Der Zauber des Berges - Daniela Holsboer - E-Book

Der Zauber des Berges E-Book

Daniela Holsboer

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Beschreibung

Davos – Treffpunkt der Weltwirtschaftselite, Schauplatz des Weltbestsellers »Zauberberg«. Wie aber wurde das Schweizer Bergdorf zum Luxusziel der Reichen, Mächtigen und Schönen? Und wie gelangte Thomas Manns fragiler Held Hans Castorp überhaupt ins schwindelerregende Hochgebirge? Diese wahre Vorgeschichte des »Zauberberg« erzählt vom holländischen Kaufmann Willem Jan Holsboer, der 1867 aus Liebe zu seiner lungenkranken Frau Margaret sein abenteuerlichstes Unternehmen wagt: Er verwandelt das unerschlossene Davos in den mondänsten Kurort Europas, baut die Rhätische Bahn und schließlich das legendäre Sanatorium Schatzalp. Davos wird zur Weltbühne, zum schicksalshaften Ort, an dem es um Leben, Liegen, Atmen und Sterben geht – und die Liebe Berge versetzt.

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Über dieses Buch

Davos – Treffpunkt der Weltwirtschaftselite, Schauplatz des Weltbestsellers »Zauberberg«. Wie aber wurde das Schweizer Bergdorf zum Luxusziel der Reichen, Mächtigen und Schönen?

Diese wahre Vorgeschichte des »Zauberberg« erzählt vom holländischen Kaufmann Willem Jan Holsboer, der 1867 aus Liebe zu seiner lungenkranken Frau Margaret sein abenteuerlichstes Unternehmen wagt: Er verwandelt das unerschlossene Davos in den mondänsten Kurort Europas, baut die Rhätische Bahn und schließlich das legendäre Sanatorium Schatzalp. Davos wird zur Weltbühne, zum schicksalshaften Ort, an dem es um Leben, Liegen, Atmen und Sterben geht – und die Liebe Berge versetzt. 

Über die Autorin

Daniela Holsboer ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Für ihren Debütroman tauchte sie tief in die eigene Familiengeschichte ein, denn Willem Jan Holsboer ist der Urgroßvater ihres Mannes. Als sie hörte, dass dieser aus Liebe alles riskiert und die Schatzalp aus dem »Zauberberg« erbaut hatte, beschloss sie, seine Geschichte niederzuschreiben.

Daniela Holsboer

Der Zauber desBerges

Die wahre

Vorgeschichte von

Thomas Manns

»Zauberberg«

© 2024 Daniela Holsboer

1. Auflage

Lektorat: Sonia Gembus

Umschlaggestaltung: SERIFA, Nastassja Abel

Covergrafik: SERIFA, Nastassja Abel, 00241151, Trevillion

Bergillustration: Vecteezy.com

Verlagslabel: Penthesilea

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

ISBN

 

E-Book

978-3-384-17269-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Für meinen Mann Florian und unsere Tochter Helena

Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten.

Und dem magischen Rest.

Spirits always organize.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

VORWORT

TEIL I: ATEM

DAVOS 1867. DIE ANKUNFT.

LONDON 1865. DIE LIEBE.

DAVOS 1867. DER ARZT.

SAN FRANCISO 1853. DAS GOLD.

AMSTERDAM 1854. DAS GELD.

DAVOS 1867. DER ANSPRUCH.

LONDON 1865. DAS UNSICHTBARE.

LONDON 1865. DIE UNTERSUCHUNG.

DAVOS 1867. DER TOD.

GELDERLAND 1844. DIE KATZE.

DAVOS 1868. DIE ENTSCHEIDUNG.

TEIL II: ECHO

DAVOS 1868. DAS HIERSEIN.

DAVOS 1868. DIE EHE.

DAVOS 1869. DAS WASSER.

DAVOS 1872. DAS FEUER.

DAVOS 1872. DAS HOTEL.

DAVOS 1873. DIE ERÖFFNUNG.

DAVOS 1875. DIE RUSSIN.

DAVOS 1875. DAS THEATER.

DAVOS 1880. DER SCHOTTE.

DAVOS 1881. DIE SCHATZINSEL.

DAVOS 1882. DAS ZWEITE GESICHT.

DAVOS 1882. DER ERREGER.

DAVOS 1886. DIE BAHN.

DAVOS 1888. DER SCHWUR.

DAVOS 1889. DIE EINWEIHUNG.

DAVOS 1890. DIE ZUCHTANSTALT.

NOVEMBER 1890. DAS TUBERKULIN.

DAVOS 1894. DIE SÉANCE.

DAVOS 1894. DER STURM.

RIVIERA 1894. DAS RENNEN.

DAVOS 1894. DIE SCHATZALP.

DAVOS 1898. DIE GNADE.

TEIL III: OBEN

DAVOS 1898. DIE ZUGKRAFT.

DAVOS 1922. DAS FLUIDUM.

NACHWORT

DANKSAGUNG

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Back Cover

VORWORT

Wann verliebte ich mich in meinen Mann Florian Holsboer? Es war, als er mir diese Geschichte erzählte. Wir saßen in einer lauen Sommernacht im Garten eines Italieners in Schwabing. Er erzählte mir von seinem Urgroßvater Willem Jan Holsboer, einem der Gründerväter von Davos. Dieser habe, so Florian, nicht nur das erste Kurhaus gebaut, sondern auch die Rhätische Bahn und die Schatzalp. „Die Schatzalp?“, fragte ich ungläubig. „Ja, die Schatzalp“, bekräftigte er. Meine Sinne waren hellwach. Die Schatzalp aus dem Zauberberg. Als Literaturwissenschaftlerin spürte ich, welch literarischer Schatz in dieser Familiengeschichte vergraben lag. Ein Schatz, den zu heben ich mich in der kommenden Zeit zusehends berufen fühlte. Noch dazu als ich hörte, dass Willem all das – den Umzug von der Metropole London in ein unerschlossenes Bergdorf, die Aufgabe eines erfolgreichen Berufs für das Ungewisse – für die Frau seiner Träume, Margaret, getan hatte. Mein Herz machte einen Hüpfer. Was für ein Mann musste Willem Jan Holsboer gewesen sein! Er riskierte alles, wagte sich in unerschlossene Regionen vor, angetrieben von der stärksten Kraft auf Erden, der Liebe. Der Gedanke, dass Liebe Berge versetzt, schien mir noch nie so greifbar wie in jenem Moment, als Florian und ich Stunde um Stunde, bis weit nach Mitternacht, miteinander sprachen und uns ausmalten, wie stark die Liebe zwischen Willem und Margaret gewesen sein musste. Es war, als wären sie unter uns, als führten sie uns zusammen.

„Spirits always organize“, sagte einst eine Frau in London zu mir. Ein Satz, den ich niemals vergessen werde – wie recht diese doch hatte! Denn als himmlische Fügung erschien mir auch, dass Thomas Manns Zauberberg 2024 sein hundertjähriges Jubiläum feiert. Mir war klar: Diese wahre Vorgeschichte wollte geschrieben werden. Und so machte ich mich an die Recherche, löcherte meinen Mann immer und immer wieder mit Fragen. Ich sprach mit Benjamin Miller, einem Verwandten meines Mannes in der Schweiz, der sein beachtliches Familienarchiv für mich öffnete. Ich studierte den Stammbaum, las alte Zeitungsartikel und viele Davos-Romane. (Es gibt weit mehr als nur den Zauberberg, auch wenn dieser alle anderen überstrahlt.) Ich tauchte ein in eine vergangene Zeit, in das Davos des 19. Jahrhunderts, das sich von einer kargen Ansiedlung in den Alpen zum mondänsten Kurort Europas entwickelte. Immer klarer sah ich die enorme Lebensleistung Willem Jan Holsboers vor mir. Thomas Mann schreibt im Zauberberg: „Es war jetzt städtisches Trottoir, auf dem sie gingen – die Hauptstraße eines internationalen Treffpunktes, das sah man wohl.“ Doch es war Willem Jan Holsboer, der Davos zur Stadt gemacht hatte.

Ja, ich las den Zauberberg erneut und wusste: Ohne den Urgroßvater meines Mannes hätte Thomas Mann seinen Jahrhundertroman niemals geschrieben. Ohne Willem Jan Holsboer wäre der Autor niemals nach Davos gekommen – denn dass jeder, der etwas auf sich hielt, nach Davos zur Kur kam, war insbesondere ihm zu verdanken. Da lag also dieser historische Stoff vor mir, doch wann und wie sollte ich ihn in einen Roman verwandeln? Tja. Spirits always organize indeed. Jene Dame, von der ich bereits oben sprach, behauptete von sich, mediale Fähigkeiten zu haben. Aus Spaß (ich bin Germanistin und Anglistin und habe für britische Skurrilitäten viel übrig) ließ ich mich auf ihren Vorschlag, ein „reading“ zu machen, also auf eine Art hellseherische Sitzung, ein. Skeptisch hörte ich ihr zu. Doch als sie sagte: „Oh, I’ve got a name … it’s Willem“, war ich elektrisiert. Es war ein Erlebnis der Sorte, das man nicht glauben würde, hätte man es nicht selbst erfahren. Und als ich dann auch noch mit meiner Zauberberg-Lektüre an die Stelle kam, an der Hans Castorp an einer Séance teilnimmt, während der ein Lied aus der Oper Faust von Charles Gounod gespielt wird und im Text der Name „Margarethe“ zu hören ist, bekam ich Gänsehaut. Willem … Margaret … Also gut, dachte ich, wenn mich nun schon die Geister rufen, führt kein Weg mehr daran vorbei. So begann ich zu schreiben. Im Zauberberg heißt es zu Beginn, „dass nicht jedem jede Geschichte passiert“. Diese Geschichte passierte mir und dies ist das Buch, zu dem sie geworden ist. Denn Bücher schreiben sich nicht von selbst und doch sucht sich jede Geschichte ihren eigenen Weg. Dies ist also die Geschichte, wie sie sich durch mich hindurch geschrieben hat. Die Geschichte eines Mannes, der auszog, die Liebe seines Lebens zu retten. Die Geschichte, die mein Mann mir geschenkt hat. Denn ja, ich verliebte mich in ihn in jener lauen Sommernacht, weil ich spürte, dass auch er für mich, wenn es sein müsste (und hoffentlich wird dieser Fall nie eintreten!), Berge versetzen, eine ganze Stadt errichten würde, so wie Willem für Maggie sein ganz eigenes „Taj Mahal der Alpen“ erschuf. Gemeinsam schreiben wir nun, im echten Leben, diese Familiensaga weiter. Während ich diese Zeilen zu Papier bringe, liegt unsere neugeborene Tochter Helena in meinen Armen. Eine, um einen in meinem Roman vorkommenden Begriff aufzugreifen, „Materialisation“ unserer Liebe. Ihr und meinem Mann ist dieser Roman in Liebe gewidmet.

Und somit fangen wir an.

TEIL I

ATEM

DAVOS 1867. DIE ANKUNFT.

Margaret sah aus wie ein Gespenst. Als Willem Jan Holsboer am 28. Mai 1867 seine erst zwanzigjährige Frau nach Davos brachte, hatte er Angst sie würde die Anreise nicht überleben. An diesem lauen Frühlingsabend, die Federnelken blühten schon und die Vögel sangen noch, wäre er selbst mit dem Teufel einen Bund eingegangen, hätte er ihm versprochen, sie zu retten. Der Teufel aber war gnädig, er ging an ihm vorüber, auch wenn manche Willem später diabolisch nannten, ja ihm einen dämonischen Willen unterstellten und meinten, bei all seiner Schaffenskraft könne es nicht mit rechten Dingen zugehen. Und so, inmitten dieser Gnade, spürte er, dass er diesen Berg, der vor ihm lag, im Guten bezwingen musste – nicht aus Angst vor dem Tod, sondern aus Liebe. Aus Liebe zu der Frau, die vor seinen Augen zu sterben drohte. Willem schaute zu ihr, dann zu dem Gipfel. Er fluchte lautlos. Der Aufstieg war eine Zumutung. Er beobachtete Margarets Brustkorb. Atem war Leben, Tod das Gegenteil davon. So einfach war der Tod, der nach ihr griff, jeden Tag ein Stückchen mehr. Weil sich ihr Brustkorb schon kaum mehr hob und senkte, hatte er ihr eine Halskette mit einem kleinen ovalen Spiegelamulett geschenkt. Auf der Rückseite hatte er ein Gänseblümchen, ihre Lieblingsblume, eingravieren lassen, in dessen Stängel ihre Initialen verschlungen waren. W & M, die zwei Buchstaben, die sich umgedreht ähnelten, so wie sie sich im anderen spiegelten. Wenn er nicht wusste, ob sie noch atmete, hielt er ihr das Amulett unter die Nase. Wenn es beschlug, lebte sie. Jedes Mal dankte er Gott und versprach, alles dafür zu tun, dass sie am Leben blieb. Doch sie verschwand, immer mehr entglitt sie ihm. Die Kutsche. Die Berge. Die Erschütterung. Seit sieben Stunden saßen sie in diesem unbequemen Wagen, spürten jede Unebenheit der Straße und das Gesicht seiner Frau, das schon seit Tagen wächsern glänzte, überzog jetzt zusätzlich eine fiebrige Nässe. Er blickte aus dem Fenster. Noch nie hatte er solche Berge gesehen.

„Maggie, schau, es ist nicht mehr weit.“ Margaret öffnete die Augen. Willem bat den Kutscher, anzuhalten, öffnete die Tür und ließ frische Luft herein. Er stieg aus und wollte Margaret beim Verlassen der Kutsche helfen, doch sie sank zurück auf die harte Sitzbank. Er schloss die Augen, atmete die kühle Abendluft ein. Seine Lider zitterten. Seit Tagen waren sie nun auf Reisen, es sollte ein Weg zur Heilung sein, doch wenn sich der Zustand seiner Frau auf dieser Reise so sehr verschlechterte, so würde nach ihrer Ankunft zum Heilen nicht mehr viel übrigbleiben. Jede noch so kleinste Bewegung, fürchtete er, könnte sie jetzt umbringen. „Wie weit noch bis Davos?“, fragte er den Kutscher. „45 Minuten, eine Stunde vielleicht“, sagte der Mann. Sein grauer Lodenmantel war sauber, sein gleichfarbiger Bart lang. „Bringen Sie meiner Frau bitte frisches Wasser“, sagte Willem. Zum ersten Mal seit sieben Stunden stand der Kutscher von seinem Sitz auf. Das Abendrot tauchte den Himmel in purpurfarbenes Licht.

Man müsste eine Eisenbahn bauen, dachte Willem. Eine Schmalspurbahn müsste es sein, die Reisende in der windigen Gegend in Landquart besteigen würden um dann, wenn sich die kleine, aber ungewöhnlich zugkräftige Maschine in Bewegung setzte, den eigentlich abenteuerlichen Teil der Fahrt zu beginnen. Selbst mit der Bahn würde es ein jäher und zäher und schier endloser Aufstieg sein, hinauf ins Hochgebirge, in unangemessene Sphären. Winden würde sich der Zug auf schmalem Pass. Die Maschine würde braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstoßen, verflattern würde dieser Dampf, hinauf in den steingrauen Himmel, hinab in die Tiefen, an denen Wasser hinunterstürzte, vorbei an den dunklen Fichten zwischen den Felsblöcken zur Linken. Stockfinstere Tunnel müsste man bauen und weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe überwinden. Engpässe, Schneereste, Schründe, Spalten. Die Fahrt würde für jene, die hofften, der Zug würde die armseligen Bahnhöfe in derselben Richtung verlassen, wie bei der Einfahrt, für Verwirrung sorgen, denn diese Bahn würde die Richtung ändern, so wie es diese gottverlassenen Himmelsgegenden verlangten. Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt würden sich dem ehrfürchtigen Blick offenbaren, doch schnell schon würde dieser Ausblick wieder in den verschlungenen Pfadbiegungen verlorengehen. Die Laubbäume würde man hinter sich lassen, die Singvögel auch. Und dann endlich, wenn der Aufstieg genommen war, würde der Zug bequemer dahinrollen und in Davos einfahren.

Der Kutscher brachte das frische Quellwasser, Willem hielt Margarets Kopf bei dem Versuch, davon zu trinken. Sie hustete und spuckte es wieder aus. Er umarmte sie, streichelte ihren Kopf und flüsterte ihr ins Ohr, wie er es in diesen Augenblicken schon oft getan hatte:

„Atme, Margaret. Atme dich zu mir.“

„Wir werden doch nicht länger als auf drei Wochen fahren?“, hatte ihn Margaret vor der Abreise gefragt. Doch Willem hatte, ihr von Krankheit gezeichnetes Gesicht betrachtend, nichts zu antworten gewusst.

Als er an diesem Tag seine fast ohnmächtige Frau aus der Kutsche hob und ins Hotel Strela trug, da schwor er sich, dass er, sollte sie diese Strapaze überleben, die Bahn bauen würde, die er sich erdacht hatte. Er würde sie erbauen und Kranke in Regionen emporheben, in denen sie noch nie geatmet hatten. Diese Bahn sollte das Verhältnis zwischen einer langen Anreise und einem kurzen Aufenthalt relativieren, ein Gleichgewicht herstellen zwischen Krankheit und Genesung, ein Bindeglied werden zwischen der Welt da unten, aus der sie kamen, dem Flachland, das ihnen kein Glück gebracht hatte und der Welt dort oben, das den Göttern und damit der Unsterblichkeit so nahe schien. Auf eine Reise wie diese, das spürte Willem, musste man sich innerlich einlassen. Die Seele musste sich öffnen, das innere Tor aufgehen, damit sich der Zauber dieser Alpen, den er bereits jetzt am ersten Tag der Ankunft erahnen konnte, geschehen durfte. Jeden Abend betete er um ein Wunder. Ob Gott ihn erhören würde, wusste er nicht.

„Meine Frau braucht ein Glas Milch, außerdem einen Bettwärmer. Heizen Sie ein, Herrgott, Sie sind doch das einzig beheizte Hotel hier? Und bringen Sie uns Brot und Käse.“ Willem stand im Eingangsbereich des Hotels. Durch die kleinen Fenster fiel nur noch wenig Dämmerlicht, die Decken waren niedrig, aus demselben dunklen Holz wie der Boden, der vor Abnutzung glänzte. Die Wände waren verrußt. Nichts, dachte er. Es gab einfach nichts in diesem Ort. Was hatte er erwartet? In London hatte Dr. Weber ihm genau dies prophezeit, wenngleich er in den höchsten Tönen von dem Hochtal gesprochen hatte: „Es ist ein Paradies aus Sonnenschein und Schnee – unberührt, unkultiviert.“ Immerhin, Willem hatte es gefunden. Dr. Webers Diagnose lag nun sechs Monate zurück. Er hatte Willem, nachdem er Margaret gründlich untersucht hatte, zur Seite genommen. „Wenn Ihre Frau überhaupt noch eine Chance hat, dann in Davos.“ „Warum Davos?“ Sogar bei fortgeschrittener Tuberkulose erziele man dort erstaunliche Ergebnisse, erklärte der Arzt. Für jene, die den unerbittlichen Wettkampf zwischen Atmen und Sterben zu bestreiten hätten, sei diese Bergregion die gewinnversprechendste Arena. „Fahren Sie“, hatte Dr. Weber gesagt. „Lieber heute als morgen.“

Willem war zurück in dem kleinen Gästezimmer. Es gab ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl. Er betrachtete seine schlafende Frau und ersehnte den ersten Strahl der Davoser Morgensonne, von der es hieß, sie habe heilsame Kräfte. Man sagte, das Schweizer Sonnenlicht sei gleißend, es verbrenne das Kranke und lasse nur das Gesunde übrig. Wir sind Blinde, dachte Willem. Geblendet von der Hoffnung. Hinter den Bergen, wo Margarets Husten blutige Spuren im Schnee hinterlassen hatte, müsste doch das glückliche Ende auf sie warten.

Es war erst Mai.

LONDON 1865. DIE LIEBE.

Willem sperrte sein Büro früher zu als sonst, um in die Stadtbibliothek zu gehen. Von der Londoner Filiale der Twentschen Bank am Trafalgar Square, die er seit einem Jahr als Direktor leitete, war es nur ein Fußmarsch von wenigen Minuten dorthin und er hätte noch gut zwei Stunden Zeit, um sich in Shakespeares Sommernachtstraum zu vertiefen. Er hatte alles mit Benjamin Blijdenstein, seinem Co-Direktor, besprochen: Der Handel mit Textilwaren lief gut, doch er würde noch viel besser laufen, wenn die Stoffe eine Bühne bekämen. Beim gestrigen Afternoon Tea im Claridge’s waren sie übereingekommen, dass diese Bühne die des Globe sein müsse „Wenn wir es schaffen, dass die Schauspieler Kostüme aus den von uns importierten Stoffen tragen“, sagte Willem, „machen wir das richtig große Geschäft.“ Die Zuschauer würden sich in das Gesehene verlieben und es begehren und die Stoffe würden von der Bühne hinabsteigen und Theater und Wirklichkeit würden sich in den Straßen der Stadt vermischen. Willem sagte, im demnächst aufgeführten Sommernachtstraum müsse die Seide glänzen, nichts verführe die Menschen mehr zum Träumen als eben guter Stoff und das im doppelten Sinne, literarisch wie haptisch. Benjamin nickte und sagte, ja, genau, unbedingt. Er wusste, dass es jetzt nicht nur aussichtslos, sondern auch geschäftsschädigend wäre, seinen Freund zu bremsen, denn er handelte ganz im Sinne der Holsboer-Prämisse, die den Umsatz der Bank im letzten Jahr verdoppelt hatte: Das Ziel war Begeisterung. Die Kunden sollten kaufen, was sie faszinierte. Ein Kauf ohne Begeisterung hingegen sei seelen- und somit sinnlos. Damit aber ein Produkt begeistern konnte, musste es eine Geschichte erzählen und zwar eine verdammt gute. Benjamin hatte noch nie einen Menschen mit vergleichbarem wirtschaftlichem Verstand kennengelernt wie diesen Holländer, der alles anders, aber mit einer ihm bis dahin unbekannten Effizienz machte. Sein Gehirn arbeitete schneller, präziser und, auch wenn dieser Begriff ansonsten nicht zu Willem passte, brutaler als das der anderen Kollegen: Er konnte schonungslos sein, wenn es darum ging, Fehler auszumerzen, Konventionen zu hinterfragen und Pläne umzustürzen. Gleichzeitig war er sensibler und penibler als die gesamte Belegschaft und betonte immer wieder, dass erstens Geld nur Geld war und es daher zweitens, einer leeren Leinwand gleich, mit Schönheit und Sinnhaftigkeit aufgeladen werden musste, um drittens Gutes tun zu können. Willem las Geld so wie andere Bücher. Die letzte Kanne Tee samt dazugehöriger Champagnerflasche leerend, vereinbarten sie, dass sich Willem um diesen theatralischen Deal bemühen werde, gleich morgen würde er in die Bibliothek gehen, um Shakespeares Sommernachtstraum nochmals zu studieren, denn natürlich müssten die Stoffe auf den Stoff abgestimmt werden und um Erfolg zu haben, müsse man einfach immer gut, nein, perfekt vorbereitet sein. Und nun war er hier. Er wollte ein Gefühl dafür entwickeln, welche Figuren welche Textilien tragen könnten, er wollte sich selbst eine Inszenierung ausmalen, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Er betrat das Gebäude, ging in den Lesesaal, spürte die Stille und den Frieden der Lesenden. Gerade als er die Shakespeare-Abteilung gefunden hatte und nach dem Sommernachtstraum griff, sah er sie: Eine junge Frau stand am benachbarten Bücherregal, ein Sonnenstrahl fiel auf ihr rötlich-blondes Haar, das die Farbe von Stroh in Erdbeerfeldern hatte, sie trug ein langes hochgeschlossenes Kleid mit einem dunkelroten Blumenmuster und als sie umblätterte, da öffnete sich leicht ihr Mund und Willem sah, wie sich, für eine Sekunde nur, ein kleiner Speichelfaden zwischen Ober- und Unterlippe zog, ein kleiner Tropfen ihrer Körperflüssigkeit, der ein Zeichen von Spannung, einer ungezügelten Leselust war. Willem konnte auf dem Buchrücken erkennen, dass sie einen Gedichtband von Edgar Allen Poe las. Er bemerkte, wie ihre Augen begierig über die Zeilen flogen und fühlte sich, als würde er am Tag träumen. „Verzeihen Sie“, sagte er im Flüsterton, der einer Bibliothek angemessen war, „darf ich fragen, welches Gedicht Sie lesen?“ Die junge Frau schaute auf. Eine zarte Röte stieg in ihre Wangen und verlieh ihrem sonst blassen, fast gespenstisch weißen Teint mehr Leben. Ihre Augen waren jadegrün, nur um die Iris herum lag ein dünner brauner Kranz. Ihre Lippen waren hellrosa und aufgeworfen, die Wangen pausbackig, sie wirkte so jung, dass Willem kurz zurückschreckte. Doch dann, als sie zu sprechen begann – ebenfalls im Flüsterton – da lag eine Tiefe in ihrer Stimme, dass er meinte, eine alte Seele hätte sich in ihren jugendlichen Körper verirrt. „Geister der Toten“, sagte sie. „Kennen Sie es?“ Als Kind hatte Willem Poes einzigen Roman Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym geliebt. Er hatte es gelesen, wieder und wieder, bis die Seiten zerfleddert waren. Es hatte seine Gedanken verführt und ihn zu einem ganzen Leben inspiriert: Wie der Held, der mit dem Schiff von der amerikanischen Insel Nantucket aus in die weite Welt aufbrach, hatte er selbst Abenteuer auf See erleben wollen und mit 14 sein Zuhause verlassen, um auf einem Schiff anzuheuern. Und natürlich war es nicht bei der Lektüre des Gordon Pym geblieben (sein abgegriffenes Exemplar lag stets in seiner Kajüte an seinem Bett). Zugegeben, er mochte die Gruselgeschichten am liebsten. Doch auch Poes Gedichte liebte er. Also ja, er kannte dieses Gedicht nicht nur, er konnte es aufsagen:

Dein Seel' wird einstens einsam sein

in grauer Grabsgedanken Schrein –

kein Blick der aus der Menge weit

noch stört deine Abgeschiedenheit.

Sei still in jener Öde Weben,

das nicht Alleinsein ist – es sind

die Geister derer, die im Leben

vor dir gestanden, ganz gelind

nun wieder um dich – und ihr Wille

umschattet dich: darum sei stille …

Margaret hörte ihm zu. Dann fragte sie: „Nun sagen Sie, wie haben Sie’s mit Geistern?" Willem hielt inne. Er hatte als Kapitän die Welt bereist, fremde Länder und Kulturen kennengelernt; er hatte Stürme, Packeis, Sternenhimmel und paradiesische Sonnenuntergänge erlebt, hatte sterbenden Menschen die Hand gehalten und Frauen dabei geholfen, Kinder zu gebären, er hatte Bücher und Schriften studiert. Doch je mehr er beobachtete, desto mehr wusste er, dass es zu vieles gab, was er nicht im Innersten verstehen konnte, dass da ein magischer Rest sein musste, den er mit Verstand allein nicht erfassen konnte. Es war Willems Gespür für das Schicksal zu verdanken, dass er ahnte, wie viel von seiner Antwort abhing, daher sagte er: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht in Formeln packen können.“

„Also glauben Sie daran?“

„Ja.“

„Dann sind wir schon zwei.“ Sie schloss den Gedichtband. „Margaret“, sagte sie und reichte ihm ihre behandschuhte Hand, „Margaret Elizabeth Newell Jones.“ Und in diesem Augenblick inmitten der Bücher, in dem Willem für immer verweilen wollte, weil er so schön war, verliebten sie sich ineinander.

Sie hatten sich, bis auf ein keusches Händchenhalten, noch nie berührt. Nun lagen sie in den Kensington Gardens auf einer Picknickdecke und schauten in den bewölkten Himmel. Dann, als die Sonne aus den Wolken brach und sie blendete, drehten sie einander das Gesicht zu und schlossen die Augen. Sie lagen Stirn an Stirn, Nase an Nase. Ihre Atemzüge wurden inniger und länger und ruhiger. Sie atmete seinen Atem, er ihren. Sie streichelte sein Gesicht und flüsterte: „Ist es nicht erstaunlich, dass die Menschen die Dinge so kompliziert machen? Da ist der Atem und er ist das Tor zur Seele und unsere Seele ist der Weg zu Gott.“ Sie hatte ihn in den letzten Wochen immer wieder erstaunt. Gleich bei ihrem ersten Treffen hatte sie ihm gesagt, sie sei Spiritistin, glaube also nicht nur daran, dass es ein Leben nach dem Tod gäbe, sondern auch, dass die Lebenden mit den Toten auf ihre eigene intuitive Art kommunizieren könnten. „Ich weiß, das klingt verrückt. Allerdings bin ich für die Rolle der Wahnsinnigen auf dem Dachboden nicht gemacht“, lachte sie. Tatsächlich hatte er noch nie eine so intelligente und klarsichtige Frau kennengelernt und diese gespenstische Facette an ihr empfand er nicht nur als akzeptabel, sondern sogar als reizvoll. Ihre eigenwilligen Ideen forderten ihn heraus und bei jedem Treffen, das meist aus Spaziergängen dieser Art am helllichten Tage bestand, verzauberte sie ihn mehr. Selbst bei regnerischem Wetter trug sie feinste Spitze, ihre hochgeschlossenen Krägen waren stets blütenweiß, die Absätze ihrer Stiefel waren niemals abgelaufen und ihr sorgsam hochgestecktes, ganz selten in Locken gelegtes Haar glänzte. Wenn das Licht sich darin verfing und der Wind damit spielte und er meinte, gleich würde sie zu fliegen beginnen, so kam sie ihm vor wie eine Tochter der Luft. Immer hatte sie ein neues Buch dabei und sie sprachen viel über das Theater. „Willem, es ist doch alles großes Theater, auch unser Flanieren hier, sieh nur, wie die Leute schauen!“, sagte sie und drehte sich, einer Ballerina gleich, einmal lachend im Kreis. Vor allem sprachen sie über Shakespeare. Sie mochten beide den Sommernachtstraum und Margaret regte an, man müsse diesen unbedingt einmal unter freiem Himmel inszenieren: „Die ganze Bühne sollte ein Blütenmeer sein!“, sagte sie. Als sie ihm schließlich anvertraute, ihr großer Traum sei, selbst zu schreiben, sie wisse zwar noch nicht worüber, sie hätte so viele Ideen, doch von der Seele müsse es handeln, alles andere sei trivial, da wusste er, dass diese Frau erstens keine einfache und zweitens die richtige für ihn war. „Ich liebe dich dafür, dass du so herrlich kompliziert bist“, sagte er zu ihr, steckte ihr einen kleinen Fliederzweig in den Knoten ihres Halstuchs und als sie am Ende ihres Spaziergangs angelangt waren, fiel er vor ihr auf die Knie und fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle.

Willem kaufte ein Haus in Chelsea, unweit des Sloane Square. Es hatte ein großzügiges, holzvertäfeltes Treppenhaus, von dem unten rechts eine Tür in einen fast versteckten Raum abging, der Willem wie gemacht für Margarets Ambitionen vorkam. Sie wolle ein Zimmer für sich allein, sagte sie. Sie bekam eine ganze Bibliothek. Dieser Raum nun war groß genug für Bücherregale, einen Schreibtisch und sogar einen weiteren kleinen Tisch samt Lesesessel und war doch so entrückt, dass sie beim Arbeiten ungestört sein würde. Die Decken waren hoch genug für einen Lüster und er würde, damit sie es beim Schreiben warm hatte, einen Kamin einrichten lassen. Die Vorstellung, eine schreibende Frau zu haben, erregte ihn. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit: Sie richteten jedes Zimmer ein, füllten die Bücherregale mit allen Werken, die sie schon gelesen hatten und noch lesen wollten. In seiner alten Heimat Amsterdam fand er einen runden, lupenreinen Diamanten von 1,5 Karat und ließ ihn von in einer zarten, geometrischen Zarge gefassten Diamanten umrahmen, so dass er einer Blume glich, und steckte ihn ihr an.

Sie heirateten am 5. April 1865 in der Kirche Saint George, am Hanover Square. Er entdeckte viel in diesen ersten Wochen ihrer Ehe: dass sie immerzu eine Tasse Tee in der Hand hielt, diese mit sich durchs Haus trug und sie das Muster, das durch die hinzugefügte Milch entstand, einem täglichen Orakel gleich ausdeutete; dass sie nachts oft im Schlaf kicherte und ihre Wirbelsäule morgens, wenn sie sich streckte, knackte; dass sie beim Zähneputzen immer das gleiche Lied summte und sich bemühte, so leise wie möglich auszuspucken; dass sie ununterbrochen über irgendetwas nachdachte und mindestens drei Bücher gleichzeitig las; dass sie ihre Schuhe und Kleider nach Farben sortierte; dass sie ihn morgens zornig anschaute, wenn er nachts geschnarcht hatte und dass sie draußen im Garten Walnüsse für die Eichhörnchen hinlegte. Er war 30, sie 17 und sie waren beide entschlossen, bis an ihr Lebensende – das ihnen noch weit entfernt schien – glücklich zu sein. Und sie waren sehr glücklich, bis schon wenige Monate nach der Trauung der Husten kam und mit dem Husten die Schmerzen, mit den Schmerzen der Arzt und mit dem Arzt das Todesurteil, dem sie nun mit ihrer Reise in die Schweizer Berge trotzen wollten.

DAVOS 1867. DER ARZT.

Die Nacht war gut. Margaret schlief fast ohne Unterbrechung, ihr Fieber war nicht gestiegen. Willem hatte gelernt, dass es weniger auf die Tage als auf die Nächte ankam, also unterteilte er in gute und schlechte Nächte und vielleicht war dieser traumlose Schlaf ein Zeichen, ein erstes kleines Zeichen, dass die Davoser Luft bereits wirkte. Als er um sechs Uhr aufwachte, schlief Margaret noch, er aber stand auf und wollte sich einen Eindruck von diesem Haus verschaffen. Dr. Weber hatte ihnen gesagt, fast jeder noch so kleine Bauernhof in Davos nehme inzwischen Kurgäste auf, denn die Nachricht, dass hier in den Schweizer Bergen keiner Tuberkulose hatte, machte nun immer rascher die Runde. Vielen erschien es ein Rätsel, warum gerade dieses Tal verschont blieb, während der Rest von Europa unter der Seuche litt. „Gehen Sie ins Strela“, hatte Dr. Weber empfohlen, „dort gibt es den höchsten Komfort.“ Doch Komfort war relativ und Willem fürchtete, dass seine von ihm selbst verwöhnte Frau die Kargheit des Baus, seine trotz Heizung durchdringende Kälte und die in den Wänden festsitzende Feuchtigkeit abschrecken würde. Willem ging die Treppen hinunter in den Empfangsbereich. Rechts ging es in den nur für Personal zugänglichen Küchenbereich, geradeaus kam er zur Terrasse, auf der bereits wenige Menschen, warm in Felle eingepackt, entlang der Hauswand in Sesseln und Stühlen halbliegend an Tischen saßen. Er bat um einen Tee, erhielt stattdessen Kaffee, und trat dann hinaus in die Morgenkälte. Die Stille. Die Berge. Die Luft. Als die Sonne über die Gipfel stieg, da verstand er, was dieses Tal im Innersten zusammenhielt, und er fasste einen Entschluss. Als er um zwölf Uhr zum ersten Mal auf Dr. Alexander Spengler traf, da hatte er zwei Anliegen: Erstens die Gesundheit seiner Frau und zweitens den Zustand des Ortes, den man, so war er überzeugt, aus seinem Dornröschenschlaf wecken musste, um sein ganzes Potential, medizinisch wie wirtschaftlich, auszuschöpfen.

Spengler erinnerte Margaret an ein Seepferdchen, was an seiner geschwungenen Stirn-Nasen-Linie lag. Seine von gepflegten Brauen umrahmten braunen Augen standen etwas weiter als üblich auseinander, was seinem Blick etwas Eindringliches verlieh. Sein Oberlippen- und Kinnbart wuchsen zusammen, wie einst bei Heinrich IV., die Wangen waren glattrasiert, seine Haut war hell, das Haar dunkelblond, fast braun. Nachdem er ihre Lunge abgehorcht hatte, sagte er, das Mittel der Wahl seien „die drei L“: Licht, Luft, Liegen, das sei die einzig wahre Kombination, wenn es um die Genesung ginge, insbesondere die Luft sei entscheidend, Heilen durch Atmen also. Er senkte die Stimme und nahm Willem zur Seite. „Herr Holsboer, unter uns, es sieht schlecht aus.“ Margaret versuchte, wegzuhören. An Männer, die über sie sprachen als wäre sie gar nicht im Raum, hatte sie sich nie gewöhnen können. Spengler senkte nun seine helle Stimme. Man solle niemals aufgeben, er habe hier noch Erfolge gesehen, wo der Tod schon unausweichlich schien. Er pries die prolongio vitae von Monaten, sogar Jahren an, die hier oben selbst bei schier hoffnungslosen Fällen erzielt werden könne und deutete sogar die Möglichkeit einer „relativen Heilung“ an – was immer das bedeuten sollte.

Während Margaret den Kopf in das Kissen drückte, um noch weniger zu hören, schenkte Willem dem zehn Jahre Älteren seine Aufmerksamkeit. Dr. Spengler war ihm sympathisch und diese Zugewandtheit beruhte auf Gegenseitigkeit. Wie lange er denn schon hier in diesem Dorf die Menschen kuriere, wollte Willem wissen. Seit 14 Jahren sei er nun hier, sagte Spengler, doch wolle er nichts mehr davon hören, ein „Landschaftsarzt“ zu sein, wie man ihn zu Beginn genannt habe, denn in dieser Bezeichnung liege ja ein grundlegender Fehler, nicht die Landschaft bedürfe der Heilung, sondern die Landschaft sei es, die heile. Sie habe enorme Fähigkeiten, geradezu magisch sei ihre Wirkung, er habe das über all die Jahre beobachtet und studiert. Die Behandlung der Lungenschwindsucht sei im Grunde einfach, sagte er. Vor allem ginge es darum, dem Patienten den maximal möglichen Aufenthalt an der frischen Luft zu gewähren. Er betonte die „heilkräftig einwirkenden Faktoren der verdünnten Luft“ als Dreh- und Angelpunkt seiner Kurmethode, die er personalisieren, also auf das jeweilige Krankheitsstadium des Patienten ausrichten wollte. Bewegung? Ja, aber eben je nach Zustand. Ob nun Ruhe, mäßiges Gehen auf ebenem Boden, sanfte Wanderungen oder sogar echte Bergtouren in Frage kämen, hinge vom individuellen Befinden des Patienten ab. „Also alles maßgeschneidert?“, fragte Willem und dachte an die vielen Kleider seiner Frau, die sie in London hatte zurücklassen müssen, worüber sie sich so stark echauffiert hatte, dass Willem gefürchtet hatte, sie könne einen Blutsturz erleiden. Vor einem solchen massiven Blutverlust hatte Dr. Weber eindrücklich gewarnt. „Bloß nicht aufregen, sonst kommt der hellrote Bluthusten!“ Über einen halben Liter Blut könnten Patienten dabei verlieren. Doch es war nicht so leicht, Margaret davon abzuhalten, sich aufzuregen. „Ich will nicht nach Davos und wenn ich nach Davos muss, will ich zumindest nicht scheußlich aussehen,“ hatte sie gesagt. Nun lag sie im viel zu dünnen seidenen Krankenkleid da, die Decke bis unters Kinn gezogen. Dr. Spengler warf einen sorgenvollen Blick auf sie – an Kraxeleien sei in ihrem Fall keineswegs zu denken. Nein, er empfehle hier, gewissermaßen als radikalen Anfangsimpuls, strikte Bettruhe, die noch jedem bekommen sei. Ja, jene Patienten, die einfach nur dalägen, nichts täten außer sich diesem Meer aus Bergen, Wolken und Licht hinzugeben, die würden genesen, jene aber, die dem Fluch der Moderne nicht entkommen konnten, die nicht stillhalten, ja weiter hetzen würden und umtriebig seien, die seien selbst schuld an ihrem Elend. Als ihm Dr. Weber telegrafiert hätte, dass sie aus London kämen, da habe ihn nichts mehr gewundert. Natürlich sei seine Frau krank. Die Stadt sei das Übel schlechthin, zum Glück seien sie jetzt hier, in der Natur, er bitte Gott inständig darum, dass sie nicht zu spät gekommen seien, aber nun ja, er hätte schon viele Wunder gesehen, auch bei denen, die gänzlich nervös zu ihm gekommen seien, die selbst er schon abgeschrieben hätte. Entgiftung müsse nun her, er suchte nach dem englischen Begriff und fand ihn schließlich mit nicht wenig Stolz: detox, ja detox in Form von täglicher Frischluft-, Milch- und Molkekur, zwischendurch ein Schluck Veltliner, aber bitte roten, dessen regenerierende Kraft nicht zu unterschätzen sei.

„Schon mal probiert?“, fragte er. Willem schüttelte den Kopf. „Roter Veltliner ist wunderbar. Nicht zu stark, wenig Säure, wegen des Tanningehalts angenehm trocken.“ Trocken sei gut, sagte Willem. Darin waren sie sich einig und Spengler fuhr fort, weitere Vorteile des Weines aufzuzählen, er sei auch hervorragend bei Magen-Darm-Problemen – ob er darunter leide? – egal, zumindest sei dies bei Lungenkranken nicht zu unterschätzen. Ob Margaret Schonkost und Mineralwasser möge? „Maggie hasst alles, was schlabbrig ist“, sagte Willem und dass er hoffe, der Aufstieg hierher hätte sich gelohnt, die Anreise habe seine Frau fast umgebracht, eine Zumutung sei das und überhaupt: Wem könne dies genügen? Sei das Strela wirklich das Beste, was der Ort zu bieten hatte? Kahle Wände, alte Möbel, schlechter Service. Wenn die Luft und das Licht hier oben wirklich eine solch heilende Wirkung hätten – sie standen nun am Fenster und blickten auf die von der Mittagssonne erhellten Gipfel – dann sei das doch eine Goldgrube, warum man nicht mehr draus mache? „Detox zu Davos“, das sei doch eingängig und ließe sich verkaufen. Spenglers Augen leuchteten auf. „Vergessen Sie nicht, dass die Davoser Walser sind – Eigenbrötler, Einzelkämpfer, Sturschädel. Alles Neue ist für sie ein Affront“, sagte er. „Erstmal sind sie gegen alles. Wer hier was bewegen will, muss sie für sich gewinnen.“ Dann, nach einer kurzen Pause, fragte er Willem: „Können Sie Menschen einfangen?“

Und während Margaret im bunt bestickten Morgenmantel aus indischem Chintz von den Pflegern auf die Sonnenterrasse gebracht wurde, um dort in Decken gewickelt ihre Lufttherapie zu beginnen, erkannte dieser Davoser Arzt, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können als die Begegnung mit diesem Niederländer, der, wie er nun erfuhr, Kaufmann war und von dem etwas verstand, was er schon immer dringend gebraucht hatte: Geld.

SAN FRANCISO 1853. DAS GOLD.

Als alle von Bord gingen, blieb Willem stehen. Als sie losrannten, setzte er sich. Er spürte das warme, abgegriffene Holz unter sich. Mit seinen Fingern ertastete er die Rillen. Ihm war, als könnte er all die Erinnerungen, die darin gespeichert waren, fühlen. Die Stürme. Die Flaute. Die Hitze. Die Ängste. Das Heimweh. Den Schmerz. Er kniff die Augen zusammen, die Sonne blendete ihn. Sie hatten auf der Überfahrt nach Kalifornien drei Tote zu verzeichnen. Ein Schiffsjunge war beim Hissen der Segel vom Großmast gestürzt; ein Steuermann hatte das Fieber erwischt; und dann war da der Koch gewesen, der zu oft das Falsche serviert und nach den Schiffsjungen geschielt hatte. Wer ihn umgebracht hatte, wusste Willem nicht. Doch eines Morgens fand man ihn in der Küche, ein ganzer Fisch steckte in seiner Kehle, die Augen waren aufgerissen, er trug wie immer seine schmutzige Schürze und roch nach Schweiß, Geflügelbeinen, Lust und geronnenem Fett. Nachdem der Koch tot war, gab es kein besseres Essen, jedoch auch kein schlechteres und so kehrte kurzzeitig wieder Frieden ein, ja eine Klärung war zu spüren, wie es sie nach einem heftigen Gewitter gab. Doch die Ruhe währte nur kurz. Je näher sie nach Kalifornien kamen, desto angespannter wurde seine Mannschaft. Es begann mit einem leisen Flüstern, das erstarb, sobald sich Willem näherte. Ihr lautes Schweigen verriet sie. Stimmungen konnten genauso schnell umschwingen wie Wetter und Willem hatte in all den Jahren an Bord eine Sensibilität für solche Dinge entwickelt, ja er hatte gelernt, jede noch so kleine Wolke am Horizont, jede noch so minimale Regung in einem Gesicht zu lesen wie die Buchstaben in der Bibel. Der Himmel war ihm ein ewiger Text, so wie es das Verhalten der Menschen war, und er liebte es, darin Botschaften zu erkennen. Schon als Vierzehnjähriger, in seinem ersten Jahr an Bord, als er noch Schiffsjunge gewesen war, hatte er gesehen, was andere nicht zu erkennen vermochten: Anhand der Wasserfarbe konnte er die Meerestiefe metergenau bestimmen und ein zarter Windhauch, den andere nicht einmal wahrnahmen, wurde ihm zum warnenden Boten vor einem Unwetter. Willem beobachtete die Vögel, die Delphine, die Fische und die Matrosen. Alles war Sprache und er hatte beschlossen, jeden noch so fremden Akzent dieser Meeres-, Himmels- und Erdenbewohner zu verstehen. Alles war lesbar, alles war Zeichen in der großen Geschichte der Welt. Dabei war ihm bewusst, dass das Wesentliche unausgesprochen blieb, dass das Bedeutende leise, klein und oftmals unsichtbar war. Er hatte sich dazu entschieden, genau hinzusehen, genauer als alle anderen. Mehr zu leisten, härter zu arbeiten, später zu Bett zu gehen und früher aufzustehen. Er schrubbte das Deck, bis seine Knie bluteten und Hände von der Seifenlauge brannten. Er verlangte dem Leben viel ab, doch mehr noch sich selbst. Er wollte mehr wahrnehmen, mehr erkennen. Er wollte die Dinge im Innersten ergründen. Was ihn nicht überwältige, begeisterte, faszinierte, das lehnte er ab. Er wusste, dass ihn das Banale nicht weiterbrachte, so wie er wusste, dass sein Streben nach dem höheren Sinn in den kleinsten wie den größten Dingen ein Zwang war, aus dem er sich nicht befreien konnte. Die Sonne war für ihn mehr als nur die Sonne: Wenn sie aufging, so sollte sie sein Herz erwecken. Ein Sturm war für ihn mehr als nur ein Sturm: Wenn er aufkam, so sollte er seinen Geist beflügeln. Willem wollte, musste und konnte stets mehr spüren als alle anderen – und dass ihm weniger als das Absolute nicht genügte, das war vielleicht die einzige Mitschuld, die er an seinem Schicksal trug.

Wie also hätte ihm entgehen sollen, was seine Crew in Aufregung versetzte?

In jedem Hafen sprach man davon: dem Gold, das es in Kalifornien gab. Man redete darüber wie über einem Märchenschatz. Jeder, wirklich jeder, könne reich werden. Man müsse nur tief genug schürfen, man müsse nur mutig genug sein, ein wahrer Mann müsse man sein und dann finde man Gold, ja Gold, Gold, Gold! Wer es nicht versuche, sei dumm. Wer es nicht wage, sei feige. Es gäbe Unmengen davon in diesem „Golden State“, also auf nach Kalifornien! Willems Seeroute führte nach San Francisco, weil er dort Waren abliefern und neue ankaufen musste. Er handelte mit wertvollen Stoffen, seltenen Gewürzen und Tee. Er hatte geplant, mit derselben Mannschaft wieder zurück nach Amsterdam zu segeln, mit der er gekommen war, doch als er nun an Deck saß, wusste er, dass sie nicht mehr zurückkehren würden. Kein einziger würde seinen Weg zurück zu ihm finden. Die Gier hatte von ihnen Besitz ergriffen und das schnell. All die Geschichten um das Gold hatten ihren Geist verblendet. Willem wusste, wie aus einem kleinen Gedanken ein Traum wurde, aus dem Traum ein zügelloser Tatendrang und aus dem Tatendrang ein Wüten, ein Toben, ein Fieberwahn. Alles, was sie sahen, war Geld. Was sie nicht erkannten: die damit verbundene Mühsal, die Enttäuschung, den Schlamm, das Blut, die Wölfe, den Neid. Sie konnten nicht weiterdenken als bis zur nächsten Fantasterei, zum nächsten Hirngespinst. Sie sahen sich als reiche Männer und dachten, der Reichtum mache sie glücklich. Alleine der Gedanke an Geld aber machte sie blind. Wie also sollten sie durch Gold jemals das Schöne erkennen? Es gab Dinge, die Willem wusste. So wie er wusste, dass von allen, die losliefen, keiner ans Ziel gelangen würde.