Der Zug aus Enfield - Nathan Winters - E-Book

Der Zug aus Enfield E-Book

Nathan Winters

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Beschreibung

Kurzentschlossen verschiebt Celeste Summersteen ihre Heimreise, um Inspector Edwards bei der Suche nach dem entflohenen Osbert Pudley zur Seite zu stehen. Doch der Verbrecher bleibt verschwunden und Pinkerton drängt Celeste nach Chicago zurückzukehren. Da geschieht ein Mord, bei dem Sergeant Fulston in die Schussbahn gerät. Er ringt mit dem Tod. Während ein brutaler Zugüberfall die Aufmerksamkeit von Edwards fordert, wird Celeste von Fulstons Verlobten gebeten, in London zu bleiben und den Täter zu finden. Schnell ahnen die beiden Ermittler, dass ihre Fälle miteinander verwoben sein könnten. Erneut muss das ungleiche Duo zusammenarbeiten. Dabei geraten sie in einen Strudel aus Rache und Gewalt und bekommen es mit Gegnern zu tun, die nichts mehr zu verlieren haben.

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Inhaltsverzeichnis
Enfield Town,
Auf halber Strecke zwischen Enfield Town und dem Great Northern Railway Depot, London.
London
Waffenfabrik Enfield
DeKeyser‘s Hotel
DeKeyser‘s Hotel
Brunswick Street
DeKeyser‘s Hotel
Scotland Yard
Piccadilly
DeKeyser‘s Hotel
St. Bartholomew`s
Wohnhaus von Joseph Akerman
Whitechapel
Irgendwo im East End
DeKeyser‘s Hotel
Bermondsey
Milton Street
Umberland Row
Auf dem Weg zum DeKeyser‘s Hotel
Bermondsey
St. Bartholomew`s
East End
Milton Street
Scotland Yard
DeKeyser‘s Hotel
Irish Heart Pub
Verrey`s Restaurant
Royal Hospital
DeKeyser‘s Hotel
The Strand
Milton Street
Colonel Guthrows Haus
Charing Cross
Whitechapel
Scotland Yard
East End
Drummond Road
Scotland Yard
Charing Cross Hospital
Danksagung

Nathan Winters

Der Zug aus Enfield

Viktorianischer Krimi

Für meine geliebte Frau, ohne deren Rückhalt und Zuspruch ich nicht da wäre wo ich jetzt bin. Ich liebe Dich.

Enfield Town,

nördlich von London

21. Oktober 1877

Ein Uhr nachts

Die schwere schwarze Lokomotive mit der goldenen 333 auf dem massiven Kessel stand im Ladebereich des Bahnhofs von Enfield Town. Aus dem Schornstein quoll dichter Rauch, aus den Ventilen zischte Dampf, der in kalten Böen über die Laderampe wirbelte. Im Flammloch loderte ein munteres Feuer und vorne flackerte eine Laterne. Lizzy hatte der Lokführer schon vor Jahren mit Goldfarbe unter das offene Fenster unter dem Führerstand geschrieben.

Auch wenn es spät war, still war es nicht.

Auf der Rampe standen sieben mit Kisten beladene Transportkutschen. Dutzende Arbeiter machten sich an der Ladung zu schaffen, die sie in die beiden angehängten Waggons verluden. Sie arbeiteten rasch, gesprochen wurde nur das Nötigste.

Auf der Rampe, im Waggon und auf dem Dach eines der Lagerhäuser standen sechs Männer, bewaffnet mit Revolvern und Gewehren, die die Arbeiten überwachten. Sie blickten finster, trugen lange Mäntel und Bowler.

Der Lokführer, den alle nur als Sooty Rudy kannten, beobachtete das alles mit einem Schmunzeln auf dem rußgeschwärzten Gesicht. Eine Pfeife klemmte zwischen seinen Lippen. Er paffte genüsslich daran, der Tabak glühte hellrot auf. „Die mach`n jedes Mal `n Geschiss, wenn die was zu verladen haben. Als würd`n wir die verfluchten Kronjuwelen kutschieren.“ Er lachte kurz auf und warf einen Blick auf seinen neuen Heizer, der mit verschränkten Armen am Tender lehnte und sich um das Geschehen draußen keinen Deut scherte. Rudy kannte ihn nicht, er war für Boyd eingesprungen, mit dem er normalerweise fuhr, seit bereits zwölf Jahren.

Aber Boyd war krank geworden, zum ersten Mal seit Langem. Sicher hatte er sich was bei einer der Huren eingefangen, zu denen er ständig seinen Lohn brachte. Rudy spuckte aus. Nun musste er also mit dem da Vorlieb nehmen, der kaum mehr als drei Worte am Stück redete. Den Namen hatte er schon wieder vergessen. Wenigstens hatte er was zu trinken mitgebracht. Gin, sogar ziemlich guten.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als eine der Wachen zu ihm kam. „Die sind fertig, wir können abfahren.“

Rudy zog noch einmal an seiner Pfeife und blies einen Rauchkringel in die Luft. „Na denn, alle an Bord. Wird ja `ne lange Fahrt“, meinte er mit einem ironischen Grinsen.

Bis zum Great Northern Railway Depot waren es gerade einmal neun Meilen. Ein Katzensprung für Lizzy.

Rudy spuckte in die Hände. „Dann wollen wir mal. Gib noch `n paar Schippen Kohlen aufs Feuer“, befahl er seinem Heizer, dann zog er an der Kette für die Signalpfeife, die in die Nacht hinausschrillte.

Die Räder drehten durch, kreischten auf den Schienen, ein paar Funken sprühten ins Gleisbett, dann kam das Ungetüm endlich in Bewegung und rollte langsam aus dem Bahnhof.

Es war bitterkalt und der Fahrtwind machte es noch kälter.

Rudy reckte den Kopf aus dem Fenster und strengte seine Augen an. Der Nebel wurde dichter, doch noch reichte das Scheinwerferlicht weit genug.

Plötzlich, sie hatten gerade die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, tauchte ein einzelnes Licht auf, das hektisch über die Gleise tanzte. Rudy brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es eine Warnlampe war, die da geschwenkt wurde. „Verdammter Mist!“, schimpfte er und griff nach dem Bremshebel, den er mit aller Kraft zu sich heranzog. Die Räder blockierten, ein wahrer Funkenregen ergoss sich über den Bahndamm. Rudy konnte über den Bremshebel spüren, wie Lizzy vibrierte und sich wehrte.

Dann, mit einem harten Ruck und einem letzten Kreischen, kam die Lokomotive zum Stehen.

Rudy blies die Backen auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Sowas bringt das Blut in Wallung“, sagte er, halb lachend, halb ernst.

Der, der die Laterne geschwenkt hatte, kam nun auf die Lokomotive zugelaufen.

„Was ist denn los?“, riefen Rudy und einer der Posten, der gerade auf die Plattform des ersten Waggons hinaus getreten war.

„Gar nichts“, war die Antwort.

„Was? Was soll das heißen – gar nichts? Wozu hast du uns dann angehalten?“ Rudy verstand nicht, er verstand auch nicht, was vor sich ging, als ein Schuss krachte und der Posten getroffen von der Plattform stürzte.

Da spürte er eine scharfe Klinge an seinem Hals, die ihm im gleichen Moment die Kehle aufschlitzte. Rudy taumelte, versuchte, sich festzuhalten, sich umzudrehen. Es gelang ihm, aber er ging dabei in die Knie. Da stand sein Heizer, eine blutige Rasierklinge in der Hand. Jetzt erst verstand Rudy: Das war ein Überfall und dieser Mann da, der hatte ihn getötet. Er blinzelte, versuchte, zu atmen. Ein Gurgeln drang aus seiner aufgeschlitzten Luftröhre, Blutblasen zerplatzten. Überall war Blut, sein Blut. Alles wurde unscharf. Weitere Schüsse, so hallend, so weit weg wie Echos. Rudys Hand verkrallte sich im Hosenbein seines Mörders, der ungerührt auf ihn hinabblickte.

Dann war Sooty Rudy tot.

Auf halber Strecke zwischen Enfield Town und dem Great Northern Railway Depot, London.

21. Oktober 1877

Vier Uhr morgens

Mehrere Explosionen hatten die Nacht erhellt, die Waggons in Stücke gerissen und Trümmer hunderte Meter durch die Luft geschleudert.

Nun loderten nur hier und da noch ein paar Feuer, doch auch die wurden von der Londoner Feuerwehr niedergekämpft.

Die Explosionen hatten zig Schaulustige angezogen, die allerdings von den zahlreichen Polizisten der nahen Division zurückgehalten wurden. Das Gerücht machte die Runde, die Freiheitskämpfer der irischen Fenians hätten den Zug aus Enfield in die Luft gesprengt.

Nachdem bekannt geworden war, dass zwei britische Beamte in Belfast von Fenians ermordet worden waren, machte man sie inzwischen für alles verantwortlich, was im Königreich schieflief.

Natürlich war Scotland Yard informiert worden, weswegen Inspector Robert Edwards nun schlaftrunken aus einer Droschke stieg. Er war ungekämmt, unrasiert, trug den Hemdkragen offen und hatte seine Krawatte vergessen. Wenigstens an seinen Mantel hatte er gedacht, denn es ging ein kalter Wind, der den nahenden Winter erahnen ließ.

Edwards strich sich über den Backenbart, den er sich in den letzten Wochen hatte wachsen lassen. Daran gewöhnt hatte er sich noch nicht, aber er war praktisch, da er sich nicht jeden Tag rasieren wollte.

Bei ihm waren Sergeant Fulston und Chief-Inspector DeFries, der, gleich zu welcher Tageszeit, immer tadellos frisiert und gekleidet war.

Der Bahndamm glich einem Schlachtfeld. Überall lagen Trümmer, manche waren verkohlt, andere rauchten, ein paar wenige brannten noch.

Edwards stieg von der Straße zum Bahndamm hinunter. Jetzt erst erkannte er die Toten zwischen all den Trümmern. Die Explosionen und das Feuer hatten sie so sehr entstellt, dass er sie zunächst gar nicht als menschliche Überreste wahrgenommen hatte. Doch jetzt sah er die verstümmelten Leiber, das zerfetzte Fleisch, das Blut, die Eingeweide. Derart zugerichtete Leichen hatte er zuletzt als Soldat in Indien gesehen.

Ein Feuerwehrmann, der Schläuche über dem Arm trug und zum nahe gelegenen Fluss lief, rempelte ihn an.

Schritte näherten sich, die ihn zwangen, sich umzudrehen. DeFries kam in Begleitung zweier Männer auf ihn zu.

Einer war in Zivil, aber sehr gut gekleidet, der andere trug die Uniform eines Captains der Infanterie.

„Mr. Theodore Martin von der RSAF in Enfield und Captain Hoxley - Inspector Edwards”, stellte sie DeFries einander vor und sie schüttelten sich die Hände. Hoxley besaß einen festen Händedruck, der von Martin war weich wie Butter.

„Der Inspector wird in dem Fall ermitteln“, erklärte DeFries.

Edwards stutzte, schwieg aber.

Dann wurde er abgelenkt, denn DeFries wandte sich Martin zu und fragte: „Was hat dieser Zug transportiert?“

„Waffen. Gewehre und Revolver … und … Munition“, erwiderte Martin zögerlich. „Ich verstehe das nicht. Niemand hätte von der Fahrt wissen dürfen. Wir haben alles äußerst geheim gehalten.“

„Offensichtlich nicht geheim genug“, bemerkte Edwards. „Wie groß war die Ladung?“

Martin reckte den Hals, als würde ihn sein Kragen erdrosseln. „Dazu kann ich nichts sagen. Ich muss erst Rücksprache mit meinem Vorgesetzten halten. Wenn ich Sie bitten dürfte, morgen nach Enfield zu kommen.“

„Um zehn Uhr“, brummte Edwards, „und ich hoffe, dass Sie dann auskunftsfreudiger sind.“ Damit wandte er sich an Captain Hoxley. „Wohin sollte die Ladung gebracht werden?“ „Ich hatte den Auftrag, die Wagons im Depot der Great Northern Railway zu übernehmen, in die Lagerhäuser der Army zu überführen und dort zu bewachen.“

„Und von dort an?“

„Es tut mir leid, Sir. Das weiß ich nicht. Ich habe keinen weiterführenden Befehl erhalten.“

Während Hoxley sprach, hatte Edwards den Blick über die Reste des Zuges schweifen lassen. Dabei entdeckte er ein bekanntes und zugleich verhasstes Gesicht zwischen den Feuerwehrmännern und Beamten. Gregory Hennessy von der Illustrated Police News. Irgendwie hatte er es geschafft, sich an den Posten vorbeizustehlen und jetzt schnüffelte er herum. „Verflucht nochmal.“ Diese Ratte wusste doch immer, wo es für sie was zu holen gab.

„Hennessy!“, brüllte Edwards. „Machen Sie, dass Sie wegkommen oder ich lasse Sie verhaften!“

Hennessy sah ihn durch den Rauch an und mit einem breiten Lächeln tippte er sich an den Hut. „Oh, Inspector. Schön, Sie wiederzusehen.“ Er versteckte seinen Sarkasmus hinter einem gefälligen Lächeln, auf das Edwards aber nicht hereinfiel.

„Sie sollen verschwinden!“

„Ich tue hier nur meine Pflicht, Inspector. Die Bevölkerung hat ein Recht auf Information. Können Sie bestätigen, dass die Fenians hinter dem Überfall stecken?“

Statt zu antworten, gab Edwards einigen Constables in der Nähe einen Wink und wies auf Hennessy.

Der hob die Arme und ließ, zum Zeichen der Kapitulation, seinen Bleistift fallen. „Kein Grund für Feindseligkeiten, Inspector. Wir stehen auf derselben Seite.“

„Das will ich doch sehr bezweifeln!“

Ehe die Polizisten Hennessy erreichten, hatte er sich schon davongemacht. „Wirklich - wie eine Ratte“, knurrte Edwards.

Nachdem er tief durchgeatmet hatte, wandte er sich erneut Hoxley zu. „Eins verstehe ich nicht. Wenn die Ladung so wichtig war, wieso wurde sie dann nicht gleich von einer Eskorte der Army begleitet?“

„Wir wollten unnötige Aufmerksamkeit vermeiden“, antwortete Martin für den Captain. „Alles sollte so wie bei jedem anderen Transport auch sein.“

„Wieso diese Heimlichtuerei?“

„Ich fürchte, auch darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“

„Sie sind nicht sehr hilfreich, Mr. Martin.“

„Es tut mir sehr leid, Inspector. Ich hoffe wirklich, das ich Ihnen morgen mehr sagen kann.“ Martin schüttelte den Kopf. „Die ganze Angelegenheit ist äußerst unangenehm.“

„Unangenehm? So bezeichnen Sie das?“ Edwards funkelte ihn wütend an. „Die Leute da sind alle tot. Und Sie haben die Frechheit, die Situation als unangenehm zu bezeichnen?“

„Verzeihung … so meinte ich das nicht.“

Edwards wies ihn an, still zu sein. „Sergeant Fulston!“, rief er dann und winkte den jungen Polizisten zu sich. „Geben Sie meinem Sergeant eine Adresse, unter der wir Sie erreichen können“, sagte er an Martin und Hoxley gewandt. Zum Abschied nickte Edwards nur knapp und begann dann, sich zwischen den Trümmern umzusehen. Seine Hoffnungen, irgendwelche brauchbaren Hinweise zu finden, waren jedoch gering. Die Explosionen hatten sicher zahlreiche Spuren zerstört und was noch übriggeblieben war, war von den geschäftig umhereilenden Feuerwehrleuten, Polizisten und Fuhrwerken in den Dreck getreten worden.

Mit jedem Schritt spürte Edwards gesplittertes Glas, verbranntes Holz und die Reste von Metall unter den Sohlen seiner Schuhe.

Die Schienen waren durch die Wucht der Explosion aus dem Gleisbett gerissen worden und erinnerten ihn in ihrer verdrehten Form an die Wurzeln eines Baumes.

Neben dem umgestürzten Tender blieb er stehen.

Gerade trug man eine Leiche an ihm vorbei. Der linke Arm des Toten hing unter dem weißen Laken hervor.

„Moment. Wer ist das?“

„Ich nehm` mal an, der Lokführer. Wir haben ihn da oben gefunden“, antwortete einer der Träger und wies mit einem Nicken auf den Führerstand der Lokomotive.

Edwards hob das Tuch an und blickte in das entsetzte Gesicht des Ermordeten. Der klaffende Schnitt an seinem Hals ließ keinen Zweifel an der Art seines Todes.

„Bringen Sie ihn nach Whitehall. Die anderen auch. Doktor Noah Aeglewood soll sich die Toten ansehen.“

„`n paar von denen hat`s ganz schön übel zugerichtet. Kein schöner Anblick.“ Der Mann schüttelte sich.

„Tun Sie`s trotzdem.“

„Ganz wie Sie woll`n.“

Nachdem sie den Lokführer fortgetragen hatten, besah sich Edwards den Führerstand der Lokomotive und trat dabei in eine riesige Blutlache. Auf dem Boden lag eine zerbrochene Pfeife.

Er bückte sich, hob sie auf und betrachtete sie nachdenklich. „Sergeant Fulston!“, rief er dann.

„Sir?“, klang es von irgendwoher. Edwards kletterte aus dem Führerstand. „Kommen Sie her. Es gibt etwas für uns zu tun.“

Fulston sah gar nicht gut aus. Er schwitzte und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Dieser Geruch macht mir zu schaffen, Sir. Ich bin froh, wenn wir hier wieder weg sind.“

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen, Sergeant. Wir werden noch bleiben und uns umsehen. Möglicherweise finden wir etwas von Interesse, wenn alle anderen weg sind.“

„Ja, Sir“, antwortete Fulston erschöpft.

London

21. Oktober 1877

Früher Morgen

Das DeKeyser`s Royal Hotel am Embankment, gleich neben der Blackfriars Bridge, war erst vor drei Jahren mit großem Pomp eröffnet worden und hatte sich in dieser kurzen Zeit bereits einen klangvollen Namen gemacht.

Es war ein prachtvoller Bau, der seinen Gästen allen nur erdenklichen Luxus bot. Es verfügte über einen großen und geschmackvoll eingerichteten Speisesaal und eine eigene, gut ausgestattete Bibliothek. Des Weiteren gab es einen Billardraum mit sechs Tischen, einen Rauchersalon sowie kalte und warme Bäder auf jeder Etage. Für die Beförderung der Gäste und ihres - meist zahlreichen - Gepäcks gab es diverse Aufzüge.

Nun war es früh am Morgen und im Speisesaal wurde das Frühstück serviert. Der Raum besaß einen hellen Marmorboden und eine mit reichlich Stuck verzierte Decke, von der drei schwere Lüster mit funkelnden Facettenperlen hingen. Die aus Frankreich importierten Tische wurden durch geschickt aufgestellte Paravents voneinander getrennt.

Celeste saß an einem der kleineren Tische in der Nähe der Fenster, mit Blick auf die Brücke und die behäbig dahinfließende Themse. Nachdem sie sich entschieden hatte, nicht nach Chicago zurückzukehren, sondern in London zu bleiben, hatte sie sich den Luxus eines Grand Hotels gegönnt. Die Belohnung, die sie von Mrs. Roover erhalten hatte, war großzügig gewesen. Doch genießen konnte sie ihren Aufenthalt nicht.

Vor ihr standen zwei Gedecke und eine Etagere mit ein paar liebevoll angerichteten Kanapees aus süßem Teig, von denen sie jedoch noch keines angerührt hatte. Der Kaffee in der zierlichen Porzellantasse war kalt geworden. Gedankenverloren hatte Celeste ihr Kinn auf die Hand gestützt, sah aus dem Fenster und beobachtete die vorbeirumpelnden Kutschen, dazu die Fußgänger, die durch das ungemütliche Wetter hasteten.

Die andere Uferseite versteckte sich in einem Dunst aus Rauch und zähen Nebelschleiern, die von der Themse aufstiegen.

So viele Dinge gingen Celeste durch den Kopf. Seit sie Lord Ellingsfords Haus verlassen hatte, verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an Dorothea und an das Geschehene zurückdachte. Stets von dem Gefühl begleitet, nicht genug getan zu haben.

Es beschäftigte sie, dass Dorothea in Bradshaws Fänge geraten war und sie es nicht hatte verhindern können. Was hatte das mit dem Gemüt des Mädchens gemacht? Würde sie es durchstehen oder daran zerbrechen, wie es das Opium beinahe geschafft hätte? Celeste würde es vielleicht nie erfahren, denn sie war gezwungen, abzureisen, wenn sie weiter als Detektivin für Pinkerton arbeiten wollte. Ihr Blick fiel auf das Telegramm, das auf einem kleinen Silbertablett vor ihr lag.

Dieses hatte Pinkerton ihr persönlich geschickt und war vor einer halben Stunde eingetroffen. Das Dritte, seit sie Dorotheas Fall abgeschlossen hatte.

In unfreundlichem Ton forderte er sie darin auf, umgehend nach Chicago zurückzukehren.

Wenn sie es nüchtern betrachtete, gab es auch keinen Grund, länger in London zu verweilen. Osbert Pudley blieb verschwunden. Keine Spuren, keine Hinweise. Es schien, als hätte der Erpresser der Familie Ellingsford und der Mörder von Black Molly nie existiert. Er und seine Flucht aus dem Gefängnis Old Bailey waren überhaupt der Grund gewesen, weswegen sie ihre Heimreise abgebrochen hatte.

Eine kurze Weile hatte sie mit Inspector Edwards zusammengearbeitet und nach Pudley gesucht, doch dann hatten sich ihre Wege erneut getrennt. Was Ermittlungsarbeit anbelangte, waren sie einfach zu verschieden. Während sie es mit Charme, kleinen Flunkereien und Raffinesse versuchte, glich Edwards mit seiner Art eher einem Vorschlaghammer.

Aber gleichgültig, mit welcher Herangehensweise sie es versucht hatten – in Pudleys Fall hatten sie damit keinen Erfolg gehabt.

Und nun blieb ihr nichts anderes zu tun, als die Zeit totzuschlagen.

Ihr Blick fiel auf die Standuhr in der Ecke. Inzwischen war es halb zehn. Sie seufzte, Edwards würde nicht kommen. Sie hatte ihn eingeladen, mit ihr zu frühstücken, wollte noch einmal mit ihm über Pudley reden, doch eine halbe Stunde zu spät – das war selbst für ihn untypisch.

Sie tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab, obwohl sie nichts zu sich genommen hatte, und legte sie enttäuscht auf den Teller, als ein junger Mann den Speisesaal betrat, der sich hektisch umsah.

Als er Celeste entdeckte, hellte sich seine Miene auf, er winkte ihr und kam auf sie zu.

„Sergeant Fulston“, sagte sie, als er an ihren Tisch trat, „was für eine angenehme Überraschung.“ Sie wies auf den freien Stuhl ihr gegenüber. „Bitte.“

„Ja … ähm … vielen Dank.“ Er setzte sich.

„Möchten Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten? Sie sehen … erschöpft aus.“

Seine Haut war blasser als sonst und an seinem Hals prangten erdbeergroße rote Flecken. Inzwischen wusste Celeste, dass sie ein Zeichen für Aufgeregtheit waren. Zudem roch er streng nach dem Rauch von Kohlenfeuern, der sich in seinem schmutzigen, von Ruß bedeckten Anzug festgesetzt hatte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten den Mangel an Schlaf.

„Haben Sie in einem Kamin geschlafen?“, fragte Celeste.

„Ach, so etwas Ähnliches. Inspector Edwards und ich, wir waren an den Schienen. Nördlich von hier. Ein Zug ist überfallen worden und es gab einige Tote. Wir haben bis zum Morgengrauen nach Spuren gesucht.“

„Und? Haben Sie auch etwas gefunden?“

„Nichts, was auf die Täter schließen ließe, aber die gesamte Ladung wurde gestohlen.“

„Was war denn das für eine Ladung?“

Fulston beugte sich verschwörerisch vor. „Eigentlich darf ich darüber nicht sprechen, aber ich schätze … Ihnen kann ich es sagen.“ Er senkte die Stimme noch ein wenig mehr. „Waffen, aus der Fabrik in Enfield.“

Celeste zog die Stirn kraus. „Das klingt ja äußerst dramatisch.“

„Oh, das ist es auch.“

„Das bedeutet also, Inspector Edwards hat einen neuen Fall?“

„Ja.“ Fulston stützte sich müde mit den Ellbogen ab.

„Verzeihen Sie, wo sind nur meine Manieren? Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein … das habe ich nicht. Um ehrlich zu sein … würde ich gerade auch nichts runterbekommen.“

„Dann trinken Sie wenigstens eine Tasse Kaffee. Sie werden sehen, das wird Ihnen gut tun.“ Sie schenkte Kaffee in eine unbenutzte Tasse. „Dann hat Inspector Edwards Sie geschickt, nicht wahr? Er lässt sich entschuldigen.“

„Es tut ihm sehr leid“, antwortete Fulston schnell, „aber er ist sehr beschäftigt.“

„Natürlich. Der neue Fall“, bemerkte Celeste mitfühlend und auch ein wenig enttäuscht. Er hatte etwas, an dem er arbeiten konnte, sie hingegen hatte … nichts. Sie lächelte gequält und beschloss, eine gute Gastgeberin zu sein. „Nehmen Sie Milch? Zucker?“

„Ich trinke nur Tee, Madam.“

Celeste zog die Nase kraus. „Seien Sie mutig und versuchen Sie mal etwas Neues … und dann sagen Sie mir, was Ihnen noch auf der Seele liegt.“

„Ich …“ Fulston lächelte unsicher und so herrlich ertappt, dass Celeste lachen musste. „Verzeihen Sie“, sagte sie schnell, „aber dass es da etwas gibt, ist nicht zu übersehen. Außerdem tragen Sie in Ihrer Westentasche etwas bei sich. Es muss wichtig sein, denn Sie haben es nicht losgelassen, seit Sie hereingekommen sind.“

„Nun … ich …“ Fulston schluckte.

Celeste winkte ab. „Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“

„Sie haben ja recht“, antwortete Fulston gefasst. „Es gibt da tatsächlich etwas … oder besser gesagt … jemanden.“ Hastig trank er einen Schluck des schwarzen Kaffees. „Mh“, machte er nur und stellte die Tasse zurück. „Ich möchte Sie etwas fragen“, schob er hastig nach und zog ein kleines Döschen aus dunkelrotem Samt aus seiner Westentasche. Als er es öffnete, gab es den Blick auf einen goldenen Ring frei, der von einer kleinen Rose aus Rubinsplittern verziert wurde.

Celeste wurde es heiß und kalt. Jetzt war sie es, die keinen Ton herausbrachte. Einen peinlichen Moment lang schwiegen beide. Sie mochte Fulston ja, aber heiraten? Sie kannte nicht einmal seinen Vornamen. Und wie kam er überhaupt darauf, sie so etwas fragen zu wollen?

„Ihr Name ist Mable“, sagte Fulston, was Celeste zunächst nur verwirrt blinzeln, dann aber erleichtert lächeln ließ. „Oh“, machte sie und fasste sich. „Ein wunderschöner Ring.“

„Danke, er gehörte meiner Mutter. Ich möchte Sie um Ihren Rat bitten, Miss Summersteen … weil Sie doch eine Frau sind.“ Fulston atmete tief ein. „Ich möchte Mable um ihre Hand bitten, aber ich … weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll. Wie kann ich sicher sein, dass sie Ja sagen wird?“

„Mein lieber Sergeant, wenn Ihre Mable ähnlich empfindet wie Sie, wird es nicht schwer sein.“

„Aber ich möchte nichts falsch machen.“

Celeste tätschelte ihm beruhigend die Hand. „Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie ihr sagen wollen?“

„Oh ja, hunderte Male und das … das hat mich dann völlig durcheinandergebracht.“

„Wissen Sie was? Fragen Sie mich.“

„Ich soll was tun?“

„Sagen Sie mir, was Sie Mable sagen wollen.“

Fulston grinste schüchtern. „Das geht doch nicht.“

„Nur Mut. Üben Sie.“

„Aehm. Gut … gut. Mhh.“ Er klatschte in die Hände. „Dann wollen wir mal. Mable.“

„Der Ring“, flüsterte Celeste.

„Ja, ja natürlich.“ Er nahm den Ring und hielt ihn Celeste hin. „Mable.“

Sie sah ihn mit großen Augen an, er räusperte sich.

„Mable. Würdest du mir vielleicht die Ehre erweisen, also, nur wenn du … phhh, ich kann das nicht.“

„Noch einmal, bitte.“

„Gut … Mable! Würdest du mir die Ehre erweisen und … meine Frau werden?“

Celeste klatschte leise Beifall. „Perfekt. Bringen Sie ihr Blumen mit und gehen Sie mit ihr in ein feines Restaurant.“

Fulston war sichtlich erleichtert. „Meinen Sie?“

„Ja, natürlich. Und danach gehen Sie mit ihr ins Theater.“ Sie nahm zwei Eintrittskarten aus ihrer Handtasche. „Ich hoffe, Mable mag Zauberkunststücke. Ich hatte die Karten für Miss Dorothea und mich gekauft, aber sie ist mit ihren Eltern aufs Land gefahren. Nun möchte ich, dass Sie sie nehmen.“

„Das sind Karten für Maskelyne & Cooke!“

„Und die Vorstellung ist morgen Abend. Sie haben also noch etwas Zeit, sich vorzubereiten.“

„Ich kann das nicht annehmen.“

„Seien Sie nicht albern. Ich habe keine Verwendung dafür und es ist mir eine Freude, sie Ihnen zu schenken.“

„Dann bedanke ich mich. Sie haben mir sehr geholfen.“ Er stand auf. „Leider muss ich jetzt los. Inspector Edwards erwartet mich.“

„Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir.“

„Das werde ich, und vielen Dank.“

Waffenfabrik Enfield

21. Oktober 1877

Zehn Uhr morgens

Edwards näherte sich seinem Ziel in einer Polizeikutsche von Süden her.

Schon von Weitem hatten die rauchenden Schlote der Royal Small Arms Factory Enfield den Weg gewiesen.

Die Straße folgte dem Fluss Lea und führte dann durch Enfield Town. Sie hatten das Zentrum hinter sich gelassen, als die Kutsche abbog und vor einem eisernen Tor zum Stehen kam. Eine Mauer von zweifacher Mannesgröße umgab das Gelände. Auf der Mauerkrone steckten lange Spitzen, die ein Überklettern gefährlich machten.

Edwards stieg aus, entledigte sich seines schmutzigen Mantels und warf ihn in die Kutsche. Die Nacht auf dem Bahndamm hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war müde, verdreckt und unzufrieden, dazu sah er furchtbar aus und machte mit seiner Erscheinung Scotland Yard nicht unbedingt Ehre. „Warten Sie hier“, wies er den Constable auf dem Kutschbock an.

Als er sich dem Tor näherte, wurde ihm bereits geöffnet.

Ein Bediensteter hatte ihn erwartet und führte ihn zu dem imposanten Gebäude mit den hohen Bogenfenstern, in dem die Werkshallen und die Büros lagen. Ein bewaffneter Posten folgte ihnen in wenigen Schritten Abstand.

Aus den nahen Werkshallen drang der Lärm von Dampfmaschinen, die Hämmer, Stanzen und Poliermaschinen antrieben.

Der Bedienstete führte Edwards zum Hauptgebäude, öffnete ihm die Tür und ließ ihm den Vortritt. Dann stiegen sie die breite Treppe in die dritte Etage hinauf.

Das Interieur im Treppenhaus war von erlesener Qualität. Edle, mit Goldornamentik versehene Schränkchen aus China standen auf den Treppenabsätzen zwischen den Etagen. An den Wänden hingen Gemälde, auf denen Männer heroisch idealisiert bei der Jagd oder im Kampf zu sehen waren. Natürlich verwendeten sie alle nur Waffen aus Enfield.

Der Bedienstete brachte Edwards zu einer Doppeltür, an der auf einem Messingschild Direktor William Smythe stand.

Er klopfte an. „Der Direktor und Mr. Martin erwarten Sie.“

Smythes Büro war groß, das Sonnenlicht fiel durch die beiden hohen Fenster und sorgte für goldenes Licht, in dem Staubpartikel tanzten.

Links von Edwards führte eine Treppe zu einer Empore mit einer privaten Bibliothek. Neben der Tür stand ein ausgestopfter Tiger mit aufgerissenem Maul und ausgestreckter Pranke. Seine gelben Glasaugen funkelten. An den mit schwerer Stofftapete bezogenen Wänden hingen diverse Jagdtrophäen. Ausgestopfte Köpfe von Löwen, Nashörnern, Antilopen und Gorillas. Das alles nahm Edwards mit einem Blick wahr, während er auf den Schreibtisch vor dem Fenster zuging, an dem ein Mann saß, der Smythe sein musste. Ein feines Gespinst grauen Haares hing an seinem Schädel. Sein aufgedunsenes Gesicht ließ seine Augen winzig erscheinen.

Martin hingegen erinnerte ihn an einen schuldbewussten Betschüler, wie er da mit gefalteten Händen am Fenster stand und sich ihm nun zuwandte.

Zwischen den beiden stand eine Frau mittleren Alters, die einen Stapel Papiere auf dem Arm hielt. Ihr Kleid war schlicht und von einem unauffälligen Grün. Der Schnitt war streng, ebenso wie ihre Frisur, die sie zu einem Dutt gesteckt hatte. Eine kleine Brille mit runden Gläsern saß ihr auf der Nase.

„Danke, Miss Schuster, das wäre alles“, sagte Smythe, der daraufhin aufstand und Edwards die fleischige Hand entgegenstreckte. „Inspector Edwards, nehme ich an?“ Seine Stimme klang überraschend sanft, warm und freundlich. „Mr. Martin hat mich über alles informiert. Das Ganze ist eine furchtbare Tragödie. Soweit es mir möglich ist, bin ich bereit, in jeder Hinsicht mit der Polizei zu kooperieren.“ Er wies auf eine Sitzgruppe, die unter einem Gemälde des Kilimandscharos stand. „Setzen wir uns doch. Mr. Martin, hätten Sie die Güte, uns Tee einzuschenken? Möchten Sie etwas essen, Inspector?“

Obwohl sein Magen knurrte, lehnte Edwards ab. „Kommen wir gleich zum Grund meines Besuchs.“

„Wie Sie wünschen.“

„Zunächst habe ich angenommen, ihre Ladung wäre gesprengt worden. Aber wir haben kein Stück davon gefunden. Wir gehen also davon aus, dass die Waffen gestohlen wurden.“

Smythe erbleichte und Edwards fuhr fort. „Der Überfall scheint mir gut geplant gewesen zu sein. Neben der Bahnstrecke fließt der Lea und auf der anderen Seite ist die Straße. Ihre Waffen wurden entweder auf ein Boot oder auf Kutschen verfrachtet.“ Edwards machte eine kurze Pause, in der er Smythe Zeit ließ, über das Gehörte nachzudenken. Dann fragte er: „Was war an dieser Waffenladung so besonders, dass sie derart geheim gehalten wurde?“

„Mh, Inspector.“ Smythe machte ein betrübliches Gesicht. „Zu meinem Bedauern ist das eine Frage, die ich Ihnen nicht zur Gänze beantworten kann. Es gibt da komplizierte Umstände, die es mir verbieten, darüber zu sprechen.“

„Und Sie werden mir auch nicht verraten, welche Umstände das sind?“

„Was ich Ihnen sagen kann: Das Parlament und wir haben einen Vertrag abgeschlossen, der Enfield empfindlich bestrafen würde, sollten Details darüber bekannt werden.“

Edwards hasste diese Geheimniskrämerei. „Und worüber dürfen Sie sprechen?“, fragte er scharf.

„Ich habe eine Akte vorbereiten lassen, über die Sie verfügen können. Mr. Martin, wären Sie so freundlich?“

Martin holte eine Mappe vom Schreibtisch, die er an Edwards weiterreichte. Zuoberst lag die grobe Skizze eines Gewehrs. Darunter stand in geschwungener Handschrift Martini Henry Mark II.

„Eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Martini Henry. Weniger anfällig für Ladehemmung, besserer Ausstoß, dadurch erhöhte Feuerrate“, erklärte Smythe, nicht ohne Stolz.

Edwards nickte abwesend, legte die Skizze beiseite und betrachtete das nächste Blatt. Darauf waren die Umrisse eines Revolvers zu sehen. „Der Enfield MK I. Die Entwicklung und Optimierung dieser Waffe hat uns Jahre und viel Geld gekostet.“

„Wie groß war die Ladung?“

„Zweitausend Gewehre, dreitausend Revolver und vierzigtausend Schuss Munition. Eine Auflistung liegt der Akte bei.“

„Wer wusste von dem Transport?“, fragte Edwards.

„Mehr Personen, als Sie vielleicht annehmen, Inspector. Es ist nicht das erste Mal, dass wir größere Mengen Waffen verschicken. Aber der Kreis derjenigen, die genau wussten, was transportiert werden sollte, war überschaubar. Da wären Mr. Martin hier, ich und Mr. Gishop. Er kommandiert unsere bewaffneten Posten und sucht die Arbeiter aus, die die Fuhre auf die Waggons verladen. Ich war so frei und habe der Akte eine Liste mit den Namen derer beigefügt, die an dem Transport beteiligt waren.“ Er hüstelte in die vorgehaltene Hand. „Diejenigen, die gestorben sind, wurden mit einem Kreuz versehen.“

„Wie lange hat der Zug im Bahnhof gestanden, bis alles verladen war?“

„Eine halbe Stunde vielleicht. Auf keinen Fall länger.

Wieso fragen Sie?“

„Der Überfall verlief reibungslos. Die Verbrecher müssen also einen Hinweis erhalten haben.“

„Das scheint in der Tat so zu sein“, stimmte Smythe zu.

„Wer glauben Sie, steckt hinter dem Raub?“

„Ich hörte, es seien die Fenians gewesen.“

„Das sind nur Gerüchte und darauf gebe ich nichts“, konterte Edwards. „Ich möchte wissen, was Sie denken.“

„Nun, ich wüsste da niemanden. So etwas ist noch nie vorgekommen. Es gibt natürlich Konkurrenten, die uns den Erfolg neiden.“

„Wen?“

„Da wären zum Beispiel Webley & Scott, aus Birmingham. Wir fechten unsere Kämpfe aber doch eher auf geschäftlichen Schlachtfeldern aus und meucheln nicht die Mitarbeiter des anderen.“

„Wir werden das überprüfen. Würde Ihnen sonst jemand einfallen, der Enfield schaden wollen würde?“

Smythe runzelte nachdenklich die Stirn. „Nun, wir rüsten das britische Militär aus. Dadurch leisten wir einen nicht unerheblichen Beitrag. Mit unserer Hilfe ist das Empire groß geworden. So etwas sehen andere Regierungen nicht gern, besonders die nicht, die mit uns im Krieg liegen.“

„Sie denken, irgendeine ausländische Macht hat Ihren Zug überfallen?“

„Nun … das ist durchaus denkbar.“

Edwards nickte. „Gibt es jemanden bei Enfield, der sich merkwürdig verhalten hat oder heute nicht zur Arbeit erschienen ist?“

„Diese Frage haben wir uns auch schon gestellt, Inspector. Es gibt da einige Leute, aber keiner von denen hatte direkt mit dem Transport zu tun oder wusste davon.“

„Was können Sie mir über den Lokführer sagen?“

Smythe blinzelte fragend. „Ich kannte ihn nicht. Wir haben keine eigenen Züge. Wenn wir eine Ladung zu transportieren haben, fragen wir bei der Northern Railway an. Die stellen uns dann den Zug und das Personal zur Verfügung.“

„Wenn ich etwas sagen darf“, warf Martin ein. „In diesem Fall hieß der Lokführer Sooty Rudy. Er ist sehr oft für uns gefahren. Ein vertrauenswürdiger Mann.“

„Wissen Sie, wo er gelebt hat?“

„Leider nicht, aber ich denke, bei der Northern Railway dürfte man über ihn Bescheid wissen.“

Edwards stand auf. „Ich würde jetzt gerne noch mit Mr. Gishop sprechen.“

„Natürlich. Arthur!“, rief Smythe, doch statt des Angestellten kam Miss Schuster herein. „Arthur ist bereits gegangen“, erklärte sie, „kann ich etwas für Sie tun, Sir?“

„Ja, seien Sie so freundlich und führen Sie den Inspector zu Mr. Gishop.“

„Gern.“ Sie nickte, doch ihr Lächeln kam Edwards ein wenig angestrengt vor.

„Inspector!“, sagte Smythe eilig. „Bevor Sie gehen, hätte ich noch eine Bitte.“

„Ja?“

„Wäre es möglich, Ihre Ermittlungen diskret zu führen? Wir würden einen Skandal gerne vermeiden.“

Edwards musste ein ironisches Lachen unterdrücken. „Ihr Zug ist explodiert. Das hat man sicher in ganz London gehört.

Die Presse hat schon Wind davon bekommen und, wie Sie selbst schon bemerkt haben, Gerüchte verbreitet. Daher fürchte ich, dass es für Diskretion jetzt etwas zu spät ist.“

Smythes feistes Gesicht wurde grau. „Dann bringen Sie es schnell zu Ende und präsentieren Sie der Gesellschaft einen Schuldigen.“

„Ich werde tun was ich kann, aber es tut mir leid - wenn Sie mir Informationen vorenthalten, wird es länger dauern. Gentlemen.“

Miss Schuster ging vor Edwards her, der sich beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten. „Was sind Ihre Aufgaben hier bei Enfield?“, fragte er.

„Ich bin die Schreibkraft von Mr. Smythe.“

„Arbeiten Sie schon lange hier?“

„Über sechs Jahre.“

„Haben Sie von dem Überfall gehört?“

„Aber natürlich“, erwiderte sie mit dem Ansatz eines Kopfschüttelns, da sie die Frage offenkundig für unnötig hielt, fügte dann aber hinzu, „ich denke jeder hat das.“ „Hatten Sie Kenntnis von dem Transport?“

Miss Schuster blieb so plötzlich stehen, dass Edwards beinahe gegen sie geprallt wäre. „Wollen Sie damit etwas andeuten, Inspector?“, fragte sie scharf.

„Es war lediglich eine Frage.“

„Nein, ich hatte keine Kenntnis davon“, sagte sie beleidigt. „Wenn es um solche Dinge geht, weiht mich Mr. Smythe nicht ein.“

Sie ging weiter, Edwards folgte. „Sagen Sie: Schuster, das klingt nicht nach einem englischen Namen.“

„Meine Großeltern waren Deutsche, sie kamen vor vielen Jahren nach England.“ Sie warf ihm einen Schulterblick zu, bei dem sie eine Augenbraue hob. „Macht mich das jetzt zu einer Spionin?“

Diese Frau hatte etwas Rebellisches an sich, das er ihr auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Auf gewisse Weise erinnerte sie ihn an Miss Summersteen. Eine Antwort blieb er Miss Schuster allerdings schuldig.

„Mr. Gishop?“ Nachdem Edwards angeklopft hatte, war er eingetreten, ohne eine Aufforderung abzuwarten.

„Zum Teufel, wer sind Sie denn?“

Edwards sah in ein erschöpftes Gesicht, unrasiert, grau und mit blutunterlaufenen Augen. Edwards schloss daraus, dass Gishop ebenso wenig geschlafen hatte wie er. Zudem roch es in dem Büro streng nach Alkohol. Gishop dünstete ihn aus.

„Mein Name ist Edwards, ich bin Inspector beim Yard. Ich komme wegen …“

„Des Raubüberfalls. Sicher.“ Gishop griff nach einer Flasche Gin, die offen im Regal stand, und kippte sich ein Glas voll. „Ich brauch` einen.“

„Ist wohl nicht der Erste.“

„Und wenn schon. Ich habe auch jeden Grund dazu.“ Gishop schüttelte den Kopf und nippte am Glas, zögerte, als dächte er nach, und kippte dann den gesamten Inhalt hinunter.

„Wann hat Sie Mr. Smythe von dem Transport unterrichtet?“

„Zwei Tage vorher.“ Er ließ sich mit solchem Schwung in den Schreibtischstuhl fallen, dass er beinahe hintenübergekippt wäre.

„Und Sie suchen dann die Männer aus, die die Bewachung übernehmen.“

„Ja, stimmt.“ Er schüttelte den Kopf und rang mit den Tränen. „Das waren gute Männer. Verlässlich. Treu. Und irgendwelche Schweine knallen sie einfach ab. Wenn ich die erwische, schneide ich denen eigenhändig das Herz raus.“

Edwards war sich nicht sicher, ob das nur die Reden eines betrunkenen Mannes waren, beschloss aber, nicht darauf einzugehen. „Wussten Ihre Männer, dass der Transport etwas Besonderes war?“

„Nein, Smythe wollte keine unnötige Aufmerksamkeit.“

Gishop füllte sein Glas nach.

„Was mich interessieren würde“, sagte Edwards, „bei solchen Transporten, wie ist da der Ablauf?“

„Smythe sagt mir … wann der Zug bereitsteht und wann wir mit dem Verladen beginnen sollen. Ich teile dann … die Arbeiter und die Wachen ein. Jeder hat seinen Posten. Das war diesmal nicht anders als sonst. Wenn alles verladen ist, steigen sie ein und begleiten den Zug an sein Ziel. Und danach fahren sie wieder mit ihm zurück.“

„Sie sind aber nicht mitgefahren“, stellte Edwards fest.

„Nein. Ich fahre nie mit.“

„Warum nicht?“

„Is` nun mal so.“

„Haben Sie eine Vermutung, wer hinter dem Überfall stecken könnte?“

„Verdammt, nein. Ich hab` mir schon die ganze Nacht den Kopf zermartert, aber ich wüsste niemanden.“

„Wie steht es mit Ihnen? Haben Sie Schulden?“

„Ich? Nein, ich habe keine Schulden.“ Gishops angetrunkener Geist schien zu begreifen, was Edwards andeuten wollte und wurde wütend. Torkelnd kam er auf die Füße und schwankte zwischen Schreibtisch und Aktenschrank. „Am liebsten würde ich Ihnen jetzt eine reinhauen“, schimpfte er.

Edwards verschränkte die Arme. „Sie wussten von der Besonderheit dieser Ladung.“

„Na und? Ich arbeite jetzt seit fünfzehn Jahren für Enfield, ich lebe hier auf dem Gelände. Bin verheiratet, hab` Kinder. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen?“ Gishop stützte sich mit einer Hand am Schreibtisch ab. „Und diese Männer, die jetzt alle tot sind. Einige von denen hatten auch Familien. Glauben Sie wirklich, ich würde sie derart … schändlich … verraten?“

Edwards hatte genug gehört. Es gab keinen Grund, Gishop noch weiter gegen sich aufzubringen. Er verabschiedete sich und ging mit einem knappen, wortlosen Nicken und dem Gefühl, dass er nicht angelogen worden war.

Er verließ das Gelände und bestieg die Kutsche, die ihn zurück in die City bringen würde.

Gegen Mittag traf er zuhause ein, wusch sich und zog frische Kleidung an. Eine Stunde später erreichte er Scotland Yard, hier hinterließ er aber nur eine kurze Nachricht für Sergeant Fulston, der noch nicht eingetroffen war.

Sein Magen knurrte. Auf dem Weg zu seinem Lieblingspub überquerte er den Strand, der nur einen Steinwurf von Whitehall entfernt lag.

In der anrüchigen Straße gab es zahlreiche halbseidene Etablissements, die der Kundschaft mit amateurhaften Darbietungen und überteuerten Drinks das Geld aus der Tasche zogen. Auch Hochstapler, Taschendiebe und Straßenräuber hatten hier ihr Einkommen. Tagsüber war es auf dem Strand einigermaßen still, doch abends und besonders in der Nacht ging es hier hoch her.

Edwards kannte einige der schrägen Vögel, die es allerdings vorzogen, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn sie ihn kommen sahen.

Der White Bear Pub lag in der King William Street und gehörte einem buckligen kleinen Schotten, der fast taub war oder zumindest so tat. Edwards öffnete die Tür, ein Glöckchen klingelte. Die Einrichtung des White Bear, in dem es Wein und Starkbier gab, war etwas in die Jahre gekommen und die Bedienung hatte nie mehr als fünf Worte am Stück mit ihm gewechselt, doch die Fish & Chips, die man hier bekam, waren ausgezeichnet.

Das Gebäude war drei Etagen hoch, aber so schmal, dass es neben dem Eingang nur einen einzigen Fensterplatz gab. Das war Edwards‘ Stammplatz, da er von dort das Geschehen auf der Straße beobachten konnte.

Fulston hatte seine Nachricht offenbar erhalten, denn er betrat kurz nachdem Edwards sein Essen serviert bekommen hatte den Pub. Auch er hatte sich zwischenzeitlich gewaschen und umgezogen. Jetzt sah er wieder wie ein braver Buchhalter aus.

„Sie sind spät“, sagte Edwards zur Begrüßung.

„Verzeihen Sie, Sir. Aber …“

„Sie brauchen sich nicht zu erklären. Miss Summersteen wird Sie aufgehalten haben.“

„Wir haben noch ein wenig geredet.“

Edwards machte ein glucksendes Geräusch, das einem unterdrückten Lachen gleichkam. „Ja, sie kann einen um Kopf und Kragen reden. Haben Sie mich bei ihr entschuldigt?“

„Natürlich, Sir.“

„Gut.“

„Sir, ich fürchte, sie wird uns verlassen.“

Edwards stutzte. „So? Wie kommen Sie darauf?“

„Auf dem Tisch lag ein Telegramm von Mr. Pinkerton. Ich konnte nicht umhin, einen Blick darauf zu werfen. Sie soll nach Chicago zurückkehren.“

Die Bedienung kam, eine junge Frau mit schiefen Zähnen und einem so finsteren Blick, dass Fulston vor ihr zurückschreckte. „Essen?“, fragte sie ihn.

Der sah auf Edwards Teller. „Ich … nehme das Gleiche.“

„Was trinken?“

„Ein kleines Ale, bitte.“

Als sie gegangen war, führte Edwards das Gespräch fort: „Früher oder später musste es ja so kommen.“

„Verzeihung, was meinen Sie, Sir?“

„Sie erwähnten, dass Miss Summersteen London verlassen wird.“

„Oh ja, richtig.“

„Ich muss gestehen, entgegen meiner Erwartungen war es eine interessante Abwechslung, mit ihr zu arbeiten.“

„Wirklich, Sir? Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie sie mochten“, sagte Fulston etwas voreilig.

„Man muss jemanden nicht mögen, um mit ihm zusammenzuarbeiten, Sergeant“, erwiderte Edwards, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und trank den letzten Rest seines Ginger Ales. Er war unruhig geworden und stand auf. „Konzentrieren wir uns wieder auf den Fall. Essen Sie noch in Ruhe und danach gehen Sie zu Aeglewood. Ich will wissen, ob er schon Zeit hatte, sich die Toten vom Bahndamm anzusehen. Vielleicht hat er ja etwas Nützliches für uns.“

„Ja, Sir, wird gemacht.“

„In meinem Büro liegt eine Akte, die habe ich aus Enfield mitgebracht. Sehen Sie sie durch und machen Sie sich damit vertraut.“

Fulston nickte. „Und was werden Sie tun, Sir?“

„Ich? Ich habe noch etwas Privates zu erledigen.“ Er legte vier Schillinge auf den Tisch. „Sie sind eingeladen, Sergeant.“ Dann verließ er den White Bear.

DeKeyser‘s Royal Hotel

Gegen halb zwei Uhr

Celeste verließ ihr Zimmer in der zweiten Etage und betrat den Aufzug. Der Liftboy tippte sich kurz an die Stirn und lächelte zuvorkommend. „Nach unten in die Eingangshalle, bitte“, sagte sie.

Der Junge schloss die Gittertür und betätigte einen Hebel. Kurz darauf setzte sich der Aufzug leise in Bewegung.

Celeste nahm einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, in der sie neben einem Set Dietriche auch eine Derringer Pistole verstaut hatte. Dann prüfte sie den Sitz des Hütchens, das schräg auf ihren hochgesteckten Locken saß. Sie war zufrieden, nickte sich kurz zu und steckte den Spiegel zurück in die Tasche.

Celeste hatte sich nach dem Frühstück umgezogen und trug nun ein nachtblaues Kleid mit Spitzenärmeln und einem steifen Kragen, der ihr bis unter das Kinn reichte.

Der Aufzug stoppte und gab den Blick in die Eingangshalle frei. Celeste war immer noch fasziniert von so viel Opulenz und Eleganz. In der Mitte stand ein Springbrunnen, bestehend aus vier griechischen Musen, die Amphoren in den Händen trugen, aus denen das Wasser sprudelte. Rundherum standen Sitzgruppen mit geschnitzten Tischchen aus Mahagoni und weich gepolsterten Sesseln mit rotem Samtbezug. Auf einem Podest stand ein Flügel, an dem ein Pianist im Frack gerade ein Stück von Chopin spielte.

An der Rezeption verrichteten Männer in schwarzen Livrees mit gestärkten weißen Hemden und perfekt gebundenen Fliegen ihre Arbeit, indem sie sich mit ernster Miene um die Belange der Gäste kümmerten.

Im Moment jedoch kümmerten sie sich alle nur um die Belange einer einzigen Person. Eine äußerst vornehme Lady hatte das Hotel in Begleitung einer imposanten Entourage betreten.

Sie war groß gewachsen, besaß breite Hüften und ein rundes, teigiges Gesicht von auffälliger Blässe, mit dem Ansatz eines Doppelkinns.

Auf ihrem Kopf saß ein monströser Hut in schwarz und blau, verziert mit Pfauen- und Schwanenfedern.

Auf dem Arm hielt sie ein kleines, zitterndes Hündchen, das kaum Fell besaß und dessen Ohren fast ebenso groß waren wie der Kopf.

Unverhohlene Arroganz lag in jeder ihrer Bewegungen.

Die fünf Männer in ihrer Begleitung trugen allesamt eine finstere Miene zur Schau und sorgten dafür, dass ihr niemand in den Weg trat. Einer tat sich dabei besonders hervor. Er besaß beeindruckende Muskeln, dunkle tiefliegende Augen und entfernte sich nie weiter als eine Armeslänge von ihr.

Celeste, die in der Nähe der Rezeption stand, war nicht entgangen, dass er unter seinem Gehrock eine Waffe trug.

Der Lady folgten ein halbes Dutzend junger Frauen sowie eine kleine Armee von Hoteldienern, die das Gepäck trugen.

„Lady Iskapova!“, hörte Celeste einen älteren Mann rufen, der mit großen Schritten die Eingangshalle durchquerte, sich vor der Dame verbeugte, ihre freie Hand nahm, die von Goldringen funkelte, und einen Kuss andeutete. „Welch` eine Freude, Sie in meinem Hotel begrüßen zu dürfen. Sie können nicht ermessen, welche Ehre es für mich ist, die Nachtigall von St. Petersburg zu Gast zu haben.“

„Mein lieber Mr. DeKeyser, Sie irren sich. Natürlich kann ich es ermessen. Ihr Hotel war schließlich nicht das Einzige, das darum geworben hat, mich beherbergen zu dürfen.“ Sie lächelte gnädig und während sie sprach, wechselte ihre Stimme mehrmals die Tonlage. Ihre russische Herkunft war dabei nicht zu überhören.

DeKeyser hüstelte seine Verstimmung über die Bemerkung fort und schenkte Lady Iskapova ein kühles Lächeln.

„Ich hege die Hoffnung, dass Sie uns während Ihres Aufenthalts eine Kostprobe Ihres großen Könnens gewähren werden.“

Lady Iskapova zog ihre Hand zurück. „Wir werden sehen, mein Lieber, wir werden sehen. Zunächst hat mich die Reise doch sehr erschöpft. Und wie Sie sich …“

Celeste wurde abgelenkt.

Mit den Hoteldienern hatte auch ein Mann die Empfangshalle betreten, der so gar nicht hierher passen wollte.

Während er unstet den Blick schweifen ließ, nahm er hastig den Bowler ab und kratzte sich die unrasierten Wangen. Eine kleine weiße Maus saß auf seiner Schulter.

Als Celeste ihn sah, musste sie schmunzeln. Tobias Gold und seine Maus Penelope waren ihr ans Herz gewachsen. Sie mochte seine schlitzohrige Art und dass er offen aussprach, was er dachte, und an Penelope … hatte sie sich auch gewöhnt. Celeste hatte sogar ein kleines Stück Käse vom Buffet stibitzt, um es ihr mitzubringen.

„Oh Gott! Eine Maus!“ Der Entsetzensschrei der Nachtigall von St. Petersburg schrillte wenig melodisch durch die Halle und riss Celeste aus ihren Gedanken. Der fleischige Finger der Diva zeigte auf Tobias, dem sich alle Blicke zuwandten. Der seltsamen Situation begegnete er mit einem schiefen Grinsen. „Ladies … Gentlemen“, sagte er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Kutschfahrt gefällig?“

DeKeyser verlor jegliche Farbe, fast befürchtete Celeste, er würde ohnmächtig werden. „Was macht dieser Mann hier?“, rief er aufgebracht. „Dienstboten haben hier nichts verloren!“ DeKeyser winkte zwei Bedienstete des Hotels herbei. „Schaffen Sie ihn raus, schnell, los, los!“

Celeste eilte heran und drängte sich zwischen den Männern hindurch. „Da sind Sie ja endlich“, sagte sie laut, „ich habe schon auf Sie gewartet.“

Sie begegnete dem Blick von Lady Iskapova, die sich theatralisch eine Hand auf die Brust gelegt hatte und einer gespielten Ohnmacht nahe war. Celeste glaubte in den Augen der Diva Abscheu, aber auch Neugierde und Überraschung zu erkennen.

„Ich habe Mr. Gold herbestellt“, sagte Celeste und an DeKeyser gewandt fügte sie hinzu, „vergeben Sie mir, ich wusste nicht, dass ein hart arbeitender Mann in Ihrem Hotel nicht willkommen ist.“ Dann hakte sie sich bei Tobias ein, führte ihn aus der Lobby und ließ sich von ihm zu seiner Kutsche bringen.

„Das war ja `n Ding“, sagte er, „ich hab´ schon geglaubt die wollten mich fress`n.“

Celeste musste kichern, als sie die Kutsche bestieg und Platz nahm.

„Wer war`n die dicke Frau, die da so`n Tam Tam gemacht hat?“

„Eine Opernsängerin.“ Celeste blähte die Wangen auf. „Die Nachtigall von St. Petersburg.“

„Nie von der gehört.“

„Nicht so wichtig. Hier, ich habe Penelope was vom Buffet mitgebracht und für Sie auch. In ein Taschentuch hatte sie ein Schinken-Gurken-Sandwich und einen Krümel Käse eingepackt.

„Gott möge es Ihnen vergelten, junge Lady.“ Er hielt Penelope den Käse hin, die sich mit den Vorderfüßchen den Kopf putzte und nun nach dem Stückchen schnappte. „Wo soll`s denn hingehen, Miss?“, fragte Tobias, nachdem er vom Sandwich abgebissen hatte.

Celestes gute Laune schwand. „Zurück nach Amerika.“

„Waff?“ Er spuckte einen nassen Brotkrümel auf seinen Ärmel und schluckte dann hörbar. „Das hör` ich aber gar nich` gern, Miss. Wir beide könn´n Sie nämlich richtig gut leiden.“

„Ich will auch nicht weg, aber in London gibt es für mich nichts zu tun. In Chicago habe ich immerhin eine Arbeit als Detektivin. Nun ja - zumindest vorläufig noch.“

„Und wann woll`n Sie weg?“

„Sobald ich eine Passage bekomme. Seien Sie so freundlich und bringen Sie mich in die Fleet Street zu Thomas Cook?“

„Mmh. Sicher, Miss.“ Tobias kletterte auf seinen Kutschbock, nahm die Zügel auf und reihte sich in den Verkehr aus Pferdeomnibussen, Kutschen und Fußgängern ein.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als Celeste Edwards am Stand einer Blumenhändlerin auf der Blackfriars Bridge entdeckte. Er kaufte Astern, die leuchtend rot strahlten.

Celeste klopfte an die Deckenklappe der Hansom. „Tobias, halten Sie bitte kurz an.“ Die Kutsche stoppte am Straßenrand und Celeste beugte sich heraus. „Inspector!“

Um sie herum herrschten lauter Tumult und Trubel. „Inspector!“, rief sie erneut und endlich wurde Edwards auf sie aufmerksam. Er bezahlte die Blumen und ging auf sie zu.

„Sie haben es ja doch noch geschafft, mich zu besuchen.“

„Nun, ja. Ich … wurde aufgehalten. Es tut mir leid.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sergeant Fulston hat mir von Ihrem neuen Fall erzählt.“

Edwards brummte etwas Unverständliches. Sie lächelte. „Sie tragen ja immer noch diesen grauenvollen Backenbart.“

Edwards zupfte daran. „Er gefällt Ihnen nicht?“

„Damit wirken Sie sehr grimmig.“

„Das bin ich auch ohne Bart.“ Er hielt ihr die Blumen hin.

„Oh, vielen Dank“, sagte sie mit einem gerührten Lächeln.

„Ich hoffe, sie gefallen Ihnen.“

„Sie sind wunderschön.“ Sie roch daran. Der Duft kitzelte in ihrer Nase. Sie machte eine kurze Pause, in der sie ihre nächsten Worte sorgfältig wählte. „Mein lieber Inspector, ich muss gestehen, ich hatte den Eindruck gewonnen, Sie würden mir aus dem Weg gehen wollen.“

„Das sicher nicht, Miss Summersteen. Nur die Pflichten eines Polizisten …“

„ … haben selbstverständlich Vorrang.“ Diese Ausrede hörte sie nicht zum ersten Mal von ihm. Celeste rückte beiseite und machte Edwards Platz auf der Sitzbank. „Begleiten Sie mich doch ein Stück und wir plaudern ein wenig. Als Ausgleich für das entgangene Frühstück sozusagen.“ Sie war sich sicher, er würde ablehnen, doch zu ihrer Überraschung nickte er und nahm neben ihr Platz.

„Fahren Sie bitte weiter, Tobias“, rief Celeste und die Kutsche setzte sich in Bewegung.

Edwards atmete hörbar ein, nachdem sie ein paar Minuten schweigend nebeneinandergesessen hatten.

„Sie beschäftigt etwas?“, fragte Celeste schließlich, wobei sie bemüht war, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. „Es hat sicherlich mit dem Fall zu tun, an dem Sie arbeiten. Worum handelt es sich denn?“

Edwards überhörte ihre Frage und sagte stattdessen: „Fulston sagte mir, Sie hätten sich entschlossen, nach Amerika zurückzukehren?“

Sie stutzte, dann lächelte sie. „Oh ja, natürlich, er hat Mr. Pinkertons Telegramm gesehen. Ja, es ist wahr. Ich habe meinen Aufenthalt hier so lange hinausgezögert, wie es mir möglich war, aber jetzt, da wir Osbert Pudley nicht finden können, gibt es hier für mich keine Aufgabe mehr.“

„Ich verstehe.“

„Sind Sie mitgekommen, um es mir auszureden?“, fragte sie geschmeichelt, um dann gleich anzufügen: „Oder wollten Sie nur sichergehen, dass es stimmt?“

Edwards bedachte sie mit einem langen Blick, den sie nicht deuten konnte, und sie begann sich gerade unwohl zu fühlen, als er sagte: „Ich denke, Sie werden mir fehlen.“

Ihre Augen wurden groß. „Wirklich?“

„Sie sind eine furchtbare Nervensäge, Miss Summersteen, aber ich muss gestehen, Sie sind auch eine gute Detektivin.“

Celeste spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Sie versteckte ihre Verlegenheit hinter Sarkasmus. „Ich hoffe, Ihr Stolz hat unter dem Kompliment nicht zu sehr gelitten.“

Seine Mundwinkel zuckten, was einem Lächeln schon recht nahekam. „Das eine Mal werde ich es überleben, aber gewöhnen Sie sich besser nicht daran.“

„Unsere kleinen Streitereien werden mir fehlen, Inspector“, gestand sie ein.

Edwards nickte. „Wenn Pinkerton Sie so dringend zurückhaben will, wird es dafür sicher einen guten Grund geben.“

„Oh, den gibt es bestimmt. Sicher sind ihm seine Akten in Unordnung geraten und ich soll sie wieder sortieren. Für etwas anderes wird er mich kaum brauchen“, erwiderte Celeste bitter.

„Ich denke, er unterschätzt Sie.“

„Da ist er nicht der Einzige.“

Die Hansom kam in das Gebiet der City und sie bogen in die Regent Street ein, nachdem sie Picadilly Square überquert hatten. Unzählige Kutschenräder mahlten über das Kopfsteinpflaster, begleitet vom Klappern der Hufe und dem Brüllen der Straßenhändler, die mit umgehängten Schildern die Bürgersteige bevölkerten. Eine Musikkapelle spielte auf Geigen, Flöten und Celli, dazu schlug eine Trommel. Über ihnen spannte sich ein Transparent, auf dem Mercy for the poor stand.

Tobias fuhr langsamer, bis er schließlich anhalten musste. Sie konnten ihn wortreich fluchen hören.

„Wann werden Sie abreisen?“, fragte Edwards.

„Ich schätze, in ein paar Tagen. Ich bin gerade unterwegs, um mir eine Passage zu besorgen.“

„Da gibt es etwas, was ich Sie schon lange fragen wollte.“

„Ja, nur zu.“

„Wieso sind Sie Detektivin geworden?“

Die Frage amüsierte sie. Wie oft hatte man sie ihr schon gestellt und wie oft war sie auf Unverständnis gestoßen, wenn sie die Antwort gegeben hatte. „Das ist einfach zu beantworten. Weil ich die Aufregung liebe, die Rätsel, die ein Verbrechen begleiten, die Genugtuung, ein Unrecht zu sühnen. Und …“, diesmal lachte sie, „ich wollte nicht das tun, was meine Eltern von mir verlangten.“

„Und was wäre das gewesen?“

„Zu heiraten. Mir graute vor einem Leben als Ehefrau. Besonders mit dem Mann, den mein Vater für mich ausgesucht hatte.“

„Wen hatte er denn ausgesucht?“

„Einen Geschäftsfreund, dreißig Jahre älter als ich, staubtrocken und absolut humorlos. Und er hatte klare Vorstellungen über meinen Platz in unserer Ehe.“

Edwards sah sie abwartend an.

„Ich sollte mich um das Haus und die Kinder kümmern. Bei gesellschaftlichen Anlässen präsent, aber diskret sein. Hübsches Beiwerk, nannte er es.“ Sie schürzte die Lippen. „Gott, wie ich ihn verachtet habe.“

„Aber sollte das nicht der Wunsch jeder ehrbaren Frau sein? Sich zu verheiraten und Kinder zu haben?“