Deutsche Menschen - Walter Benjamin - E-Book

Deutsche Menschen E-Book

Walter Benjamin

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Beschreibung

"Deutsche Menschen" ist eine Briefsammlung, zusammengestellt und kommentiert von Walter Benjamin. Das Buch versammelt siebenundzwanzig Briefe aus den hundert Jahren zwischen 1783 und 1883, also ungefähr von der Französischen Revolution bis zur Gründerzeit. Mit dem 1936 unter dem Pseudonym Detlef Holz in der Schweiz gedruckten Buch "Deutsche Menschen" beabsichtigte Walter Benjamin unter anderem, dem vom Nationalsozialismus beherrschten Deutschland das bessere Beispiel eines aufgeklärten und humanistischen Bürgertums vorzuhalten. Die Briefe und Kommentare waren schon 1930/31 in der Frankfurter Zeitung erschienen. Der Titel "Deutsche Menschen" war auch darauf berechnet, das Buch an der nationalsozialistischen Zensur vorbei auf den deutschen Markt zu schmuggeln.

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Seitenzahl: 130

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Walter Benjamin

Deutsche Menschen

Eine Folge von Briefen

Auswahl und Einleitungen von Walter Benjamin

Impressum:
Cover Bild: Walter Benjamin, Foto ID, 1928, Urheber unbekannt.
e-artnow, 2013

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Karl Friedrich Zelter an Kanzler von Müller
Georg Christoph Lichtenberg an G. H. Amelung
Johann Heinrich Kant an Immanuel Kant
Georg Forster an seine Frau
Samuel Collenbusch an Immanuel Kant
Heinrich Pestalozzi an Anna Schulthess
Johann Gottfried Seume an den Gatten seiner früheren Verlobten
Friedrich Hölderlin an Casimir Böhlendorf
Clemens Brentano an den Buchhändler Reimer
Johann Wilhelm Ritter an Franz von Baader
Bertram an Sulpiz Boisserée
Ch. A. H. Clodius an Elisa von der Recke
Johann Heinrich Voss an Jean Paul
Annette von Droste-Hülshoff an Anton Matthias Sprickmann
Joseph Görres an den Stadtpfarrer Aloys Vock in Aarau
Justus Liebig an August Graf von Platen
Wilhelm Grimm an Jenny von Droste-Hülshoff
Karl Friedrich Zelter an Goethe
David Friedrich Strauss an Christian Märklin
Goethe an Moritz Seebeck
Georg Büchner an Karl Gutzkow
Johann Friedrich Dieffenbach an einen Unbekannten
Jacob Grimm an Friedrich Christoph Dahlmann
Fürst Clemens von Metternich an den Grafen Anton von Prokesch-Osten
Gottfried Keller an Theodor Storm
Franz Overbeck an Friedrich Nietzsche
(Anhang)
Friedrich Schlegel an Schleiermacher
Von Ehre ohne Ruhm
Von Grösse ohne Glanz
Von Würde ohne Sold 

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Die fünfundzwanzig Briefe dieses Bandes umfassen den Zeitraum eines Jahrhunderts. Der erste ist von 1783, der letzte von 1883 datiert. Die Reihenfolge ist chronologisch. Außerhalb ihrer ist das folgende Schreiben gestellt. Aus der Mitte des hier umspannten Jahrhunderts stammend, gibt es den Blick auf die Anfänge der Epoche – Goethes Jugend – frei, in welcher das Bürgertum seine großen Positionen bezog; es gibt ihn aber – durch seinen Anlaß, Goethes Tod – auch auf das Ende dieser Epoche frei, da das Bürgertum nur noch die Positionen, nicht mehr den Geist bewahrte, in welchem es diese Positionen erobert hatte. Es war die Epoche, in der das Bürgertum sein geprägtes und gewichtiges Wort in die Waagschale der Geschichte zu legen hatte. Freilich schwerlich mehr als eben dieses Wort; darum ging sie unschön mit den Gründerjahren zu Ende. Lange ehe der folgende Brief geschrieben wurde, hatte, im Alter von sechsundsiebzig Jahren, Goethe dieses Ende in einem Gesicht erfaßt, das er Zelter in folgenden Worten mitteilte: »Reichthum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wornach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren … Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt.«

Karl Friedrich Zelter an Kanzler von Müller

Inhaltsverzeichnis

Berlin, den 31. März 1832.

Erst heute, verehrtester Mann, kann ich Ihnen für die freundschaftlichste Theilnahme danken, von welcher Art auch die Gelegenheit diesmal seyn mag.

Was zu erwarten, zu fürchten war, mußte ja kommen. Die Stunde hat geschlagen. Der Weiser steht wie die Sonne zu Gibeon, denn siehe auf seinen Rücken hingestreckt liegt der Mann, der auf Säulen des Hercules das Universum beschritt, wenn unter ihm die Mächte der Erde um den Staub eiferten unter ihren Füßen.

Was kann ich von mir sagen? zu Ihnen? zu allen dort? und überall? – Wie Er dahinging vor mir, so rück’ ich Ihm nun täglich näher und werd’ ihn einholen, den holden Frieden zu verewigen, der so viel Jahre nach einander den Raum von sechsunddreyßig Meilen zwischen uns erheitert und belebt hat.

Nun hab’ ich die Bitte: hören Sie nicht auf, mich Ihrer freundschaftlichen Mittheilungen zu würdigen. Sie werden ermessen, was ich wissen darf, da Ihnen das niemals gestörte Verhältnis zweyer, im Wesen stets einigen, wenn auch dem Inhalte nach weit von einander entfernten Vertrauten bekannt ist. Ich bin wie eine Wittwe, die ihren Mann verliert, ihren Herrn und Versorger! Und doch darf ich nicht trauern; ich muß erstaunen über den Reichthum, den er mir zugebracht hat. Solchen Schatz hab’ ich zu bewahren und mir die Zinsen zu Capital zu machen.

Verzeihen Sie, edler Freund! ich soll ja nicht klagen, und doch wollen die alten Augen nicht gehorchen und Stich halten. Ihn aber habe ich auch einmal weinen sehn, das muß mich rechtfertigen.

Zelter.

Man kennt den berühmten Brief, den Lessing nach dem Tod seiner Frau an Eschenburg schrieb: »Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht. – Auch tut es mir wohl, daß ich mich Ihres, und unsrer übrigen Freunde in Braunschweig, Beileids versichert halten darf.« – Das ist alles. Diesen großartigen Lakonismus hat auch der soviel längere Brief, den Lichtenberg, nicht viel später und aus verwandtem Anlaß, an einen Jugendfreund gerichtet hat. Denn so ausführlich er über die Lebensumstände des kleinen Mädchens ist, das Lichtenberg in sein Haus nahm, so weit er in ihre Kindheit zurückgreift, so unvermittelt und erschütternd ist, wie er – ohne ein Wort von Krankheit und Krankenlager mittendrin abbricht, als hätte der Tod nicht nach der Geliebten allein, sondern auch nach der Feder gegriffen, die ihre Erinnerung festhält. In einer Umwelt, die in ihren Tagesmoden vom Geist der Empfindsamkeit, in ihrer Dichtung vom genialischen Wesen erfüllt war, prägen unbeugsame Prosaisten, Lessing und Lichtenberg an der Spitze, preußischen Geist reiner und menschlicher aus als das fredericianische Militär. Es ist der Geist, der bei Lessing die Worte findet: »Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen« und Lichtenberg die grausame Wendung eingibt: »Die Ärzte hoffen wieder. Mich dünkt aber es ist alles vorbei, denn ich bekomme kein Gold für meine Hoffnung.« Die in Tränen gebeizten, in Entsagung geschrumpften Züge, die aus solchen Briefen uns ansehen, sind Zeugen einer Sachlichkeit, die mit keiner neuen den Vergleich zu meiden hat. Im Gegenteil: wenn irgend eine, so ist die Haltung dieser Bürger unverbraucht und von dem Raubbau unbetroffen geblieben, den das neunzehnte Jahrhundert in Zitaten und Hoftheatern mit den »Klassikern« trieb.

Georg Christoph Lichtenberg an G. H. Amelung

Inhaltsverzeichnis

Göttingen, Anfang 1783.

Mein allerliebster Freund,

Das heiße ich fürwahr deutsche Freundschaft, liebster Mann. Haben Sie tausend Dank für Ihr Andenken an mich. Ich habe Ihnen nicht gleich geantwortet, und der Himmel weiß, wie es bei mir gestanden hat! Sie sind, und müssen der erste sein, dem ich es gestehe. Ich habe vorigen Sommer, bald nach Ihrem letzten Brief, den größten Verlust erlitten, den ich in meinem Leben erlitten habe. Was ich Ihnen sage, muß kein Mensch erfahren. Ich lernte im Jahre 1777 (die sieben taugen wahrlich nicht) ein Mädchen kennen, eine Bürgerstochter aus hiesiger Stadt, sie war damals etwas über dreizehn Jahre alt; ein solches Muster von Schönheit und Sanftmut hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen, ob ich gleich viel gesehen habe. Das erste Mal, da ich sie sah, befand sie sich in einer Gesellschaft von fünf bis sechs andern, die, wie die Kinder hier tun, auf dem Wall den Vorbeigehenden Blumen verkaufen. Sie bot mir einen Strauß an, den ich kaufte. Ich hatte drei Engländer bei mir, die bei mir aßen und wohnten. God almighty, sagte der eine, what a handsome girl this is. Ich hatte das ebenfalls bemerkt, und da ich wußte, was für ein Sodom unser Nest ist, so dachte ich ernstlich, dieses vortreffliche Geschöpf von einem solchen Handel abzuziehen. Ich sprach sie endlich allein, und bat sie, mich im Hause zu besuchen; sie ginge keinem Burschen auf die Stube, sagte sie. Wie sie aber hörte, daß ich ein Professor wäre, kam sie an einem Nachmittage mit ihrer Mutter zu mir. Mit einem Wort, sie gab den Blumenhandel auf, und war den ganzen Tag bei mir. Hier fand ich, daß in dem vortrefflichen Leib eine Seele wohnte, grade so wie ich sie längst gesucht, aber nie gefunden hatte. Ich unterrichtete sie im Schreiben und Rechnen, und in anderen Kenntnissen, die, ohne eine empfindsame Geckin aus ihr zu machen, ihren Verstand immer mehr entwickelten. Mein physikalischer Apparat, der mich über 1500 Taler kostete, reizte sie anfangs durch seinen Glanz und endlich wurde der Gebrauch davon ihre einzige Unterhaltung. Nun war unsere Bekanntschaft aufs Höchste gestiegen. Sie ging spät weg, und kam mit dem Tage wieder, und den ganzen Tag über war ihre Sorge, meine Sachen, von der Halsbinde an bis zur Luftpumpe in Ordnung zu halten, und das mit einer so himmlischen Sanftmut, deren Möglichkeit ich mir vorher nicht gedacht hatte. Die Folge war, was Sie schon mutmaßen werden, sie blieb von Ostern 1780 an ganz bei mir. Ihre Neigung zu dieser Lebensart war so unbändig, daß sie nicht einmal die Treppe hinunterkam, als wenn sie in die Kirche und zum Abendmahl ging. Sie war nicht wegzubringen. Wir waren beständig beisammen. Wenn sie in der Kirche war, so war es mir als hätte ich meine Augen und alle meine Sinnen weggeschickt. – Mit einem Wort – sie war ohne priesterliche Einsegnung (verzeihen Sie mir, bester, liebster Mann, diesen Ausdruck) meine Frau. Indessen konnte ich diesen Engel, der eine solche Verbindung eingegangen war, nicht ohne die größte Rührung ansehen. Daß sie mir alles aufgeopfert hatte, ohne vielleicht ganz die Wichtigkeit davon zu fühlen, war mir unerträglich. Ich nahm sie also mit an Tisch, wenn Freunde bei mir speisten, und gab ihr durchaus die Kleidung, die ihre Lage erforderte, und liebte sie mit jedem Tage mehr. Meine ernstliche Absicht war, mich mit ihr auch vor der Welt zu verbinden, woran sie nun nach und nach mich zuweilen zu erinnern anfing. O du großer Gott! und dieses himmlische Mädchen ist mir am 4ten August 1782 abends mit Sonnen-Untergang gestorben. Ich hatte die besten Ärzte, alles, alles in der Welt ist getan worden. Bedenken Sie, liebster Mann, und erlauben Sie mir, daß ich hier schließe. Es ist mir unmöglich fortzufahren.

G. C. Lichtenberg.

Man muß, um sich recht in den Geist des folgenden Briefes zu versetzen, nicht nur die ganze Dürftigkeit eines mit wenig mehr als seinen Schulden und vier Kindern ausgestatteten Pastorenhaushalts im Baltischen vor Augen haben, sondern auch das Haus, in das er gerichtet war: Immanuel Kants Haus am Schloßgraben. Da fand niemand »tapezierte oder herrlich gemalte Zimmer, Gemäldesammlungen, Kupferstiche, reichliches Hausgerät, splendide oder einigen Wert nur habende Meublen, – nicht einmal eine Bibliothek, die doch bei mehreren auch weiter nichts als Zimmermeublierung ist; ferner wird darin nicht an geldsplitternde Lustreisen, Spazierfahrten, auch in spätern Jahren an keine Art von Spielen usf. gedacht.« Trat man hinein, »so herrschte eine friedliche Stille … Stieg man die Treppe hinauf, so … ging man links durch das ganz einfache, unverzierte, zum Teil räuchrige Vorhaus in ein größeres Zimmer, das die Putz-Stube vorstellte, aber keine Pracht zeigte. Ein Sofa, etliche mit Leinwand überzogene Stühle, ein Glasschrank mit einigem Porzellan, ein Bureau, das sein Silber und vorrätiges Geld befaßte, nebst einem Wärmemesser und einer Konsole … waren alle die Meublen, die einen Teil der weißen Wände deckten. Und so drang man durch eine ganz einfache, armselige Tür in das ebenso ärmliche Sans-Souci, zu dessen Betretung man beim Anpochen durch ein frohes ›Herein!‹ eingeladen wurde.« So vielleicht auch der junge Studiosus, der dies Schreiben nach Königsberg brachte. Kein Zweifel, daß es wahre Humanität atmet. Wie alles Vollkommene aber sagt es zugleich etwas über die Bedingungen und die Grenzen dessen, dem es derart vollendeten Ausdruck gibt. Bedingungen und Grenzen der Humanität? Gewiß, und es scheint, daß sie von uns aus ebenso deutlich gesichtet werden, wie sie auf der andern Seite vom mittelalterlichen Daseinsstande sich abheben. Wenn das Mittelalter den Menschen in das Zentrum des Kosmos stellte, so ist er uns in Stellung und Bestand gleich problematisch, durch neue Forschungsmittel und Erkenntnisse von innen her gesprengt, mit tausend Elementen, tausenden Gesetzlichkeiten der Natur verhaftet, von welcher gleichfalls unser Bild im radikalsten Wandel sich befindet. Und nun blicken wir zurück in die Aufklärung, der die Naturgesetze noch an keiner Stelle im Widerspruch zu einer faßlichen Ordnung der Natur gestanden haben, die diese Ordnung im Sinne eines Reglements verstand, die Untertanen in Kasten, die Wissenschaften in Fächern, die Habseligkeiten in Kästchen aufmarschieren ließ, den Menschen aber als homo sapiens zu den Kreaturen stellte, um durch die Gabe der Vernunft allein von ihnen ihn abzuheben. Derart war die Borniertheit, an welcher die Humanität ihre erhabene Funktion entfaltet und ohne die sie zu schrumpfen verurteilt war. Wenn dieses Aufeinanderangewiesensein des kargen eingeschränkten Daseins und der wahren Humanität nirgends eindeutiger zum Vorschein kommt als bei Kant (welcher die strenge Mitte zwischen dem Schulmeister und dem Volkstribunen markiert), so zeigt dieser Brief des Bruders, wie tief das Lebensgefühl, das in den Schriften des Philosophen zum Bewußtsein kam, im Volke verwurzelt war. Kurz, wo von Humanität die Rede ist, da soll die Enge der Bürgerstube nicht vergessen werden, in die die Aufklärung ihren Schein warf. Zugleich sind damit die tieferen gesellschaftlichen Bedingungen ausgesprochen, auf denen Kants Verhältnis zu seinen Geschwistern beruhte: der Fürsorge, die er ihnen angedeihen ließ und vor allem des erstaunlichen Freimuts, mit dem er über seine Absichten als Testator und die sonstigen Unterstützungen sich vernehmen ließ, die er schon bei Lebzeiten ihnen zuwandte, so daß er keinen, weder von seinen Geschwistern »noch ihren zahlreichen Kindern, deren ein Teil schon wieder Kinder hat, habe Not leiden lassen«. Und so, setzt er hinzu, werde er fortfahren, bis sein Platz in der Welt auch vakant werde, da dann hoffentlich etwas auch für seine Verwandten und Geschwister übrig bleiben werde, was nicht unbeträchtlich sein dürfte. Begreiflich, daß die Neffen und Nichten, wie in diesem Schreiben auch später an den verehrten Onkel sich »schriftlich … anschmiegen«. Zwar ist ihr Vater schon im Jahre 1800, vor dem Philosophen, gestorben, Kant aber hat ihnen hinterlassen, was ursprünglich seinem Bruder zugedacht war.

Johann Heinrich Kant an Immanuel Kant

Inhaltsverzeichnis

Altrahden, 21. Aug. 1789.

Mein liebster Bruder! Es wird wohl nicht unrecht sein, daß wir nach einer Reihe von Jahren, die ganz ohne allen Briefwechsel unter uns verlebt worden, einander wieder nähern. Wir sind beide alt, wie bald geht einer von uns in die Ewigkeit hinüber; billig also, daß wir beide einmal das Andenken der hinter uns liegenden Jahre wieder erneuern; mit dem Vorbehalt, in der Zukunft dann und wann (möge es auch selten geschehen, wenn nur nicht Jahre oder gar mehr als lustra darüber verfließen) uns zu melden, wie wir leben, quomodo valemus.

Seit acht Jahren, da ich das Schuljoch abwarf, lebe ich noch immer als Volkslehrer einer Bauerngemeinde auf meinem Altrahdenschen Pastorate, und ich nähre mich und meine ehrliche Familie frugalement und genügsam von meinem Acker:

Rusticus abnormis sapiens crassaque Minerva.

Mit meiner guten und würdigen Gattin führe ich eine glückliche liebreiche Ehe und freue mich, daß meine vier wohlgebildeten, gutartigen, folgsamen Kinder mir die beinahe untrügliche Erwartung gewähren, daß sie einst brave, rechtschaffene Menschen sein werden. Es wird mir nicht sauer, bei meinen wirklich schweren Amtsgeschäften doch ganz allein ihr Lehrer zu sein, und dieses Erziehungsgeschäft unserer lieben Kinder ersetzt mir und meiner Gattin hier in der Einsamkeit den Mangel des gesellschaftlichen Umganges. Dieses ist nun die Skizze meines immer einförmigen Lebens.