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mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Die Erzählung handelt von einem jungen Medizinstudenten, der sich in der Zeit, als Korea eine Kolonie Japans war, einer Unabhängigkeitsbewegung anschließt. Diese wird niedergeschlagen und er muss daraufhin fliehen. Nachdem er den Grenzfluss Yalu (kor. Amnok-gang) überquert und über China Deutschland erreicht hat, beginnt er mit dem Schreiben seiner Geschichte. Beeindruckend ist die große Kraft der Darstellung mit den Mitteln einfacher Sprache, was unter anderem zur Auszeichnung als "Buch des Jahres" und mittlerweile auch zu einer Übersetzung ins Koreanische führte.
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Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Der Yalu fliesst
Mirok Li
Das war der Name meines lieben Vetters, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin.
Unser erstes gemeinsames Erlebnis, an das ich mich noch deutlich erinnere, war nicht sehr froh. Wie alt wir damals waren, weiß ich nicht mehr genau, ich vielleicht fünf Jahre und er fünf und ein halbes. Da saßen wir eines Abends zusammen vor meinem Vater, der mit einem dünnen Stäbchen auf ein schweres Schriftzeichen in einem chinesischen Lesebuch deutete. Suam sollte sagen, was das Zeichen bedeute. Er hatte es am Morgen gelernt, aber als er nun gefragt wurde, schien er es vergessen zu haben. Schweigsam saß er da und rührte sich nicht, obwohl mein Vater wiederholt fragte. Mein Vater war ein ehrgeiziger Mann und wollte bei dem Sohn seines verstorbenen Bruders frühzeitig mit dem Unterricht im Chinesischen anfangen, weil es so schwer war. »Dieses Zeichen bedeutet Gemüse. Wie heißt es also im Chinesischen?« fragte der ungeduldige Lehrer. »Tsai« rief der kleine Suam blitzschnell. »Gut!« lobte ihn der Vater. »Wie heißt nun das nächste Zeichen?« Dieses schien aber noch schwerer zu sein als das erste. Suam blieb stumm, schielte immer wieder von einer Zimmerecke zur anderen und sah auch mich hilflos an. Ich konnte 6 ihm aber nicht helfen, denn ich konnte ja noch nicht lesen. »Oh, du Dummkopf!« schalt ihn mein Vater und nun rollten aus Suams schmalen Augen Tränen herab und benetzten das rätselvolle Schriftzeichen. Das machte mich sehr traurig.
Suam war mein kleiner Kamerad. Wir spielten zusammen, aßen morgens und abends zusammen und gingen überall zusammen hin. In unserem Hause waren noch viele andere Kinder; ich hatte drei Schwestern und Suam zwei, so daß wir zu siebent waren. Dann war noch Kuori da, die, Zimmermädchen, Kindermädchen und noch alles mögliche in einer Person, auch zu den Kindern gerechnet wurde. Sie waren aber alle älter als wir beide und lauter Mädchen, mit denen wir nichts anzufangen wußten. So hielten wir fest zusammen. Wir beide trugen auch, soviel ich mich erinnern kann, die gleichen rosaroten Jäckchen mit einem dunkelbraunen Gürtel, die gleichen grauen Hosen und gleiche Schuhe aus schwarzem Leder. Da Suam nur ein halbes Jahr älter war als ich, hätte man uns sicher oft verwechselt und für ein Zwillingspaar gehalten, wenn wir nicht so verschieden ausgesehen hätten. Suam war ein dicker, kleiner Bub mit kräftigen Muskeln, seine Wangen waren schön glatt und gut gepolstert. Er hatte auffallend schmale Augen, einen kleinen, fast lippenlosen Mund und eine zierliche Nase. Ich war im Gegensatz dazu dünn und lang, hatte große Augen und eine große Nase. Wir waren aber ein 7 unzertrennliches Paar und lachten und weinten meistens zur gleichen Zeit.
Gottlob kamen unsere Mütter ins Zimmer und holten uns weg. »Quälen Sie doch die Kinder nicht so!« sagte meine Mutter zum Vater, »sie werden es schon lernen, wenn sie in die Schule gehen.« Erlöst gingen wir aus dem Zimmer.
Die Sonne schien herrlich in unseren Hinterhof, in dem wir jeden Tag spielten. In diesem stillen und großen Hof waren wir ungestört, weil tagsüber selten jemand hierher kam. Wir konnten uns sogar ausziehen und nackt herumlaufen, wenn es warm wurde. Der ganze Hof war von einer ziemlich hohen Mauer umgeben, sodaß uns niemand aus den Nachbarhäusern sehen konnte, und vor unseren Schwestern oder der Magd Kuori, die ab und zu herkamen, um Gemüse zu holen, schämten wir uns nicht.
Suam grub einen langen, geraden Graben in die Erde und deckte ihn mit flachen Steinen zu, die ich ihm herbeischaffte. Das eine Ende des Grabens erweiterte er zu einem Heizloch, und an dem anderen errichtete er einen Schornstein. Darauf verbrannten wir dürre Zweige im Heizloch und sahen zu, ob der Rauch durch den Schornstein abzog. Wir verstopften solange alle Spalten zwischen den Steinen mit Erde, bis der Rauch nur durch den Schornstein in die Höhe stieg. Das war ein schönes Spiel, das mir Suam 8 beibrachte. Nein, Suam war kein Dummkopf, wie mein Vater meinte. Er war ein guter und kluger Bub.
Ein anderes Mal zeigte er mir, wie man einen Libellenfänger herstellte, was jeder Knabe in meiner Heimat können mußte. Da band man einen dünnen Weidenzweig zu einem Ring und befestigte ihn an einem langen Stiel. Mit diesem Reif gingen wir auf die Suche nach Spinnweben und füllten ihn möglichst dicht damit aus. Sobald wir nun eine schöne Libelle vorbeifliegen sahen, eilten wir ihr mit unserem Netz nach und schwangen es so schnell wir konnten. Suam hatte oft das Glück, eine Libelle zu fangen, die er dann vorsichtig aus dem Netz befreite, indem er sie mit Daumen und Zeigefinger an der dicken Brustgegend faßte und ihren Schwanz so weit nach vorne bog, bis sich das Tier in den eigenen Schwanz biß. Hatte er einen Maikäfer gefangen, so legte er ihn gerne auf einem breiten und glatten Stein auf den Rücken und ließ ihn lange Zeit flügelschwirrend herumtanzen. Das fanden wir wunderbar.
Waren wir des Laufens müde, dann setzten wir uns auf ein Strohkissen und sonnten uns. Hier im Hinterhof war außer unserem Spielplatz noch ein Gemüsegarten, ein seichter Brunnen ohne Wasser und eine große Scheune. An der Mauer blühten Balsaminen und im Gemüsegarten Gurken, Kürbisse und Melonen mit gelben und weißen Blüten. Hier stand auch ein dicker Granatapfelbaum, an dem 9 zahllose feuerrote Früchte hingen. Wir pflückten sie aber nicht, weil sie so sauer schmeckten.
Zu unserem Haus gehörten mehrere Höfe. Der Hinterhof hieß so, weil er hinter unserem Hause lag. Das ringförmig gebaute Hauptgebäude bestand aus sechs Zimmern, einer Küche und einer gedeckten Veranda und hatte einen Hof in der Mitte, den Innenhof, in dem sich die Frauen aufhielten. Hier standen nur Topfpflanzen, das Entenhäuschen und ein Taubenschlag. Vor dem Hauptgebäude lagen noch zwei Höfe, die nur durch eine niedere Mauer mit einem Zwischentor voneinander getrennt waren. Der rechte, von dem man in das Zimmer meines Vaters gelangen konnte, war der Brunnenhof, weil sich dort ein tiefer Brunnen befand, der linke, von dem hohen Tor und einer Reihe von Gastzimmern umgeben, der Außenhof. Wir durften aber nur im Hinterhof spielen.
Eines schönen Nachmittags unterbrach Suam unser Spiel und führte mich in den Innenhof und von da in das sogenannte Zofenzimmer, ein großes, aber sehr düsteres Zimmer, das wir sonst höchst selten betraten. Ich folgte dem Vetter gerne, weil ich wußte, daß er immer etwas Feines vorhatte. Hier stand er eine Weile vor dem hohen Schrank und blickte nachdenklich zu einem glänzenden braunen Topf hinauf, der da oben stand. Ich hatte diesen Topf früher schon gesehen, wußte aber nicht, was darin sein könnte. Suam holte nun mehrere Kissen, türmte sie 10 aufeinander und versuchte, auf den Schrank zu klettern. Ich half ihm von unten, so gut ich konnte. Wiederholt purzelte er herunter, weil die koreanischen Kissen nicht flach, sondern lang und rundlich sind, aber er gab nicht nach, bis er endlich auf dem Schrank stand. Er blieb lange Zeit droben, und es hörte sich an, als ob er schmatzte. Ich fragte ihn, was er denn da esse. Er gab mir keine Antwort und schmatzte nur weiter. Dann sagte er schließlich, daß er mir etwas Honig herunterbringen werde. Er tauchte seine rechte Hand tief in den Topf und kam vorsichtig herunter, indem er sich nur mit der Linken an der Schrankkante festhielt. Zum Schluß fiel er aber doch zu Boden, weil die Kissen ins Rollen kamen, und nun tappte er mit seiner Honighand überall hin, sodaß von dem schönen, gelben Honig nicht viel übrig geblieben war. Als ich dennoch seine Hand sauber abgeschleckt hatte, zogen wir uns befriedigt zurück, nichtsahnend, was uns bevorstand.
Am Abend sollten wir unsere Sünden büßen. Wir lagen bereits in unseren Betten, Suam im Schlafzimmer seiner Mutter und ich in dem der meinen. Da wurden wir plötzlich gerufen. Erwartungsvoll auf eine süße Melone oder eine Birne hoffend, betraten wir das große Zimmer, das man das Zimmer der Mutter nannte. Da fand ich die Frauen nicht in der besten Laune vor. Kuori, das Zimmermädchen, besah vorsichtig ein Kissen nach dem andern und schnalzte oft mit der Zunge, während die beiden 11 Mütter uns prüfend betrachteten. Suam blickte mich verzweifelt an und gab mir zu verstehen, daß uns die Kissen verraten hatten. Die Tante, Suams Mutter, fragte uns, ob wir auf den Schrank gestiegen wären. Suam sagte nichts darauf und schielte grimmig zu seiner Mutter hinüber, die einen Bambusstab in die Hand nahm, um uns zu strafen. Sie machte aber keinen Gebrauch davon und gab uns nur links und rechts zwei Ohrfeigen. Mir taten sie sehr weh und ich heulte los, während Suam ganz still hielt. Er schien die Gerechtigkeit des Verfahrens einzusehen. Er weinte nicht, protestierte nicht und zog mich nur sacht aus dem Zimmer. 12
Jeden Morgen lernte Suam beim Vater seine vier neuen Schriftzeichen. Ich saß still neben ihm und wartete, bis er entlassen wurde. Er lernte sehr schwer. Es dauerte eine lange Weile, bis er die vier Zeichen zuerst einzeln, dann alle zusammen der Bedeutung und dem Laut nach hersagen konnte. Dann kam auch ich daran. Eines Morgens legte mir unser Lehrer ein neues Buch hin und sagte: »Das Zuschauen hat für dich ein Ende, nun mußt du selbst anfangen zu lernen!« Es war dasselbe Buch, wie Suam es hatte, mit blauer Schnur in einen gelben Deckel gebunden. Ich schlug das Buch auf, und mein Vater lehrte mich die ersten vier Zeichen. Mir war sehr feierlich zumute, und ich saß sehr benommen da, während Suam sich freute, daß wir nun miteinander lernen konnten, und er sich nicht mehr allein plagen mußte.
Einige Zeit darauf wurden wir auch im Schönschreiben unterrichtet, woran wir mehr Freude hatten als am Lesen. Wir erhielten jeder ein Schreibkästchen und mehrere Bogen Papier und lernten zuerst Tusche reiben. Ein Fingerhut voll Wasser wurde in die Vertiefung des Reibsteins gegossen, und dann rieben wir auf der Reibfläche die fingerdicke Tuschstange solange hin und her, bis das 13 ganze Wasser ölig dick wurde. Die Tusche duftete! Nun malten wir mit unserem dicken Pinsel einen Strich nach dem andern nach der Vorlage. Dazu mußte man Geduld haben. Wir schrieben zuerst nichts anderes als das Zeichen für »Himmel« und übten es wohl über hundert Male. Wir hielten den Pinsel mit der ganzen Hand, wie eine Putzfrau den Klopfer hält, und schmierten das schöne Papier von oben bis unten voll. Unsere Finger wurden ganz schwarz. Wir putzten sie sorglos an unserer Hose ab und schrieben wieder weiter. Da Suam, in allem temperamentvoller als ich, mir an Gewandtheit im Schreiben überlegen war, liefen auch um so mehr schwarze Striche kreuz und quer über seine hellgrauen Hosenbeine. Auch unsere rosafarbenen Ärmel wurden immer schwärzer. Am ersten Tag dieses Schreibunterrichts entsetzten sich alle Frauen des Hauses über uns, aber wir wurden nicht gestraft. Der Vater verteidigte uns und sagte lächelnd: »Das sind Ehrenzeichen für einen Schreibkünstler.«
Am schlimmsten erging es aber unseren Händen, die nie wieder richtig sauber wurden, weil die Tusche aus den unzähligen kleinen Rillen der Handfläche nicht mehr herausging. Man nannte uns oft die »beiden Tuschknaben«, und Kuori, die mich jeden Morgen waschen mußte, sagte unter Zungenschnalzen: »Ich möchte wirklich wissen, was schwärzer ist, deine Hände oder die Füße eines Raben.« 14
Nach dem Himmelszeichen schrieben wir das Zeichen für »Erde«, dann die für »Blau« und »Gelb«, in der Reihenfolge, wie sie im Lesebuch standen. Wir durften aber nur auf der Veranda des Innenhofes schreiben, weil in den Zimmern die sauberen Matten nicht beschmutzt werden sollten. Das störte uns nicht. Bald schrieben wir »Sonne«, »Mond«, »Sterne« und »Planeten«.
Nach dem Unterricht mußten wir das Zimmer des Vaters sogleich verlassen und durften es ungerufen nicht wieder betreten. Wir durften den Vater nicht stören und ebensowenig seine Gäste, die ihn oft besuchen kamen. Das tat uns leid, weil gerade in diesem Zimmer viele schöne Dinge zu sehen waren.
An einem Nachmittag aber stand das Zimmer leer. Meine Eltern und Suams Mutter waren fortgegangen. So betraten wir es und untersuchten in Ruhe alles, was darin zu finden war. Nachdem wir die Sitz- und Rückenkissen, den Schreibtisch und die hölzernen und steinernen Tabakkästchen betrachtet hatten, schoben wir die Schiebetüre des Wandschrankes auf und fanden alle möglichen interessanten Dinge darin, Bilderrollen, eine Hutschachtel und ein wohlklingendes Spielbrett, auf dem man trommeln konnte. An der linken Seite des Schrankes stand ein hoher geheimnisvoller Kasten aus dunklem Holz mit schier zahllosen Schubfächern, die leider alle verschlossen waren. Sie ließen sich 15 nicht aufziehen, soviel Kraft wir auch anwandten und so heftig wir daran hin- und herrüttelten. Da entdeckte Suam plötzlich einen kleinen Schlüssel an der linken Seite des Kastens und konnte damit endlich eine Schublade nach der anderen aufschließen und die verschiedenen rätselhaften Dinge, die darin lagen, untersuchen. Und damit war das große Unglück geschehen.
Ohne zu ahnen, daß hier auch gefährliche Dinge sein könnten, versuchten wir etwas von dem Inhalt jeder Schublade. Es waren harte weiße Knollen, dünne Zweige, kleine braune Scheiben und viele andere Dinge. Ich blieb bei den dünnen Zweigen, die etwas süßlich schmeckten, während Suam weiterforschte und viele schwarze Pillen und weißliche Tabletten aß. Dann wurde er auf einmal merkwürdig ruhig und saß still da.
»Miak!« rief er mit sanfter Stimme, wie immer, wenn er mir etwas Besonderes mitzuteilen hatte. So nannte er mich, weil er kein R und auch kein richtiges breites O sprechen konnte. »Miak, bring mir etwas Wasser!« Ich holte ihm eine Schüssel voll, die er auf einen Zug austrank. Dann saß er noch eine Weile benommen da. »Miak, sieh mir einmal in den Hals!« sagte er klagend und öffnete weit den Mund. Der Rachen war rot und dick angeschwollen. Als ich ihm das sagte, traten Tränen in seine Augen. »Sterben!« sagte er traurig.
Wir ließen alles liegen und stehen und eilten 16 in den inneren Hof. Die Schwestern kamen herbei und schickten sofort Kuori zu den Eltern. Der Rachen schien immer weiter anzuschwellen. Suam litt furchtbar an Atemnot. O armer Suam! Ich hatte ihn vorher nie so unglücklich gesehen. Schwer atmend lag er auf dem Boden und sah mich unentwegt an, als ob er sich wirklich von mir für immer verabschieden wollte.
Da kam mein Vater mit einem Arzt zurück, der mich genau ausfragte, was wir gegessen hatten, und dann einen Becher voll schwarzer Brühe zubereitete.
Diese schwarze Brühe wirkte Wunder. Suam war am nächsten Morgen wieder gesund. Nur war er etwas stiller als sonst und trank willig weiter von der bitteren Medizin. Der Arzt schien bei dieser Gelegenheit noch viele andere Krankheiten an Suam entdeckt zu haben, denn er mußte von nun an oft untersucht werden und verschiedene Medizinen einnehmen. Er tat das willig, weil er wußte, daß er sein Leben nur dem schwarzen Trank verdankte.
Dann aber kam ein schlimmer Tag für Suam, an dem er die eigentliche Strafe für seine Näscherei erhielt. Eine besondere Strafe hatte er noch nicht bekommen, solange er sterbenskrank gewesen war, ich dagegen hatte als meinen Teil der Strafe schon zahllose Scheltworte und Ohrfeigen eingesteckt, die aber keinen Eindruck auf mich machten. Ich war nur froh darüber, daß Suam nicht gestorben war. 17
Er selber mußte aber etwas sehr Schlimmes erdulden.
Er wurde an einem heißen Nachmittag zum Arzt ins Zimmer des Vaters geführt. Der Arzt erklärte ihm, daß er auf seinem Rücken zwei kleine Häufchen getrockneter Heilkräuter anzünden würde, damit die Wärme heilend in die Haut eindringe. Suam ließ sich zuerst alles genau vorführen, überlegte kurz und bückte sich schließlich vor dem Arzt nieder. »Du gehst aber nicht von mir weg«, sagte er zu mir. »Nein, ich gehe nicht weg von dir!« versicherte ich ihm. Die beiden Mütter hielten seine Hände fest, damit er ruhig bliebe. Der Arzt stellte zwei kleine Pyramiden aus graugrüner Masse auf Suams nackten Rücken und zündete sie an der Spitze an. »Suam, es raucht schon«, sagte ich. »Tut es dir weh?« fragte ihn der Arzt. »Nein!« sagte Suam tapfer.
Kurz danach sagte er aber: »Oh, es wird heiß!«
»Halt es noch ein wenig aus«, sagte der Arzt, »die Kraft des Krautes muß in die Haut eindringen.« Er fuhr mit den Fingern um die brennenden Hügel herum.
»Oh, es brennt!« rief Suam, »Miak, tu das Zeug von meinem Rücken weg!«
»Halt es noch ein wenig aus!« riefen die Mütter und hielten mich beiseite.
»Tu doch das Zeug weg, Miak!« schrie er noch einmal dringend, »es brennt so auf der Haut!« 18
»Ich kann nicht, Suam!*
»Schnell weg, Miak, schnell weg, Miak, Miak, o Miak!«
Diese herzzerreißende Szene endete mit einem wütenden Schimpfausbruch Suams: »O du Elendiger, du Arzt, du Hund!« schrie er.
Wahrend dieser ganzen Leidenszeit lernten wir weiter in unserem chinesischen Lesebuch. Es hieß »Tausend Schrift-Zeichen« und dieser Titel stand auf dem Deckel. Genau tausend Schriftzeichen standen darin, die zu je vier Zeichen aneinander gereiht waren. Außer dem eigentlichen Titel des Buches stand noch als zweiter »Weiß-Haar-Schrift« darauf. Der Vater erklärte uns auch die Bedeutung dieses Namens, als wir das Buch endlich bis zum Schluß durchgelesen und durchgearbeitet hatten.
Der Verfasser dieses Buches, erzählte mein Vater, sei ein Verbrecher gewesen, der als junger Mann vom chinesischen Kaiser zum Tode verurteilt wurde. Er war aber auch ein großer Dichter, und daher baten alle Untertanen den Kaiser, ihm das Leben zu schenken. Der Kaiser gab ihm nun eine schwere Aufgabe; wenn er sie löste, sollte ihm das Leben geschenkt werden. Sie bestand darin, aus tausend Schriftzeichen, die der Kaiser wahllos zusammenstellte, in einer einzigen Nacht ein gutes Gedicht zu machen. Der zum Tode Verurteilte löste 19 die Aufgabe. Als er aber am nächsten Morgen mit seinem Gedicht vor den Kaiser trat, erkannte ihn dieser nicht mehr. In dieser einen Nacht, in der er um sein Leben gerungen hatte, war er zum Greis geworden. Doch das Gedicht war wunderbar; der Kaiser erkannte den großen Dichter in ihm und schenkte ihm das Leben.
Wir saßen still zu Füßen des Vaters und hörten der Erzählung zu, die uns tief ergriff. Wir wußten nicht, was ein Verbrechen war und welches der Dichter begangen hatte; daß aber seine Haare über dem Kampf mit dem Tode grau geworden waren, machte uns tieftraurig.
Eine große Wendung trat in unserem Leben ein, als mein Vater einen Lehrer ins Haus kommen ließ und eine Art Hausschule im Außenhof eröffnete, zu der auch die Kinder der befreundeten Familien eingeladen wurden. Es kamen über dreißig Knaben und ein Mädchen. Wir beide sollten von nun an jeden Morgen zu dem fremden Lehrer gehen und den ganzen Tag unter seiner Aufsicht lesen und schreiben. Uns gefiel dieses neue Leben nicht, weil wir bis zum Abend stillsitzen und lernen mußten. Nur in den Pausen fanden wir es schön, mit anderen Kindern zu spielen, die uns viele neue Spiele beibrachten.
Das Spiel, das die Knaben am meisten spielten, nannten wir Zhegi, eine Art Federball. Wir 20 machten den Ball aus einer durchlochten Münze und etwas Seidenpapier. Man schleuderte ihn mit einem Fuß in die Höhe, fing ihn wieder mit dem Fuß auf, bevor er zu Boden fiel, und stieß ihn immer wieder in die Höhe. Wer das am häufigsten wiederholen konnte, ohne ihn fallen zu lassen, hatte das Spiel gewonnen. Für gewöhnlich spielte man nur um die Ehre, Sieger zu werden; andere Kinder spielten es so, daß der Sieger dem Besiegten ein Schimpfwort geben oder gegen die Vorderseite seines Armes, in der Nähe des Handgelenkes, einen Schlag mit zwei Fingern führen durfte. Wieder andere spielten um eine Handvoll gerösteter Bohnen oder Kastanien. Suam spielte Zhegi leidenschaftlich, geriet aber oft, wenn es um die Entscheidung ging, in einen Streit, der nur durch Faustschläge oder Fußtritte ausgetragen werden konnte. 21
Suam saß in der kleinen Kammer neben dem großen Herrenzimmer und war fleißig an der Arbeit. Er spaltete eine lange Bambusröhre zu feinen Stäbchen und säuberte sie mit einem scharfen Messer, bis sie glatt wurden; dann schnitt er in einen großen Bogen Papier, den er zum Schönschreiben bekam, ein rundes Loch und malte darunter mit Tusche einen Schmetterling. Das Papier wurde mit den feinen Bambusstäbchen gespannt, geleimt und getrocknet. Das war nun ein Papierdrachen. Wir hatten bei anderen Kindern, die auf der Stadtmauer vor unserem Hause spielten, oft solche Drachen gesehen und hatten uns seit langer Zeit einen solchen gewünscht. Der Wunsch war aber nicht in Erfüllung gegangen, weil uns dieses Spiel wie viele andere von den Eltern nicht erlaubt wurde. Suam hatte sich das Spielzeug bei anderen Kindern genau angesehen, und jetzt machte er selbst seinen Drachen. Ich bewunderte meinen tüchtigen Vetter und half ihm beim Spannen und Trocknen, in der Hoffnung, den Drachen bald steigen lassen zu können.
Als wir am nächsten Tag im Hinterhof heimlich den ersten Versuch machten, stieg er nicht, sondern fiel immer wieder zu Boden und blieb liegen. 22 Ich lief unzählige Male zu ihm hin und warf ihn in die Höhe, während Suam mit aller Schnelligkeit in der entgegengesetzten Richtung mit dem Ende der Schnur wegrannte. Der Drachen aber blieb am Boden liegen. Enttäuscht machte Suam einen neuen aus etwas dünneren Stäbchen und dünnerem Papier, aber auch dieser wollte nicht steigen. So machte er einen nach dem anderen. Papier hatte er ja genug, denn er bekam jeden Tag drei neue Bogen, von denen er nur zwei beschrieb und den dritten zum Drachenbauen verwendete. Außerdem waren in der Kammer mehrere Ballen wunderschönen Papiers, von dem er auch oft welches nahm. Dorthin kam abends kein Mensch mehr, sodaß er ungestört arbeiten konnte. Ich kehrte ermüdet und etwas entmutigt in mein Zimmer zurück.
Im Bett liegend betrachtete ich gerne die Bilder des Wandschirms. Er hatte acht Flügel. Berge, Felsen und Blumen, Bäche und Brücken oder der Meeresstrand mit darüber hinwegziehenden Wildgänsen waren darauf und alles leuchtete wunderschön im Kerzenlicht. Am liebsten sah ich aber das Bild eines Hirtenknaben, der, auf einer Kuh reitend, Querflöte blies. Er ritt an einer hohen Trauerweide vorbei und schien zu dem Häuschen zurückzukehren, das in der Ferne hinter einem Hügel, kaum sichtbar, verborgen lag. Ich freute mich an dem besonnten 23 Weg und an der ruhig schreitenden Kuh und glaubte die Töne der Flöte zu hören und fühlte einen unendlichen Frieden.
Wenn ich so allein da lag, kam oft meine dritte und jüngste Schwester zu mir. Sie war nur um zwei Jahre älter als ich und hieß Setje. Sie war ein eigenartiges Mädchen. Ungern ging sie zu den andern Schwestern und Basen, die sich jetzt zu der abendlichen Stunde im Hinterhof versammelten und sich mit verschiedenen Mädchenspielen vergnügten. Statt dessen kam sie zu mir und erzählte mir ihre Märchen. Sie kannte zahllose Sagen und Märchen von den Sternen, von Sonne und Mond, von Schwalben, Hasen und Tigern, von armen Bauern und Holzfällern.
In einer ihrer Erzählungen ging ein armer Holzfäller ins Gebirge, um Holz zu holen. Da rollte eine Haselnuß den Bergabhang herunter. »Die ist für meine Mutter!« sagte er und steckte sie in seine Tasche. Es kamen aber immer wieder neue Nüsse heruntergerollt. Er dachte immer nur an seine Mutter und steckte sie alle in die Tasche. Als er aber nach Hause kam, fand er, daß alle Nüsse in der Tasche sich in Gold verwandelt hatten.
In einem anderen Märchen fischte ein armer Fischer an einem großen Strom. Er fing den ganzen Tag keinen einzigen Fisch und war in Sorge, weil er nichts nach Hause bringen konnte. Erst abends fing er einen Karpfen, dessen Schuppen wie Silber 24 glänzten. Als er aber den Fisch in den Korb legen wollte, sah er, daß der Karpfen bitterlich weinte. Da wurde es dem Fischer traurig zumute, und er ließ ihn wieder schwimmen. Am nächsten Morgen wurde er vom König des südlichen Meeres geholt und mit einem »Schatzwasserkrug« belohnt, weil der Karpfen, dem er gestern das Leben geschenkt hatte, des Meerkönigs einziger Sohn war. Und aus dem Schatzwasserkrug kam alles heraus, was der Fischer sich nur wünschte.
Wie alle meine Schwestern ging auch Setje nicht in unsere Schule, in der meistens nur Knaben unterrichtet wurden. Die Töchter sollten nur von ihren Müttern und von älteren Frauen in den Künsten der Frauen gelehrt werden. Setje war aber noch zu jung dazu. Sie lernte weder nähen noch sticken noch kochen, sie verbrachte die Tage nur mit Spielen und Plaudereien. Manchmal sah ich sie im Garten sitzen und einen ihrer kleinen Finger mit zerquetschten Balsaminenblättern umwickeln. Dadurch sollte der Fingernagel rot werden, was sie für schön hielt. Manchmal sah ich sie in einer Zimmerecke liegen und in einem dicken Buch lesen. Sie las gerne Erzählungen und Romane.
Die Bücher, die sie las, waren nicht in der schweren chinesischen, sondern in der leichten koreanischen Schrift geschrieben, die nur aus etwa zwanzig Buchstaben bestand. Da hießen die einzelnen Zeichen nicht »Himmel« oder »Erde«, »Sonne« 25 oder »Mond«, sondern »A« oder »O«, »E« oder »K« oder »N«, wie mir Setje nacheinander erklärte. Setje hatte sie schon sehr früh bei ihrer Ziehmutter gelernt, und seitdem konnte sie alle Erzählungen lesen. Man nannte diese einfache Schrift, die unsere eigene war, die »Volksschrift« und verwandte sie nur für leichte Geschichten, Erzählungen und Romane, damit auch Frauen, die meistens keine Schule besuchten, etwas zu lesen hätten.
Setje unterrichtete mich gerne. Sie brachte mir das Zählen, die Feiertage und Geburtstage und sonstige wichtige Dinge bei. Wenn sie kein Märchen erzählte und schweigend neben mir lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, wußte ich, daß sie mich bald ausfragen wollte. »Wie heißen die Himmelsrichtungen?« fragte sie mich.
»Osten, Westen, Süden und Norden«, sagte ich.
»Wie heißen die Farben?«
»Blau, Gelb, Rot, Weiß und Schwarz.«