?"

Filip schüttelt den Kopf,

Marta verlagert das Körpergewicht von einem Bein auf das andere, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch aus Ungeduld. Erst jetzt betrachtet Filip sie genauer und sieht, wie sie angezogen ist. Sie trägt Jeanshosen, dazu eine bunte Sommerbluse und schwarze Lackschuhe. Die Jeansjacke hängt im Flur auf dem Bügel. Marta bemerkt, wie er sie von Kopf bis Fuß mustert, und fühlt sich unsicher.

„Warum guckst du mich so an?", fragt sie mit leidender Stimme.

„Hör mal, kann dein Florica dir nicht beibringen, wie man sich anzieht? Er hat ja bald die ganze Welt bereist und wird es wissen."

„Florica!", ruft Marta, durch den Gegenstand des Gesprächs wieder munter geworden, aus. „Da bist du auf dem Holzweg. Was soll der mir schon beibringen, wo er selber nur einen Anzug besitzt. Und mich will er ja nicht ins Ausland mitnehmen, wo ich sehen könnte, was man trägt."

Marta ist in Fahrt gekommen und macht einem Schmerz Luft, der schon lange an ihrem Herzen nagt. „Er sagt, es ist nirgends schöner und besser als zu Hause."

„So ungefähr ist das, da muss ich ihm recht geben", antwortet Filip aus dem Mundwinkel heraus, um ein Lächeln zu verbergen.

„Ja? Und warum kutscht er dann selber ständig in der Weltgeschichte herum und immer allein?", bricht es aus Marta heraus. „Mich nimmt er ja nicht einmal nach Wien mit. Lass nur gut sein, ich kenne euch Männer. Nur ihr und immer nur ihr! Etwas anderes interessiert euch nicht. Denkst du, du bist anders als er?"

Filips amüsiertes Lächeln verfliegt. „Ich frage nicht noch einmal, warum du ihn geheiratet hast, weil ich es weiß, möchte dir aber sagen, dass vorhin, während ich mich freute, dass ich noch zwei Flaschen Milch erstanden habe, die letzten übrigens, dein Florica in Buenos Aires gelandet ist."

„Ich sehe keinen Zusammenhang."

„Auch ich sehe keinen Zusammenhang zwischen den Jeanshosen und den schwarzen Lackschuhen, die du trägst, außer dem einen vielleicht, dass beides aus dem Ausland stammt. Und du hast sie angezogen, da Florica sie dir nun einmal mitgebracht hat, um auf diese Weise zwei Sorgen mit einmal loszuwerden."

Marta sieht ihm in die Augen und blinzelt kurz. „Nachdem ich von selbst zu dir gekommen bin, solltest du mich nicht noch zu beleidigen versuchen ..."

Sie zögert einen Augenblick, errötet bis über die Ohren und sagt: „Weißt du" - sie seufzt tief, und ihre Stimme klingt verändert - „ich bin es nicht wert ... Damit du es nur weißt, es lohnt nicht, mir zu sagen, was du gesagt hast ... denn ich hatte nur ..."

„Nun sprich es schon aus, du hattest Mitleid."

„Nein. Ich hatte Angst, es ist so trostlos in jenem Haus." Filip steht auf, geht einen Schritt auf sie zu, überlegt es sich aber plötzlich und lenkt seine Schritte zum Küchenschrank, aus dem er einen grünen Topf mit langem Stiel herausholt und die Milch einer Flasche hineingießt.

Marta tritt an ihn heran, legt ihm beide Hände auf die Schultern, schmiegt sich an seinen Rücken und drückt das Gesicht an sein linkes Schulterblatt. „Wenn du es wissen willst, ich hatte von Anfang an Gefühle für dich ..."

„Ach, zum Teufel damit", unterbricht sie Filip. Er verscheucht die Gefühle wie lästige Fliegen und sagt: „Komm, wir frühstücken jetzt, ich habe Hunger."

2. Kapitel

Der Morgen kam stets weiß in Anas Zimmer, verschleiert und mit Gitterstäben. Wenn sie die Augen öffnete, nahm sie als erstes das makellose Weiß der Einrichtung wahr, das immer das unerträgliche Gefühl in ihr hervorrief, ertrinken zu müssen. Die Milchglasscheiben der unteren Fensterhälfte, die alle Farben draußen blass erscheinen ließen, das typische Krankenhausmobiliar - ein weißes Bett, ein weißer Stuhl, ein weißer Tisch, ein kleiner weißer Schrank und ein neues Waschbecken -, alles fest an der Wand oder am Fußboden verschraubt, wie oft hätte sie das alles am liebsten zerstört, in Brüche geschlagen, die weiße Paste, mit der alles gestrichen war oder gestrichen zu sein schien, abgekratzt, abgeledert und die Möbel dazu gebracht, endlich ihre wahre Farbe unter dem unausstehlichen Weiß zu zeigen.

Dann fiel Ana ein, dass sie sich in einer Heilstätte befand, und sie stand auf, um das Spezialfenster mit den aus Gründen der Sicherheit abgerundeten Wirbeln und Kanten zu öffnen, und blieb vor den nackten Gitterstäben stehen, die sich sonst undeutlich, doch entschieden vertikal hinter dem matten Glas der unteren Scheiben abzeichneten. Jenseits der Gitterstäbe dehnte sich Grün und endlos weit der Sanatoriumspark aus, in dem sie, wenn das Wetter schön war, zu jeder Zeit spazieren gehen konnte, ohne erst jemand um Erlaubnis bitten zu müssen und ohne von irgendjemand etwas gefragt zu werden, wenn nur erst die Zimmertür von außen aufgeschlossen worden war und Dr. Boros seine Morgenvisite beendet hatte.

Verspürte Ana keine Lust hinauszugehen, dann gestaltete sich der Tag weniger angenehm. Wollte sie im Zimmer bleiben und irgendein harmloses Buch aus der Heilstättenbibliothek lesen oder ganz einfach untätig verweilen, ohne etwas zu tun, dann tauchte ganz sicher bald darauf eine sanftmütige Schwester auf und fragte sie mit liebevoller Stimme, ob sie sich auch wohlfühle, warum sie nicht hinausgehe wie alle anderen, um die reine Gebirgsluft einzuatmen, hätten sie doch das Glück, sie unentgeltlich genießen zu dürfen, außerdem könne auch ein wenig Bewegung nicht schaden, sie solle sich ruhig ein bisschen die Beine vertreten - das war das Losungswort der Schwestern -, sonst würde sie zu Mittag keinen Appetit haben, und es gebe ein so gutes Mittagessen an diesem Tag, da wäre es doch jammerschade, wenn sie ohne Appetit essen müsste. Das ging so lange, bis Ana es satthatte, ostentativ und prinzipiell als Irre behandelt zu werden, der man auf Umwegen, mit schönen Reden und Schmeicheleien, mit Sanftmut und Liebe und mit nicht ignorierbarer Gerissenheit begegnet, und schließlich auf die Einsamkeit, die sie gesucht hatte, als sie im Zimmer bleiben wollte, verzichtete, hinausging und sich unter die anderen mischte. Die unerwünschte Gesellschaft bedrückte sie aber mehr, als wenn sie einen Vormittag lang in Ruhe gelassen worden wäre.

Ana war sich der Tatsache bewusst, dass sie sich, vielleicht wie alle Patientinnen der Heilstätte, als Ausnahme betrachtete. Sie glaubte, nicht so krank zu sein wie die anderen und wenn auch noch nicht völlig geheilt, so doch normaler als ihre Leidensgefährtinnen, und war überzeugt, sich auf dem Wege der Genesung ein gutes Stück weiter vorn zu befinden als die anderen Frauen. Das Zusammensein mit ihnen konnte sie deshalb nur zurück- und nicht vorwärtsbringen.

Dr. Boros hatte ihr einmal erzählt, die Kranken der Heilstätte litten alle (zwar in den verschiedenartigsten Formen, doch letztlich auf ein und dieselbe Grundkonstante reduzierbar) am Unvermögen, in dem Milieu, aus dem sie kamen, zusammen mit anderen Menschen ein normales Leben zu führen. Die von ihm angewandte Therapie sei deshalb darauf gerichtet, bei den Patientinnen das Gefühl für die Beziehung zur Umwelt, zur Gemeinsamkeit und zur menschlichen Gemeinschaft wiederherzustellen, einen Familien- oder gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, in dem das Zurückfinden zum Normalen geübt werde.

Dr. Boros störte es deshalb nicht, im Gegenteil, er billigte es, wenn manche Frauen sich miteinander anfreundeten, wenn zwei oder drei sich zusammenschlossen und versuchten, möglichst normale, natürliche menschliche Beziehungen zu knüpfen, Kameradschaften, aus denen sich Freundschaften entwickeln konnten. Er sah darin einen Schritt auf dem Wege ihrer Wiedereingliederung in die Gemeinschaft, zunächst innerhalb der Heilstätte selbstverständlich und später in die große dort draußen.

Die Behandlung Dr. Boros' bestand, um es kurz zu sagen, im Wesentlichen darin, ihnen allen die absolute Freiheit zu lassen, im Rahmen der Heilstätte natürlich und in den Grenzen einiger Vorbeugungsmaßnahmen, damit die Heilung der Kranken entsprechend der individuellen Besonderheit und der persönlichen Mobilität voranschreiten konnte. Die Therapie habe nicht das Ziel, den Verlauf des Nervenleidens zu beeinflussen und in eine bestimmte Richtung zu lenken, meinte Boro, er sei vielmehr daran interessiert, Abweichungen vom Gesundungsprozess zu verhindern, besser gesagt, zu korrigieren, denn die Krankheit neige von sich aus zur positiven Entwicklung, wenn der Arzt nichts forciere, nicht versuche, durch radikale Maßnahmen zu heilen, was übrigens mit weitaus größerem Risiko verbunden sei. Dr. Boros gestand Ana gegenüber ein, er sei entschieden gegen gelenkte Behandlungen, die manche Arzte anordneten, ohne das Krankheitsstadium und die Eigenarten des Verhaltens mancher Patienten im Einzelnen zu kennen.

Mit der Zeit hatte Ana gelernt, sich nicht zu widersetzen, was auch immer man von ihr forderte. Sie wollte klüger sein als die anderen und ließ alles mit einer Art diplomatischem Stoizismus über sich ergehen, als könnten die vielen unangenehmen Dinge, zu denen sie sich zwang oder die sie stillschweigend hinnahm, ihr den Weg aus der Heilanstalt ebnen.

Würde sie zu einer dieser sanftmütigen Schwestern sagen, sie habe keine Lust, in den Park zugehen, sie sei müde und möchte gerne liegen, im Zimmer bleiben, oder begänne sie gar, aufs Äußerste gereizt durch die liebevolle, orientalisch weiche.Aufdringlichkeit der Pflegerin, von der sie wusste, sie befolgte nur die strikte Anweisung, niemand in der Zeit im Zimmer zu lassen, in der die Kranken laut Programm draußen im Park zu sein hatten, begänne sie also, diese brutal zu beschimpfen und gewaltsam hinauszuwerfen, und täuschte dabei einen Anfall von Hysterie vor oder wäre wirklich nahe daran, so könnte sie ganz sicher sein, es verginge keine Viertelstunde, bis Dr. Boros zufällig durch den Flur gehen und sie in ihrem Zimmer sehen würde - denn die Tür musste immer offenbleiben, nur in der Nacht wurde sie von außen zugeschlossen. Der Arzt würde hereinkommen und sich freundlich erkundigen, was sie mache, und sich nicht dafür interessieren, warum sie sich im Zimmer aufhielt, er würde mit der selbstverständlichsten Miene von der Welt fragen, wie es ihr gehe, als sei ihr Wunsch, im Zimmer zu bleiben und nicht hinauszugehen, wo doch alle draußen waren, etwas ganz Natürliches. Dr. Boros würde sie nicht anfahren, würde nicht schimpfen und sie auch nicht mit strengen Worten in den Park hinausschicken, sondern sich mit ihr unterhalten, ihr eine zwei, drei Tage alte Zeitung zeigen, ihr erzählen, über welche neuen Gesetze abgestimmt wurde, was für Staatsbesuch im Land und wer im Ausland weilte, was es, wie er gehört habe, in der Volksbildung für Veränderungen gegeben und was er dort unten in der Stadt an Neuigkeiten erfahren habe. Vom Gespräch absorbiert, vergäße Ana die ewig wachgehaltene Vorsicht für einen Augenblick und bemerkte erst später, nach dem Weggang Dr. Boros, wie fein gestellt, wie perfekt konstruiert alles gewesen, wie sie hereingefallen war. Denn es konnte ja nicht normal sein, dass sie, wenn alle anderen Kranken sich im Park ergingen, im Zimmer blieb und sich aufs Freundschaftlichste mit Dr. Boros unterhielt, ausgerechnet mit ihm, von dem die Anweisung ausging, die Patientinnen sollten den Vormittag draußen und nicht in den Zimmern verbringen.

Immer, wenn Ana nicht gleich hinausgegangen und der Arzt zufällig durch den Flur gekommen war, sie gesehen und mit ihr gesprochen hatte, befiel sie danach eine panische Angst. Hielt Boros sie für unheilbar und ließ sie deshalb in Ruhe tun, was sie wollte, weil er keine Aussicht auf Heilung mehr sah? Oder, Ana lächelte still in sich hinein, wusste er, dass sie den anderen Patientinnen auf dem Wege der Gesundung weit voraus war, und ließ sie unbehelligt, weil sie ohnehin nicht mehr lange in der Heilanstalt zu bleiben hatte?

Wie auch immer, in den Diskussionen mit dem Doktor sah Ana eine Art Test, den sie zuweilen bewusst provozierte, um seine Meinung über ihren Fall zu erfahren. Außerdem interessierte es sie auch, allerdings nur mäßig, was draußen vorging, und sie fühlte sich beinahe wohl, wenn er ihr davon erzählte, zumal er solche Unterhaltungen nur mit ihr zu führen pflegte, Gespräche, die nichts mit der Heilstätte, mit Behandlungen und nervösen Zuständen zu tun hatten. Sie betrachtete sich als bevorzugt behandelt und außerhalb der anderen Kranken stehend, obgleich sie gezwungen war, unter ihnen zu leben. Die Gespräche mit dem Arzt in ihrem Zimmer oder in seinem Büro bewahrten sie auch bis zu einem gewissen Grade vor der Gesellschaft der anderen Patientinnen.

In der Zeit von etwas mehr als einem Jahr, die Ana sich in der Heilstätte befand, hatte sie sich die Routine der Umgebung angeeignet. Sie äußerte zuweilen Meinungen, die sie Dr. Boros mitteilte, der sie interessiert anhörte, auch wenn er nicht hinhörte. Sie wusste, er ließ sie getrost auf eigene Faust beobachten und urteilen, als wende sie eine Therapie an, die sie sich selbst verordnet hatte. Von Zeit zu Zeit bemerkte er: „Interessant ... ein interessanter Gedanke ... oho ... ", und meinte dann abschließend, Ana sei auf dem allerbesten Wege der Genesung, jetzt, wo sie es vermöge, sich auf dem ersten Abschnitt dieses Weges, so sagte der Arzt, mit allerlei Erscheinungen der Umwelt zu befassen, mit den Beziehungen zwischen den Menschen und mit Kuriositäten, die sie durch ihre feine Beobachtungsgabe festgestellt habe, und nicht nur mit der eigenen Person. Kurz gesagt, sie beginne, sich gesund zu verhalten.

Eines Tages bat Ana, sie doch zu entlassen, wenn es so gut um sie stehe, worauf Dr. Boros. sie ansah und mit teils väterlichem, teils professionellem Lächeln antwortete, Nervenleiden seien nun einmal heikler als andere Krankheiten, wo der Patient, wenn er wolle, selbst entscheiden könne, ob er eine Fortsetzung oder Unterbrechung der Behandlung wünsche, und Ana maß am Lächeln des Arztes die Zeitstrecke, die sie noch zurückzulegen hatte, bis sie am großen Tor des Sanatoriums angelangt sein würde.

Die darauffolgenden Tage verbrachte sie in einer Lethargie, die ihr gelegen kam, ersparte sie ihr doch das Erfinden von Ausreden, wenn sie im Zimmer bleiben wollte. Sie war nun nicht gezwungen, hinauszugehen und sich mit den anderen Patientinnen zusammen im Park aufzuhalten, wo die vor lauter Sanftmut verblödeten Schwestern mit großen Tabletts zwischen den Kranken umhergingen und einen Imbiss anboten. Wie sie ständig von der Küche her mit einem Tablett voller Speisen auftauchten, mit Keksen ohne jeden Geschmack, mit Marmeladenbrötchen, Kannen voll dünnen Kaffees, natürlich koffeinfrei, trübem Tee oder Brot mit krümeligem Käse, die sie den Patientinnen mit zermürbender Aufdringlichkeit zwischen den Mahlzeiten servierten, glichen sie eher Kellnerinnen als Schwestern. Es war schwere Nahrung, die sie brachten, viel Brot, dicke Käsescheiben, aus Pulver hergestellte, vom Kaffee-Ersatz kaum gefärbte Milch, die nicht den geringsten Appetit weckte, im Gegenteil ein ständiges Gefühl der Völle und Übersättigung erzeugte.

Das Essen war eine der Foltern des Sanatoriums. Die Schwestern versäumten keine Gelegenheit - wie hätte so etwas geschehen können? -, vor zurückhaltenderen Kranken stehen zu bleiben und die so wenig einladenden Speisen mit süßlichen Worten anzupreisen, beinahe bettelnd, um die Frühstücks- oder Vesperbrote loszuwerden. Obwohl die Frauen untereinander ständig klagten, sie hätten vom maßlosen Essen und von der Inaktivität so viel zugenommen, wagten es nur wenige, die Schwestern mit den Speisetabletts höflich abzuwehren, auch wenn sie die Brötchen oder Kekse, mit denen sie sich bereits bedient hatten, hinter einen Baum oder ins Gebüsch warfen, wo sie dann am Tag darauf aufgeweicht und zerdrückt aufgefunden wurden.

Es gab aber auch Patientinnen, die sich ihrer Krankheit mehr bewusst waren als andere und von sich aus kamen und zu essen verlangten, obwohl sie es nicht brauchten, als wollten sie sich freiwillig auf heldenhafte Weise einer unangenehmen, aber notwendigen Behandlung unterziehen. Manche begannen sogar zu theoretisieren und meinten, alles hänge davon ab, wie gut das Gehirn ernährt sei. Zwischen Gehirn und Magen bestehe durch die Nahrungsaufnahme ein direkter Zusammenhang wie bei den Pflanzen.

„Anordnung ist Anordnung", hörte Ana Anghelina Ciubotaru eines Tages zu einer anderen Patientin sagen, die über Blähungen klagte. „Wenn der Herr Doktor meint, wir sollen essen, weil es besser ist für uns, dann dürfen wir hier keine Stimmung machen, wir müssen uns anpassen."

Einverstanden, sagte sich Ana, sie sind alle nervenkrank oder fast alle, doch was nützt es ihnen, wenn sie wie geistig zurückgebliebene, kretinoide Wesen behandelt werden? Die Schwestern, die ständig mit ihren Tabletts anrückten, die Frauen zum Essen überredeten und nicht imstande waren, Nervenkrankheit und Imbezillität auseinanderzuhalten, schienen ihr eher geeignet, Patientinnen der Heilanstalt zu sein als die Kranken. Sie teilte ihre Beobachtungen Dr. Boros mit, und er fragte sie daraufhin, weshalb es ihr schwerfalle, sich vorzustellen, dass auch das unangemessene Verhalten der Schwestern zur Therapie gehöre. Die Frauen würden dadurch gezwungen, selbst zu überlegen, was richtig und was falsch ist. Sie sollten über ihre Bedingungen nachdenken und einschätzen lernen, ob das medizinische Personal sich der Situation entsprechend verhalte. Mit anderen Worten, man müsse die Kranken, zu Versuchszwecken, Bedingungen aussetzen, die mit der eigenen Situation unvereinbar seien, und sie auf diese Weise dazu bringen, ihren Zustand zu bewerten und sich dessen bewusst zu werden.

Diese Erklärung irritierte Ana. Dr. Boros wollte ihr einreden, es gehöre absolut alles zur Behandlung. Jeder ihrer Schritte, jede Geste, jede Reaktion, auch die spontanste, war demnach vom Arzt bewusst zu Versuchszwecken provoziert worden. Der Gedanke, dass auch die Verspätung des Doktors bei der Morgenvisite an einem der vergangenen Tage vorausbedacht gewesen sein konnte, machte Ana bald wahnsinnig. Und wie war das neulich, als sie klingelte, damit die Nachtschwester die Tür öffne und sie aufs WC gehen ließe, diese aber nicht erschien, weil sie eingeschlafen oder weggegangen war, sollte auch das ein Test, eine Prüfung ihrer Reaktion gewesen sein? Oder damals, in jener Nacht, als die Schwester vergessen hatte, die Tür zu schließen, und Ana sich ängstlich in ihrem Bett verkroch und nicht wagte, die Klinke auch nur zu berühren, weil sie sich fürchtete - war auch das bewusst arrangiert gewesen? Lagen vielleicht gleich hundert Ärzte auf der Lauer, die nur darauf warteten, dass Ana die Tür selber schloss, um gleich darauf in den Kreis des von außen auf die Zimmertür fallenden Lichtscheins zu treten und ein selbstzufriedenes „Aha" auszurufen, weil sie die erwartete Reaktion registrieren konnten? Nein. Ana war entschlossen, nicht mitzuspielen. Sie wollte aus dem Netz, in dem sie ein kleines, zufälliges, über allen Regeln und Vorschriften schwebendes Teilchen zu sein schien, entkommen. Boros sollte ihr nur ja nicht mehr einreden wollen, noch dazu mit dem Anspruch, sie zu überzeugen, alles, was hier geschehe, sei bewusst in die Wege geleitet worden. Wenn die Schwestern den Patienten die Rationen wegstahlen, wenn sie Geld annahmen, um Alkohol in die Klinik zu schmuggeln, dann sollte das im Büro des Arztes mit den rötlich schimmernden Möbeln im zweiten Stock ausgetüftelt worden sein, eigens zu dem Zweck, die Reaktionen der Leidenden zu testen und ihnen das Erkennen ihrer Krankheit zu erleichtern? Sie sprach zu keinem davon. Nur einmal hatte sie Filip gegenüber etwas verlauten lassen, doch er hatte sich zu diesem Thema ausgeschwiegen, und sie hatte verstanden und war nie wieder darauf zurückgekommen.

Ana unterhielt sich nur wenig mit ihren Leidensgefährtinnen, bei den meisten wusste sie nicht, was sie ihnen hätte mitteilen sollen. Über die Behandlung redete sie grundsätzlich nicht, und sie hütete sich vor intimen Geständnissen, weil sie fürchtete, die Geschichte ihres Lebens und seine kleinen Geheimnisse könnten wie Scheidemünzen in der Heilanstalt zu zirkulieren beginnen, wie es bei vielen Kranken der Fall war. Sie begnügte sich damit, den Erzählungen der anderen zu lauschen, und nahm, mehr oder minder neutral, an den harmlosen Debatten im Park, in den Zimmern oder im großen Saal teil. Boros war der einzige, der kraft seines Amtes ihre Vergangenheit kannte und sich auf Dinge berufen konnte, die nur Ana und er wussten.

Einmal hatte Anghelina Ciubotaru das Gerücht verbreitet, Ana sei Boros' Mann, weil sie eine Intellektuelle sei und ein Verhältnis mit ihm habe. Wahrscheinlich glaubten die meisten Patientinnen ihrer dicken Kollegin nicht. Ana gegenüber aber benahmen sie sich zuweilen so, als sei es die Wahrheit. Sie gehörte zu den jüngsten der Kranken, wusste, dass sie (noch) gut aussah und kein hoffnungsloser Fall war in dieser Heilstätte. Es gab also keinen Grund, weshalb ihre Gegenwart Dr. Boros nicht hätte angenehm sein sollen. Sie hatte vom ersten Augenblick an Vertrauen zu ihm gehabt, damals, am Anfang, als sie nur wenig über das Leben im Sanatorium wusste, hatte auch Persönliches preisgegeben, Namen von Menschen genannt, mit denen sie vorher zu tun gehabt hatte, ohne jedoch die Mitteilung von Einzelheiten privater Natur zu übertreiben, vielleicht aus einem Gefühl großzügiger Rücksicht gegenüber den Zurückgebliebenen, damit jene keine Schuld treffe und ihr Fall für sich und nicht im Zusammenhang mit Filip, mit der Promotion, mit Pavel Irimie und der Hochschule betrachtet werde.

Ana vermied es sogar dann, über Filip zu sprechen, wenn es beinahe unvermeidlich schien, wenn sie in die Verlegenheit geraten war, es tun zu müssen. Nur selten nannte sie seinen Namen, mit ihm ging sie knauserig um, als sei er unvereinbar mit der Umgebung, in der sie sich nun befand. Meistens sagte sie „mein Mann", das musste von ihrem Standpunkt aus genügen. Der Name Filip blieb ausgespart und stand hoch über denen der anderen Ehemänner wie „Cuostel" oder „Vasile", die in den täglichen Unterhaltungen stets gegenwärtig waren.

Eine Zeit lang glaubten die anderen Patientinnen, auch Dr. Boros, Ana gebe Filip die Schuld an ihrem Aufenthalt in der Nervenheilstätte, auch wenn sie es nicht aussprach. Später überzeugte sich der Arzt vom Gegenteil, die Frauen aber hielten an ihrer Meinung fest. Ana gab sich keine Mühe, ihre Überzeugungen ins Wanken zu bringen, blieb sie doch auf diese Weise davor bewahrt, Tatsachen berichten zu müssen. Das Geheimnis, das Filip umwitterte und das sie von sich aus zu hüten bestrebt war, tat Ana wohl, viel wohler, als wenn er sie öfter besucht hätte, vielleicht jede Woche. Was könnte sie den anderen über ihn erzählen? Dass er sieben Jahre jünger ist als sie? Ihr Student gewesen war? Sicher hätten sich danach die meisten von ihr abgewandt. Und sosehr ihr die zwangsweise Gesellschaft der Frauen, mit denen sie zusammen war, auch missfiel, ganz allein dastehen wollte sie nicht, nur mit Filip in Gedanken und mit Dr. Boros, der zwar immer in ihrer Nähe, doch stets nur therapeutisch und niemals menschlich anwesend war.

Ana sitzt im Zimmer und erinnert sich an Szenen und Begebenheiten aus ihrem Leben. Eine große und helle Sonne überstrahlt die Bilder eines endlos langen Sommers, des längsten Sommers, den sie erlebt hat und den sie in jeder nur vorstellbaren Weise mit Filips Knabengesicht, seiner schlanken, aber kräftigen Gestalt und dem traurigen Lächeln, das sie in letzter Zeit an ihm beobachtet hat, verbindet.