Der Zirkel des Narzissten - Valerija Konstantinovna Skripnicenko - E-Book

Der Zirkel des Narzissten E-Book

Valerija Konstantinovna Skripnicenko

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Beschreibung

Ganz unzensiert nimmt Dich dieser Roman auf eine Lebensreise mit, die Dich emotional bewegen wird. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle ist nicht zu hoch gegriffen. Eine hinreißende Liebesgeschichte erwärmt Dein Herz und emotionaler Missbrauch lässt es im gleichen Zug erkalten. Es zeigt Dir, wie Dich eine imaginäre Halsgeige, die Du Dir aufgrund Deiner Schwäche für narzisstisch veranlagte Menschen selbst anlegst, in den Wahnsinn treiben kann. Gleichzeitig erkennst Du, wie stark (auch) Du sein kannst und dass nur Du - der Mensch bist, der Dich aus diesem Teufelskreislauf befreien kann, indem Du Muster durchbrichst, die Du seit Kindertagen gewohnt bist.

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Valerija Konstantinovna Skripnicenko

Der Zirkel des Narzissten

Mit dem Rücken zur Wand

© 2021 Valerija Konstantinovna Skripnicenko

Lektorat: Theresa Ostmeier

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-41348-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-41349-8

ISBN E-Book: 978-3-347-41350-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Diese Geschichte ist frei erfunden,

wenn Du es so willst

Lieber Leser,

Dieses Buch ist kein Ratgeber. Ich kenne den Weg nicht, den Du gegangen bist und vielleicht könnte ich in Deinen Schuhen gar nicht stehen. Ich maße es mir nicht an, Dir Ratschläge im Umgang mit narzisstischen Frauen zu erteilen, da ich selbst nicht immer alles richtig gemacht habe.

Du als Mann hast es besonders schwer, denn in den Fängen einer narzisstischen Frau zu sein, bedeutet oft nicht nur den gegenwärtigen Kampf gegen Lügen, Intrigen, Manipulationen und Ausbeutung, sondern auch das darauffolgende Martyrium. Du hast vielleicht mit Rufmord und Erpressung, Stalking und jahrelangen Schlachten vor Gericht in Bezug auf die Kinder und das gesamte Hab und Gut zu kämpfen. Niemand glaubt Dir und alle zeigen mit dem Finger auf Dich. Du steckst irgendwann den Kopf in den Sand und wendest Dich von deinen Mitmenschen ab. Das kann ich Dir nicht verübeln.

Doch lass Dir aus der Sicht einer Frau sagen, dass narzisstische Frauen durchaus zu durchschauen und zu besiegen sind. Es ist nur eine Frage der Zeit und des richtigen Blickwinkels. Narzisstische Frauen spüren Deine Schwachpunkte und nutzen diese zu ihren Gunsten. Ja, sie erfinden auch welche und reden sie Dir ein, denn Deine Schwachpunkte sind ihre Macht über die gesamte Situation.

Sie können Dich provozieren und Dich an den Rand des Wahnsinns treiben, bis Du irgendwann überreagierst und Deine Kurzschlussreaktionen harte Konsequenzen mit sich ziehen.

Deswegen habe ich eine Bitte an Dich. Schaue in Dich hinein, analysiere Deine Schwachstellen und bessere sie aus. Ich schreibe aus der Sicht einer Tochter, Mutter, Freundin und Ehefrau und ich sage Dir, wir Frauen brauchen Männer wie Dich.

Bitte merke Dir: Gerade, wenn Du Dich durch eine narzisstische Frau entmannt und nutzlos fühlst.

Gerade dann brauchen wir Dich stark!

PS.: Zwischen den Zeilen steht geschrieben, wieso Du niemals aufhören darfst, zu lieben.

Liebe Leserin,

Dieses Buch soll Dich weder belehren noch Dir den Narzissten erklären oder Dir sagen, wie Du mit all dem, was er dir bietet, am besten umgehen kannst.

In vielen Ratgebern findest Du alles über Narzissten, was Du über sie wissen musst.

In meinem Buch geht es aber - um Dich.

Ich wage es nicht, Dir Ratschläge zu erteilen, da ich selbst nicht weiß, was richtig oder falsch ist - im Umgang mit ihnen.

Ich weiß aber wie es ist, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Während Du dieses Buch liest, sitze ich neben Dir und halte deine Hand, wenn Du es möchtest. Ich verstehe Dich und glaube Dir, wenn Du selbst nicht weißt, was mit Dir los ist und wieso Du Dinge tust, die du Dir selbst nicht erklären kannst.

Primitive Formulierungen, Wiederholungen und etliche Widersprüche sollen Dich nicht verwirren, sondern Dein Chaos in Dir entwirren.

Ja, ich hätte auch schöner schreiben, mich eleganter und klarer ausdrücken können, aber würdest Du Dich dann wiederfinden oder verstanden fühlen?

In vielen Romanen findest Du eine Chronologie, die Dir das Lesen erleichtert und für besseres Verständnis sorgt, aber hast Du Klarheit im Umgang mit Narzissten?

Sie hinterlassen oft nur verbrannte Erde und der Scherbenhaufen ist oft riesig, dafür brauchst Du viel Kraft. Wie auch immer Du mein Buch findest, ich wollte Dir damit ein bisschen von mir geben, denn ich habe mittlerweile etwas über.

PS.: Zwischen den Zeilen steht geschrieben, wie wichtig es ist, sich selbst zu lieben.

Kapitel 1

Ich höre meinen Herzschlag und versuche, so leise wie möglich zu atmen, um bloß nicht gehört zu werden. Mein ganzer Körper zittert und mir laufen Tränen über die Wangen. Die Todesangst lässt mich bei jedem dumpfen Schlag zusammenzucken und ich schnappe nach Luft nach jedem lauten Schrei. Es fühlt sich an, als würden scharfe Messerklingen tief in mir stecken, die sich bei jeder noch so kleinen Bewegung durch meine Brust schneiden. Ich schließe fest meine kleinen Augen und halte abwechselnd meine kleinen Kinderhände vor das Gesicht und die Ohren. In der Hoffnung taub, blind und unsichtbar zu sein, aus Angst - entdeckt zu werden. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Gefühlte sieben Tage, in denen ich im Schlafzimmerschrank stehe und versuche, nicht zu schreien oder zu sterben. Wie so oft knicken meine kleinen Beine abwechselnd ein und ich verliere immer wieder den Halt. Langsam nur werden die hysterischen Schreie der vielen fremden Stimmen leiser. Die Abstände der heftigen Schläge gegen die dünnen Wände, die das ganze Haus beben lassen, - länger.

Ich will nur noch zurück in mein Bett. Unter die Decke und wieder einmal alles vergessen.

Ich höre das laute Knallen der Haustür und nur noch Mamas Weinen und ihre Schritte. Ich öffne die Schranktür, weil ich weiß, dass wieder alles vorbei ist. Wieder einmal bin ich froh, dass er weg ist und sie noch lebt. Ganz oft habe ich den lieben Gott gebeten, Mama zu beschützen und war,

wie jedes Mal aufs Neue, erleichtert, dass er mich erhört hat in diesem muffigen Schrank zwischen all den Decken, Handtüchern und Mamas Anziehsachen. Sie nimmt mich zum Trösten und Beruhigen auf den Arm, selbst am zittern und verweint, drückt mich an sich und wiederholt ständig:

"Er ist weg, er ist weg."

Schaukelnd mit mir auf dem Arm setzt sie sich auf die Bettkante und wimmert, während ich ihr durch das Haar streichle und sie ebenfalls beruhige. In mir ist nichts als Leere und Erschöpfung. Das Einzige, was ich jetzt noch will, ist in mein Bett und unter die Decke zu meinem Kuscheltier. Nach einer Weile auf ihrem Arm legt sie mich ab und deckt mich zu. Streichelt mir noch einige Minuten liebevoll über das Gesicht und verlässt dann den Raum. Sie zieht die Tür hinter sich zu, obwohl ich ihr immer sage, dass ich es nicht mag.

Lautlos weine ich im dunklen Zimmer in das durch die Fenster scheinende Licht der Sterne vor mich hin. Ich bitte den lieben Gott immer wieder, mir meine geliebte Mami zu schicken. Doch er hört mich nicht. Mit meinem Kuscheltier fest im Arm falle ich in einen tiefen Schlaf.

Es vergingen einige Tage und die Gemüter hatten sich beruhigt. Es war ein schöner und sonniger Morgen und ich wachte mit der Sonne im Gesicht auf. Aus der Küche roch es lecker und ich hörte es klappern und brutzeln. Noch verschlafen, aber gut gelaunt, wollte ich mich an jenem Tag

rausputzen und mein neues gepunktetes Lieblingskleid anziehen. Ich wollte nämlich eine Ballerina sein und tanzen. Wie eine aus dem Fernsehen, die auf Zehenspitzen Pirouetten mit den Händen über dem Kopf drehte.

Also holte ich mir das Kleid aus dem Schrank, in dem meine Anziehsachen ordentlich hingen und zog es vom Kleiderbügel. Mit dem Kleid in den Händen lief ich in die Küche zu Mama und fragte euphorisch:

"Mama, Mama, darf ich dieses Kleid anziehen?" Und konnte mit der Antwort zwar rechnen, aber nicht umgehen, denn mein starker Wille schloss das Verständnis dafür aus. Es war doch so warm draußen, die Sonne schien und es war Sonntag und außerdem wollte ich es doch so unbedingt. Wie so oft waren mir das erste Verneinen und der strenge Blick nicht genug. Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck und Tränen in den Augen setzte ich einen weiteren Versuch an, meinen kleinen Kopf durchzusetzen: "Wieso?"

"Es ist zu kalt und du brauchst das nicht! Neulich erst warst du wieder krank!", war ihre Antwort. Sie wendete sich wieder ihrer Küchenarbeit zu, in der Hoffnung, es wäre geklärt.

Ich musste auch krank gewesen sein, zumal Mama das sagte und auch eine Ärztin kam und mir eine Spritze gab, aber krank gefühlt hatte ich mich nicht.

"Aber bitte, bitte nur kurz, ich will doch tanzen", verlieh ich meinem Wunsch mit meinem weinenden Ausdruck den Nachdruck. Mamas Ton wurde laut und streng. Mit großen Schritten kam sie auf mich zu und riss mir das Kleid aus den Händen. Sie beugte sich über mich mit weit aufgerissenen Augen, knirschenden Zähnen und ermahnendem Zeigefinger und schimpfte: "Nein heißt Nein und wenn du hier noch mehr Theater machst, dann bringe ich dich zu deinem Vater."

Mein Körper verkrampfte und aus meinem tiefsten Inneren bohrte sich ein unbändig hysterisches Weinen. Es war, als würde ich genau in diesem Moment zum hundertsten Mal in meinem dreieinhalb Jahre alten Leben sterben. Wie ferngesteuert zog ich mich zurück ins Schlafzimmer, um nach Luft zu schnappen. In solchen Momenten wollte ich immer nur allein sein. Ganz allein.

Es dauerte eine Weile bis ich wieder zu mir kam und mich beruhigte, denn meine Tobsuchtsanfälle, ausgelöst durch krampfartige Schmerzen in meiner Brust, zerrten sehr an meinen Nerven. Gefangen in meiner Hysterie weinte ich immer, bis mir die Tränen ausgingen und ich vor Erschöpfung einschlief.

"Wie undankbar du bist, wieso kannst du nicht hören, wie alle anderen Kinder auf ihre Eltern hören? Schau wie ich zittere, schau was du wieder angestellt hast. Das werde ich deinem Vater erzählen!", schimpfte sie mir noch nach. Diese Worte zeigten mir, wie hilflos und wie fehl am Platz ich doch war, ohne meine Mami.

Das Frühstück nach meinem Wutanfall würgte ich am Esstisch in der Küche schweigend runter und ging anschließend zurück in das Schlafzimmer, in dem drei Betten standen. Eines auf dem meine Großmutter schlief, das Zweite auf dem meine Mama schlief und das Dritte in welchem ich schlief.

Die Sonne durchflutete das Zimmer. Ich lag einige Zeit auf meinem Bett und starrte den Schrank, der direkt davor stand, an. Mich plagte das schlechte Gewissen wegen meines Wutanfalls und auch, weil Mama wieder schimpfen musste und sich wieder so aufgeregt hatte. Dann war da aber auch die große Angst vor meinem Vater, die mich noch einige Stunden quälte und der Wunsch, in diesem Kleid zu tanzen.

Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, so zu tun, als ob ich spielte in den Anziehsachen, die sie mir anzog. Die Tür des Schlafzimmers war tagsüber immer geöffnet und sie kam später herein. Mit leiser Stimme und lächelnd rief sie mich zum Mittagessen, als hätte ich nichts Schlimmes angestellt oder sie mir verziehen. Glücklich, erleichtert und dankbar für ihr liebevolles Lächeln wollte ich nun alles dafür tun, um es zu erhalten.

Am Tisch saß ich still und aß meinen Teller leer und schaute nicht mal in der Gegend herum.

Einmal kündigte sich mein Vater zu Besuch an.

Aus Mamas Erzählungen und den Gesprächen der Erwachsenen, die ich zwangsläufig immer mitbekam, wusste ich, dass er ein Mörder war. Er vergewaltigte und ermordete meine Mami ein Jahr zuvor. Ich wusste zwar nicht, was das bedeuten sollte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein.

Er war nämlich ein sehr gefährlicher Mann und kam auch immer laut schreiend mit anderen gefährlichen Männern, um mich zu töten und von Mama wollte er immer Geld. Deswegen sollte ich mich auch immer im Schrank verstecken und leise sein. Mama konnte uns vor ihm immer nur mit Müh und Not und der Hilfe der Nachbarn beschützen und riskierte dabei ständig ihr Leben.

Trotz Mamas Anweisung, mich gut zu benehmen während seines Besuchs, um ihn nicht wieder wütend zu machen, damit er nicht wieder tobte und um sich schlug, gelang es mir nur kurz, die Tränen vor seinem Erscheinen zu unterdrücken. Ich sollte mich zusammenreißen und nicht wieder weinen und ihn somit provozieren. Doch trotz der Anweisung rannte ich direkt nach dem Klingeln an der Haustür ins Badezimmer und weinte - leise. In der Hoffnung, dass es keiner mitbekam.

Sie machte ihm auf und schickte ihn durch in die Stube.

Seine Schritte hörte ich, als er noch im Flur des 9-stöckigen Wohnhauses die Treppe hochkam und gerochen habe ich ihn durch drei Türen und den Wohnungsflur. Seine Stimme zu hören, als er Mama begrüßte, war vergleichbar mit zwei großen Händen, die mich würgten und einem schweren Stein auf meiner Brust, der mich nicht Luftholen ließ. Mein Herz schlug schnell und meine Hände wurden kalt und nass.

Ich hörte Mamas Stimme vor der Badezimmertür, wie sie ihn in die Stube durchschickte. Anschließend kam sie mit einem liebevollen Lächeln im Gesicht zu mir ins Badezimmer. Sie ging vor mir in die Hocke und wiederholte ihre Anordnung in einem unbeschwerten und liebevollen Ton. Ich sollte ihm bloß gehorchen und ein gutes Mädchen sein und aufhören, zu weinen. Denn Papa hatte mich vermisst und brachte extra Bastelkleber mit, um mit mir zu basteln.

Widerwillig ging ich den langen Flur entlang zum Wohnzimmer, um meinen Job zu machen. Es fühlte sich für mich an wie der Gang zur Schlachtbank. Er saß derweil schon mit Bastelkram und seinem Kleber am Wohnzimmertisch und erwartete mich. Lächelnd empfing er mich und ich lächelte wie auf Knopfdruck mit verweinten Augen zurück. Ich hatte Angst, irgendetwas durcheinander zu bringen. Ich hatte Angst, falsch zu reagieren. Ich hatte Angst, falsch zu basteln. Ich hatte Angst, zu weinen oder etwas Falsches zu sagen. Nur langsam ging ich auf ihn zu und er schob den Stuhl neben sich zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte. Mama blieb im Türrahmen der Stube mit ihrem Geschirrtuch in der Hand stehen und sagte liebevoll: "Willst du Papa nicht umarmen und einen Kuss geben?" Er kniete sich vor mich auf den Boden und streckte seine Arme aus. Willenlos befolgte ich die unterschwellige Anweisung und ließ mich umarmen.

Ich spürte ihr Dasein und ihre Blicke im Rücken und in mir baute sich ein unerträglicher Druck auf. Meine Beine kribbelten, mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Hände zitterten.

Er zog mich an sich und umarmte mich. Er hielt mich fest. Meine Angst war von jetzt auf gleich weg, so als hätte sich in meinem Kopf ein Schalter umgelegt. Ich fühlte mich plötzlich wie in einem Kokon. Sein Geruch, sein Atem, sein kratziger Bart, sein Herzschlag durch den kratzigen Pullover waren mir so fremd und vertraut gleichzeitig, dass ich mich in mir selbst verlor. Ich schloss die Augen, aus denen Tränen flossen und versuchte, mich mit aller Macht zusammenzureißen. Ich atmete nicht, ich bewegte mich nicht. Ich wollte nicht, dass er loslässt. Doch traute ich mich nicht, ihn zu umarmen. Ich hatte mich so geschämt, weil ich ihn in diesem Moment so liebte und keine Angst vor ihm hatte oder ihn hasste. Mama stand noch immer im Türrahmen und beobachtete uns. Ich wusste, sie würde sofort schimpfen, wenn ich auch nur einen Ton von mir gäbe.

Er ließ mich los, als er mein Weinen bemerkte und schaute mich zuerst enttäuscht an und schließlich auf den Boden.

Mein Vater noch vor mir kniend, starrte Mama mich mit einem hämischen Lächeln an, als wäre es für sie klar gewesen, dass ich aus Angst vor ihm wieder einmal weinte. Sie lächelte immer so, wenn sie im Recht war.

Ich schaute sie an und sah, wie sie blitzartig ihre Mimik veränderte und ihn aufforderte, zu gehen. Da er mich wieder verängstigte und sie nun wieder Stunden bräuchte, um mich zu beruhigen. Sie begleitete ihn hinaus zur Haustür und erwähnte meinen anstrengenden Charakter. Sie flüsterte ihm, ich sei unzähmbar.

Meine innere Stimme wollte rausschreien, dass er bleiben sollte, aber ich bekam keinen Ton raus. Ich wollte ihn festhalten, aber ich war wie versteinert. Ich genoss jede Sekunde, in der er in diesem Zimmer war und verfolgte jeden seiner Schritte hinaus in den Flur. Noch schwerer wurde es in mir, als sie mich tröstete und mir erklärte, dass ich selbst schuld war an dem nur kurzen Besuch, denn ich hatte ihn mit meiner Hysterie wieder vertrieben.

Ungefähr ein Jahr zuvor verabschiedete sich in diesem Flur meine geliebte Mami am frühen Abend von mir. Zuvor machte sie sich im Schlafzimmer schick und war gekleidet in hellblauer Bluse und einem hellblauen Rock. Von meinem Bett aus beobachtete ich, wie sie sich fertig machte. Leise summte sie ein Liedchen vor sich her und schnitt Grimassen, die mich zum Lachen bringen sollten, da ich zunehmend unruhiger wurde. Ich wollte nicht, dass sie ging und weinte. All ihre Bemühungen, mich zu beruhigen, stressten sie, doch ließ sie es mich nicht spüren.

Zum Abschied nahm sie mich auf ihren Arm und ich versuchte, sie mit aller Macht festzuhalten. Ich schrie, weinte, tobte und bettelte, damit sie bei mir bliebe, aber es war nicht genug. Sie musste dringend los und war spät dran, also eilte Urgroßmutter ihr aus dem Wohnzimmer zur Hilfe und nahm mich ihr ab. Doch auch bei ihr auf dem Arm wollte und konnte ich mich nicht beruhigen, schrie wie am Spieß und trat um mich.

Mami war sichtlich hin- und hergerissen und hatte ein schlechtes Gewissen, mich zurückzulassen. Schnappte sich jedoch ihre Tasche, küsste mich bei Urgroßmutter auf dem Arm auf die Stirn und ging den Flur entlang zur Haustür. Dort drehte sie sich noch ein letztes Mal zu mir um, warf mir einen Handkuss zu und sagte: "Sei lieb, ich bin bald wieder da, mein Schatz" und ging hinaus.

Ich war zweieinhalb Jahre alt und wusste, ich würde sie nie wieder sehen. Den ganzen Abend tobte ich, schrie und weinte. Jeder Versuch, den Urgroßmutter unternahm, mich zu beruhigen, scheiterte und sie war am Ende ihrer Kräfte. Oma war nicht Zuhause und sie mit der Situation maßlos überfordert.

Erst Stunden später schlief ich vor Erschöpfung ein.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf. In einem Traum sah ich meine Mami unter klarem Wasser liegen mit verschränktem Arm unter ihrem Kopf und angewinkelten Beinen. Neben ihr lag ihre Tasche und auch die Schuhe hatte sie an. Über ihr schwammen kleine Goldfische. Sie lächelte und sagte: "Bis bald."

Ich setzte mich im Bett auf und weinte lautlos. Für mich war klar, ich hatte versagt, denn ich war nicht laut genug. In mir starb in jener Nacht die Hälfte meiner Seele und je mehr ich fühlte, desto lauter weinte ich, bis Urgroßmutter mich hörte und kam, um mich zu trösten. Ich hatte so viel geweint, dass ich furchtbaren Durst hatte und sie mir ein Glas Wasser brachte. Meine kleinen zittrigen Hände konnten das Glas aber nicht ruhig halten und ich verschüttete die Hälfte in meinem Bett. Sie redete auf mich ein und versuchte alles Menschenmögliche, um mich zu beruhigen. Sie versprach mir, dass Mami und Oma bald wieder zurück seien, doch ich glaubte ihr nicht.

In den Morgenstunden wurde ich von vielen fremden Stimmen geweckt. Auch Oma war wieder da und weinte. Alle waren besorgt und panisch, das Haustelefon klingelte oft und ich verstand, dass alle nach meiner Mami suchten. Ich blieb in meinem Bett und starrte an die Decke und wartete…

Die ersten Wochen nach ihrem Verschwinden lag ich überwiegend in meinem Bett, mit ihrem Stofftaschentuch über meinem Gesicht und ließ mich von niemandem anfassen. Ich wollte niemanden sehen und vermied jeden Kontakt. Ich aß widerwillig und nur mit gutem Zureden. Spielte und lachte nicht und war vollständig in mich gekehrt.

Ich bekam mit, wie ständig Leute kamen und gingen. Männer und Frauen, die weinten und mir Geschenke brachten, mich auf den Arm nehmen wollten und Oma Trost spendeten.

Monatelang durchkämmten Suchtrupps, organisiert von Anwohnern und Nachbarn, der Polizei und Mamis Freunden, Omas Bekannten und sämtlichen Kollegen, die ganze Stadt. Durchsuchten jeden Busch und jeden Winkel bei den eisigen Temperaturen und heftigen Schneestürmen Russlands in der Hoffnung, sie lebend zu finden oder zumindest - die Gewissheit. Jedoch ohne Erfolg.

Ich war zweieinhalb Jahre alt und hatte mit allem was ich konnte, versucht zu erklären, dass sie im Wasser war bei den Fischen. Unter dem Gullydeckel. Aber niemand glaubte mir, außer Oma. Monatelang erinnerte ich sie an meinen Traum, bis sie irgendwann mit mir an der Hand los ging und mir so gut wie jeden Gully in unserem Viertel zeigte. Doch die meinte ich alle nicht.

In den nächsten Monaten zerrte der Verlust meiner Mami zwar an unseren Nerven und hing wie ein grauer Schleier über unseren Köpfen, doch schlich sich phasenweise der

Frieden ein. Natürlich schwand mit jedem Tag die Hoffnung, meine Mami lebend zu finden und der Haussegen hing auch zeitweise schief. Mein psychischer und physischer Zustand ließ zu wünschen übrig, denn ich wurde seit dem Verschwinden meiner Mami immer trotziger und war ständig krank. Aufgrund des aufgebrachten Mitleids für mich war es nicht leicht, mich zu erziehen. Ich weigerte mich auf Urgroßmutter zu hören, die überwiegend auf mich aufpasste, da ich zu krank für den Kindergarten war. Auch sonst wollte ich oft mit dem Kopf durch die Wand und setzte meinen Willen durch. Nicht einmal die Geschichten über meine Mami konnten mich hinbiegen und jeder Vergleich mit ihr, der mich zur Gehorsamkeit animieren sollte, war ein Schuss in den Ofen. Beide verzweifelten an meinem schwierigen Charakter, denn sie hatten auch zusätzlich mit dem Verlust ihrer Tochter und Enkelin zu kämpfen. Nichtsdestotrotz liebten mich beide und wollten die Schäden und meine Traumata so gering wie nur möglich halten, denn sie standen in der Verantwortung, mir ein Leben zu bieten. Die Trauer über den Verlust meiner Mami sollte ich weniger spüren, indem ich Oma - Mama nannte und Urgroßmutter - Oma.

Ich war 4 Jahre alt und mein Papa feierte seinen Geburtstag.

Wenn ich behaupten würde, ich hätte mich über die Einladung zu seiner Feier gefreut, würde ich lügen - aber auch, wenn ich das Gegenteil behaupten würde.

Seine Besuche wurden seit dem Verschwinden meiner Mami immer weniger und eskalierten meistens noch im Treppenhaus.

Am Nachmittag machten Mama und ich uns auf zu ihm nach Hause. Auf dem Weg bat Mama mich, lieb zu sein und mit meiner Cousine nicht zu streiten. Wir wüssten ja, wie zickig die war und der Klügere sollte immer nachgeben.

Bei Papa angekommen, wurden wir herzlich begrüßt von meiner Cousine, meiner Oma und ihm. Alle schienen gut gelaunt und freuten sich auf das Essen, das Papa mit Oma vorbereitet hatte. Es duftete wunderbar aus der Küche, als wir in die Wohnung reinkamen. Wir legten unsere Jacken im Flur ab und zogen unsere Straßenschuhe aus. Mama gratulierte ihm mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange zu seinem Geburtstag. Sie überreichte ihm ein Geschenk, das er auf die Kommode legte, ohne es auszupacken.

Er ging in die Hocke, damit auch ich ihm gratulieren konnte und umarmte mich. Ich brachte aber keinen Ton raus, obwohl wir das so oft mit Mama geübt hatten.

Im Wohnzimmer stand eine weiße, mit Blumen verzierte Vase auf dem Tisch, mit acht oder neun rosa Rosen. Die Blüten waren fast alle noch geschlossen und zwei davon ließen ihren Kopf hängen.

Es war ein zwar kalter, aber sonniger Januartag und wir wollten draußen spielen. Meine Cousine hatte nämlich ein neues Fahrrad geschenkt bekommen und wollte es mir

unbedingt zeigen. Mit Papa, dem gutgelaunten Geburtstagskind, gingen wir raus auf den Hof, als schon nach kurzer Zeit ein Streit zwischen uns Kindern entfachte.

Ich wollte dieses Fahrrad auch mal fahren und meine Cousine erlaubte es nicht. Also fing ich an, zu weinen. Mein Vater wollte den Streit schlichten und meine Tränen trocknen und nahm meine Cousine ins Gebet, die dann aber heulend zu ihrer Oma rannte und sich beschwerte.

Wer genau wen danach umbringen wollte, war nicht klar. Ich konnte nur aus dem Schlafzimmer sehen, wie mein Vater seine Mutter mit einem Beil aus der Wohnung auf den Hof jagte, nachdem ein riesiger Streit im Flur des Familienhauses zwischen Mama und Oma eskalierte und wir in Sicherheit gebracht wurden, noch bevor Papa der Kragen platzte. Ausgesprochen hat es niemand, zumindest habe ich es nicht gehört, aber den Schuldschuh an der ruinierten Feier zog ich mir selbst an. Das ist die letzte Erinnerung an meine Familie väterlicherseits und damit verbinde ich bis heute - rosa Rosen.

"In Deutschland gibt es ganz viele verschiedene Sorten Eis, aber das darfst du niemandem erzählen, sonst wollen die alle mit", waren Mamas Worte in dem langen Flur unserer Wohnung, als sie mir die Jacke anzog, um mich in den Kindergarten zu bringen. Monatelang hat sie mich auf die Abreise nach Deutschland vorbereitet und mir immer wieder die Vorzüge Europas aufgezählt. "Dort müssen wir keine Angst mehr vor diesem Monster haben", mit diesen Worten versprach sie mir Seelenfrieden und eine angstfreie Zukunft. "In Deutschland ist es viel wärmer als hier, da wirst du nicht mehr krank sein", versprach sie mir ein sorgenfreies Leben. Auch, dass ich dann mehr Spielsachen und schönere Kleider haben werde als meine doofe Cousine und ich nicht mehr weinen müsse.

Oh, wie freute ich mich mit fünf Jahren auf so viel verschiedene Eissorten, Sicherheit und Luxus. Auch Gesundheit durch besseres Klima war ein Argument. Denn ich war oft bei Ärzten oder sie bei uns und es gab viele Spritzen in den Po. Im Kindergarten war ich eher selten, dafür aber einmal in einem Sanatorium. Aber krank fühlte ich mich nie.

Nach langen und heimlichen Vorbereitungen war der Tag gekommen, an dem ich abgeholt wurde. Mamas alter Bekannter erwies ihr einen Gefallen, mich in Moskau vorübergehend zu beherbergen, während sie die fehlenden Dokumente für die Auswanderung nach Deutschland fertigstellen lassen konnte.

Für meine Ausreise aus Kasachstan war eine Adoption zwingend notwendig. Denn mein Vater hätte niemals seine Erlaubnis zur Ausreise in die EU erteilt. Wie praktisch war doch in dieser Situation sein Alkoholismus.

Ihn abzufüllen und die Adoptionspapiere, getarnt als kurzfristige Ausreiseerlaubnis, unterschreiben zu lassen, mit der Bitte, uns einen Urlaub in Deutschland zu erlauben, um die Familie zu besuchen, war ein Kinderspiel. So wurde sie offiziell zu meiner Adoptivmutter, als ich bereits außer Landes war.

"Lass das Kind keinesfalls auch nur eine Sekunde aus den Augen, hast du gehört?!", mit diesen Worten vertraute Mama mich ihrem Bekannten an, der mich außer Landes brachte und für einige Monate in Moskau zusammen mit seiner Ehefrau und deren beiden erwachsenen Kindern behütete. Bevor sie mit Oma nach einiger Zeit nachreiste und mich weiter mitnahm nach Deutschland. Wo auch schon weit entfernte Verwandte uns erwarteten.

Auf meine Abreise und den Abschied bereitete sie mich lange vor und erzählte mir von den lieben Leuten, bei denen ich vorübergehend leben würde und dass sie bald mit Oma nachkäme. Vielleicht auch deshalb fiel es mir am Tag der Abreise nicht sonderlich schwer, mitzufahren, jedoch war sie meine Bezugsperson und ersetzte mir meine Mami.

An dem Abend ging alles schnell. Das Taxi wartete bereits vor dem Haus und wir fuhren zu dritt mit dem Fahrstuhl aus dem sechsten Stock in das Erdgeschoss. Meine Oma war, wie immer, übertrieben lieb. Wie immer, wenn Fremde dabei waren. Doch ihre Nervosität war deutlich zu spüren. Wir verabschiedeten uns im Flur des Hauses voneinander und ich fuhr schweren Herzens mit, auch wenn der Mann sehr nett war. Er nahm mich im Haus vor der angelehnten Tür fest an die Hand und wir gingen raus.

Ich drehte mich noch einige Male um und sah Oma winken, aber wir gingen sehr schnell und sprangen in das Taxi, dessen Türen bereits offenstanden und der Motor lief, hinein. Und schon ging die Reise los. Beruhigt hatte ich mich schon nach kurzer Zeit.

Da der Mann mich ablenkte und mir gut zusprach. Er erzählte mir von seiner Ehefrau und seinen beiden netten Kindern, die sich bereits auf meinen Besuch freuten und viele Geschenke für mich hätten. Mir nahm es ein bisschen den Trennungsschmerz, lenkte mich aber auch gleichzeitig davon ab, dass ich auf der Fahrt zum Flughafen nicht aus dem Fenster gucken durfte.

Aus dem Flugzeug schauten wir hinunter auf die Lichter der Stadt und er erzählte mir von dem Kreml, den er vorhatte mit mir zu besuchen. Von dem leckeren Essen, das seine Frau kochte und den Kindern, die versprachen, mit mir zu spielen.

Diese Versprechen hielt er alle ein, selbst das, dass die Zeit in Moskau vergehen würde wie im Fluge. Die Zeit verging nämlich wirklich wie im Flug. Ich war vernarrt in seine Frau und in den jüngeren Sohn. Alle vier behüteten mich, spielten den ganzen Tag mit mir und den Kreml haben wir zur schönsten Zeit des Jahres besucht. Zu Weihnachten. Es sah aus wie in einem Buch, überall Lichter und ich fühlte mich wie in einem Märchen. An jedem Tag meines Aufenthaltes wurde ich bespaßt. Oft musste der Sohn als Pferd herhalten und ich ritt auf ihm durch die Wohnung. Ich mochte ihn aber auch, weil er mich besonders lange und hoch schaukelte auf dem Spielplatz. Deren Tochter spielte auch viel mit mir und ich durfte auch fast allen ihren Puppen die Haare schneiden.

Kapitel 2

Es war genau 23:57 Uhr und ich stand mit meinem Auto in Hamburg. Natürlich inklusive meines kleinen pelzigen Freunds auf dem Beifahrersitz. Irgendwo im Nirgendwo auf einem von Gott verlassenen Firmengelände. Es war eine heiße Sommernacht und ich ließ den Tag Revue passieren. Gefühlt zum hundertsten Mal hörte ich ein und dasselbe Lied von Whitney Houston -It´s not Right but it´s ok- und war komplett in meinen Gedanken versunken. Ich rauchte meine Zigarette, aschte aus dem Fenster und trank mein Redbull aus der Dose, als plötzlich eine riesige schwarze Bestie mit leuchtenden Augen und großen weißen Zähnen, fletschend und sabbernd, an meiner Fahrertür stand und mich fixierte. Herkules, mein kleiner Pekinese, schreckte aus seinem Tiefschlaf auf und war rasend vor Wut. Er war etwas zu selbstbewusst, verzogen, dominant und wollte mich mit seinem Leben verteidigen.

Vor Schreck zuckte ich zusammen, schrie laut auf und schmiss die Dose aus dem Fenster. Aus Versehen traf sie den Hund am Kopf und ich rechnete mit dem Schlimmsten.

Schnell wollte ich die Scheibe hochfahren, als ich einen glatzköpfigen, schwarz gekleideten, sehr unheimlich aussehenden Typen auf mich zukommen sah. Nicht nur, dass er aus dem dunklen Nichts schreiend auf mich zu kam, sondern auch sein Auftreten ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Er hätte auch der Sicherheitsdienst dieses Geländes sein können und mich als Eindringling zur Rechenschaft ziehen wollen, für unbefugtes Betreten bzw. Befahren des Grundstücks. Er hätte aber auch einer von den vielen z.B. Schlägern vom Kiez sein können, der sich gestört fühlte. Denn eigentlich machte er nicht den Eindruck eines Ordnungshüters.

Er kam schnellen Schrittes auf mich zu, brüllte und fuchtelte mit den Armen umher. In der einen Hand eine dicke klimpernde Hundekette und in der anderen Hand eine Taschenlampe. Durch das Gebell im Auto konnte ich nicht hören, was er schrie und versuchte, meinen Hund mit gutem Zureden zu beruhigen.

Sein sechsjähriger Rottweiler-Pitbull Rüde hielt auf seinen Befehl die Klappe und setzte sich, ohne den Blick von mir abzuwenden. Mit der Taschenlampe leuchtete mir der Typ ins Auto und ich konnte nicht einfach losfahren, denn ich saß da wie gelähmt.

Kennst Du das? Wenn Du willst, aber nicht kannst?

So saß ich da hinter meinem Lenkrad und krallte mich fest. Starrte in das Licht der Taschenlampe und hörte das hysterische Bellen meines kleinen unbeeindruckten Hundes neben mir.

"Wer seid ihr und was wollt ihr?", begrüßte er uns brüllend wie ein Feldwebel, der Glatzkopf mit den stahlblauen Augen, dem aggressiven Blick und der tiefen Stimme.

Mit verheultem Gesicht und verschmierten Make-up antwortete ich:

"Warten!"

"Worauf?", er.

"Auf den Bus!", ich.

Ich zitterte zwar wie Espenlaub, aber meine große und vorlaute Klappe konnte sich dumme Antworten noch nie verkneifen, auch wenn mir das schon oft Ärger eingehandelt hatte.

Herkules bellte und fletschte und es war kaum ein Dialog möglich aus dem Autofenster heraus, doch aussteigen wollte ich auch nicht. Erstens war er kein Typ, dem man in der Nacht gern begegnete und zweitens wusste ich nicht mal genau, wo ich war. Dazu kam seine fletschende Hyäne, die mich fixierte.

Als er endlich die Taschenlampe in eine andere Richtung hielt, konnten sich meine Augen wieder etwas an die Dunkelheit gewöhnen. Erst dann konnte ich erkennen, dass er eine schwarze Alpha Bomberjacke trug und eine dicke goldene Halskette um den Hals, die Glatze glänzte und er eine dicke lange Narbe im Gesicht über der Wange hatte. Sein Gesicht war sehr markant und er sah brutal aus. An seinem Handgelenk war eine goldene, glänzende Uhr und er war stark parfümiert. Das war einer der Herrendüfte, die man so schnell nicht mehr vergaß. Er stand nun Kaugummi kauend vor meiner Fahrertür und stützte sich mit dem rechten Arm am Auto ab. Daneben saß sein braver sechzig Kilo Fiffi und ich wusste, er wartete auf eine Antwort, die er hören wollte.

Immer noch wie paralysiert, saß ich auf meinem Sitz und krallte mich mit beiden Händen am Lenkrad fest, mit den Füßen auf den Pedalen und zitternden Knien. Erst nachdem er seine Taschenlampe ganz ausschaltete, konnte

ich

ihm in die Augen sehen. Unsere Blicke trafen sich in der dunklen Nacht im Schein der Laternenlichter ringsum auf dem Gelände. Es war unheimlich, denn sein Blick war mystisch.

Er hypnotisierte mich mit seinen Augen.

Gedanklich sendete ich eine Bitte an den lieben Herrn Gott, dass mein Hund und ich diese Begegnung unversehrt überstehen würden. Der Tag war schließlich schrecklich genug. Ich wollte nun nicht auch noch vergewaltigt und geköpft irgendwo im Gebüsch liegen, während mein pelziger Freund zerfetzt werden würde. Mit aller Macht versuchte ich, mein Zittern zu kontrollieren, um bloß nicht zu zeigen, wie viel Angst ich hatte.

Er griff in seine Gürteltasche, holte etwas raus und ich sah mein Ende kommen. Mit Sicherheit eine Waffe, denn er hielt sie mir hin. Reflexartig schloss ich meine Augen.

"Eine rauchen?", bot er mir eine Zigarette an und hielt mir eine Marlboro Schachtel vor das Gesicht. Jede andere Frau würde jetzt den Motor starten und losfahren, aber ich blieb.

Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich atmete tief durch. Dankend nahm ich eine Zigarette aus der Schachtel und ließ mir von ihm Feuer geben.

Das Eis war nicht gebrochen, doch stieg ich wie von Sinnen aus dem Auto. In der Hoffnung, der liebe Herr Gott hätte meine Gebete erhört und ich würde es überleben. Ich war zu orientierungslos, um zu fliehen. Das war eigentlich auch das Letzte, das ich an jenem Abend noch brauchte, um in Panik zu geraten und womöglich eine Hetzjagd mitten in der Nacht durch unbekannte Gebiete anzuzetteln.

Er stellte seinen Hund mit dem Namen Born vor, demonstrierte auch, wie gut er ihn im Griff hatte, kettete ihn aber trotzdem an. Niemals sonst wäre ich so ein Risiko eingegangen, doch nahm ich Herkules ebenfalls aus dem Auto und ließ ihn schnuppern. Ein seltsamer Kerl und eine merkwürdige Situation, dennoch war ich wie gefesselt.

Er war mindestens zwei Meter groß und extrem breit gebaut, seine glänzende Glatze war ein absoluter Blickfang, doch musterte ich ihn von oben bis unten, als ich am Auto gelehnt vor ihm stand. Mir war ein Rätsel, wieso er

bei dem heißen Wetter eine Bomberjacke trug, wenn auch offen. Darunter trug er ein weißes Muskelshirt und seine Muskeln waren nicht zu übersehen. Trotzdem konnte ich ein kleines goldenes Abzeichen auf seiner Gürteltasche erkennen und war fasziniert von der Größe seiner Schuhe.

Es fiel mir nicht leicht, mich zusammenzureißen und meine Angst nicht zu zeigen, aber es gelang mir sogar noch, cool zu wirken.

Herkules beruhigte sich sehr schnell und schloss nahezu Freundschaft mit Born. So kannte ich meinen Hund gar nicht, doch Born hatte die Lage absolut im Griff und war friedlich.

Aus einer Zigarette wurden in der Nacht ein paar mehr, denn wir gingen einige Runden auf dem großen Gelände spazieren. Saßen lange auf einer zur Hälfte abgerissenen Mauerwand der Ruine des alten Gebäudes und der Gesprächsstoff nahm kein Ende. Das Gefühl in seiner Nähe war undefinierbar, denn einerseits war er unheimlich und andererseits charismatisch. Ich konnte ihn absolut nicht einschätzen. Wir redeten über belangloses Zeug und Hunde, das Hamburger Nachtleben und die verschiedenen Stadtteile. Die dreckigen Gossen und die Bonzenviertel.

Er erzählte mir, dass er mit Born des Öfteren nachts auf diesem Gelände unterwegs sei, um den Kopf frei zu kriegen. Dass er Born nicht überall laufen lassen konnte und ihm dort bislang noch niemand begegnete.

Um ehrlich zu sein, war es nicht besonders glaubwürdig, denn er sah nicht wie jemand aus, der einen freien Kopf brauchte und Ärger vermied.

Seine tiefe Stimme und die Art, wie er redete und gestikulierte, fingen an, mir allmählich zu gefallen. Er war nicht nur besonders männlich und selbstsicher, sondern auch humorvoll und authentisch.

Ich vergaß die Zeit und alles um mich herum. Er machte freche Sprüche und legte sich nicht ins Zeug, mir zu gefallen, indem er mir imponierte oder Komplimente machte. Der erste Eindruck änderte sich zunehmend in Sympathie, weil es mir einige Male so vorkam, als hätte ich ein Déjà-vu. Ich genoss seine Gesellschaft, war aber gleichzeitig sehr vorsichtig und auf alles gefasst.

Langsam wurde es hell und die Vögel zwitscherten bereits, als er gegen halb sechs auf die Uhr schaute. Er kam aus der Gegend und erwähnte ein Schnellrestaurant ganz in der Nähe.