Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mississippi-Delta: Elf lange Jahre saß Russell Gaines im Gefängnis, weil er betrunken Auto fuhr und dabei einen Jugendlichen tötete. Doch am Morgen seiner Entlassung muss er feststellen, dass nicht jeder der Meinung ist, er hätte schon für seine Schuld bezahlt. Am selben Tag stapfen eine Frau namens Maben und ihre kleine Tochter Annalee die Interstate entlang, verzweifelt, erschöpft, und bezahlen mit ihren letzten paar Dollar ein Zimmer für die Nacht - eine Nacht, die damit enden wird, dass Maben mit einer Pistole in der Hand durch die Dunkelheit irrt und ein Deputy tot auf der Straße liegt. Im Morgengrauen kreuzen sich die Wege von Russell und Maben, und der Ex-Sträfling muss sich entscheiden, wessen Leben er retten wird: sein eigenes oder das der Frau und ihrer Tochter.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Farris Smith
Desperation Road
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
ars vivendi
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Desperation Road bei Lee Boudreaux Books
Copyright © 2017 by Michael Farris Smith
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutsche Originalausgabe (Erste Auflage November 2018)
© 2018 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Bauhof 1,
90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-973-9
Für Presley und Brooklyn, may your little lights shine
Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt
und den Elenden sättigst,
dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,
und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Jesaja 58,10
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Danksagungen
Der Autor
Der Übersetzer
Die Vergangenheit stirbt nie.
William Faulkner
1
Der alte Mann hatte die Grenze zu Louisiana fast erreicht, als er auf der anderen Seite der Interstate die Frau und das Kind gehen sah; die Frau hatte einen Müllsack geschultert, und das Kind trottete hinter ihr her. Im Vorbeifahren schaute er zu ihnen hinüber und beobachtete danach im Rückspiegel, wie die Autos an ihnen vorbeizogen, als seien sie Straßenschilder. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und wenn er eines wusste, dann dass ihnen heiß war. Also bog er bei der nächsten Ausfahrt ab, nahm die Brücke über die I-55 und fuhr zurück Richtung Norden. Es waren einige Kilometer bis zu der Stelle, wo er sie gesehen hatte, und er hoffte, dass sie eine verdammt gute Erklärung für das hatten, was sie da taten.
Als er sich ihnen näherte, fuhr er langsamer. Sie gingen im Gras, das Mädchen schlug sich ständig mit der Hand an ihre nackten Beine, und die Frau ging gebeugt unter dem Gewicht des Müllsacks. Er lenkte auf den Randstreifen und hielt hinter ihnen an, doch weder die Frau noch das Mädchen drehten sich um. Also parkte er und stieg aus.
»Hey!«
Sie blieben stehen und schauten ihn an, als er zu ihnen hinüberging. Ihre Wangen waren rot und verschwitzt von der Hitze, und unter den blonden, fast weißen Haaren des Mädchens bemerkte er Spuren eines Sonnenbrandes. Beide trugen Shorts und Tanktops, ihre Schultern waren pink und die Beine voller Insektenstiche und Kratzer vom Gehen im rauen Gras des Seitenstreifens. Die Frau ließ den Müllsack fallen, der dumpf auf dem Boden aufschlug.
»Was macht ihr hier draußen?«, fragte der alte Mann. Er rückte seinen Hut zurecht und sah auf den Müllsack.
»Gehen«, sagte die Frau. Sie blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, weil sie dazu in die Sonne schauen musste, und das kleine Mädchen verschränkte die Hände vor dem Gesicht und blinzelte zwischen den Fingern hindurch.
»Braucht ihr Hilfe? Sie sieht ziemlich erschöpft aus«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf das Mädchen.
»Wir sind auf dem Weg zum Rasthof oben bei Fernwood. Kennen Sie den?«
»Ja, den kenne ich. Sind noch ungefähr fünfzehn Kilometer. Was wollt ihr denn da?«
»Treffen uns da mit jemandem.«
»Jemand mit einem Auto?«
»Ja, Sir.«
»Kommt, steigt ein. Ist ja nicht nötig, dass ihr zwei so hier rumlauft«, sagte er, beugte sich vor und nahm den Müllsack.
»Der ist schwer«, sagte die Frau.
Der alte Mann ächzte, als er sich den Sack über die Schulter warf, und die Frau und das Kind folgten ihm zu dem langen, silberfarbenen Buick. Er öffnete den Kofferraum und legte den Sack hinein, während die Frau zu dem Kind auf die Rückbank rutschte.
Er beobachtete die Frau im Rückspiegel und versuchte während der Fahrt ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch sie blickte aus dem Fenster oder sah zu dem Kind hinunter, wenn er sprach, und gab nur einsilbige Antworten auf seine Fragen, woher sie kämen, wohin sie wollten, was sie hier täten, ob sie etwas bräuchten und ob sie sicher sei, dass bei dem Rasthof jemand auf sie warten würde. In der klimatisierten Luft verschwand die Röte aus dem Gesicht der Frau, und als sie ihm antwortete, bemerkte er eine Leere in ihrem Blick, die ihm verriet, dass sie genauso wenig wie er wusste, was sie hier machten oder wohin sie wollten. Das Gesicht der Frau war schmal, von dem Mädchen konnte er im Rückspiegel nur den oberen Teil des Kopfes sehen. Es schien nach unten zu blicken, vielleicht vor Erschöpfung, Hunger oder Langeweile, oder wegen all dieser Dinge zusammen. Er hatte lange nichts mehr mit Kindern zu tun gehabt und vermutete, dass sie fünf oder sechs Jahre alt war. Sie saß still neben der Frau, wie eine schlaffe Puppe. Schließlich gab der Mann seine Versuche auf, sich mit der Frau zu unterhalten, und ließ sie während der weiteren Fahrt in Ruhe. Wahrscheinlich war sie einfach nur froh zu sitzen, dachte er.
Wenige Minuten später tauchte links der Interstate das Schild der Raststätte über den Bäumen auf. Er nahm die Abfahrt und fuhr auf den großen Lkw-Parkplatz. Auf der rechten Seite des Rasthofs befanden sich die Diesel-Zapfstellen und ein Motel mit einer Reihe von Zimmern. Der alte Mann fuhr auf der linken Seite weiter, durch die Tankstelle hindurch, vorbei an dem Souvenirladen, den Duschen und Umkleideräumen für Fernfahrer, und hielt vor der Tür des Diners, der einen eigenen, separaten Hintereingang hatte.
»Okay, wenn ich euch hier absetze?«, fragte er die Frau, und sie nickte.
»Komm, Süße«, sagte sie zu dem Mädchen.
Der Mann ging zum Kofferraum, hob den Müllsack heraus und stellte ihn auf den Asphalt. Dann griff er in seine Gesäßtasche, zog das Portemonnaie heraus und entnahm ihm vierzig Dollar, die er der Frau hinhielt.
Sie beugte den Kopf und bedankte sich.
Er nickte und sagte, er wünschte, er hätte mehr, doch die Frau entgegnete, es sei mehr als genug. Sie schulterte den Sack, nahm das Mädchen bei der Hand und dankte dem Mann mit einem angedeuteten Lächeln. Er hielt ihnen die Tür zum Diner auf, als sie hineingingen, und blickte ihnen durch die Glastür nach. Auf der rechten Seite des Diners befand sich ein Tresen mit einer Reihe Barhocker davor, und das kleine Mädchen tippte mit ihren Fingern im Vorbeigehen auf jeden einzelnen, während die Frau den Müllsack auf den Boden fallen ließ und ihn über das Linoleum hinter sich her schleifte. Er beobachtete sie, bis eine Kellnerin sie zu einem Tisch am Fenster führte, und wollte ihnen schon hinterhergehen, ihnen seine Telefonnummer geben und der Frau sagen, dass sie ihn anrufen solle, falls derjenige, der sie abholen sollte, doch nicht käme, und dass er dann für sie tun würde, was er könnte. Aber er tat es nicht. Stattdessen stieg er wieder in seinen Buick, überquerte die Interstate und fuhr zurück nach Hause, wo er im Schatten des Carports parken und dann ins Haus gehen und sich zu seiner Frau an den Küchentisch setzen würde. Er würde ihr von der Frau und dem Kind erzählen, und wenn sie ihn dann fragte, wieso er überhaupt Richtung Louisiana gefahren sei, würde er sich nicht mehr erinnern können.
2
Das kleine Mädchen aß zwei gegrillte Käsesandwiches und eine Schale Schokoladeneis, die Frau einen Teller Biscuits and Gravy, und beide tranken mehrere Gläser Eistee. Das alles kostete mehr, als sie eigentlich hatte ausgeben wollen, doch der Anblick des Kindergesichts, das mit jedem Bissen mehr strahlte, war Erfüllung genug. Wenn auch nur für den Moment.
Nachdem sie gezahlt hatte, saßen sie schweigend in der Sitzecke; das Mädchen malte mit den Buntstiften, die sie von der Kellnerin bekommen hatte, die Rückseite des Papiertischsets aus. Maben zählte ihr Geld; sie besaß dreiundsiebzig Dollar. Sie faltete die Scheine ordentlich, steckte sie in die vordere Tasche ihrer Shorts und blickte aus dem Fenster über den Parkplatz auf die Zeile mit den Motelzimmern. Ihr kam kurz der Gedanke, ein Zimmer zu nehmen, wo sie ausgiebig baden, fernsehen und dann mit dem Mädchen neben sich schlafen könnte. Zwischen sauberen Laken. Bei laufender Klimaanlage und verschlossener Tür. Das Mädchen sagte, guck mal, Mama, hielt das Papier hoch und zeigte ihr ein blaues a und ein rotes Irgendwas. Vielleicht ein b. Und entweder ein grünes c oder ein l.
»Das ist schön, Annalee«, sagte Maben. Das Kind lächelte, legte dann das Papier wieder hin, malte einen Kreis und begann ein Gesicht zu zeichnen. Die Kellnerin kam vorbei und fragte, ob sie noch einen Wunsch hätten.
»Wie viel kosten diese Zimmer?«, fragte Maben.
»Ich glaub, so um die fünfunddreißig«, erwiderte die Kellnerin. »Aber ich seh noch mal nach.«
»Nein«, sagte Maben, »ist schon gut. Haben Sie ein Münztelefon?«
»Dort lang«, sagte die Kellnerin und zeigte auf die Tür. »Da hinten durch, direkt neben den Waschräumen.«
Maben berührte die Hand des Mädchens, sagte, bin gleich zurück, und folgte der Wegbeschreibung zum Telefon. An einer Kette hing ein Telefonbuch. Sie öffnete es und versuchte sich an Namen von Leuten zu erinnern, die sie früher mal gekannt hatte, oder an Freunde oder entfernte Verwandte. Irgendwas. Irgendwer. Sie sah die Namen im Telefonbuch an, als könnte einer plötzlich hervorspringen und ihr ins Auge stechen und sagen, hey, ich bin’s. Doch nichts geschah. Zu viel Zeit war vergangen. Zu viel Stoff lag dazwischen. Stoff, von dem man eigentlich gut drauf sein sollte, und so war’s ja auch im ersten Moment, aber dann machte das Zeug einen nur wirr im Kopf, fraß einen auf oder gaukelte einem vor, dass man unbedingt mehr brauchte. Einfach zu viel. Zu viel. Sie gab es auf, nach Namen zu suchen, und wandte sich den Gelben Seiten zu. Es dauerte ein paar Minuten, dann entdeckte sie eine Anlaufstelle für Notfälle, die vielleicht helfen könnte. In der Broad Street. Sie meinte sich zu erinnern, wo das war, riss die Seite aus dem Telefonbuch, faltete sie, steckte sie in die Tasche und kehrte an den Tisch zurück. Es waren noch weitere acht Kilometer bis McComb und dann noch mal drei oder vier von der Interstate bis zur Broad Street in der Innenstadt. Sie wusste nicht, ob ihre Tochter heute noch weitergehen konnte. Und es gab keine Garantie, dass dort überhaupt ein Frauenhaus war. Sie hatte sich schon einmal eines herausgesucht, nur um dann vor einer verschlossenen Tür zu stehen, an der ein Zettel klebte, der erklärte, man habe aufgrund fehlender Finanzierung bedauerlicherweise schließen müssen. In Notfällen wenden Sie sich bitte an die Polizei.
Er hatte gesagt, er käme gleich zurück, doch sie hatte schon am Klang seiner Stimme gehört, dass er log. Wenigstens hatte er ihr hundert Dollar dagelassen, oben auf dem Fernseher. Und er hatte ihr den Sack mit ihren Klamotten und denen ihrer Tochter vor die Tür des Motelzimmers gestellt. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Es hatte sich fast wie ein kleiner Sieg angefühlt, mitfühlend verlassen zu werden. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass der Van fort war, dass er fort war und sie bereits seinen Namen vergessen hatte, und dass sie und das Mädchen wieder einmal allein in einem Zimmer zurückgelassen worden waren, das ihnen nicht gehörte. Also hatten sie sich auf den Weg gemacht. Das war jetzt drei Tage her. Zurück nach Mississippi, denn sie wusste nicht, wohin sonst. New Orleans war nicht gut gewesen, und Shreveport war nicht gut gewesen, und alles, was Beaumont ihr beschert hatte, war die Zeugung des kleinen Mädchens, und sie wusste eigentlich nicht, warum sie meinte, dass sie nach Mississippi sollten, abgesehen davon, dass dort alles angefangen hatte. Sie war mit leeren Händen gegangen und kam mit nichts zurück außer einem weiteren hungrigen Magen, der gefüttert werden musste. Und jetzt, da sie zurück war, sah die Hitze, die vom Asphalt aufstieg, genauso aus wie die Hitze, die auch überall sonst vom Asphalt aufstieg. Sie hatte fast mit so etwas wie einem kleinen Wunder gerechnet, wenn sie erst mal die Grenze des Bundesstaats überquert hätten, und vielleicht war das ja auch passiert, als der alte Mann sie mitgenommen und ihr die vierzig Dollar gegeben hatte. Und als sie die Eiscreme sah, die in den Mundwinkeln ihrer Tochter getrocknet war, entschied sie, dass sie kaum viel mehr erwarten könnte.
»Mama«, sagte das Mädchen.
»Ja.«
»Sind wir schon in Mississippi?«
»Ja, meine Süße.«
»Können wir jetzt aufhören zu gehen?«
»Bald.«
»Können wir eines von den Zimmern nehmen?«
»Hör auf zu fragen und komm.«
Sie hatten abseits der Straße geschlafen, hatten sich mit einigem Abstand zur Interstate ins Gebüsch zurückgezogen, hatten ihre Kleidung auf Laub und Erde ausgebreitet, Cracker und Chips gegessen und Cola getrunken, hatten im Schutz der Nacht durchatmen können. Sie stanken, das wusste sie, und nachdem das Mädchen ihr Bild fertiggemalt hatte, verließen sie den Diner und gingen durch den Souvenirladen zu den sanitären Einrichtungen für Trucker. Sie ignorierten das Nur für Lkw-Fahrer-Schild und gingen in den Damen-Umkleideraum. Maben stand vor der Duschkabine, während das Mädchen sich wusch, und nachdem das Kind angezogen war, duschte sie und spürte erleichtert, wie all der Schmutz ihren Körper hinunterlief und durch den Abfluss verschwand. Dann wechselten sie sich damit ab, die Haare unter dem Händetrockner zu föhnen. Die Frau suchte ihnen saubere T-Shirts und Shorts aus dem Müllsack. Dann sagte sie dem Mädchen, es solle im Umkleideraum warten, ging zurück in den Laden, klaute dort eine kleine Flasche Lotion und cremte erst dem Mädchen die geröteten Arme, das Gesicht und den Nacken ein und dann sich selbst. Im Anschluss wusch sie ihre Socken im Waschbecken, wrang sie aus und trocknete auch diese unter dem Händetrockner, während Annalee sich mit dem Kopf auf dem Müllsack auf dem Fliesenboden ausgestreckt hatte. Als die Socken trocken waren, war Annalee bereits eingeschlafen, und Maben setzte sich neben sie, lehnte den Kopf an die Wand zurück und betete, dass niemand in den Umkleideraum kam, solange das Mädchen sich ausruhte.
Wenn erst einmal etwas anfing schiefzulaufen, wurde es immer schlimmer, hatte sie festgestellt. Das Unheil breitete sich aus wie wilde, giftige Ranken, die sich über die Kilometer und Jahre erstreckten – von den zwielichtigen Gestalten, die sie gekannt, über die Grenzen, die sie überschritten hatte, bis zu den Dingen, die Fremde in ihr hinterlassen hatten. Die Ranken breiteten sich aus, bis sie sie überzogen und verschluckt hatten, wickelten sich um ihre Knöchel und um ihre Oberschenkel, um ihre Brust, ihren Hals, die Handgelenke und zwischen den Beinen hindurch, und als sie auf das Mädchen mit seinem Sonnenbrand auf der Stirn und den dünnen Ärmchen hinabsah, wurde ihr klar, dass das Kind nichts weiter war als ihre eigene schmutzige Hand, die sich in einem letzten verzweifelten Versuch, nach etwas Gutem zu greifen, aus dem Dickicht herausstreckte. Sie streichelte das Haar des Kindes. Bewunderte die kleinen Hände, die gefaltet unter ihrer Wange lagen. Und dann legte sie sich neben sie auf den Boden. Es gab Zeiten, da war es einfach unmöglich zu schlafen, weil all das Böse auf der Welt sich in ihren Gedanken zu sammeln schien und es ihr nicht herauszufinden gelang, wie sie das Kind davon fernhalten konnte, und es gab andere Zeiten, wenn all das Böse der Welt sich in ihren Gedanken sammelte und sie derart erschöpfte, dass sie nicht mehr dagegen ankämpfen konnte, und dies war jetzt einer dieser Momente, in denen sie einfach aufgab, und mit dem Kopf auf dem Arm und dem Arm auf den kalten Fliesen schlief sie ein.
3
Eine untersetzte Frau in schwarzen Stiefeln und einem Waylon-Jennings-T-Shirt weckte sie. Sie setzten sich auf, rieben sich die Augen, und als sie standen, fragte die Frau, was sie da machten.
»Nichts«, erwiderte Maben, strich dem Kind mit der Handfläche übers Haar und hob dann den Müllsack auf.
»Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit oder so was? Ich muss jetzt zuerst mal was essen, aber dann fahr ich runter Richtung New Orleans.«
»Wir kommen schon klar«, sagte Maben, nahm die Hand des Mädchens und verließ mit ihm den Umkleideraum. Sie gingen hinaus und setzten sich auf den Bordstein. Während sie ein paar Stunden Schlaf ergattert hatten, in denen höfliche oder desinteressierte Besucher der sanitären Einrichtungen über sie hinweggestiegen waren, bis schließlich die untersetzte Frau beschlossen hatte, sie zu wecken, war der Nachmittag verstrichen. Maben fragte sich, ob die Zeit noch reichte, um es zum Frauenhaus zu schaffen, oder ob sie wieder in der Nacht stranden würden. Ob sie noch einen Platz für sie hätten. Ob sie ihr helfen könnten, einen Job zu finden. Ob sie Malbücher hätten. Ob sie einen Tag lang bleiben könnten oder drei Tage oder einen Monat. Ob.
Ihr Blick fiel über den Parkplatz auf die Motelzimmer. Sie sah das Mädchen an. Sie waren drei Tage lang am Straßenrand oder im Wald gewesen.
»Komm«, sagte sie zu dem Mädchen, und sie gingen wieder hinein und zur Kasse des Diners, wo die Zimmerschlüssel an Haken auf einem an die Wand genagelten Holzbrett hingen. Die junge Frau, die sie bedient hatte, stand hinter der Kasse und sortierte Quittungen, schaute auf und sagte, ich dachte, ihr wärt längst weg.
»Noch nicht«, erwiderte Maben. »Wir hätten gern eines der Zimmer, falls Sie noch eines haben.«
»Klar«, sagte die Kellnerin, legte die Quittungen hin und holte ein Notizbuch unter dem Tresen hervor. Sie schlug es auf, hakte ein paar Felder ab und sagte, es sähe so aus, als wäre Zimmer sechs noch frei. Genau fünfunddreißig Dollar.
Maben zog die gefalteten Scheine aus der Tasche. Während sie das Geld abzählte, sah die Kellnerin zu dem Mädchen hinunter und fragte es nach seinem Namen.
»Annalee«, antwortete das Mädchen. Dann sah das Mädchen auf und sagte, meine Mama heißt Maben.
»Danach hat sie nicht gefragt«, sagte Maben und gab der Kellnerin das Geld.
Die Kellnerin drehte sich um, nahm einen Schlüssel von einem Haken, reichte ihn Maben und lächelte wieder das Mädchen an. »Achten Sie darauf, dass Ihre Tür immer abgeschlossen ist.«
»Warum?«, fragte das Mädchen, doch Maben sagte ihr, sie solle mitkommen, und sie überquerten den Parkplatz zu ihrem Zimmer. Sie blieben kurz stehen, um einen Sattelschlepper vorbeizulassen, und als sie ihren Weg fortsetzten, begann das Kind in Vorfreude darauf, von einem weichen Sitzplatz aus fernzusehen, vergnügt zu hüpfen.
Sie hatten sich Zeichentrickfilme und die Wettervorhersage angesehen. Hatten die Schuhe ausgezogen, auf dem Bett gesessen und die Beine ausgestreckt. Hatten kalte Getränke aus dem Automaten geschlürft. Und nun war das Mädchen eingeschlafen, und das Licht des Fernsehers flackerte im dunklen Zimmer über ihren sauberen Körper. Maben ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Der Parkplatz, auf dem inzwischen mehr Lkws standen, die dort die Nacht über bleiben würden, war in ein schaurig-gelbes Licht getaucht. Sie konnte über den Parkplatz hinweg in die Fenster des Diners sehen, in dem sich mehr Kellnerinnen als Gäste befanden. Sie hatte über die Hälfte ihres Geldes ausgegeben und kam sich nun ziemlich dumm vor. Wenn sie morgen in der Broad Street aus irgendeinem Grund nicht das fand, was sie zu finden hoffte, wenn das Frauenhaus dichtgemacht hätte oder überfüllt oder einfach nicht der richtige Ort für sie beide wäre, dann hätte sie einen schweren Fehler begangen. Dreiundsiebzig Dollar waren ohnehin sehr wenig, aber wenn man fünfunddreißig Dollar abzog und noch mal acht fürs Mittagessen, dann blieb wirklich nicht mehr viel übrig.
Sie ging zum Fernseher, schaltete auf einen Nachrichtensender und sah auf die Uhrzeit in der rechten unteren Ecke des Bildschirms. Zehn nach elf. Sie ging zurück zum Fenster, setzte sich in einen Sessel und zog erneut den Vorhang zurück.
Wenigstens stinken wir nicht mehr, dachte sie. Ihr fiel ein, dass die Kellnerin gesagt hatte, schließen Sie immer die Tür ab, doch sie verstand nicht, was es mit der Warnung auf sich hatte. Es schien, als ob die Menschen hier das taten, was sie tun sollten.
Genau in diesem Moment bemerkte sie am Rand des Parkplatzes zwei junge Mädchen, die vor einer Sekunde noch nicht dort gewesen waren. Als wären sie aus irgendwelchen Löchern im Boden hochgeschossen. Die eine war weiß, die andere schwarz. Sie waren gleich gekleidet. Kurze Jeansröcke, weiße Tanktops und Flip-Flops. Eine kleine Handtasche. Vielleicht sechzehn, dachte Maben. Das weiße Mädchen hatte ihr dunkles Haar so kurz geschnitten wie ein Junge, und das schwarze Mädchen trug ein rotes Bandanatuch um den Kopf. Sie gingen gemeinsam zur Mitte des Parkplatzes, wo das schwarze Mädchen auf einen lilafarbenen Lkw zeigte und das weiße Mädchen auf einen schwarzen Lkw, und dann trennten sie sich. Maben verfolgte, wie jedes Mädchen zum Fahrerhaus des Lkw ihrer Wahl ging, auf die Trittstufe kletterte, sich am Außenspiegel festhielt und an die Scheibe klopfte. Die Tür des lilafarbenen Fahrerhauses öffnete sich zuerst, und das schwarze Mädchen kroch hinein. Das weiße Mädchen klopfte erneut an und rückte ihren Rock zurecht, und dann öffnete sich die Tür des schwarzen Führerhauses, und auch sie verschwand im Inneren. Danach wurden bei den beiden Lkw die Vorhänge zugezogen.
Maben zählte neun weitere Lkw auf dem Parkplatz.
Neun mal dreißig. Zweihundertsiebzig Dollar.
Neun mal fünfzig wären vierhundertfünfzig Dollar.
Sie warf einen Blick quer durch das Zimmer auf die dreißig Dollar, die zusammengeknüllt auf dem Tisch neben dem Fernseher lagen.
Sie hatte es früher schon gemacht, und sie hatte sehr lange nicht mehr daran gedacht, hatte sich gezwungen, es aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Und wie sie jetzt darüber nachdachte, kam es ihr vor, als wäre das damals jemand anderes gewesen. Sie hatte es so gut verdrängt, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie es getan hatte und wo sie es getan hatte oder wie oft sie es getan hatte, sondern nur, dass es zu einer Zeit gewesen war, als die tollwütigen Hunde des Lebens sie in eine dunkle Ecke tiefster Verzweiflung getrieben hatten.
Sie betrachtete die Lastwagen und fragte sich, ob die Mädchen schon alt genug für den Führerschein waren. Fragte sich, woher sie kamen. Fragte sich, ob diesen Männern auch nur für einen Moment in den Sinn gekommen war, dass diese Mädchen noch bis vor Kurzem Kinder gewesen waren. Oder es immer noch waren. Oder vielleicht nie gewesen waren, weil sie dazu nie die Chance bekommen hatten. Sie sah Annalee an und begriff, was das Mädchen möglicherweise erwartete, falls sich nicht grundsätzlich etwas änderte. Dann holte sie tief Luft und blickte wieder hinaus auf den Parkplatz, und jene Nacht vor so vielen Jahren erschien deutlich vor ihren Augen. Und das Bild dieses Jungen. Dieses wunderschönen Jungen. Sie beide zusammen auf der Heckklappe des Pick-ups, der auf der Walker’s Bridge parkte. Unter ihnen plätscherte der Shimmer Creek dahin, und Bach und Brücke waren von dichtem Wald umgeben, dessen Bäume die Brücke fast beschützend umschlangen. Der Pick-up füllte die ganze Breite der Brücke aus, in dessen schiefes, morsches Holzgeländer längst verflossene Liebeserklärungen mit Flaschenöffnern und Taschenmessern geritzt worden waren. Es herrschte Vollmond, und sein Licht warf die Schatten der Bäume über den Boden und erschuf die Illusion, dort würde eine Armee stiller Geister lauern. Der Himmel war voller Sterne. Über die Musik aus dem Radio und das Plätschern des Wassers hinweg hörte man den gemischten Chor der Frösche und Grillen, und sie wusste, dass alles genau so sein sollte. Wusste, dass er der Richtige war. Also sagte sie ihm, er solle auf die Ladefläche des Trucks klettern und sich hinlegen. Frag nicht, leg dich einfach hin, und nicht die Augen aufmachen, und er gehorchte, und dann stand sie auf, entfernte sich vom Pick-up und ging zum Rand der Brücke. Nicht gucken, sagte sie. Sie blickte nach Bestärkung suchend zum Himmel auf, zog dann ihr T-Shirt aus, ihren BH, streifte die Shorts ab und ihren Slip. Sie kniete sich hin und legte ihre Kleidung ordentlich gestapelt an den Rand der Brücke. Sie richtete sich auf, und ein Schauer lief über ihren Körper, doch sie breitete die Arme aus und spürte das Mondlicht, das sie wie ein Paar warme Hände umfasst hielt. Sie sah auf die Ladefläche des Pick-ups und zu dem Jungen, der ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Sie machte einen ersten Schritt auf ihn zu, als das Brummen eines sich nähernden Autos in die Dunkelheit einbrach und das Licht von Scheinwerfern über dem Hügel erschien, Scheinwerfer, die schnell näher kamen und zu zwei grellen Lichtkegeln explodierten, noch bevor sie ihm etwas zurufen konnte, bevor sie Zeit hatte, ihre Sachen aufzuheben, und das Auto wurde nicht langsamer. Und sie hörte, wie sie ihm etwas zubrüllte, während sie von der schmalen Brücke runter an den Straßenrand lief und sich genau in dem Moment umdrehte, als das Auto frontal auf die Schnauze des Pick-ups prallte. Sie duckte sich beim Krachen des Zusammenstoßes, durch den Jasons großer, schlanker Körper von der Ladefläche des Pick-ups in die Nacht hinausgeschleudert wurde, als könne er fliegen. Die Funken, das Kreischen und das Geräusch von sich verbiegendem Metall, während sie die holprige Straße hinunterrannte, auf die Lichter des nächsten Hauses zu. Schwer atmend und noch schneller laufend, immer mit dem Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen, als würden die Lichter des Hauses vor ihr zurückweichen, während sie darauf zulief. Sie trug ihre Kleidung unter dem Arm, hatte vergessen, dass sie splitternackt war, bis sie schließlich den Vorgarten erreichte und stehen blieb, um hastig Shorts und T-Shirt überzuziehen. BH und Slip ließ sie neben den Eingangsstufen liegen, und sie hämmerte und hämmerte gegen die Tür, davon überzeugt, dass die da drinnen dachten, sie würden überfallen oder ausgeraubt, und sie fing an Worte zu brüllen wie »Brücke« und »Autos« und »Hilfe« und »Bitte, lieber Gott«, bis endlich im Haus ein Licht anging, die Tür sich öffnete und ein grauhaariger Mann sie misstrauisch und in der Überzeugung ansah, dass da ganz gewaltig was nicht stimmte. Und dann stieg sie zu ihm in den Wagen, und sie fuhren die Straße hinunter, während seine Frau irgendwen anrief. Maben war nicht in der Lage, seine Fragen zu beantworten, starrte nur angespannt in die Dunkelheit und wünschte sich, dass Jason dort stand, als ihr Scheinwerferlicht auf die Brücke fiel. Sie wünschte sich, dass er dort stand, sich den Dreck von den Armen und aus dem Gesicht wischte und sagte, scheiße, das war echt knapp. Doch sie sah nichts, rief nach ihm, hörte nichts, sah dann zu, wie die roten und blauen Lichter über den Hügel kamen, verfolgte, wie Taschenlampen in den Wald und auf die ineinander verkeilten, qualmenden Fahrzeuge leuchteten, und dann hörte sie jemanden sagen, wir haben einen Überlebenden, und sie sagte sich, das ist er, das ist er, er muss es sein, und dann war es doch der andere. Der sie unterbrochen hatte.
Und wie sie nun mit leeren Augen auf den Parkplatz hinausstarrte, kehrte diese Nacht durch den Dunstschleier der Jahre zu ihr zurück, glasklar und mit voller Wucht. Irgendwo hupte ein Auto, riss sie aus ihren Gedanken, und sie wandte sich ab, durchquerte den Raum, setzte sich auf die Bettkante, legte eine Hand aufs Bein des schlafenden Kindes und beobachtete, wie sich die kleine Brust im tiefen Schlaf hob und senkte.
Es würde nicht lange dauern, dachte sie. Hatte es noch nie. Zumindest wenn es so lief, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie brauchten nie lange. Fünfzig Dollar. Nicht weniger. Vielleicht vierzig. Das Kind schlief tief und fest und würde nie erfahren, dass sie fort gewesen war. Sie stand auf, steckte den Zimmerschlüssel ein, ging zum Waschbecken und bürstete sich das Haar, das schlaff an ihrem Kopf herunterhing. Sie schob es mit den Fingern hin und her, doch das änderte nichts; dann wischte sie sich mit dem Waschlappen über die Augen und sagte sich immer wieder, dass sie nicht lange brauchten. Sie brauchen nie lange.
4
»Verdammt noch mal«, schimpfte Ned, als er über den Rand der Brille blickte, die auf seiner Nasenspitze saß. Er hockte mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung, die er schon den ganzen Tag lesen wollte, am Ende des Tresens. Der Boden war gewischt worden, wie er es gewünscht hatte, und das ganze Geschirr war gespült worden, wie er es gewünscht hatte, und nur an einem Tisch saßen noch Gäste. Drei alte Frauen, die rauchten und Kreuzworträtsel lösten. Er hatte gerade erst einen Blick auf die Titelseite geworfen, als ihm die beiden Mädels auffielen, die über den Parkplatz gingen. Die eine weiß. Die andere schwarz. Dieselben, die er schon mal gemeldet hatte.
Er erhob sich vom Tresen und ging zum Telefon neben der Kasse, wählte die Nummer des Sheriffs, und als sich die Frau meldete, sagte er: »Hey. Ich bin’s, Ned, vom Rasthof. Wir haben hier schon wieder zwei Mädels, die rumlaufen und an Türen klopfen.«
»Alles klar, Ned. Die können’s einfach nicht lassen, stimmt’s?«
»Sieht nicht so aus. Behaltet ihr sie eigentlich nie da?«
»Weshalb?«
»Weiß auch nicht. Um sie einzuschüchtern oder so.«
»Leicht lassen die sich nicht einschüchtern. Wir schicken jemand.«
»Prima.«
Er legte auf. Beobachtete die Mädels, wie sie auf die verschiedenen Lastwagen zeigten. Er hätte selbst hinausgehen und sie verscheuchen können, doch dann wären sie einfach ein Stück die Straße runtergegangen und sofort zurückgekommen, sobald er wieder drinnen war. Werd für diesen Scheiß hier sowieso nicht gut genug bezahlt, dachte er. Er ging zum Ende des Tresens, setzte sich mit dem Rücken zum Fenster und schlug die Zeitung auf, die schon in einer Stunde nur noch Schnee von gestern sein würde.
5
Leise öffnete und schloss Maben die Tür des Motelzimmers. Sie hatte sich bereits für einen Lkw entschieden, ein blauer mit der Flagge der Konföderierten auf dem Kühlergrill, und steuerte nun direkt darauf zu. Sie kletterte auf die Stufe an der Fahrerseite. Die Vorhänge waren zugezogen. Drinnen war es dunkel. Sie berührte mit den Fingerspitzen die Scheibe. Erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihr Kind schlief keine fünfzig Meter entfernt. Ihr war jetzt schon schlecht.
Dann zog sie ihre Hand vom Fenster zurück. Biss sich auf die Lippe und redete sich ein, darauf zu vertrauen, dass es morgen besser werden würde. Dass sie Hilfe finden würde. So fängt man nicht noch mal ganz von vorne an. Und sie stieg wieder von dem Lkw hinunter und berührte den Zimmerschlüssel in ihrer Tasche. Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Zimmer zurückzugehen, sah sie den Streifenwagen. Er war mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf den Parkplatz gerollt und stand nun im Leerlauf dort, während die Silhouette hinter dem Steuer sie beobachtete.
Clint hatte kein Problem mit diesem Einsatz, und er hatte auch nichts dagegen, sich mit den Mädchen abzugeben, denn ihm gefiel, was sie dafür machen würden, um nicht ins Gefängnis zu kommen, wenn er den Streifenwagen ein Stück abseits der Straße parkte. Er mochte auch den kostenlosen Kuchen und den Kaffee, den Ned ihm dafür gab, dass er die Mädels verscheuchte. Das alles waren für ihn die kleinen Nebenerträge eines Jobs, der schlecht bezahlt wurde. Er beobachtete, wie die Frau in den Shorts von dem Schlepper stieg. Sie war nicht das, was er erwartet hatte. Nicht das schwarze Mädel und auch nicht das weiße, bei denen er nicht mal groß was sagen müsste. Er würde einfach die hintere Tür des Streifenwagens öffnen und sie herüberwinken, und sie würden sagen, hey, Deputy, und auf die Rückbank rutschen, und wenn sie eine Stunde später getan hatten, was er von ihnen wollte, würde er sie am Straßenrand vor dem Haus absetzen, in dem sie angeblich wohnten, und sie schwören lassen, dass sie eine Woche warteten, bevor sie dort drüben wieder aufkreuzten.
Er freute sich, mal was Neues zu erleben.
Er stieg aus dem Streifenwagen. Die Hände auf dem Waffengürtel, das Gesicht glatt rasiert, die Haare gescheitelt. Zu alt – das war das Erste, was ihm in den Kopf kam.
»Hey«, sagte er.
Maben blieb stehen.
»Was machen Sie hier draußen?«, fragte er. Er sprach mit dem Selbstvertrauen eines Mannes, der sich seiner Macht bewusst war.
»Ich bin auf dem Weg zu meinem Zimmer.«
»Da habe ich aber was anderes gehört. Ist gegen das Gesetz, in die Lkw einzusteigen und schmutzige Sachen zu machen.«
»Ich bin in keinen Lkw eingestiegen. Ich habe doch gesagt, ich bin auf dem Weg in mein Zimmer«, sagte sie. Dann griff sie in ihre Tasche, nahm den Zimmerschlüssel heraus und präsentierte ihn, als wäre er der Beweis, der sie entlastete.
Er ging zu ihr und nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. Er hielt ihn ins Licht und musterte ihn. Dann gab er ihn zurück.
»Der Geschäftsführer hat uns angerufen. Das hier ist als Familienmotel gedacht.«
»Ich hab nichts gemacht.«
»Ich habe Sie da drüben bei dem Lkw gesehen«, sagte er und blickte dann auf ihre Beine. Auf ihre schmutzigen Schuhe. Dann betrachtete er ihr Gesicht. Verhärmt und mitgenommen, doch mit einer spitzen Nase, die vielleicht einst Teil von etwas Hübschem gewesen sein könnte, und graue Augen wie polierte Zehncentstücke.
»Wie alt sind Sie?«
»Ich hab ein Kind da in meinem Zimmer. Ich muss zurück.«
»Nicht sofort. Sie kommen jetzt erst mal mit.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich habe nichts gemacht.«
»Da sagt Ned aber was anderes.«
»Wer zum Teufel ist Ned?«
»Spielt keine Rolle«, sagte er und packte ihren dünnen Arm, doch sie wehrte sich und flehte, ich habe gar nichts gemacht. Ich hab Ihnen doch gesagt, ich habe ein Kind dort drinnen. Er öffnete die hintere Tür des Streifenwagens und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Dagegen konnte sie nichts tun, flog mit dem Gesicht voran auf den Rücksitz und sackte dann seitlich auf die Schulter. Er schlug die Tür zu, bevor sie sich aufrichten konnte. Er sah sich kurz auf dem Parkplatz um, ob Ned ihn möglicherweise beobachtete oder ob vielleicht jemand anerkennend winkte. Doch da war niemand. Sie flehte, scheiße, ich hab doch überhaupt nichts gemacht und meine Kleine ist da drüben, ich hab doch gesagt, dass ich nichts gemacht hab, gehen Sie zu dem Lkw und fragen Sie. Ich hab nichts gemacht. Er stieg ein, setzte sich hinters Lenkrad, drehte sich zu ihr um und befahl ihr, den Mund zu halten, dann wendete er auf dem Parkplatz. Bitte, Officer, ich habe nichts gemacht. Bitte.
Und das war der Teil, der ihm am besten gefiel. Wenn sie anfingen zu betteln.
Er blieb auf dem Highway 48 zwischen Magnolia und McComb. Da draußen gab es nichts außer einer Billardhalle, einem Spirituosengeschäft und einem Laden für Angler. Als sie zu weinen begann, befahl er ihr, damit aufzuhören. Du kommst schon nicht ins Gefängnis. Wenn ich dich ins Gefängnis bringen wollte, hätt ich dir schon längst Handschellen angelegt. Dann fragte er nach ihrem Namen.
»Karen«, sagte sie.
»Karen«, wiederholte er. »Ich habe ne Cousine namens Karen. Allerdings ist die keine Nutte wie du.«
»Wohin fahren wir?«
»Karen, Karen. Ich bin hier derjenige, der fährt.«
Sie hörte auf zu weinen. Sie hörte auf zu reden. Sie saß da, den Arm auf die Tür gelehnt, und starrte aus dem Fenster, während der Deputy die zweispurige Landstraße entlangfuhr. Saubere weiße Begrenzungslinien an den Seiten, in der Straßenmitte eine gepunktete Linie von Reflektoren, die im Scheinwerferlicht wie Diamanten glänzten.
Sie ahnte, was hier lief.
Er bog auf eine Straße ein, die durch Flachland führte, und nach einem guten Kilometer bog er auf eine schmale, holperige Straße ab, die so nachlässig und oft ausgebessert worden war, dass Funk- und Radargerät auf dem Armaturenbrett klapperten, während der Streifenwagen darüberrumpelte. Auf beiden Seiten der Straße standen Stacheldrahtzäune, und schon bald wurde er langsamer, hielt an und schaltete die Scheinwerfer aus. Maben schaute sich um, sah nirgendwo ein Licht. Er griff über das Armaturenbrett und drehte die Lautstärke des Funkgerätes herunter. Das Standlicht blieb an und umgab den Streifenwagen mit einem orangefarbenen Schein, als gäbe er den Dämonen der Dunkelheit ein Zeichen.
»Sieh mich an«, sagte er und tippte gegen den Rückspiegel.
»Ich schätze, du weißt, dass ich gleich nach hinten komme«, sagte er. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Einem Mädel wie dir sollte das egal sein. Sieh’s einfach so: Bezahlt wirst du, aber eben mit einer ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte.« Er stieß ein kurzes Lachen aus und murmelte etwas vor sich hin, das sie nicht verstand. Und dann legte er, immer noch mit diesem leisen und grüblerischen Lachen, seinen Pistolengürtel ab, wobei das Leder krachte, als er es um seine Hüfte zog.
Er hielt ihn hoch und sagte, schau. Lass uns Freunde sein. Dann legte er den Pistolengürtel auf den Beifahrersitz, öffnete die Fahrertür, stieg aus und zog das gestärkte Khakihemd aus der gestärkten Khakihose. Langsam öffnete er die Tür. Beugte den Kopf hinunter und sagte, sie solle rüber zur anderen Seite rutschen. Sie wich hastig vor ihm zurück, und er setzte sich neben sie auf die Rückbank. Er befahl ihr, die schmutzigen Schuhe auszuziehen, und sie gehorchte. Er befahl ihr, das T-Shirt auszuziehen, und sie gehorchte. Und er befahl ihr andere Sachen, die sie tun sollte. Und sie gehorchte weiter. Behielt dabei die Augen geschlossen, solang er es zuließ.
6
Als er fertig war, stieg er aus dem Fond und zog sich neben dem Wagen stehend wieder an. Er sah, dass sie das Gleiche tat, und sagte, lass das mal. Wir sind noch nicht fertig.
Maben ignorierte ihn und zog sich das T-Shirt über den Kopf.
Er beugte sich mit einem höhnischen Lächeln zu ihr hinunter und sagte: »Du glaubst, ich mach nur Spaß?«
Sie zog ihre Shorts an. Und dann griff er in den Fond, packte sie beim Nacken und drückte sie runter auf die Sitzfläche. Sie stöhnte unter seinem brutalen Griff.
»Zieh’s wieder aus. Hast du gehört?«, raunte er, sein Mund dicht neben ihrem Ohr. »Wir sind noch nicht fertig.« Er ließ sie los, und sie richtete sich langsam auf. Nahm sich vor einem Schlag oder Schlimmerem in Acht. Sie zog das T-Shirt wieder aus und sagte, ich dachte, Sie wollten das so.
»Falsch gedacht.«
»Ich hab alles getan, was Sie verlangt haben. Ich habe ein Kind im Motel. Ich schwör’s bei Gott.«
»Wenn du ein Kind im Motel hast, solltest du verdammt noch mal besser tun, was ich dir sage. Was glaubst du wohl, was passiert, wenn die Mami von diesem Kind wegen Prostitution eingelocht wird? Hat ihr Kind allein in einem Motelzimmer zurückgelassen. Ich vermute mal, da gibt’s auch nichts zu essen oder so. Was, glaubst du, würde dann passieren? Du hörst mir besser weiter genau zu.«
Sie antwortete nicht. Gab keinen Grund. Sie begann zu beten, dass Annalee weiterschlief. Nicht aufwachte und glaubte, ihre Mami hätte sie verlassen. Sie hoffte, dass bei Tagesanbruch auch dieser Albtraum, wie die meisten, vorbei wäre, dass sie neben Annalee im Bett sitzen würde, als sei nichts geschehen, wenn die Kleine ihre Augen aufschlug.
Clint ließ die Tür zur Rückbank offen. So sicher war er sich. Er rutschte auf den Fahrersitz und drehte das Funkgerät lauter. Es war nichts los. Dann nahm er ein Handy aus dem Handschuhfach und wählte.
»Hab hier neuen Spaß für uns«, sagte er. »Kommt raus, ich zeig’s euch. Ja, dieselbe Stelle wie immer. Ja, ihr könnt beide kommen. Hab den Funk abgehört, ist gerade nichts los. Sieht aus, als hätten wir die ganze Nacht. Derselbe Deal wie immer.«
Er beendete das Gespräch und legte das Telefon neben den Pistolengürtel auf den Beifahrersitz. Dann drehte er sich zu Maben um und sagte durch die Trennscheibe, ich und du, wir beide kriegen gleich Gesellschaft. Ich schlage vor, du zeigst dich von deiner besten Seite.
Sie hielt sich das T-Shirt vor die Brust, und er lachte über ihre Schamhaftigkeit. Sie spürte, wie die wilden, giftigen Ranken sie zu ersticken begannen. Sie sah zur Tür. Weit offen. Er wollte, dass sie weglief oder etwas tat, was er ihr zur Last legen könnte. Sie wusste nicht, ob es nur ein paar Minuten oder eine halbe Stunde dauern würde, aber schon bald würden sie zu dritt sein. Mindestens. Und sie bezweifelte, dass sie nicht im Knast landete, wenn es vorbei war. Sie bezweifelte, dass er ihr glaubte, dass sie ein Kind im Motel hatte, und selbst wenn er es tat, schien es ihm egal zu sein. Irgendwann würde Annalee von einem Zimmermädchen entdeckt werden oder das Zimmer verlassen und jemanden suchen, und dann gäbe es einen Anruf, und das wäre dann das Ende der einzigen Sache, die sie noch hatte und die ihr wirklich etwas bedeutete. Ihr Blick wanderte über die stille, flache Landschaft. Kein Licht, keine Antworten.
»Soll ich aussteigen und da auf sie warten?«, fragte sie.
Er sah sich um, als wartete er darauf, dass jemand anderer antwortete. Wenn er sie wie ein sexuelles Schmuckstück auf der Motorhaube sitzen ließ, hätte er später mal eine gute Geschichte zu erzählen.
»Warum nicht. Du musst ja sowieso aussteigen. Aber ohne Klamotten.«
»Hab nichts an. Wie Sie gesagt haben.«
»Na, dann mal los.«
Sie rutschte zur offenen Tür, ihre nackte Haut klebte auf dem Sitz. Er stieg aus und führte sie zur Vorderseite des Streifenwagens. Sie setzte sich auf die Motorhaube, doch die Haube war so heiß unter ihrem nackten Hintern, dass sie sofort wieder heruntersprang. Sie fragte, ob sie ihr T-Shirt holen dürfe, um sich darauf zu setzen, und er sagte, okay, und drehte sich um, blickte die Straße hinauf und wartete auf die Scheinwerfer. Sie bemerkte, dass er wegsah, und beugte sich über den Vordersitz, zog die Pistole aus dem Gürtelholster, und als er sich umdrehte, stand sie da. Ihr nackter Körper in den orangefarbenen Schein des Standlichts getaucht. Seine Pistole auf ihn gerichtet.
»Du willst mich verarschen«, sagte er und schickte sich an, wieder zu lachen, doch dazu kam er nicht mehr, weil sie ihm ein Loch in die Kehle pustete. Er sank auf die Knie, und sie ging zu ihm, und er drückte mit beiden Händen auf seinen Hals, und in dem seltsamen Licht floss das Blut ganz schwarz, und er wollte sich auf sie stürzen, doch sie trat nur einen Schritt zurück, und er sackte vornüber. Er drehte sich auf den Rücken, umklammerte seinen Hals. Versuchte wieder auf die Knie zu kommen, doch sie schoss noch zweimal, und er fiel zurück und blieb reglos liegen.
Sie senkte die Pistole und ließ sie dann fallen und hob ihre plötzlich zitternden Hände auf ihren Kopf, doch für so etwas hatte sie keine Zeit, also schnappte sie sich Kleidung und Schuhe vom Rücksitz, zog sich hastig an und fing an zu schluchzen, zwang sich aber, sofort damit aufzuhören. Das geht jetzt nicht, sagte sie sich und ging wieder zur Vorderseite des Streifenwagens, und er hatte sich nicht bewegt und würde sich auch nicht mehr bewegen, und sie hob die Pistole auf. Das Telefon im Streifenwagen klingelte, und sie wusste, das waren die, und sie warf noch einen letzten Blick auf den Rücksitz, ob noch etwas von ihr dort lag, und dann fing sie an, die Straße hinunterzulaufen. Als sie den Streifenwagen hinter sich gelassen hatte, konnte sie kaum erkennen, wohin sie ihren Fuß setzte, doch das ließ sie nicht langsamer werden, und sie rannte bis zum Ende der Straße und hoffte, dass sie die richtige Richtung wählte, und sie lief so schnell sie konnte weiter.
Vor ihr lag eine Biegung, und sie bemerkte die Scheinwerfer, die dahinter auftauchten, und sprang vom Straßenrand ins hohe Gras, drückte sich auf den Boden und wünschte, sich noch flacher hinlegen zu können. Das Auto fuhr vorbei, ohne sie zu bemerken, und sie wartete, bis die Rücklichter nur noch kleine Flecken waren, und rannte dann weiter. Sie wusste nicht, wie weit sie laufen musste, aber sie wusste, es war weit. Ihre Beine brannten, die Muskeln waren bereits erschöpft von den letzten drei Tagen, die sie in der Hitze zurückgelegt hatten. Aber sie ignorierte den Schmerz und machte einfach weiter und weiter. Sie lief mit rudernden Armen und strampelnden Beinen und schnappte nach Luft, als die Angst in ihr aufstieg und in abgehackten Schreien herausbrach. Schwitzend und keuchend wechselte sie die Pistole ständig von einer Hand in die andere, fast als erwartete sie, dass eine der beiden schon wüsste, was sie damit anfangen sollte. Ein Knie hob sich und schlug ihr die Waffe aus der Hand, woraufhin die Pistole in die Dunkelheit flog. Sie brüllte, verdammte Scheiße, und ließ sich dann auf Hände und Knie fallen. Tastete im Kies am Straßenrand danach, rief nach ihr und flehte dann Gott an, sie ihr zu offenbaren. Staub wirbelte auf, ihre fiebrigen Hände schaufelten die Steine beiseite, und sie entdeckte die Waffe, sprang auf und lief wieder. Das war der Moment, als sie die Sirenen hörte.
Sie rannte weiter, bis sie die Lichter des Rastplatzes sehen konnte, und während sie näher kam, fragte sie sich, ob sie jemand auf dem Parkplatz gesehen hatte. Ob jemand gesehen hatte, wie sie zu dem Deputy in den Wagen gestiegen war. Er hatte es nicht per Funk durchgegeben. Hatte mit niemandem gesprochen, als er sie mitgenommen hatte. Hatte das Handy nur benutzt, um seine Kumpels anzurufen und ihnen zu sagen, dass sie rauskommen und sie vögeln sollten. Zur ersten Sirene gesellten sich weitere, und sie stellte sich die blitzenden Lichter der Einsatzfahrzeuge um den toten Mann vor, weil sie so etwas schon einmal gesehen hatte. Sie stellte sich seine aufgerissenen, toten Augen vor und das Blut, das in den Furchen der holprigen Straße versickerte, und die scharlachroten Bäche, die von den Uniformierten sorgsam umgangen wurden. Die Leiche war zusammengesackt und eingeklappt, als besäße sie keine Knochen, und darüber der weite Himmel, der keine Antworten gab.
Als sie am Rand des Raststättenparkplatzes angekommen war, blieb sie stehen. Sie wusste nicht, wie lange sie weg gewesen war. Sie wusste nur, dass sie es zurückgeschafft hatte und von niemandem auf der Straße gesehen worden war. Sie wartete einen Moment, bevor sie auf den Parkplatz hinaustrat. Kämpfte darum, wieder zu Atem zu kommen, schob dann die Pistole hinten unter den Bund ihrer Shorts und zog das T-Shirt darüber. Am Ende der Motelzimmerzeile blieb sie stehen und lehnte sich gegen die Backsteinmauer. Hielt Ausschau, ob jemand in der Nähe war. Hielt nach jemandem Ausschau, der im Diner aus dem Fenster sah. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes stand ein Mann vor seinem Sattelschlepper und rauchte eine Zigarette. Als er fertig war, ging er zum Diner hinüber, betrat ihn und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster auf einen Barhocker.
Sie wartete, bis der Mann mit der Brille auf der Nase kam und ihm eine Speisekarte gab, und als der Mann wieder ging und in der Küche verschwand, eilte Maben an den Motelzimmern vorbei. Den Zimmerschlüssel in der Hand. Und als sie die Nummer 6 erreichte, stand Annalee am Fenster. Mit geröteten Augen und zerzausten Haaren, als hätte sie versucht, sie sich mit ihren kleinen Händen auszureißen. Maben sperrte die Tür auf und sagte nichts, kniete sich nur hin und schloss das schwitzende, schwer atmende Kind mit seinem wirren Blick fest in die Arme. Während sie Annalee drückte, sah Maben durchs Fenster direkt gegenüber das schwarze und das weiße Mädchen. Sie standen neben der Mülltonne hinter dem Diner und zählten ihr Geld.
7
Im Sumpfgebiet von Southern Mississippi kann man das Erwachen der Welt verfolgen, wenn sich die blassgelbe Sonne zwischen die Bäume und das Moos und die erhabenen Kraniche schiebt. Libellen summen, Waschbären kommen aus ihren Höhlen und krabbeln über gestürzte Bäume. Schildkröten platzieren sich auf Stümpfen, die später in der Sonne liegen, und verborgene Dinge gleiten mit mörderischer Geduld und Geschick unter der schwarzen Wasseroberfläche. Äste, zu alt, um sich noch länger aufrecht zu halten, biegen und brechen wie alte Männer, die ihre morastigen Gräber annehmen. Reptilien kriechen und Amseln rufen, während das frühe Tageslicht die tiefe, ruhige Nacht zerschneidet und ablöst.