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Tiffany Weh ist eine Hexe in Ausbildung und im besten Teenageralter. Da sie sich ungern etwas verbieten lässt, schon gar nicht das Tanzen, kann sie sich auch bei der Feier, die den Übergang vom Sommer zum Winter markiert, nicht zurückhalten. Und so passiert das Unvermeidliche – Der Winterschmied selbst, Herr über Eis und Schnee, wird auf Tiffany aufmerksam und verliebt sich in sie. Von Stund an überschüttet er sie mit Schneeflocken, und Tiffany muss sich schnell etwas einfallen lassen, wenn es jemals wieder Frühling werden soll auf der Scheibenwelt …
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Seitenzahl: 487
Tiffany Weh ist eine Hexe in Ausbildung und im besten Teenageralter. Da sie sich ungern etwas verbieten lässt, schon gar nicht das Tanzen, kann sie sich auch bei der Feier, die den Übergang vom Sommer zum Winter markiert, nicht zurückhalten. Und so passiert das Unvermeidliche – der Winterschmied selbst, Herr über Eis und Schnee, wird auf Tiffany aufmerksam und verliebt sich in sie. Von Stund an überschüttet er sie mit Schneeflocken, und Tiffany muss sich schnell etwas einfallen lassen, wenn es jemals wieder Frühling werden soll auf der Scheibenwelt …
Terry Pratchett, geboren 1948, gilt als einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen wurden weltweit bisher über 80 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 38 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde ihm sogar die Ritterwürde verliehen. Terry Pratchett starb im März 2015.
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Als das Unwetter kam, traf es die Hügel wie ein Hammer. Kein Himmel konnte so viel Schnee halten, und deshalb fiel er wie eine weiße Wand.
Dort, wo sich vor einigen Stunden eine Ansammlung von Dornbüschen auf einem alten Erdwall befunden hatte, lag nun Schnee. Im vergangenen Jahr hatten hier um diese Zeit einige frühe Primeln geblüht, doch jetzt war dort alles weiß.
Der Schnee bewegte sich. Ein etwa apfelgroßer Pfropf schob sich nach oben, und darum herum stieg Rauch auf. Eine Hand, nicht größer als eine Kaninchenpfote, fächelte ihn beiseite.
Ein sehr kleines, aber auch sehr zorniges blaues Gesicht blickte unter dem Schopf aus Schnee hervor in die unvermutet weiße Wüste.
»Potzblitz!«, brummte es. »Seht euch das an! Das is’ das Werk des Winterschmieds! Er meint es verdammt ernst!«
Weitere Schneehäufchen gerieten in Bewegung. Mehr Köpfe zeigten sich.
»Oh, schlimm, schlimm, schlimm!«, sagte einer von ihnen. »Er hat die große kleine Hexe wiedergefunden!«
Der erste Kopf wandte sich ihm zu. »Doofer Wullie?«
»Ja, Rob?«
»Habe ich dir nich’ gesagt, du sollst nich’ immer ›schlimm‹ sagen?«
»Ja, Rob, das hast du«, bestätigte der Kopf, der mit Doofer Wullie angesprochen worden war.
»Und warum hast du’s gerade wieder getan?«
»Tschuldige, Rob. Is’ mir so rausgerutscht.«
»Das zieht einen so runter.«
»Verzeihung, Rob.«
Rob Irgendwer seufzte. »Aber ich fürchte, du hast Recht, Doofer Wullie. Er is’ wegen der großen kleinen Hexe gekommen, kein Zweifel. Wer passt bei ihrer Farm auf?«
»Kleiner Gefährlicher Stachel, Rob.«
Rob sah zu den Wolken hoch, die so voller Schnee waren, dass sie in der Mitte durchhingen.
»Na schön«, sagte er und seufzte erneut. »Jetzt muss der Held ran.«
Er tauchte in die Höhle der Wir-sind-die-Größten ab, und der Schneepropf auf seinem Kopf kehrte an seinen ursprünglichen Platz zurück.
Das Innere des Erdwalls war recht groß. In der Mitte konnte ein Mensch aufrecht stehen, aber er hätte sich sogleich vor Husten zusammengekrümmt, denn dort zog der Rauch durch ein Loch ab.
Die Wände waren von Galerien gesäumt, auf denen es von blauen Kobolden wimmelte. Normalerweise ging es in der Höhle recht laut zu, aber jetzt herrschte eine seltsame Stille.
Rob Irgendwer ging zum Feuer, wo seine Frau Jeannie wartete. Sie erhob sich stolz, wie es sich für eine Kelda gehört, aber aus der Nähe schien es ihm, dass sie geweint hatte. Er schlang den Arm um sie.
»Also gut, ihr wisst vermutlich, was los ist«, wandte er sich an das rotblaue Publikum, das von den Galerien auf ihn herabsah. »Dies ist kein gewöhnlicher Schneesturm. Der Winterschmied hat die große kleine Hexe gefunden … Jetzt seid doch mal ruhig!«
Er wartete, bis das Geschrei und Schwerterklirren nachließ, und fuhr dann fort:
»Wir können nich’ an ihrer Stelle gegen den Winterschmied kämpfen! Das ist ihre Aufgabe! Wir können sie ihr nich’ abnehmen! Doch die Hexe der Hexen hat uns einen anderen Weg gezeigt! Einen dunklen und gefährlichen!«
Jubel ertönte. So etwas gefiel den Größten.
»Jawoll!«, sagte Rob zufrieden. »Und ich breche auf, um den Helden zu holen!«
Daraufhin erklang Gelächter, und der Große Yan, Größter der Größten, rief: »Es is’ zu früh! Wir haben ihn doch erst ein paar wenige Stunden im Heldsein unterrichtet! Er ist noch eine totale Null.«
»Für die große kleine Hexe wird er ein Held sein, und damit basta«, sagte Rob scharf. »Los mit euch, der ganze Haufen! Zur Kreidegrube! Grabt mir einen Weg zur Unterwelt!«
Das muss der Winterschmied sein, dachte Tiffany Weh, als sie im eiskalten Farmhaus vor ihrem Vater stand. Sie konnte ihn dort draußen spüren. Dieses Wetter wäre selbst mitten im Winter nicht normal gewesen, und inzwischen war der Frühling angebrochen. Es war eine Herausforderung. Oder vielleicht ein Spiel. Beim Winterschmied wusste man das nie so genau.
Aber ein Spiel kam eigentlich nicht infrage, denn die Lämmer starben. Ich bin erst dreizehn, und mein Vater und viele andere Leute, die älter sind, erwarten von mir, dass ich etwas tue. Doch ich kann nicht. Der Winterschmied hat mich wiedergefunden. Er ist jetzt hier, und ich bin zu schwach.
Es wäre einfacher, wenn sie mir die Hölle heiß machen würden, aber nein, sie betteln. Das Gesicht meines Vaters ist grau vor Sorge, und er bettelt. Mein Vater bettelt mich an.
O nein, jetzt nimmt er den Hut ab. Er nimmt den Hut ab, um mit mir zu sprechen!
Sie glauben, dass Magie nichts kostet, dass ich einfach nur mit den Fingern schnippen muss. Aber was tauge ich, wenn ich ihnen jetzt nicht helfen kann? Ich darf ihnen nicht zeigen, dass ich mich fürchte. Hexen dürfen sich nicht fürchten.
Und das ist alles meine Schuld. Ich habe damit angefangen, und ich muss es auch zu Ende bringen.
Herr Weh räusperte sich.
»… Und, äh, wenn du den Schnee … äh, wegzaubern könntest oder so? Für uns …?«
Alles im Zimmer war grau, denn Schnee lag vor den Fenstern, durch die das Licht hereindrang. Niemand hatte Zeit damit vergeudet, das grässliche Zeug von den Häusern wegzuschaufeln. Jeder, der eine Schaufel halten konnte, wurde woanders gebraucht, und trotzdem waren sie zu wenige. Die meisten Leute waren die ganze Nacht auf den Beinen und bei den Jährlingen gewesen, hatten versucht, alle Gefahren von den neuen Lämmern fernzuhalten … im Dunkeln, im Schnee …
In ihrem Schnee. Er war eine Botschaft für sie. Eine Herausforderung. Ein Ruf.
»Na schön«, sagte Tiffany. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Braves Mädchen«, erwiderte ihr Vater und lächelte erleichtert.
Nein, ich bin kein braves Mädchen, dachte Tiffany. Ich habe das alles über uns gebracht.
»Ihr müsst ein großes Feuer entzünden, drüben bei den Schuppen«, sagte sie laut. »Ein richtig großes Feuer, versteht ihr? Werft alles hinein, was brennt. Gebt ihm Nahrung. Es wird wieder ausgehen wollen, aber ihr müsst dafür sorgen, dass es weiterbrennt. Haltet genug Brennmaterial bereit, was auch immer geschieht. Das Feuer darf nicht ausgehen!«
Tiffany gab dem »nicht!« einen lauten, furchterregenden Klang, um zu verhindern, dass die Gedanken der Leute abschweiften. Sie streifte den dicken braunen Wollmantel über, den Fräulein Verrat für sie gemacht hatte, und nahm den spitzen schwarzen Hut vom Haken an der Tür. Eine Art gemeinschaftliches Grunzen entrang sich den Menschen, die sich in der Küche zusammendrängten, und einige von ihnen wichen zurück. Wir wollen jetzt eine Hexe, wir brauchen jetzt eine Hexe, aber … wir weichen jetzt auch ein wenig zurück.
Das war die Magie des spitzen Huts. Fräulein Verrat nannte es »Boffo«.
Tiffany Weh trat hinaus in den schmalen Korridor, der in den Schnee auf dem Hof gegraben worden war – die Schneewehen waren dort mehr als vier Meter hoch. Wenigstens schützten sie vor dem Wind, der aus Messern zu bestehen schien.
Man hatte einen Weg zur Koppel geschaffen, aber es war alles andere als leicht gewesen. Wenn der Schnee überall vier Meter weit aufragt, wie und wohin soll man ihn dann beiseiteräumen?
Tiffany wartete bei den Karrenschuppen, während die Männer an den Mauern aus Schnee herumhackten und -kratzten. Inzwischen waren sie todmüde; sie hatten stundenlang Schnee geschaufelt.
Das Wichtigste war …
Aber es gab vieles, was wichtig war. Es war wichtig, ruhig und zuversichtlich zu wirken. Es war wichtig, einen klaren Kopf zu behalten. Es war wichtig, nicht zu zeigen, dass man sich vor Angst fast in die Hosen machte …
Sie streckte die Hand aus, fing eine Schneeflocke auf und untersuchte sie eingehend. Es war keine normale, nein, ganz und gar nicht. Es war eine seiner speziellen Schneeflocken. Kein gutes Zeichen. Er verhöhnte sie. Tiffany hatte ihn nie zuvor gehasst, aber jetzt war sie dazu imstande, denn er tötete die Lämmer.
Sie fröstelte und zog den dicken Mantel enger um ihre Schultern.
»Dies ist meine Entscheidung«, krächzte sie, und ihr Atem bildete in der Luft kleine Wölkchen. Sie räusperte sich und begann erneut. »Dies ist meine Entscheidung. Wenn es einen Preis zu zahlen gibt, so entscheide ich, ihn zu zahlen. Wenn es mein Tod ist, so entscheide ich zu sterben. Wo auch immer mich dies hinführt, ich entscheide, dorthin zu gehen. Ich entscheide. Es ist meine Entscheidung.«
Wenn dies ein Zauberspruch war, so in erster Linie für sie selbst. Und wenn Zaubersprüche nicht einmal bei einem selbst wirken, dann wirken sie überhaupt nicht.
Tiffany kroch noch tiefer in den Mantel, um den schneidenden Wind auszusperren, und beobachtete, wie die Männer Stroh und Holz herbeischafften. Das Feuer kam so langsam in Gang, als fürchtete es, Enthusiasmus zu zeigen.
Sie hatte das schon mal getan, oder? Dutzende Male. Der Trick war nicht so schwer, wenn man ein Gefühl dafür hatte. Aber bisher hatte sie sich dabei immer Zeit genug gelassen, um zur richtigen inneren Einstellung zu finden, und ihn immer bloß auf ein Küchenfeuer angewandt, das ihre kalten Füße wärmte. Rein theoretisch sollte es mit einem großen Feuer und viel Schnee ebenso leicht sein, oder?
Oder?
Die Flammen loderten auf. Ihr Vater legte ihr die Hand auf die Schulter, und Tiffany zuckte zusammen. Sie hatte vergessen, wie leise er sein konnte.
»Was war das mit dem Entscheiden?«, fragte er. Sie hatte auch vergessen, wie gut er hörte.
»Das ist … eine Hexensache«, antwortete sie und mied seinen Blick. »Wenn dies … nicht klappt, so ist es allein meine Schuld.« Und ich bin schuld daran, dachte sie. Es ist nicht fair, aber niemand hat gesagt, dass es fair sein würde.
Die Hand ihres Vaters fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf. Wie weich seine Hände sind, dachte Tiffany. Groß und kräftig, aber weich wie die eines Babys, wegen des Fetts in der Schafwolle.
»Wir hätten dich nicht darum bitten sollen …«, sagte er.
Doch, hättet ihr, dachte Tiffany. Die Lämmer sterben unter dem schrecklichen Schnee. Und ich hätte sagen sollen: Nein, so gut bin ich noch nicht. Aber die Lämmer sterben unter dem schrecklichen Schnee!
Es wird andere Lämmer geben, sagten ihre Zweiten Gedanken.
Aber es werden nicht diese Lämmer sein, nicht wahr? Dies sind die Lämmer, die hier und jetzt sterben. Und sie sterben, weil ich meinen Füßen gehorcht und gewagt habe, mit dem Winterschmied zu tanzen.
»Ich kann es schaffen«, sagte sie.
Vater Weh hielt das Kinn seiner Tochter fest und blickte ihr in die Augen.
»Bist du sicher, Jiggit?«, fragte er. So hatte ihre Großmutter sie genannt – Oma Weh, die nie ein Lamm an den schrecklichen Schnee verloren hatte. Er hatte ihn nie zuvor benutzt. Wieso war er jetzt darauf gekommen?
»Ja!« Tiffany schob die Hand ihres Vaters beiseite und wandte den Blick ab, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Ich … habe deiner Mutter noch nichts davon gesagt«, begann er ganz langsam, als müssten die Worte sehr sorgfältig gewählt werden, »aber ich kann deinen Bruder nicht finden. Ich glaube, er wollte uns helfen. Immerfort Schwindell hat ihn mit seiner kleinen Schaufel gesehen. Äh … bestimmt geht es ihm gut, aber … bitte halt nach ihm Ausschau, ja? Er hat seine rote Jacke an.«
Sein völlig ausdrucksloses Gesicht bot einen herzzerreißenden Anblick. Der kleine Willwoll, fast sieben Jahre alt, lief immer den Männern nach, wollte immer einer von ihnen sein, wollte immer helfen. Wie schnell konnte man einen kleinen Jungen übersehen … Es schneite noch immer stark. Die schrecklich falschen Schneeflocken lagen weiß auf den Schultern ihres Vaters. An diese kleinen Dinge erinnert man sich, wenn man plötzlich den Boden unter den Füßen verliert und fällt …
Es war nicht bloß unfair, es war … grausam.
Denk an den Hut, den du trägst! Denk an deine Aufgabe! Gleichgewicht! Darauf kommt es an! Bewahre das Gleichgewicht in der Mitte, bewahre das Gleichgewicht …
Tiffany streckte die tauben Hände dem Feuer entgegen, um sie zu wärmen.
»Das Feuer darf auf keinen Fall ausgehen«, betonte sie noch einmal.
»Viele Männer sind unterwegs und holen von überallher Holz«, erwiderte ihr Vater. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen auch die Kohle aus der Schmiede holen. An Brennmaterial wird es uns nicht mangeln, das verspreche ich dir!«
Die Flammen tanzten und neigten sich Tiffanys Händen entgegen. Der Trick bestand darin … der Trick, der Trick … bestand darin, die Wärme irgendwo bei sich zu verstauen, sie mitzunehmen und … das Gleichgewicht zu halten. Vergiss alles andere!
»Ich begleite dich …«, begann ihr Vater.
»Nein!«, rief Tiffany viel zu laut. Sie war außer sich vor Angst. »Achte auf das Feuer! Tu, was ich dir sage!«
Ich bin jetzt nicht deine Tochter!, schrie es in ihr. Ich bin deine Hexe! Ich beschütze dich!
Sie drehte sich um, bevor er ihr ins Gesicht sehen konnte, und lief durch die fallenden Schneeflocken den Weg zu den unteren Koppeln hinunter. Der Schnee war zu einem holprigen Pfad festgetreten, und Neuschnee machte ihn glatt. Erschöpfte Männer mit Schaufeln pressten sich rechts und links an die weißen Wände, um ihr nicht im Weg zu sein.
Sie erreichte die offene Fläche, wo sich andere Schäfer in die Schneewand gruben. Um sie herum fielen weiße Brocken zu Boden.
»Aufhören! Kehrt um!«, rief Tiffanys Stimme, doch innerlich weinte sie.
Die Männer gehorchten sofort. Oberhalb des Munds, der diesen Befehl erteilt hatte, saß ein spitzer Hut. Einem spitzen Hut widersprach man nicht.
Denk an die Wärme, die Wärme, denk an die Wärme … Gleichgewicht, Gleichgewicht …
Hier ging es um pure Hexerei. Keine Spielzeuge, keine Zauberstäbe, kein Boffo, keine Pschikologie, keine Tricks. Es kam nur darauf an, wie gut man war.
Aber manchmal musste man sich selbst überlisten. Sie war weder die Sommerfrau noch Oma Wetterwachs. Sie musste sich selbst so gut wie möglich auf die Sprünge helfen.
Tiffany holte das kleine silberne Pferd aus ihrer Tasche. Es war schmierig und fleckig. Sie hatte sich oft vorgenommen, es zu säubern, aber nie Zeit dafür gefunden …
Wie ein Ritter, der seinen Helm aufsetzt, befestigte sie die silberne Kette an ihrem Hals.
Sie hätte mehr üben sollen. Sie hätte auf die Leute hören sollen. Sie hätte auf sich selbst hören sollen.
Tiffany holte tief Luft und streckte die Hände nach rechts und links, die Innenflächen nach oben. Auf der rechten Hand schimmerte eine weiße Narbe.
»Donner in meiner rechten Hand«, sagte sie. »Blitz in meiner linken. Feuer hinter mir. Eis vor mir.«
Sie trat vor, bis sie nur noch wenige Zentimeter von der weißen Wand trennten. Deutlich spürte sie, wie der Schnee bereits die Wärme aus ihr saugte. Nun gut. Sie atmete mehrmals tief durch. Dies ist meine Entscheidung …
»Eis zu Feuer«, flüsterte sie.
Das Feuer im Hof wurde weiß und donnerte wie in einem Schmelzofen.
In der Schneewand zischte es. Dampf fauchte empor und riss Schneebrocken mit sich. Tiffany setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Der Schnee wich vor ihren Händen zurück wie Dunst vor der aufgehenden Sonne. Er schmolz in ihrer Hitze, und es entstand ein Tunnel durch die hohen Schneewehen. Der Schnee floh vor ihr, umwogte sie mit Wolken aus kaltem Nebel.
Ja! Tiffany lächelte grimmig. Es stimmte. Wenn man in seiner Mitte ruhte und die richtige Einstellung hatte, so konnte man die Dinge ausbalancieren. In der Mitte der Wippe gibt es einen Punkt, der sich nie bewegt …
Ihre Stiefel glucksten in warmem Wasser. Da das furchtbare Unwetter so spät im Jahr gekommen war, wuchs bereits frisches grünes Gras unter dem Schnee. Tiffany ging weiter, dorthin, wo die zugeschneiten Ablammpferche lagen.
Ihr Vater starrte ins Feuer. Es brannte weiß wie in einem Schmelzofen und fraß sich wie von starkem Wind getrieben durchs Holz. Innerhalb weniger Sekunden zerfiel es vor seinen Augen zu Asche …
Wasser umströmte Tiffanys Stiefel.
Ja! Aber denk nicht daran! Bewahre das Gleichgewicht! Mehr Wärme! Eis zu Feuer!
Sie hörte ein Blöken.
Schafe können unter Schnee überleben, zumindest für eine Weile. Aber wie Oma Weh immer gesagt hatte: Als die Götter das Schaf erschufen, haben sie das Gehirn vergessen. In Panik – und Schafe waren der Panik immer sehr nahe – zertrampelten sie ihre eigenen Lämmer.
Dampfende, verwirrte Mutterschafe und Lämmer kamen zum Vorschein. Als der Schnee um sie herum schmolz, wirkten sie wie zurückbleibende Skulpturen.
Den Blick starr geradeaus gerichtet, setzte Tiffany ihren Weg fort. Sie war sich nur vage der aufgeregten Rufe der Männer hinter ihr bewusst. Sie folgten ihr, befreiten die Mutterschafe, nahmen die Lämmer auf den Arm …
Ihr Vater schrie die anderen Männer an. Einige von ihnen zerschlugen einen Karren und warfen das Holz in die glühend heißen Flammen. Andere schleppten Möbel aus dem Haus. Räder, Tische, Stroh ballen, Stühle – das Feuer nahm alles, verschlang es und verlangte donnernd mehr. Doch es gab nichts mehr.
Keine rote Jacke. Keine rote Jacke! Gleichgewicht halten. Tiffany watete weiter; Wasser und Schafe strömten an ihr vorbei. Ein Stück der Tunneldecke stürzte ein und platschte ins Schmelzwasser. Sie achtete nicht darauf. Frische Schneeflocken fielen durch das Loch und kochten in der Luft über ihrem Kopf. Auch darauf achtete sie nicht. Und dann, vor ihr … etwas Rotes.
Eis zu Feuer! Der Schnee wich zurück, und dort war er. Tiffany hob ihn hoch und schlang die Arme um ihn, gab ihm etwas von ihrer Wärme ab und spürte, wie er sich bewegte. »Der Schnee muss mindestens zwanzig Kilo gewogen haben!«, flüsterte sie. »Mindestens zwanzig Kilo!«
Willwoll hustete und öffnete die Augen. Tränen fielen wie schmelzender Schnee, als Tiffany zu einem Schäfer lief und ihm den Jungen in die Arme drückte.
»Bring ihn zu seiner Mutter! Jetzt sofort!« Der Mann packte den Jungen und stürmte los, von ihrer Grimmigkeit erschrocken. Heute war sie ihre Hexe!
Tiffany kehrte zu dem Schneetunnel zurück. Es gab keine Lämmer mehr, die gerettet werden mussten.
Der Mantel ihres Vaters landete in den hungrigen Flammen, glühte für einen Moment auf und zerfiel dann zu grauer Asche. Die anderen Männer standen bereit und packten Tiffanys Vater, als er dem Mantel hinterherspringen wollte. Sie zogen ihn zurück, und er trat um sich und schrie.
Die Pflastersteine waren wie Butter geschmolzen. Sie zischten ein letztes Mal und erstarrten dann.
Das Feuer ging aus.
Tiffany Weh hob den Blick und sah in die Augen des Winterschmieds.
Und oben auf dem Dach des Karrenschuppens sagte eine leise Stimme, die Kleiner Gefährlicher Stachel gehörte: »Oh, Potzblitz!«
All dies ist noch nicht geschehen. Vielleicht geschieht es überhaupt nicht. Die Zukunft ist immer ein bisschen ungewiss. Selbst kleine Dinge, zum Beispiel eine Schneeflocke oder der Umstand, dass jemand den falschen Löffel fallen lässt, können ihr eine andere Richtung geben. Oder vielleicht auch nicht.
Es begann alles im letzten Herbst, an dem Tag mit der Katze …
Tiffany Weh fliegt auf einem Besen durch die hundert Meilen entfernten Bergwälder. Es ist ein sehr alter Besen, und sie fliegt dicht über dem Boden. Hinten sind zwei kleinere Besen an ihm befestigt, wie Stützräder, damit er nicht umkippt. Passenderweise gehört er einer sehr alten Hexe namens Fräulein Verrat, die noch schlechter fliegt als Tiffany und 113 Jahre alt ist.
Tiffany ist gut hundert Jahre jünger, etwas größer als noch vor einem Monat und in Hinsicht auf viele Dinge nicht mehr so sicher wie vor einem Jahr.
Sie lernt, eine Hexe zu sein. Hexen tragen für gewöhnlich Schwarz, aber soweit Tiffany das feststellen konnte, taten sie dies nur deshalb, weil sie immer Schwarz getragen hatten. Das reichte ihr als Grund nicht aus, und deshalb trug sie gern Blau oder Grün. Gegen irgendwelches Chichi hatte sie nichts, weil sie so etwas gar nicht kannte.
Der spitze Hut jedoch war ihr Markenzeichen. Ein spitzer Hut hat an sich nichts Magisches, außer dass er seine Trägerin als Hexe ausweist. Einem spitzen Hut schenken die Leute Beachtung.
Trotzdem ist es schwer, Hexe in einem Dorf zu sein, in dem man aufgewachsen ist. Es ist schwer, für Menschen eine Hexe zu sein, die einen als »die Kleine von Joe Weh« kennen und gesehen haben, wie man im Alter von zwei Jahren nur mit einem Hemdchen bekleidet herumgelaufen ist.
Es hatte geholfen, die Heimat zu verlassen. Die meisten Leute, die Tiffany kannte, waren nie weiter als zehn Meilen vom Ort ihrer Geburt entfernt gewesen. Wenn man also in der geheimnisvollen Fremde gewesen war, so wurde man dadurch selbst ein wenig geheimnisvoll. Bei der Rückkehr war man dann irgendwie anders. Eine Hexe musste anders sein.
Wie sich herausstellte, war die Hexerei hauptsächlich harte Arbeit und hatte nur sehr wenig mit heiterem Hokuspokus zu tun. Es gab keine Schule und keinen richtigen Unterricht. Aber es war nicht klug, die Hexerei ganz allein zu lernen, erst recht nicht, wenn man über eine natürliche Begabung verfügte. Wenn man es falsch anpackte, brachte man es in nur einer Woche von Unwissenheit zum Gackeln …
Eigentlich ging es letztendlich darum, ums Gackeln. Allerdings wurde nie darüber gesprochen. Die Hexen sagten Dinge wie »Man kann nie zu alt, zu dünn oder zu warzig sein«, aber das Gackeln erwähnten sie nie. Jedenfalls nicht direkt. Doch sie hielten ständig danach Ausschau.
Man wurde nur allzu leicht zu einer Gacklerin. Die meisten Hexen lebten allein (eventuell mit Katze) und bekamen manchmal wochenlang keine andere Hexe zu Gesicht. Zu Zeiten, als die Menschen Hexen hassten, war ihnen oft vorgeworfen worden, sie würden mit ihren Katzen reden. Natürlich redeten sie mit ihren Katzen. Nach drei Wochen ohne ein intelligentes Gespräch, bei dem es nicht um Kühe ging, war man sogar bereit, mit einer Wand zu reden. Und das war ein erstes Anzeichen drohenden Gackelns.
Für eine Hexe bedeutete »gackeln« nicht nur schwatzen oder böse kichern. Es bedeutete, dass sich das Bewusstsein von seinem Anker entfernte. Es bedeutete, dass man den Verstand verlor. Es bedeutete, dass Einsamkeit, harte Arbeit, Verantwortung und die Probleme anderer Leute einen Stück für Stück verrückt werden ließen, wobei jedes Stück so klein war, dass man es gar nicht bemerkte, bis man es für normal hielt, sich nicht mehr zu waschen und einen Kessel auf dem Kopf zu tragen. Es bedeutete, dass man sich für etwas Besseres als alle anderen im Dorf hielt, weil man mehr wusste als sie. Es bedeutete, Richtig und Falsch für verhandelbar zu halten. Und es bedeutete schließlich, dass man »ins Dunkel ging«, wie es bei den Hexen hieß. Das war ein übler Weg. Am Ende dieses Weges befanden sich vergiftete Spinnräder und Lebkuchenhäuser.
Der Brauch regelmäßiger Besuche beugte dieser Entwicklung vor. Andauernd besuchten Hexen andere Hexen, und manchmal reisten sie ziemlich weit für eine Tasse Tee und ein Rosinenbrötchen. Zum Teil ging es dabei um Tratsch, denn Hexen liebten es zu tratschen, insbesondere dann, wenn es dabei um aufregendere Dinge als nur um die Wahrheit ging. Aber der eigentliche Sinn bestand darin, sich gegenseitig im Auge zu behalten.
An diesem Tag besuchte Tiffany Oma Wetterwachs, die nach Meinung der meisten Hexen (und auch Omas eigener) die mächtigste Hexe in den Bergen war. Bei diesen Besuchen benahm man sich sehr höflich. Niemand fragte: »Noch keinen Sprung in der Schüssel?« Niemand antwortete: »Natürlich nicht! Bin total klar!« So etwas war gar nicht nötig. Man wusste, worum es ging, und deshalb sprach man über andere Dinge. Doch wenn Oma Wetterwachs verstimmt war, machte sie es einem ziemlich schwer.
Stumm saß sie in ihrem Schaukelstuhl. Manche Leute können gut reden; Oma Wetterwachs konnte gut schweigen. Sie konnte so still dasitzen, dass sie zu verschwinden schien. Man vergaß, dass sie da war. Der Raum war plötzlich leer.
Das verunsicherte die Leute. Und das sollte es vermutlich. Aber auch Tiffany hatte das Schweigen gelernt, von Oma Weh, ihrer echten Großmutter. Jetzt lernte sie, dass man fast unsichtbar werden konnte, wenn man sich ganz still verhielt.
Oma Wetterwachs war eine Spezialistin auf diesem Gebiet.
Tiffany nannte das insgeheim den Ich-bin-nicht-da-Zauber, falls es wirklich ein Zauber war. Vielleicht, so überlegte sie, hat jeder etwas in sich, das der Welt mitteilt, dass er da ist. Deshalb spürt man manchmal, dass jemand hinter einem steht, obwohl er überhaupt kein Geräusch verursacht hat. Man empfängt sein Ich-bin-da-Signal.
Bei manchen Leuten war es sehr stark, zum Beispiel bei denen, die in Läden zuerst bedient wurden. Oma Wetterwachs’ Ich-bin-da-Signal schallte sogar von den Bergen zurück, wenn sie es darauf anlegte. Sobald sie in einen Wald trat, rannten die Wölfe und Bären auf der anderen Seite hinaus.
Sie konnte ihr Signal aber auch abschalten.
Das tat sie jetzt. Tiffany musste sich konzentrieren, um sie zu sehen. Der größte Teil ihres Bewusstseins behauptete, dass Oma Wetterwachs nicht da war.
Es reicht jetzt, dachte sie und hüstelte. Plötzlich war Oma Wetterwachs schon die ganze Zeit dagewesen.
»Fräulein Verrat geht es gut«, sagte Tiffany.
»Ein gute Frau«, erwiderte Oma. »O ja.«
»Sie hat komische Angewohnheiten«, sagte Tiffany.
»Niemand ist vollkommen«, entgegnete Oma Wetterwachs
»Sie probiert neue Augen aus«, sagte Tiffany.
»Gut.«
»Es sind zwei Raben …«
»Keine schlechte Idee«, kommentierte Oma Wetterwachs.
»Besser als die Maus, die sie normalerweise benutzt«, sagte Tiffany.
»Kann ich mir denken.«
Es ging noch ein bisschen so weiter, bis sich Tiffany darüber ärgerte, dass sie die Einzige war, die das Gespräch am Laufen hielt. Immerhin gab es so etwas wie gute Manieren. Na schön, sie wusste, was es da zu unternehmen galt.
»Frau Ohrwurm hat ein neues Buch geschrieben«, sagte sie.
»Ich habe davon gehört«, erwiderte Oma Wetterwachs. Die Schatten im Zimmer schienen ein wenig dunkler zu werden.
Nun, das erklärte ihre Verdrießlichkeit. Allein der Gedanke an Frau Ohrwurm machte Oma Wetterwachs wütend. Für Oma Wetterwachs war an Frau Ohrwurm alles falsch. Sie war nicht in den Bergen geboren, und allein das kam fast einem Verbrechen gleich. Sie schrieb Bücher, und Oma Wetterwachs traute Büchern nicht. Und Frau Ohrwurm (Oor-wm ausgesprochen, zumindest von Frau Ohrwurm) glaubte an glänzende Zauberstäbe, magische Amulette, mystische Runen und die Macht der Sterne, wohingegen Oma Wetterwachs an Tee, trockene Kekse und morgendliches Waschen mit kaltem Wasser glaubte. Vor allem aber glaubte sie an Oma Wetterwachs.
Frau Ohrwurm war bei den jüngeren Hexen sehr beliebt, denn ihre Art der Hexerei erlaubte ihnen, so viel Schmuck zu tragen, dass sie kaum mehr gehen konnten. Oma Wetterwachs war bei niemandem sehr beliebt …
… es sei denn, man brauchte sie. Wenn der Tod an der Wiege stand oder jemandem im Wald die Axt ausgerutscht war und Blut ins Moos tropfte, dann lief man zu der schiefen alten Hütte auf der Lichtung. Wenn es keine Hoffnung mehr gab, bat man Oma Wetterwachs um Hilfe, denn sie war die Beste.
Und sie kam immer. Immer. Aber war sie deshalb beliebt? Nein. Brauchen ist nicht das Gleiche wie Mögen. Oma Wetterwachs war dafür da, wenn die Dinge ernst wurden.
Aber Tiffany mochte sie auf eine seltsame Art und Weise. Und sie glaubte, dass Oma Wetterwachs sie ebenfalls mochte. Sie erlaubte Tiffany, sie Oma zu nennen, obwohl alle anderen jungen Hexen sie mit Frau Wetterwachs ansprechen mussten. Manchmal glaubte Tiffany, dass Oma Wetterwachs Leute, die freundlich zu ihr waren, auf die Probe stellte, um herauszufinden, wie lange sie freundlich blieben. Bei Oma Wetterwachs war alles ein Test.
»Das neue Buch heißt Erste Versuche in Hexerei«, fuhr Tiffany fort und beobachtete die alte Hexe aufmerksam.
Oma Wetterwachs lächelte. Anders ausgedrückt: Ihre Mundwinkel rutschten ein wenig nach oben.
»Ha!«, sagte sie. »Ich habe es schon einmal gesagt, und ich sage es wieder: Man kann die Hexerei nicht aus Büchern lernen. Letizia Ohrwurm glaubt, dass man Hexe werden kann, indem man einkaufen geht.« Sie bedachte Tiffany mit einem durchdringenden Blick und schien dabei zu überlegen. Dann fügte sie hinzu: »Ich wette, sie weiß nicht, wie man das hier macht.«
Sie nahm ihre Tasse mit dem heißen Tee und wölbte die Hände darum. Dann löste sie eine Hand davon und ergriff Tiffanys Hand.
»Bist du bereit?«, fragte Oma.
»Wofü …?«, begann Tiffany und fühlte, wie ihre Hand heiß zu werden begann. Die Hitze breitete sich im Arm aus und wärmte ihn bis zum Knochen.
»Spürst du es?«
»Ja!«
Die Wärme ließ wieder nach. Und Oma Wetterwachs drehte die Tasse um, ohne Tiffany aus den Augen zu lassen.
Der Tee fiel als gefrorener Klumpen heraus.
Tiffany war alt genug, nicht zu fragen: »Wie hast du das gemacht?« Oma Wetterwachs beantwortete keine dummen Fragen. Sie beantwortete fast nie Fragen, gleich welcher Art.
»Du hast die Hitze verschoben«, sagte Tiffany. »Du hast die Hitze aus dem Tee genommen und durch dich auf mich übertragen, nicht wahr?«
»Ja, aber ohne selbst etwas davon abzubekommen«, sagte Oma Wetterwachs triumphierend. »Es geht dabei um Gleichgewicht, verstehst du? Gleichgewicht ist der Trick. Bewahre das Gleichgewicht und …« Sie unterbrach sich. »Hast du jemals auf einer Wippe gesessen? Das eine Ende geht nach oben, das andere nach unten. Aber der Punkt in der Mitte, genau in der Mitte, bleibt, wo er ist. Die Aufwärts- und die Abwärtsbewegung gehen durch ihn hindurch, ohne ihn zu beeinflussen. Es spielt keine Rolle, wie weit nach oben oder nach unten die Wippe ausschlägt, er bewahrt immer das Gleichgewicht.« Sie schniefte. »Bei Magie geht es größtenteils darum, Dinge zu verschieben.«
»Kann ich das lernen?«
»Ich denke schon. Es ist nicht schwer, wenn man die richtige Einstellung findet.«
»Kannst du es mich lehren?«
»Das habe ich gerade. Ich habe es dir gezeigt.«
»Nein, Oma, du hast mir gezeigt, wie es geht, aber nicht …
wie man es macht.«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß, wie ich es mache. Bei dir wird es anders sein. Du musst die richtige Einstellung haben.«
»Und wie finde ich die richtige Einstellung?«
»Woher soll ich das wissen? Da musst du schon deinen eigenen Verstand benutzen«, erwiderte Oma Wetterwachs spitz. »Setz noch einmal den Kessel auf, ja? Mein Tee ist kalt geworden.«
Das Ganze hatte fast etwas Boshaftes, aber das war nun mal Omas Art. Sie vertrat den Standpunkt: Wenn man zu lernen imstande war, fand man irgendwann selber heraus, wie etwas funktionierte. Sie hielt es für falsch, anderen Dinge zu erleichtern. Das Leben war nun mal nicht einfach, meinte sie.
»Wie ich sehe, trägst du noch immer diesen Flitterkram«, sagte Oma. Sie mochte keinen Flitterkram, ein Wort, mit dem sie alle metallenen Dinge benannte, die eine Hexe trug, ohne dass sie dazu dienten, etwas zu befestigen oder zu schließen.
Tiffany berührte das silberne Pferd an ihrer Halskette. Es war klein und schlicht und bedeutete ihr viel.
»Ja«, sagte sie ruhig. »Ich trage es noch immer.«
»Was hast du da im Korb?«, fragte Oma, und das war ungewöhnlich unhöflich. Tiffanys Korb stand auf dem Tisch, und natürlich enthielt er ein Geschenk. Jeder wusste, dass man ein kleines Geschenk mitnahm, wenn man zu einem Besuch aufbrach. Aber die besuchte Hexe sollte sich überrascht zeigen, wenn sie es erhielt, und so etwas sagen wie: »Oooh, das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Tiffany, während sie den großen schwarzen Kessel aufs Feuer setzte.
»Niemand hat dich gebeten, mir Geschenke zu bringen«, erwiderte Oma streng.
»Ja, mag sein«, sagte Tiffany und beließ es dabei.
Sie hörte, wie Oma hinter ihr den Deckel des Korbs hob. Er enthielt ein Kätzchen.
»Ihre Mutter ist Pinky, die Katze von Witwe Kabel«, sagte Tiffany, um die Stille zu füllen.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, knurrte Oma Wetterwachs.
»Das war kein Problem.« Tiffany sah ins Feuer und lächelte.
»Ich kann mich nicht mit Katzen abgeben.«
»Sie wird dafür sorgen, dass sich hier weniger Mäuse herumtreiben«, sagte Tiffany und drehte sich noch immer nicht um.
»Hier gibt es überhaupt keine Mäuse.«
Die finden hier wohl nichts zu fressen, dachte Tiffany. Laut sagte sie: »Frau Ohrwurm hat sechs große schwarze Katzen.« Sie stellte sich das Kätzchen im Korb vor, wie es mit dem traurigen, erschrockenen Blick aller Kätzchen zu Oma aufsah. Du stellst mich auf die Probe und ich dich, dachte Tiffany.
»Ich weiß gar nicht, was ich damit anfangen soll«, sagte Oma Wetterwachs. »Sie muss im Ziegenstall schlafen.« Die meisten Hexen hielten Ziegen.
Das Kätzchen rieb sich an Omas Beinen und machte »Miep«.
Als Tiffany später ging, verabschiedete Oma Wetterwachs sie an der Tür und sperrte das Kätzchen geflissentlich aus.
Tiffany ging über die Lichtung zu der Stelle, wo sie Fräulein Verrats Besen festgebunden hatte.
Aber sie stieg nicht auf, noch nicht. Sie stellte sich vor einen Stechpalmenbusch und wurde ganz still, bis sie nicht mehr vorhanden war, bis alles an ihr sagte: Ich bin nicht da.
Jeder kann im Feuer und in den Wolken Bilder erkennen. Das dreht man einfach um. Man schaltet den Teil von sich selbst ab, der signalisiert, dass man da ist. Man löst sich auf. Dann fällt es Beobachtern schwer, einen zu sehen. Das Gesicht wird zu Blättern und Schatten, der Körper zum Teil eines Baums oder Busches. Das Hirn des Beobachters füllt die Lücken.
Tiffany, die nun wie ein Teil von einem Stechpalmenbusch aussah, behielt die Tür im Auge. Wind kam auf, warm, aber lästig, schüttelte gelbe und rote Blätter vom Bergahorn und wirbelte sie über die Lichtung. Das Kätzchen versuchte, welche davon zu fangen, saß dann da und miaute leise und traurig. Gleich würde Oma Wetterwachs annehmen, dass Tiffany fort war, die Tür öffnen und …
»Was vergessen?«, ertönte Omas Stimme dicht an ihrem Ohr.
Sie war der Busch.
»Äh … sie ist sehr süß. Ich dachte, dass du sie vielleicht lieb gewinnst«, sagte Tiffany, aber sie dachte: Sie könnte hierher gelaufen sein, aber warum habe ich sie dann nicht gesehen? Kann man laufen und sich gleichzeitig verstecken?
»Mach dir keine Gedanken um mich, Mädchen«, sagte die Hexe. »Kehr jetzt zu Fräulein Verrat zurück und richte ihr meine besten Grüße aus. Aber …« Die Stimme wurde ein wenig sanfter. »… du hast dich gut versteckt. Viele Leute hätten dich nicht gesehen. Ich habe kaum deine Haare wachsen gehört!«
Als Tiffanys Besen die Lichtung verlassen und sich Oma Wetterwachs auch noch auf andere Weise vergewissert hatte, dass sie wirklich fort war, trat sie in ihre Hütte, ohne das Kätzchen eines Blickes zu würdigen.
Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür einen Spalt breit, aufgestoßen vielleicht vom Wind. Das Kätzchen lief hinein …
Alle Hexen sind ein bisschen seltsam. Tiffany hatte sich so an das Seltsame gewöhnt, dass es ihr normal erschien. Man nehme nur Frau Grad, die zwei Körper hatte, einer davon imaginär. Oder Frau Pullunder, die Rasseregenwürmer züchtete und ihnen allen Namen gab. Nun, sie war eigentlich nicht seltsam, nur ein wenig anders, außerdem waren Regenwürmer recht interessant, auf eine grundsätzlich uninteressante Art und Weise. Und dann das alte Mütterchen Dismass, das an Anfällen zeitlicher Verwirrung litt, was bei einer Hexe sehr sonderbar sein kann. Ihr Mund bewegte sich nie synchron zu den Worten, und manchmal kamen ihre Schritte zehn Minuten vor ihr die Treppe herunter.
Doch in Sachen Seltsamkeit schoss Fräulein Verrat eindeutig den Vogel ab. Und es war ein besonders großer Vogel, mit vielen bunten Federn.
Wo soll man anfangen, wenn praktisch alles seltsam ist …
Fräulein Eumenides Verrat war mit sechzig Jahren erblindet. Für die meisten Menschen wäre das ein Unglück gewesen, aber Fräulein Verrat beherrschte das Borgen, eine spezielle Hexenfähigkeit. Sie konnte die Augen von Tieren benutzen und entnahm das, was sie sahen, direkt ihrem Gehirn.
Mit fünfundsiebzig war sie taub geworden, aber auch daran hatte sie sich gewöhnt und griff auf all die Ohren zurück, die sie zu fassen kriegte.
Zu Anfang, als Tiffany zu ihr gekommen war, hatte sie eine Maus fürs Sehen und Hören verwendet, denn ihre Dohle war gestorben. Es hatte Tiffany ein wenig irritiert zu sehen, wie die alte Frau mit einer Maus auf der ausgestreckten Hand durch ihr Häuschen ging. Richtig beunruhigend wurde es, wenn man etwas sagte und sich die Maus dann zu einem umdrehte. Es ist erstaunlich, wie unheimlich eine zuckende kleine rosarote Schnauze sein kann.
Die neuen Raben waren viel besser. Jemand aus einem der Dörfer hatte eine Sitzstange angefertigt, die sich die Alte auf die Schultern setzen konnte. Darauf hockten die Raben rechts und links von ihrem Kopf, und in der Mitte leuchtete Fräulein Verrats langes weißes Haar. Es sah sehr, sehr hexisch aus, obgleich am Ende des Tages die Rückseite ihres Mantels recht schmutzig war.
Und dann die Uhr. Sie war schwer und aus rostigem Eisen hergestellt, von jemandem, der mehr Schmied als Uhrmacher war. Deshalb machte sie nicht Ticktack, sondern Klonkklank. Fräulein Verrat trug sie am Gürtel und las die Zeit ab, indem sie die kurzen, dicken Zeiger befühlte.
In den Dörfern erzählte man sich, dass die Uhr Fräulein Verrats Herz war – angeblich benutzte sie es seit dem Tod ihres ersten Herzens. Aber man erzählte sich viel über Fräulein Verrat.
Man durfte auf Seltsamkeit nicht allzu empfindlich reagieren, wenn man mit Fräulein Verrat zurechtkommen wollte. Die Tradition verlangte, dass junge Hexen umherreisten und bei älteren Hexen wohnten, um von ihnen zu lernen. Als Gegenleistung verpflichteten sie sich zu etwas, das die Hexensucherin Fräulein Tick »ein wenig Hilfe bei der Hausarbeit« nannte. In Wirklichkeit war damit »die ganze Hausarbeit erledigen« gemeint. Die meisten jungen Hexen verließen Fräulein Verrat nach einer Nacht. Tiffany hatte es bislang drei Monate bei ihr ausgehalten.
Oh … und manchmal, wenn sie nach einem Paar Augen zum Sehen suchte, stahl sich Fräulein Verrat einem in den Kopf. Ein sonderbares Prickeln ging damit einher, als sähe einem ein Unsichtbarer über die Schulter.
Ja … in Sachen Seltsamkeit schoss Fräulein Verrat nicht bloß den Vogel ab. Sie holte einen ganzen Schwarm herunter.
Fräulein Verrat saß an ihrem Webstuhl, als Tiffany hereinkam. Zwei Schnäbel wandten sich ihr zu.
»Ach, Kind«, sagte die alte Hexe mit einer dünnen, krächzenden Stimme. »Du hattest einen schönen Tag.«
»Ja, Fräulein Verrat«, erwiderte Tiffany gehorsam.
»Du bist bei der jungen Wetterwachs gewesen, und es geht ihr gut.« Klickklack machte der Webstuhl. Kloncklank machte die Uhr.
»Sehr gut«, sagte Tiffany. Fräulein Verrat stellte keine Fragen. Sie nannte einem die Antworten. Die junge Wetterwachs, dachte Tiffany, als sie mit der Zubereitung des Abendessens begann. Aber Fräulein Verrat war sehr alt.
Und sehr gruselig. Das war eine Tatsache. Es ließ sich nicht leugnen. Ihre Nase war nicht krumm, und sie hatte noch all ihre Zähne, auch wenn sie inzwischen gelb geworden waren, doch abgesehen davon konnte man sie als Bilderbuchhexe bezeichnen. Ihre Knie knackten, wenn sie ging. Und sie ging sehr schnell, mit Hilfe von zwei Stöcken – damit flitzte sie umher wie eine dicke Spinne. Auch das war seltsam. Das kleine Haus war voller Spinnweben, die Tiffany nicht anrühren durfte, aber man sah nie eine Spinne.
Und dann ihr Faible für Schwarz. Die meisten Hexen mochten Schwarz, aber Fräulein Verrat hatte sogar schwarze Ziegen und schwarze Hühner. Die Wände waren schwarz. Der Boden war schwarz. Wenn man ein Stück Lakritz fallen ließ, fand man es nie wieder. Tiffany musste zu ihrem Entsetzen ihren Käse schwarz machen, was bedeutete, ihn mit glänzendem schwarzen Wachs zu bestreichen. Sie machte guten Käse, und das Wachs hielt ihn feucht, aber sie misstraute schwarzem Käse, denn er sah aus, als führte er irgendwas im Schilde.
Außerdem schien Fräulein Verrat keinen Schlaf zu brauchen. Nacht und Tag spielten für sie inzwischen kaum mehr eine Rolle. Wenn die Raben schlafen gingen, rief sie eine Eule und webte mit deren Augen weiter. Eine Eule taugte besonders gut dazu, meinte Fräulein Verrat, denn sie folgte mit dem Kopf immer dem Weberschiffchen des Webstuhls. Klickklack machte der Webstuhl. Klonkklank antwortete ihm die Uhr.
Fräulein Verrat mit ihrem wehenden schwarzen Mantel, der Augenbinde und den zerzausten weißen Haaren …
Fräulein Verrat mit ihren beiden Stöcken, wie sie in dunkler, kalter Nacht durch Hütte und Garten wanderte und die Erinnerung an Blumen einsog …
Jede Hexe hatte ein besonderes Talent, und Fräulein Verrat kümmerte sich um Gerechtigkeit.
Menschen reisten meilenweit, um ihr ihre Probleme vorzutragen:
Ich weiß, dass es meine Kuh ist, aber er behauptet, sie gehört ihm!
Sie sagt, es sei ihr Land, aber mein Vater hat es mir hinterlassen!
… und Fräulein Verrat saß an dem klickklackenden Webstuhl und wandte all den Ratsuchenden im Zimmer den Rücken zu. Der Webstuhl beunruhigte die Leute. Sie beobachteten ihn, als hätten sie Angst davor, und wurden dabei ihrerseits von den Raben beobachtet.
Stotternd, mit vielen »Ähs« und »Öhs«, trugen sie ihr Anliegen vor, während der Webstuhl im flackernden Kerzenlicht klapperte. O ja … das Kerzenlicht …
Als Kerzenhalter dienten zwei Schädel. In den einen war das Wort ENOCHI, in den anderen ATHOOTITA eingeschnitzt.
Die Worte bedeuteten SCHULD und UNSCHULD. Tiffany wäre es lieber gewesen, sie hätte das nicht gewusst. Ein Mädchen, das im Kreideland aufgewachsen war, konnte so etwas gar nicht wissen, denn die Worte stammten aus einer fremden Sprache, noch dazu einer sehr alten. Der Grund dafür, weshalb sie ihre Bedeutung kannte, hieß Sensibel Hetzig, Dr. m. Phil., B. unh. S., Professor der Magie an der Unsichtbaren Universität. Er befand sich in ihrem Kopf.
Zumindest ein kleiner Teil von ihm.
Im vorletzten Sommer hatte sich ein Schwärmer in ihr eingenistet, ein … Geschöpf, das seit Millionen von Jahren Bewusstseine sammelte. Tiffany hatte es geschafft, ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben, aber einige wenige Fragmente waren in ihrem Gehirn stecken geblieben. Bei einem davon handelte es sich um einen kleinen Egobrocken und ein Knäuel aus Erinnerungen, die Reste des verstorbenen Professor Hetzig. Er bereitete ihr kaum Probleme, aber wenn Tiffany etwas in einer fremden Sprache sah, konnte sie es lesen. Besser gesagt, Professor Hetzigs quäkende Stimme übersetzte es für sie. (Mehr schien nicht von ihm übrig zu sein, aber Tiffany vermied es, sich vor einem Spiegel zu entkleiden.)
Von den Kerzen war Wachs auf die Schädel getropft, und die Leute im Zimmer warfen ihnen immer wieder verstohlene Blicke zu.
Und dann, wenn alles gesagt war, stand der Webstuhl plötzlich still, und Fräulein Verrat drehte sich auf ihrem großen, schweren, mit Rädern ausgestatteten Stuhl um. Sie löste die schwarze Binde von den perlig-grauen Augen und sagte: »Ich habe gehört. Jetzt werde ich sehen. Ich werde sehen, was wahr ist.«
An dieser Stellle, wenn Fräulein Verrat die Leute im Licht der Schädel anstarrte, geschah es häufig, dass jemand die Nerven verlor und die Flucht ergriff. Diese Augen, die das Gesicht eines Menschen nicht sehen konnten, blickten einem irgendwie bis in die Seele. Wenn Fräulein Verrat durch einen hindurchsah, musste man schon sehr, sehr dumm sein, um nicht die Wahrheit zu sagen.
Und daher widersprach nie jemand ihrem Urteil.
Es war Hexen nicht gestattet, sich für ihre Dienste bezahlen zu lassen, aber wer kam, um durch Fräulein Verrat einen Disput klären zu lassen, brachte ihr ein Geschenk mit, meist Lebensmittel, saubere gebrauchte Kleidung, sofern sie schwarz war, oder ein Paar alte Stiefel in ihrer Größe. Wenn das Urteil von Fräulein Verrat gegen einen ausfiel, so war es (das erzählte man sich zumindest) keine gute Idee, das Geschenk zurückzuverlangen, es sei denn, man wollte in etwas Kleines, Klebriges verwandelt werden.
Wenn man Fräulein Verrat belog, so hieß es, würde man innerhalb einer Woche eines schrecklichen Todes sterben. Es hieß weiter, dass Könige und Prinzen einen weiten Weg zurücklegten, um Fräulein Verrat des Nachts zu besuchen und sie in Hinsicht auf wichtige Staatsangelegenheiten um Rat zu fragen. In ihrem Keller lag angeblich ein Haufen Gold, bewacht von einem Dämon mit einer Haut wie Feuer und drei Köpfen, die jeden angriffen, den er sah, und ihm die Nase abbissen.
Tiffany ging davon aus, dass zumindest zwei dieser Vermutungen nicht stimmten. Sie wusste, dass die dritte nicht der Wahrheit entsprach, denn eines Tages war sie (für alle Fälle mit einem Eimer Wasser und einem Schürhaken bewaffnet) in den Keller hinuntergegangen und hatte nur Kartoffel- und Karottenhaufen vorgefunden. Und eine Maus, die sie aufmerksam beobachtete.
Tiffany fürchtete sich nicht besonders. Zum einen existierte der Dämon bestimmt gar nicht, es sei denn, er verstand es gut, sich als Kartoffel zu tarnen. Und zum anderen sah Fräulein Verrat zwar schlimm aus, hörte sich unangenehm an und roch wie ein alter, verschlossener Kleiderschrank, aber sie schien kein schlechter Mensch zu sein.
Eine Hexe musste sich auf den Ersten Blick und die Zweiten Gedanken verlassen: auf den Ersten Blick, um zu erkennen, was wirklich da war, und die Zweiten Gedanken, um die Ersten Gedanken zu beobachten und zu kontrollieren, ob sie richtig dachten. Dann gab es da noch die Dritten Gedanken, die nie erwähnt wurden und über die Tiffany deshalb nicht sprach. Sie waren seltsam, schienen für sich allein zu denken und machten sich nicht oft bemerkbar. Jetzt sagten sie ihr jedoch, dass Fräulein Verrat irgendein Geheimnis hatte.
Und dann stieß Tiffany eines Tages beim Staubwischen den Schädel namens Enochi um …
… und plötzlich wusste sie Dinge über Fräulein Verrat, die diese bestimmt lieber geheim gehalten hätte.
Als sie an diesem Abend Eintopf aßen (mit schwarzen Bohnen), sagte Fräulein Verrat: »Wind kommt auf. Wir müssen bald los. In einer solchen Nacht möchte ich nicht mit dem Besen über die Bäume aufsteigen. Es könnten sich seltsame Wesen herumtreiben.«
»Wir gehen aus?«, fragte Tiffany. Sie gingen abends nie aus; das war der Grund, weshalb ihr die Abende wie hundert Jahre vorkamen.
»Allerdings. In dieser Nacht tanzen sie.«
»Wer?«
»Die Raben werden nicht sehen können, und die Eule wird durcheinandergeraten«, fuhr Fräulein Verrat fort. »Deshalb muss ich deine Augen benutzen.«
»Wer tanzt denn, Fräulein Verrat?«, fragte Tiffany. Sie tanzte gern, aber in dieser Gegend schien niemand diese Vorliebe zu teilen.
»Es ist nicht weit, aber ein Unwetter zieht auf.«
Das war es also: Fräulein Verrat wollte ihr keine Auskunft geben. Aber es klang interessant. Außerdem war sie neugierig auf Wesen, die Fräulein Verrat für seltsam hielt.
All das bedeutete natürlich, dass Fräulein Verrat ihren spitzen Hut aufsetzte, und das verabscheute Tiffany. Sie würde sich vor die alte Hexe stellen und sie ansehen müssen, dabei würde sie ein sonderbares Prickeln in den Augen spüren, wenn Fräulein Verrat sie als Spiegel benutzte.
Als sie mit dem Abendessen fertig waren, heulte der Wind bereits wie ein großes, dunkles Tier im Wald. Er riss Tiffany die Tür aus der Hand, als sie sie öffnete, fauchte durchs Zimmer und ließ die Fäden im Webstuhl summen.
»Willst du wirklich da raus, Fräulein Verrat?«, fragte Tiffany und versuchte, die Tür wieder zuzudrücken.
»Untersteh dich! Ich muss dem Tanz unbedingt beiwohnen! Ich habe ihn noch nie verpasst!« Fräulein Verrat wirkte nervös und gereizt. »Wir müssen los! Und du ziehst dir etwas Schwarzes an.«
»Fräulein Verrat, du weißt doch, dass ich kein Schwarz trage«, sagte Tiffany.
»Diese Nacht ist eine Nacht für Schwarz. Du wirst meinen zweitbesten Mantel anziehen.«
Das sagte sie mit solch hexischer Bestimmtheit, als käme ihr gar nicht in den Sinn, dass ihr jemand widersprechen könnte. Sie war 113 Jahre alt und hatte jede Menge Erfahrung. Tiffany verzichtete auf weitere Einwände.
Es ist nicht so, dass ich etwas gegen Schwarz hätte, dachte sie, als sie den zweitbesten Mantel holte. Aber es passt nicht zu mir. Wenn die Leute sagen, dass Hexen Schwarz tragen, so meinen sie, dass alte Frauen Schwarz tragen. Nun ja, wenigstens muss ich nichts Rosarotes anziehen oder so …
Anschließend wickelte sie Fräulein Verrats Uhr in eine Decke, woraufhin aus dem Klonkklank ein Klonkklank wurde. Es kam nicht infrage, sie zurückzulassen. Fräulein Verrat nahm ihre Uhr überallhin mit.
Während Tiffany sich fertig machte, zog Fräulein Verrat die Uhr auf, wobei ein schreckliches, knirschendes Geräusch erklang. Sie zog sie dauernd auf, manchmal mitten in einer Verhandlung, vor all den entsetzten Leuten im Zimmer.
Es regnete noch nicht, aber als sie aufbrachen, war die Luft voller dünner Zweige und fliegender Blätter. Fräulein Verrat nahm im Damensitz auf dem Besen Platz und klammerte sich regelrecht an ihm fest, während Tiffany vorausging und ihn an einem Stück Wäscheleine hinter sich herzog.
Die Abenddämmerung glühte noch immer rot, und ein konvexer Mond stand hoch am Himmel, aber Wolken zogen schnell über ihn hinweg und füllten den Wald mit unsteten Schatten. Äste stießen aneinander, und Tiffany hörte ein lautes Knacken, als irgendwo im Dunkeln einer zu Boden fiel.
»Gehen wir in die Dörfer?«, schrie Tiffany, um das Heulen des Winds zu übertönen.
»Nein!«, brüllte Fräulein Verrat. »Nimm den Weg durch den Wald!«
Ach, dachte Tiffany, geht es hier vielleicht um das berühmte »Ohne-Schlüpfer-Tanzen«, von dem ich so oft gehört habe? Nun, eigentlich habe ich gar nicht so viel darüber gehört, denn sobald jemand darauf zu sprechen kommt, verbietet jemand anders ihm den Mund. Also habe ich eigentlich kaum etwas darüber gehört, das aber auf eine sehr bedeutungsvolle Weise.
Das »Ohne-Schlüpfer-Tanzen« war in der Vorstellung der Menschen unter Hexen Brauch. Die Hexen selbst waren jedoch ganz anderer Ansicht. Tiffany musste zugeben, dass sie den Grund dafür verstand. Selbst im Sommer waren die Nächte nicht besonders warm, und außerdem musste man immer mit Igeln und Disteln rechnen. Hinzu kam: Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand wie Oma Wetterwachs ohne … Nun, man konnte es sich nicht vorstellen, und wenn man es trotzdem tat, so platzte einem der Kopf.
Der Wind ließ nach, als Tiffany den Weg durch den Wald einschlug, immer noch die schwebende alte Hexe im Schlepptau. Aber er hatte kalte Luft mitgebracht und sie im Wald zurückgelassen. Tiffany war froh, dass sie einen Mantel trug, wenn auch einen schwarzen.
Sie stapfte weiter voran. Immer wenn Fräulein Verrat sie dazu aufforderte, bog sie auf einen anderen Weg ab, bis sie schließlich in einer kleinen Senke Feuerschein zwischen den Bäumen sah.
»Bleib stehen und hilf mir herunter, Mädchen«, sagte die alte Hexe. »Und hör mir gut zu. Es gibt Regeln. Erstens: Du hältst den Mund. Zweitens: Du darfst nur die Tänzer ansehen. Drittens: Du rührst dich nicht von der Stelle, bis der Tanz vorbei ist. Ich werde dir das nicht zweimal sagen.«
»Ja, Fräulein Verrat. Es ist sehr kalt hier.«
»Und es wird noch kälter werden.«
Sie näherten sich dem Licht. Was nützt ein Tanz, wenn man nur zusehen darf?, dachte Tiffany. Das hört sich nicht besonders amüsant an.
»Es soll auch gar nicht amüsant sein«, sagte Fräulein Verrat.
Schatten huschten am Feuer vorbei, und Tiffany hörte die Stimmen von Männern. Und dann, als sie den Rand der Senke erreichten, schüttete jemand Wasser ins Feuer.
Es zischte, und eine Wolke aus Dampf und Rauch stieg zwischen den Bäumen auf. Es geschah so plötzlich, dass es wie ein Schock war. Das Einzige, was lebendig gewirkt hatte, war plötzlich tot.
Trockenes Laub knirschte unter Tiffanys Stiefeln. Der Mond, der an einem inzwischen von Wolken leergefegten Himmel stand, projizierte kleine silbergraue Formen auf den Waldboden.
Es dauerte eine Weile, bis Tiffany merkte, dass sechs Männer in der Mitte der Lichtung standen. Offenbar trugen sie schwarze Kleidung; im Gegenlicht des Mondes wirkten sie wie menschenförmige Löcher im Nichts. Sie hatten sich in zwei Dreierreihen einander gegenüber aufgestellt, aber sie standen so still, dass sich Tiffany schließlich fragte, ob sie sich die Männer nur einbildete.
Dumpfe Trommelschläge waren zu hören: Bumm … bumm … bumm.
Etwa eine halbe Minute ging es so weiter, und dann hörte das Trommeln wieder auf. Doch in der Stille des kalten Waldes wummerte es in Tiffanys Kopf weiter, und vielleicht war sie nicht die Einzige, der es so ging, denn die Männer nickten sachte mit dem Kopf, um den Takt zu halten.
Sie begannen zu tanzen.
Nur die Tritte der Stiefel waren zu hören, während die Schattenmänner aufeinander zutanzten und sich wieder voneinander entfernten. Aber dann vernahm Tiffany, in deren Kopf noch immer die Trommelschläge dröhnten, noch ein anderes Geräusch. Ihr Fuß klopfte auf den Boden, von ganz allein.
Sie hatte diesen Rhythmus schon einmal gehört und Männer auf diese Weise tanzen sehen. Aber an warmen Tagen im Sonnenschein. Und sie hatten dabei Glöckchen an ihrer Kleidung getragen!
»Das ist ein Moriskentanz!«, sagte sie, nicht leise genug.
»Pst!«, zischte Fräulein Verrat.
»Aber dies ist nicht die richtige Z …«
»Sei still!«
Tiffany errötete in der Dunkelheit, und gleichzeitig regte sich Ärger in ihr. Trotzig wandte sie den Blick von den Tänzern ab und sah sich auf der Lichtung um. Weitere Schatten drängten sich heran, menschliche Schatten oder zumindest menschlich aussehende. Tiffany konnte sie nur undeutlich erkennen, und das war vielleicht auch besser so.
Sie glaubte zu spüren, wie es kälter wurde. Raureif bildete sich auf den Blättern.
Das Getrommel ging weiter. Tiffany hatte den Eindruck, dass jetzt noch etwas hinzukam – andere Taktschläge und Echos in ihrem Kopf.
Fräulein Verrat konnte noch so oft Pst! sagen – es war ein Moriskentanz. Aber er fand nicht zur richtigen Zeit statt!
Die Moriskenmänner kamen irgendwann im Mai ins Dorf. Man konnte nie ganz sicher sein, wann sie kamen, denn sie besuchten viele Dörfer im Kreideland, und in jedem Dorf gab es ein Wirtshaus, was sie langsamer vorankommen ließ.
Sie hatten Stöcke und trugen weiße Kleidung mit kleinen Glocken, die verhinderten, dass sie sich an jemanden heranschleichen konnten. Niemand mag es, wenn plötzlich ein Moriskentänzer vor ihm steht. Wenn sie auftauchten, wartete Tiffany außerhalb des Dorfes und folgte ihnen zusammen mit den anderen Kindern tanzend hinein.
Und dann tanzten die Moriskenmänner auf dem Dorfplatz zum Rhythmus einer Trommel und schlugen ihre Stöcke in der Luft gegeneinander, und dann gingen alle ins Wirtshaus, und der Sommer kam.
Tiffany hatte bislang nicht herausbekommen, wie Letzteres funktionierte. Die Tänzer tanzten, und dann kam der Sommer – mehr schien niemand zu wissen. Ihr Vater hatte von einem Jahr erzählt, in dem die Moriskentänzer nicht erschienen waren, von einem Jahr, in dem ein kalter, feuchter Frühling in einen kalten Herbst überging, und die Monate dazwischen hatten Nebel, Regen und schon im August Frost gebracht.
Das Wummern der Trommeln erfüllte Tiffanys Kopf und machte sie schwindelig. Etwas daran stimmte nicht; irgendwas ging nicht mit rechten Dingen zu …
Und dann erinnerte sie sich an den siebten Tänzer, »Narr« genannt. Meistens war es ein recht kleiner Mann, der einen verbeulten Zylinder trug und an die Kleidung genähte bunte Fetzen. Normalerweise ging er mit dem Hut herum und grinste die Leute an, bis sie ihm Geld für Bier gaben. Aber manchmal legte er den Hut beiseite und gesellte sich zu den Tänzern. Man erwartete eine heftige Kollision von Armen und Beinen, aber dazu kam es nie. Der kleine Mann hüpfte und drehte sich inmitten der schwitzenden Tänzer und schaffte es immer, dort zu sein, wo sie nicht waren.
Die Welt um Tiffany geriet aus den Fugen. Sie blinzelte. Das Trommeln in ihrem Kopf war inzwischen so laut wie Donnerhall und so tief wie der Ozean. Fräulein Verrat war vergessen. Ebenso das seltsame, geheimnisvolle Schattenpublikum. Es gab nur noch den Tanz.
Er wirbelte durch die Luft wie etwas Lebendiges. Doch in seinem Innern bewegte sich ein freier Platz immer im Kreis herum. Tiffany wusste, dass das ihr Platz war. Fräulein Verrat hatte es ihr verboten, aber das war vor einer ganzen Weile gewesen, und wie sollte sie sie auch verstehen? Was wusste sie schon? Wann hatte sie zum letzten Mal getanzt? Der Tanz hatte Tiffanys Körper erobert, und er rief nach ihr. Sechs Tänzer reichten nicht aus!
Sie lief los und stürzte sich mitten hinein.
Die Augen der Männer starrten sie an, als sie ausgelassen zwischen ihnen herumtanzte, immer genau dort, wo sie nicht waren. Die Trommeln regierten ihre Füße und lenkten ihre Schritte.
Und dann …
… war noch jemand anders da …
Es war so ähnlich, als stünde jemand hinter ihr. Doch gleichzeitig schien auch noch jemand vor ihr, neben ihr, über und unter ihr zu sein.
Die Tänzer erstarrten, doch die Welt drehte sich weiter. Die Männer waren nur schwarze Schatten, dunklere Konturen in der Dunkelheit. Die Trommelschläge verstummten, und es folgte ein langer Moment, in dem sich Tiffany langsam und schweigend drehte, die Arme ausgestreckt, die Füße knapp über dem Boden in der Luft schwebend, das Gesicht den Sternen zugewandt, die kalt wie Eis und spitz wie Nadeln waren. Es war ein … wundervolles Gefühl.
»Wer bist du?«, fragte jemand. Die Stimme hatte ein Echo, oder vielleicht hatten auch zwei Personen die Worte fast zur gleichen Zeit gesprochen.
Der Trommelschlag kehrte plötzlich zurück, und sechs Männer prallten mit ihr zusammen.
Einige Stunden später, in dem kleinen Ort Hundekrumm unten in der Ebene, warfen die Bürger eine an Armen und Beinen gefesselte Hexe in den Fluss.
In den Bergen geschah so etwas nie, denn dort respektierte man Hexen. Aber unten in der weiten Ebene gab es immer noch dumme Leute, die die scheußlicheren Geschichten glaubten. Außerdem war abends nicht viel zu tun.
Allerdings geschah es sicher nicht oft, dass die Hexe vor dem Ertränken eine Tasse Tee und Kekse bekam. Der Grund dafür war, dass sich die Bewohner von Hundekrumm an die Anweisungen eines Buches hielten.
Das Buch hieß: Magavenatio Obtusis.1
Die Bürger wussten nicht, woher das Buch kam. Es war einfach eines Tages im Regal eines Ladens aufgetaucht.
Natürlich konnten sie lesen. Man musste einigermaßen schreiben und lesen können, um in der Welt zurechtzukommen, selbst in Hundekrumm. Aber die Bürger standen Büchern und den Leuten, die sie lasen, eher misstrauisch gegenüber.