Deutscher Meister - Stephanie Bart - E-Book

Deutscher Meister E-Book

Stephanie Bart

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Beschreibung

Berlin, 9. Juni 1933: Johann Rukelie Trollmann ist ein talentierter, unkonventionell kämpfender Boxer und charismatischer Publikumsliebling. Er steht im Kampf um die Deutsche Meisterschaft. Seinem Gegner ist er überlegen. Doch Trollmann ist Sinto. SA steht am Ring. Funktionäre und Presse tun alles, um seine Karriere zu zerstören und ihn endgültig auf die Bretter zu schicken. Stephanie Barts Roman "Deutscher Meister" führt ins Innerste der nationalsozialistischen Machtentfaltung und an ihre Grenzen.

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Stephanie Bart

Deutscher Meister

Roman

Hoffmann und Campe

»He who hits and runs away, lives to fight another day.«

Willie »Will o' the Wisp« Pep

Die Flanke

»Was ziehstn morgen zu Trollmann an?«

»Das Weiße mit den Kirschen drauf. Und du?«

»Die neuen Pumps – und sonst nüscht!«

Wie ein Gummiball treppab federte Trollmann die drei Stufen zum Ring hinauf. Legte im Sprung seine Rechte auf die Halterung des obersten Seils. Berührte noch einmal mit beiden Füßen den Boden. Das Publikum setzte ein, Trollmanns berühmte Flanke über das brusthohe Seil in den Ring mit einem jubelnden »Juhuu« zu begleiten. Noch lauter als sonst schrien die beiden Verkäuferinnen der Bäckerei Brätzke, Henriette Kurzbein im Weißen mit den Kirschen drauf und Maria Plaschnikow, die nun doch etwas mehr am Leibe trug als ihre neuen Pumps. Trollmann schien der Schwerkraft eine Nase zu drehen. Ging, als er noch einmal mit beiden Füßen den Boden berührte, leicht in die Knie. Ließ den Impuls mit einem lockeren Einatmen aus der Hüfte kommen. Schnellte nach oben. Warf die Beine hinauf, das rechte vorweg, das linke hinterher. Schwang gegenläufig, wie ein Vogel den Flügel, seinen linken Arm. Platzierte den Körperschwerpunkt genau über der aufgestützten Hand. Schwebte auf das kreischende »Huu« des Publikums fast waagrecht in der Luft über dem Seil. Sah in die Überdachung des Freiluftrings und sah vor seinem inneren Auge den makellosen, gewittergereinigten Juniabendhimmel. War kinderleicht und fühlte sich getragen von Tausenden hochgeworfener Arme, die Schweißflecken auf Herrenhemden und nackte Damenachseln freilegten und Brüste sich heben ließen. Wurde begrüßt durch ein wogendes Meer von Victory-Vs und geballten Fäusten, die sich nun öffneten, um zu klatschen wie wild.

Der kann den Zirkus nicht lassen, und: Die sind alle für ihn, und: Elastisch isser ja, ging es Trollmanns Gegner Adolf Witt durch den Kopf. Witt war zuerst in den Ring gerufen worden. Seine Sekundanten hatten sich vorsorglich abgewandt. Der Ringsprecher lächelte böse. In den Augen des Ringrichters stritten Neid und Bewunderung um die Oberhand. Am Fuße des Rings gaben sich die Punktrichter Mühe, durch den fliegenden Trollmann hindurchzusehen, und blieben doch mit den Augen an seinem Körper hängen. Ärger und Wut ergriffen den Ersten Vorsitzenden des Verbands Deutscher Faustkämpfer: Affentheater! Unwürdig!! Am meisten schlauchte ihn, dass der Zigeuner das ganze Publikum für sich hatte. Warts nur ab. Nun war zwar amtlicherseits die Rassenfrage noch nicht zweifelsfrei geklärt, es konnte mithin noch nicht ausgeschlossen werden, dass Zigeuner nicht doch auch Arier waren, aber für solche wissenschaftlichen Feinsinnigkeiten fehlte dem Ersten Vorsitzenden nicht nur das Interesse, sondern auch die Zeit. Er glaubte, was er sehen wollte: Der Zigeuner war ja von der Farbe her so gut wie eins mit dem Neger. Wortlos und in seltener Eintracht tauschte der Erste Vorsitzende des Verbands Deutscher Faustkämpfer mit dem Präsidenten der Boxsportbehörde Deutschlands einen Blick: Unter aller Kanone, dieser Trollmann. Damit standen die beiden Herren allerdings auf einsamem Posten. Ein paar SA-Leute mussten sich von ihren Kameraden die Ellenbogen in die Rippen jagen lassen, weil sie nun an der falschen Stelle klatschten. SA-Mann Willi Radzuweit rempelte zurück: »Mach du mir erst mal so ne Flanke vor, dann kannste mir in Zukunft auch sagen, bei wem ich klatschen soll und bei wem nich!«

Trollmann indessen vollendete seine Flanke. Während des Aufwärtsschwungs hatte sich der mit Absicht nur lose ineinandergelegte Gürtel seines dunkelroten, paisleygemusterten Mantels aus reiner Seide gelöst. Der weichfließende Stoff wehte über das Hindernis hinweg in den Ring hinein wie die Fahne einer siegenden Revolution. Trollmann, nichts weiter als seinem eigenen Schwunge folgend, überflog das oberste Seil. Drehte auf dem Zenit der Flanke die Hüfte in den Ring. Ließ auf dem Übergang des schreienden Publikums vom »Ju« zum »huu« den Körperschwerpunkt hinübergleiten. Man hätte nicht sagen können, ob das Schreien den Körper steuerte oder ihm folgte: Vereinigt waren die Menschen, hatten Bäckereien, SA und Zigeunersein, hatten die Welt verlassen, um in der Gegenwart des Augenblicks aufzugehen. Trollmann gab sich der Bewegung hin, ließ jenseits der Seile ausatmend die Beine herab, setzte mit beiden Füßen auf und hatte damit den Ring betreten. Hinter ihm glitt der Saum des Mantels vom Seil. Es war der Kampf um den Titel des Deutschen Meisters im Halbschwergewicht am 9. Juni 1933 in der Bockbrauerei, Fidicinstraße, Berlin-Kreuzberg.

Prolog

Acht Jahre zuvor hatte sich auf dem Obersalzberg in einer kleinen, idyllisch gelegenen und einem Gasthof zugehörigen Holzhütte der künftige Führer den zweiten Teil seines Werks Mein Kampf abgerungen. Es war Sommer, die Festungshaft lag ein halbes Jahr zurück. Bei und mit ihm war einer seiner Anhänger und bediente die Schreibmaschine. Unbeeindruckt von der Enge des Raumes und der niedrigen Decke stand der künftige Führer gelegentlich auf, um zwei ausholende Schritte hin und zwei her zu gehen und sich dann wieder an den Tisch zu setzen. Er fand Gefallen am Diktieren. Das Diktieren befeuerte ihn derart, dass er nunmehr zu jener Unerbittlichkeit fand, an der er es früher bei der Malerei so schmerzlich hatte fehlen lassen. Trotz des geöffneten Fensters war es heiß in der Hütte. Das Holz strahlte Wärme ab wie ein Ofen, die Männer schwitzten, der Anhänger auch vor Anstrengung, der künftige Führer auch vor Erregung. Es war die alles überwältigende Größe seiner inneren Vision, die in Worte gefasst werden musste, und sie war so überwältigend, dass die beiden Männer nicht bemerkten, wie die Milch in den halb leergetrunkenen Kaffeetassen gekippt war und nun durch die abgestandenen Bitterstoffe des Kaffees hindurch säuerlich roch. Die überwältigende Größe der inneren Vision des künftigen Führers war größer als die Sprache. Die Sprache war zu klein für die Größe der Vision.

Immer wieder hob der künftige Führer zu Sätzen an und konnte sie, fortgetragen von der Vision, nicht korrekt beenden. Immer wieder hatte der Anhänger Mühe zu folgen. Der künftige Führer arbeitete schon jetzt, hier auf dem Papier, an der Verwirklichung der Vision und ging sie unerbittlich von allen Seiten und an allen Ecken an, er kam durch ein Detail auf ein anderes Thema, zielte meist auf das Große und Ganze, verlor den Faden, türmte syntaktische Verschachtelungen aufeinander und war bei alledem gedanklich etwas sprunghaft. Alles war, wie es war, falsch, es galt nichts weniger, als einen neuen Menschen zu schaffen, dessen radikale Neuheit in dem vorvergangenen Alten wurzeln sollte. Man musste ganz von vorne anfangen. Bei der Erziehung! Und hier kam der künftige Führer aufs Boxen.

»Ich glaube, wir sollten eine Pause machen«, sagte der Anhänger und erhob sich sogleich. Sie taten einen Schritt vor die Tür. Sie schwiegen. Doch im Kopf des künftigen Führers rasten die Gedanken. Jawoll! Das Boxen! Boxen statt weglaufen und Schutzmann rufen! Er ballte die Faust in der Tasche. Dolchstoß, Versailles, degenerierte Politiker-Bonzen-Intellektuellen-Scheißer mit feinen Anstandslehren! Zwei Strähnen fielen ihm vom Seitenscheitel in die schweißbedeckte Stirn. Er kniff die Augen zusammen und sah über die Berggipfel hinweg. Kiel, München, Berlin, eine einzige Gesindel-Revolution! Staatliche Führungsschwäche, weil nur geistig erzogen! Und jetzt riss der künftige Führer die geballte Faust aus der Tasche und drohte den Gipfeln: Und eben daher wehrlos gegen das Brecheisen! Der Anhänger erschrak. Das Wort Brecheisen gefiel dem künftigen Führer. Das Brecheisen musste ins Buch. Das Buch musste ein geistiges Brecheisen werden. Gleich würde er es diktieren. Die gesamte männliche Jugend des Reichs musste Boxen lernen. Daran führte kein Weg vorbei.

»Weitermachen!« Sie gingen wieder hinein. Der Anhänger setzte sich an die Schreibmaschine. Der künftige Führer blieb stehen, stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich leicht vor und fixierte die Schreibmaschine. Er nagelte die Schreibmaschine mit seinen Augen an der Tischplatte fest und begann zu diktieren, doch unter diesem Blick vertippte sich der Anhänger noch öfter als sonst. Später stand der Wirt des Gasthofs mit frischem Kaffee vor der Tür und klopfte, worauf der Anhänger zur Tür hechtete, den Finger auf die Lippen legte und den Wirt fortwedelte. Nach etlichen Stunden geistigen Kampfes war dies das Ergebnis:

Es ist auch nicht unedler, wenn ein Angegriffener sich seines Angreifers mit der Faust erwehrt, statt davonzulaufen und nach einem Schutzmann zu schreien. Würde unsere gesamte geistige Oberschicht einst nicht so ausschließlich in vornehmen Anstandslehren erzogen worden sein, hätte sie an Stelle dessen durchgehends Boxen gelernt, so wäre eine deutsche Revolution von Zuhältern, Deserteuren und ähnlichem Gesindel niemals möglich gewesen. Allein unsere gesamte geistige Führung war nur mehr »geistig« erzogen worden und mußte damit in dem Augenblick wehrlos sein, in dem von der gegnerischen Seite statt geistiger Waffen eben das Brecheisen in Aktion trat.

Es war Mitternacht geworden. Die Männer gingen in die Betten und legten die Hände auf die Decken. Der Anhänger fiel vor Erschöpfung sofort in einen unruhigen Schlaf, während der künftige Führer noch lange wach lag. Er sah vor seinem inneren Auge die gesamte männliche Jugend des Reiches sich schlagen. Erhobene Fäuste auf allen Schulhöfen, jeder Bub ein Brecheisen, ah, daraus würde einst eine ewig wehrhafte Generation geworden sein. Diese Vorstellung wühlte ihn so sehr auf, dass er erst in den Schlaf fand, als es wieder hell zu werden begann.

So arbeiteten sie sich Tag für Tag ab. Viele Manuskriptseiten später kam der künftige Führer noch einmal aufs Boxen zu sprechen. Gelegentliche Abschweifungen nicht gerechnet, war er inzwischen damit befasst, über die SA zu diktieren. Hierbei war die Verbindung zum Boxen ohnehin gegeben, sodass der künftige Führer es einflechten konnte, ohne erst den Gipfeln drohen zu müssen.

Boxen ist mir immer wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe Schießausbildung. Die körperliche Ertüchtigung soll dem einzelnen SA-Mann die Überzeugung seiner Überlegenheit einimpfen und ihm jene Zuversicht geben, die ewig nur im Bewußtsein der eigenen Kraft liegt; zudem soll sie ihm jene sportlichen Fertigkeiten beibringen, die zur Verteidigung der Bewegung als Waffe dienen.

An dieser Stelle hatte der Anhänger noch vorschlagen wollen, die »Waffe« vorzuziehen. Anstatt: »jene sportlichen Fertigkeiten, die zur Verteidigung der Bewegung als Waffe dienen«, solle man besser sagen: »jene sportlichen Fertigkeiten, die als Waffe zur Verteidigung der Bewegung dienen«. Er hatte es dann aber unterlassen, weil es von ungeheurer Wichtigkeit war, den besonderen Duktus des künftigen Führers zu wahren.

Jedoch war es dem geistigen Brecheisen mit dem besonderen Führerduktus nicht beschieden, seine Bestimmung zu erfüllen. Es kam nicht recht zum Brechen, es rannte offene Türen ein, insbesondere bei den Institutionen des deutschen Berufsboxens. Hier durfte man sich in der Tat für auserwählt halten. Außer Boxen und nebenbei Jiu-Jitsu hatte der Führer keine einzige andere Sportart auch nur erwähnt. Der Führer favorisiert das Boxen!, frohlockte es in den Büros und am Stammtisch des Verbands und der Boxsportbehörde. Am Schiffbauerdamm, in der Redaktionsstube des Presseorgans Box-Sport, sah man im Boxen ab sofort die Kerndisziplin der körperlichen Erziehung im staatspolitischen Sinne. Und als aus dem künftigen Führer der Führer wurde, begann der Erste Vorsitzende des Verbands Deutscher Faustkämpfer zuzuschlagen.

1

Der Erste Vorsitzende des Verbands Deutscher Faustkämpfer war seinem bürgerlichen Beruf nach Fleischer und Kaufmann. Er hatte eine kleine Metzgerei in einer ruhigen Seitenstraße besessen, die prompt vom internationalen Weltjudentum mit seinen undurchsichtigen Machenschaften in den Ruin getrieben worden war. Glücklicherweise hatte der Erste Vorsitzende in eben dieser Zeit erfahren, dass der Führer der Bewegung Vegetarier sei. Dies hatte ihn bewogen, den Untergang seiner Metzgerei in einem völlig neuen Licht zu sehen, er wurde ihm nunmehr zur folgerichtigen Fügung des Schicksals im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung. Zu Hause schob er beim Abendessen die Wurstplatte weg und erklärte Frau und Sohn, dass und warum ab sofort kein Fleisch mehr gegessen werden dürfe. Die Frau verbarg ihren Ärger darüber, Fleisch in Zukunft nur noch heimlich essen zu können, hinter einem einsichtig zustimmenden Nicken. Ganz im Gegensatz zu ihrem schmächtigen Mann aß sie häufig und viel und hatte überdies ihre Neigung zur Fettleibigkeit an den Sohn vererbt. Beim Ersten Vorsitzenden aber schlug die vegetarische Diät im Laufe der Zeit erfolgreich an. Alles Metzgerhafte fiel äußerlich von ihm ab. Der Geruch rohen Fleisches, von dem immer eine Spur an ihm gehaftet hatte, verflüchtigte sich. Seine Gesichtsfarbe verlor den rötlichen Schimmer, er sah jetzt vornehmer, ernsthafter, ja, er sah achtunggebietender aus, wie er da in der Behrenstraße, so ungefähr zwischen Reichstag und Schloss, im Büro des Verbandes an seinem Schreibtisch saß.

Es war Montag, der 27. März 1933, und auf dem Schreibtisch lagen wegen der außergewöhnlichen Säuberungsaktivitäten weit mehr Papiere als sonst. Er hatte die Mitgliederliste vor sich, hielt in der Rechten den Bleistift, und die Fingerkuppen der Linken lagen locker gespreizt auf dem Lineal. Er führte es langsam von oben nach unten, fuhr damit über Mitglieder hinweg, hielt es unter manchen Mitgliedern an, schob es wieder ein klein wenig nach oben und strich dann mit einer rechten Geraden am Lineal entlang den Namen durch. Der Erste Vorsitzende machte die Juden weg. Die Vorbereitungen waren ihm leicht von der Hand gegangen. Er hatte einen Säuberungsplan von zehn Punkten aus dem Ärmel geschüttelt und ein paar informelle Gespräche mit Vorstandsmitgliedern geführt, mehr nicht. Nun musste sein Plan bloß noch auf der Vorstandssitzung in der nächsten Woche beschlossen werden, worauf dann die Satzungsänderung folgte. Der Vorstandsbeschluss war durch die informellen Gespräche gesichert, und sowieso war der Vorstand nationalsozialistisch auf Linie. Es gab nur einen einzigen Juden darin, Schatzmeister Herzfelde, der allein nichts ausrichten konnte und natürlich auf der Mitgliederliste schon durchgestrichen war. Nun half es dem Herzfelde auch nichts mehr, dass er damals die 800 Mark, die der Erste Vorsitzende aus der Verbandskasse entnommen hatte, auf der Sitzung so darzustellen wusste, dass der Name des Ersten Vorsitzenden nicht damit in Verbindung gebracht worden war. Damals hatte der Erste Vorsitzende den Herzfelde noch bitten müssen. Ab jetzt musste er nicht mehr bitten. Was für einen Auftrieb der Führer mitten in der Notzeit brachte! Eben noch lag das ganze Berufsboxen niedergeschlagen am Boden, mäßige Kämpfe, bei denen die Veranstalter Verluste machten, haufenweise ausstehende Mitgliedsbeiträge, zerstrittene Funktionäre, übles Gerede, und nichts ging voran. Aber jetzt kam der Führer, und mit der Säuberung stand auf einmal der ganze Vorstand zusammen.

Der Erste Vorsitzende hielt das Lineal in seinem Lauf unter »Burda, Josef, Veranstalter« an. Der hatte ihn vor Gericht blamiert, in den Jordan mit ihm, er strich ihn durch. Und weiter glitt das Lineal, »Meergrün, Darwin, Boxer«, ein kurzes, linealgeführtes Schaben des Bleistifts, und Meergrün als Boxer war Geschichte. Der Erste Vorsitzende kam in Fahrt. Es beflügelte ihn, das Ruder in die Hand zu nehmen. Es beflügelte ihn ganz besonders, den Vorstandsbeschluss gar nicht erst abzuwarten, sondern vorzupreschen und Tatsachen zu schaffen. Als er Peter Ejk durchstrich, den Präsidenten der Boxsportbehörde, wurde ihm klar, dass er noch viel weitreichendere Tatsachen schaffen musste. Nie waren die Umstände so geeignet wie jetzt, die feinen Herren der Behörde zu entmachten. Doch er radierte die Durchstreichung Peter Ejks wieder aus. Der Jude an der Spitze musste von sich aus zurücktreten und seine Ehrenmitgliedschaft niederlegen, danach konnte er durchgestrichen werden. Und weiter ließ er das Lineal über die Namen laufen und strich die jüdischen Boxer, Manager, Trainer, Veranstalter, Technischen Leiter, Ringärzte, Ringrichter, Punktrichter, Zeitnehmer, Sprecher, Sekundanten; er strich sie alle von der Liste. Bei den Brüdern Seelig hielt er inne. »Seelig, Erich, Boxer«, »Seelig, Heinrich, Manager«. Es war ein Leichtes, die Judenbrüder durchzustreichen, aber daraus ergab sich ein Problem, das den Ersten Vorsitzenden zu einem noch unangenehmeren Problem führte, nämlich zu dem Boxer Trollmann und seinem Manager Zirzow. Der Erste Vorsitzende legte den Bleistift hin und stand auf. Es war doch alles nicht so einfach.

In vier Tagen schon, am 31. März, sollte Seelig seinen Titel im Mittelgewicht verteidigen, der Kampfabend in der Neuen Welt an der Hasenheide war längst unter Dach und Fach und ausgezeichnet beworben. Der Erste Vorsitzende strich die Hosennähte glatt, rückte am Krawattenknoten und trat ans Fenster. Das Fenster ging nach hinten auf die Lindenpassage hinaus, und er sah hinüber auf das Gebäude am Ende der Passage, durch das ein Durchgang auf den Prachtboulevard Unter den Linden führte. In diesem Gebäude hatten der Verband und die Behörde einen Sitzungssaal. Zwar sah man vom Sitzungssaal nicht auf den Boulevard hinaus, aber es war erhebend, darin zu sitzen, denn er war mit einer exquisiten Holztäfelung und einem aufwendig gemusterten Parkettboden ausgestattet, und an der Kopfseite waren mit gekreuzten Schäften die mannshohen Deutschland- und Hakenkreuzfahnen angebracht. Wenn der Erste Vorsitzende diesen Seelig jetzt noch einmal antreten ließe, wäre es aus mit der Säuberung und mit ihm selbst. Er hatte zu viele informelle Gespräche geführt und überall rücksichtslosestes Durchgreifen mit sofortiger Wirkung angekündigt, auch am Stammtisch bei Mueck in angeheitertem Zustand. Er hatte, berauscht von seiner neuen Eigenmächtigkeit mit dem Führer im Rücken, den Mund sehr voll genommen. Nun war die Seelig-Titelverteidigung die Feuerprobe der Säuberungsaktion!

Der Kampf galt als Sensation. Erich Seelig war deutscher Doppelmeister, er hielt außer dem Mittelgewichts- auch noch den Halbschwergewichtstitel, und wenn er in diesem Kampf durch K.o., Verletzung oder Aufgabe unterliegen würde, verlöre er damit nicht nur den Mittelgewichts-, sondern auch den Halbschwergewichtstitel. Auch Seeligs Gegner, Seyfried, stand hoch im Kurs, man erwartete eine sportlich wertvolle, überaus harte und mitreißende Auseinandersetzung, deren Ausgang völlig offen war. Dieser Kampf war die beste Propaganda für den Boxsport überhaupt. Das Ereignis versprach, massenhaft Publikum zu ziehen. Es würde ein großer ideologischer, sportlicher und finanzieller Erfolg werden. Gerade hier durfte man nicht einknicken! Hier musste man unerschütterlich an der Säuberung festhalten, gerade hier kam es darauf an, Seelig zu streichen! Ein Ersatzboxer musste gefunden werden. Und nun fiel dem Ersten Vorsitzenden mit einem Male ein, wie schwierig es überhaupt werden würde, den ganzen Boxbetrieb bei solcherart säuberungsdezimierten Reihen aufrechtzuerhalten. Der Erste Vorsitzende fühlte sich überfordert. Er wandte sich vom Fenster ab. Heißhunger auf ein saftiges Kassler überfiel ihn. Er nahm den Marmorkuchen von der letzten Woche aus der Tasche und trank zu jedem Bissen etwas Leitungswasser. Das Publikum würde für einen Ersatzboxer aus der zweiten oder dritten Reihe kein Verständnis aufbringen, die Presse erst recht nicht, der Schaden für den Boxsport wäre katastrophal. Als Ersatz für Seelig gab es genau einen einzigen Boxer, der in Frage kam, nämlich diesen elenden Zigeuner mit seinem schwierigen Manager. Die beiden lagen dem Ersten Vorsitzenden ohnehin im Magen wie ein Sack Zement.

Der Erste Vorsitzende verschob das Problem. Er zerknüllte das Einschlagpapier des Marmorkuchens und schoss es in den Papierkorb. Dann strich er sich mit dem Handrücken über den Mund und fuhr fort, die Mitgliederliste zu säubern. Die Seeligs eliminierte er erst ganz zum Schluss und kam damit wieder auf das Problem zurück. Man durfte den Kampfabend nicht gefährden. Wenn in den drei Tagen vor dem Kampf bekannt würde, dass Seelig nicht antrat, würde das Publikum ausbleiben, und es gäbe sehr schlechte Presse. Man musste am Kampfabend selbst, vor Ort, völlig unerwartet einen brutalen Überraschungsschlag landen. Und dann, dem Ersten Vorsitzenden stieß der Marmorkuchen auf, dann musste man ihnen Trollmann präsentieren, das Zuckerbrot zur Peitsche, damit sich nicht etwa Feindseligkeiten gegen die Säuberung einstellten. Darauf kam es an. Er packte seine Sachen und ging nach Hause.

Er ging zu Fuß. Er müsste mehr Haltung haben, die Schultern hingen leicht nach vorn, der Brustkorb wirkte stets ein wenig eingefallen. Unter den Linden gelang es ihm mit einiger Anstrengung noch, sich zu zerstreuen mit den Automobilen, den Auslagen der Bankhäuser und Konditoreien und mit den Menschen, die ihm entgegenkamen, aber schon auf dem Pariser Platz dachte er wieder an das Problem. Dieser Zirzow! Dem Ersten Vorsitzenden graute davor, mit dem kleinen, beweglichen Geschäftsmann verhandeln zu müssen, man kriegte ihn nicht zu fassen. Zwar arbeitete Zirzow mit Schwung und Engagement an der nationalen Sache mit, aber er kam nicht aus der Bewegung, und wenn er »Heil Hitler« sagte, klang es in den Ohren des Ersten Vorsitzenden immer etwas unernst. Er ging neben der Charlottenburger Chaussee her durch den Tiergarten und bog in die Bellevueallee ein. Kurz vor dem Schloss setzte er sich auf eine Bank. Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Eine Hausangestellte schob einen Kinderwagen vor sich her und lächelte in die Bäume, zwei SA-Männer marschierten vorbei. Wenn er Trollmann nicht bekam, ging die Sache nach hinten los. Wenn er ihn haben wollte, müsste er jetzt sofort mit Zirzow sprechen, je früher, je besser. Damit aber wäre der Überraschungsschlag ausgeschlossen, Zirzow kannte wirklich jeden in der Branche.

Anderntags saßen Zirzow und Trollmann in einem Lokal in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Trollmann aß Buletten, Zirzow Bockwurst. Als sie aufgegessen hatten, plauderte Zirzow aus dem Verbandsleben und sagte: »Schau mal, wir können uns diese Säuberungsaktion zunutze machen. Sie brauchen dich am Freitag als Ersatz für Seelig, dafür kann ich den halbschweren Titelkampf verlangen.«

Trollmann warf verärgert die Arme in die Luft. Was das wieder solle! Jeder wisse, dass er an der Reihe sei für den Titel, sogar seine Mutter wisse es, es stehe in der Zeitung seit zweieinhalb Jahren. Und als nachweislich ordentlicher Reichsdeutscher wolle er seinen Titelkampf auf ordentlichem Wege kriegen, vorneher und nicht hintenrum! Zu solchen Sachen habe er überhaupt keine Lust, der Titel könne ihm gestohlen bleiben, er könne das Wort Titel nicht mehr hören. Solle der Erste Vorsitzende doch selber für Seelig in den Ring steigen.

Zirzow musste lachen. Er bestellte zwei Tassen Kaffee. Obgleich Trollmann noch nie einen Ad-hoc-Ersatz-Einsatz abgelehnt hatte, reagierte Zirzow auf Trollmanns Verärgerung gefasst. Er fand, dass Trollmann vollkommen recht hatte, sich das Rechthaben aber nicht erlauben konnte, weil er ein Zigeuner war. Zirzow zog es vor, sich an den objektiven Gegebenheiten zu orientieren und daraus das Beste zu machen. Mit einem begütigenden Lächeln sagte er, dass es nicht zu ändern, vor allem aber eine Chance sei. Die Kellnerin brachte den Kaffee.

2

Vor der Bäckerei Brätzke am Marheinekeplatz in Kreuzberg war eines der vielen Reklameplakate für die Seelig-Titelverteidigung angebracht. Am Mittwochmittag, als gerade keine Kundschaft im Laden war, kamen Henriette Kurzbein und Maria Plaschnikow darauf zu sprechen. Da gingen sie aber nicht hin. Ohne Trollmann im Programm gabs doch nichts oder nur ganz selten mal was zu lachen. Überhaupt konnten sie sich an dem nicht sattsehen. Anfangs hatten sie unablässig darüber geredet, wie gut und gerade er gewachsen war, inzwischen gingen sie ins Detail. Bei seinem letzten Berliner Kampf war Kurzbein während der Urteilsverkündung nach vorne an die Ringseite gegangen, um ihn ganz aus der Nähe zu betrachten.

Nun fing sie wieder davon an: »Nächstes Mal kommste mit. Augenbrauen hat der!«, und seufzte: »Ich sage dir, die sind … die sind gewölbt wies Himmelszelt, wennde am Wannsee sitzt und der Tag untergeht.«

Plaschnikow: »Mensch, Jette, nu bleib mal aufm Teppich.«

Kurzbein, augenrollend: »Ist doch wahr!«

In diesem Augenblick betrat ein älterer Herr das Geschäft. Er trug Melone, hatte den aktuellen Box-Sport sowie drei Tageszeitungen unter den Arm geklemmt und sich eben ein Billett für die Seelig-Titelverteidigung gekauft. Es war der Halbengländer Johnny Bishop, der, vollkommen akzentfrei auch das deutsche R aussprechend, drei Schrippen verlangte, bezahlte und ging.

Derweil wartete Ernst Zirzow stündlich auf den Anruf des Ersten Vorsitzenden. Es lag auf der Hand, dass er Trollmann brauchte. Zirzow managte ihn seit einem halben Jahr. Trollmann hatte sich schon seit Herbst 1930 um den Titel beworben, war aber stets hingehalten und abgewiesen worden. Nicht nur, weil er Sinto war, sondern auch, weil er erst den falschen und dann gar keinen Manager gehabt hatte. Zirzow aber verfügte über die richtigen Verbindungen, und so hatte Trollmann im Dezember des vorigen Jahres mit Adolf Witt im Ausscheidungskampf um den Titel gestanden. Jedoch erwiesen sich Zirzows Verbindungen als nicht weitreichend genug, denn das Kampfgericht hatte ein Unentschieden verkündet. Publikum und Fachkollegen waren empört. Sogar der Chefredakteur des Box-Sport, der sich seit Trollmanns erstem Profikampf immer und immer wieder darüber beschwerte, dass Trollmann ein Zigeuner war, sogar der Chefredakteur hatte schriftlich und mündlich verkündet, dass Trollmann diesen Kampf gewonnen habe. In der Wiederholung unterlag er, dann kamen die Nazis an die Macht, und eigentlich hätte er jetzt einpacken und Schluss machen können. Aber nun brauchten sie ihn, Ehrensache, dass Zirzow diese Gelegenheit wahrnahm. Am Tag des Seelig-Kampfes, am Freitag, saß er in Pyjama und reichverziertem Morgenmantel in seinem Büro, das heißt, er saß in einem der fünfeinhalb Zimmer seiner Wohnung in der Charlottenburger Holtzendorffstraße, gleich beim Amtsgericht. Er war früh aufgestanden, hatte eben gefrühstückt, die Tasse Tee mit herübergenommen und die Zeitung auf dem Schreibtisch aufgeschlagen. Der Apparat klingelte. Zirzow ließ ihn viermal schnurren, lächelte ihn an, und dann hob er ab und flötete »Zirzow, Heilhitler« in die Muschel.

Dagegen hatte sich der Erste Vorsitzende einen jovialen Tonfall vorgenommen: »Heil Hitler, Zirzow! Hören Sie, ich habe eine kolossale Gelegenheit für Ihren Trollmann.«

Zirzow wollte von nichts eine Ahnung haben und verfiel, als er erfuhr, worum es ging, aus dem Stand in tiefstes Bedauern: »Oh, das tut mir aber leid! Das halte ich beinahe für ausgeschlossen, Trollmann ist vollkommen untrainiert und will eine Disqualifikation wegen untrainierten Antretens bestimmt nicht riskieren. Und überhaupt, wir haben gerade erst gestern beschlossen, dass wir von Ad-hoc-Ersatz-Einsätzen Abstand nehmen wollen. Trollmann war in den letzten 15 Monaten mit 23 Kämpfen mehr beschäftigt, als vielleicht gut für ihn war. Aber das muss ich Ihnen ja nicht erklären. Sie werden verstehen, dass das reicht. Sie werden verstehen, dass ich ihn nicht ausgerechnet jetzt, wo er reif für den Titel ist, mit Ad-hoc-Ersatz-Einsätzen verheizen will.«

Der Erste Vorsitzende garantierte sofort, dass Trollmann nicht wegen untrainierten Antretens disqualifiziert werde, aber dann wusste er nicht weiter. Unentwegt hatte er sich in den vergangenen Tagen gefragt, was er sagen solle, falls Zirzow ablehnte. Es war ihm nichts eingefallen, es würde sich aus der Situation heraus ergeben müssen. In seiner Verzweiflung wies er Zirzow auf den immensen Schaden hin, der dem Boxbetrieb insgesamt und damit auch seinen, Zirzows, Geschäften unweigerlich drohe, wenn Trollmann heute Abend nicht antreten würde. Darauf Zirzow mit größter Gelassenheit: »Also, ich kann geschäftlich nicht klagen, aber wenn Trollmann den nächsten Titelkampf im Halbschwergewicht bekommt und wir ihn veranstalten, würde ich jetzt sofort alles dransetzen, ihn für heute Abend zu überreden.« Dem Ersten Vorsitzenden brach der kalte Schweiß aus, er schnappte nach Luft.

Am Abend trat Trollmann untrainiert an Seeligs Stelle an. Die Neue Welt war brechend voll. Der brutale Überraschungsschlag des Ersten Vorsitzenden wurde geschmälert dadurch, dass es irgendwo eine undichte Stelle gegeben haben musste. Bis zum Hauptkampf wurde überall getuschelt und gemutmaßt, der Kampf sei verboten. Vorne am Ring hüllten sich Verband und Behörde in Schweigen und heizten damit die Spekulationen an. Die Vorkämpfe fanden kaum Beachtung. Am Ende der Pause schickte der Erste Vorsitzende mit butterweichen Knien den exakt instruierten Sprecher in den Ring und vier Männer in Seeligs Kabine. Seelig stand in der Mitte des Raums und ließ bei rhythmischer Atmung seine Schultern gegenläufig kreisen. Die Männer stellten sich nicht vor, sondern wiesen mit einer kurzen Kopfbewegung zur Tür die anderen Boxer samt ihren Betreuern hinaus. Alle gingen ohne ein Wort. Einer der vier Männer stellte sich an die Tür, die anderen drei umringten Seelig. Sie sagten ihm, dass er ein ausgezeichneter Boxer sei, und lobten ihn für seinen Punch. Sie klopften ihm auf die Schulter. Derjenige, der vor ihm stand, ging um ihn herum und blieb hinter ihm stehen. Die zwei Männer links und rechts von ihm traten zurück. Der eine wandte sich ab und stocherte in Seeligs Tasche herum, der andere zündete sich eine Zigarette an, trat wieder an Seelig heran, und zwar etwas zu dicht, und sagte: »Seelig, pass auf, entweder du verschwindest, oder wir lassen deine Familie verschwinden.«

Währenddessen las im Ring der Sprecher von einem Zettel ab: Im Namen des Vorstands des Verbands Deutscher Faustkämpfer und der Boxsportbehörde Deutschlands seien jüdische Boxer wegen der ausländischen Gräuelpropaganda von der Liste gestrichen, der Kampf sei verboten. Heil Hitler. Ein Pfeifkonzert mit Buhrufen brach los. Als Ersatz trete Trollmann an. Pfiffe und Buhrufe ließen nach. Als mit dem ersten Gong Trollmann und Seyfried aufeinander losgingen, verließen Erich und Heinrich Seelig das Gebäude durch den Künstler- und Personaleingang, über dem an der Außenwand eine schwache Lampe kaltgelbes Licht abgab. Hier erwartete sie der Manager Katter und nannte ihnen eine Summe, für die er ihre Boxschule zu kaufen bereit sei. Drinnen im Ring kämpfte der unvorbereitete Trollmann wacker und erreichte am Ende ein Unentschieden, wobei aber der größte Teil des Publikums und einige Fachleute Trollmann als Sieger sahen. In der dritten Runde deckte er Seyfried aus halber Distanz mit einer schier endlosen Serie von Schlägen ein und fand dabei noch die Zeit, ihm zwischen zwei Schlägen die Zunge rauszustrecken und Grimassen zu schneiden. Seyfried wankte, der Saal schrie, und der Erste Vorsitzende drückte den Fingernagel seines Daumens in den Zeigefinger, bis er den Schmerz nicht mehr spürte. Tags drauf, Punkt zehn Uhr morgens, stand SA vor allen jüdischen Geschäften, und in einer Tageszeitung erschien im Sportteil folgender Aprilscherz: Strafstoß beim Boxen eingeführt – In Zukunft müssen sich die unsauber kämpfenden Boxer vorsehen, denn nach jedem Foul kann jetzt der Ringrichter – wie bei Verstößen im Fußballspiel – Strafstöße verhängen, bei denen der Sünder stillhalten muß.

3

Nur drei Tage später tagte der Vorstand des Verbands im gediegenen Sitzungssaal Unter den Linden. Der Säuberungsplan des Ersten Vorsitzenden wurde reibungslos in allen zehn Punkten zuerst begrüßt und dann beschlossen. Kaum war der Beschluss gefasst, meldete sich, wie im informellen Vorgespräch verabredet, der Generalsekretär zu Wort. Da er nur selten etwas sagte, wurde es still. Er wies darauf hin, dass schon übermorgen der Sportausschuss Sitzung, aber jetzt keinen Obmann mehr habe, weil Dr. Gottlieb ja im Zuge der Säuberung ausgeschieden sei. An dieser Stelle machte er eine kleine Kunstpause, schaute kurz mit seinen grauen Augen durch die Versammlung, räusperte sich und sprach den Ersten Vorsitzenden direkt an: »Ich bin sicher, dass ich im Sinne des gesamten Vorstands spreche, wenn ich Sie geradeheraus bitte, hier einzuspringen und auszuhelfen, indem Sie dieses Amt, wenigstens vorläufig, auf sich nehmen.«

Applaus, Applaus. Nur Schriftführer Walter Funke, der auch Trollmanns mehrfachen Gegner Adolf Witt managte und trainierte, konnte nicht klatschen. Er hatte nämlich einen Hustenanfall und musste sich die Hände vor den Mund halten.

Es war die heldenhafte Streichung Seeligs von dem spektakulären Kampfabend, die dem Ersten Vorsitzenden Bewunderung und Autorität verschafft hatte. Ohne Zweifel würde sie einst in die Geschichtsbücher eingehen als das große Fanal zum Judenboykott vom 1. April! Im Handstreich hatte der Erste Vorsitzende den Verband zur Speerspitze der nationalen Revolution gemacht! Wer solche Führungsstärke zeigte, der sollte Ämter übernehmen, jetzt also den Sportausschuss.

Der Sportausschuss bestand nur aus drei Mann und tagte daher nicht im Sitzungssaal Unter den Linden, sondern in seinem Büro in der Behrenstraße. Das Zimmer des Sportausschusses sah auch nicht besser aus als sein eigenes. In den vergilbten Wänden hing noch die ganze Systemzeit fest. Im Grunde müssten die Büroräume frisch gestrichen werden, es müsste dem Auftrieb, den der Führer brachte, auch äußerlich Ausdruck verliehen werden. In diesem Büro also saß der Erste Vorsitzende als Obmann den zwei Beisitzern Walter Englert und Hans Breitensträter vor, er saß an der kurzen Seite des Tischs, Breitensträter und Englert links und rechts von ihm.

Von Hans Breitensträter hatte der Erste Vorsitzende in seinem Büro eine Fotografie an der Wand hängen. Die Aufnahme aus dem Jahr 1925 war unmittelbar nach Breitensträters Kampf gegen Paul Samson Körner um den Titel des Deutschen Meisters im Schwergewicht gemacht worden. Sie zeigte Breitensträter schweißüberströmt, strahlend, mit einer Schwellung unter dem linken Auge, dem Siegerkranz über der Schulter und emporgereckter Faust. Der Erste Vorsitzende mochte das Bild vom siegreichen blonden Hans. Seit er nicht mehr boxte, hatte sich Breitensträter als Manager und Trainer gut und aufrecht gehalten, außer dass er noch nicht der Bewegung beigetreten war. Der lange Walter Englert, Unternehmer vom makellosen Scheitel bis zur exquisiten Sohle, war der Kompagnon vom kurzen Zirzow. Sie veranstalteten gemeinsam Boxkämpfe, im Winter in den Spichernsälen und im Sommer im Garten der Bockbrauerei.

Die Sitzung verlief etwas zäh. Es dauerte und dauerte, bis die allgemeinen Bekanntmachungen und Ermahnungen abgefasst, die auslaufenden Lizenzen notiert und die neu beantragten erteilt waren, bis sie die Managerverträge, Sperrfristen, Bestrafungen, Auslandsstartgenehmigungen und aktuellen Kampftage Punkt für Punkt abgearbeitet hatten. Es dauerte auch deshalb, weil sich der Erste Vorsitzende davor fürchtete, Trollmann aufs Tapet zu bringen. Erst gestern hatte er sich in der Büroküche vom Generalsekretär fragen lassen müssen, wofür er eigentlich die Juden absäge, wenn er einen Zigeuner an den Titel lasse.

Als es sich nicht mehr vermeiden ließ und man endlich beim Tagesordnungspunkt Meisterschaften und innerhalb dessen beim Unterpunkt Halbschwergewichtsmeisterschaft angelangt war, straffte sich der Erste Vorsitzende: »Wie die Dinge hier liegen«, erklärte er, »haben jetzt Witt und Hartkopp um den Titel zu kämpfen, und man sollte Trollmann als Ersatzmann mit Herausforderungsrecht einsetzen.« Englert und Breitensträter schluckten, und auch dem Ersten Vorsitzenden war trotz innerer Straffung nicht wohl. Eingerahmt von dem kernigen Ex-Schwergewichtler und dem genussfreudigen Veranstalter wirkte er noch vegetarisch blasser und schmaler als sonst. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, trank er sofort von seinem Mineralwasser und sah dann auf seine Papiere.

Englert betrachtete ihn dabei und dachte: Nun hältst du uns also mit dem Ersatzposten hin und mit dem Herausforderungsrecht warm. Eine ziemliche Frechheit, diesen Hartkopp vorzuziehen, der gerade von Trollmann geschlagen wurde und überhaupt in letzter Zeit nur noch verloren hat. Aber mit dem Herausforderungsrecht in der Tasche konnte man schlecht widersprechen, fraglich, ob man das für einen Zigeuner je wieder bekam. Dann kämpfte Trollmann eben nicht den nächsten, sondern erst den übernächsten Titelkampf.

Indessen kämpften in Breitensträters Boxerbrust zwei Seelen. Abgesehen von der Faxenmacherei bewunderte er Trollmanns Können, auch wenn er nie darüber sprach. Denn so, wie Trollmann boxte, hatte man zu seiner Zeit noch nicht geboxt, und gern wäre Breitensträter noch einmal ganz jung gewesen, um das zu erlernen. Allein seine Beinarbeit war phänomenal, und wie er das Rückwärtslaufen einsetzte und noch aus dem Zurückweichen heraus Wirkungstreffer setzte, war unglaublich, und niemand konnte so überzeugend wie er Schläge antäuschen und mit den Füßen fintieren. Er war eine echte Begabung, wen, wenn nicht ihn, sollte man um den Titel kämpfen lassen. Aber gerade das war nicht vorstellbar. Zigeuner und Deutscher Meister, das ging nicht zusammen, es schloss sich gegenseitig aus, und Breitensträter hätte nicht einmal sagen können, warum. Es verursachte ihm ein kleines, tiefes, stechendes Unbehagen. Und doch: So tief es auch saß und so wenig es sich verscheuchen ließ, so wenig konnte das Unbehagen aber auch der blanken Tatsache standhalten, dass Trollmann nach den Artikeln 59 bis 63 der Sportlichen Regeln einwandfrei qualifizierter Titelbewerber war. In diesem Augenblick nickte Englert, einverstanden, und Breitensträter schloss sich erleichtert an, kurzum, die drei Herren einigten sich auf den 17. April, der Kampf musste nicht ausgeschrieben werden, er war bereits im Vorfeld dem Hamburger Veranstalter Rothenburg zugesprochen worden. Englert schenkte Kaffee nach und sagte über der Tasse des Ersten Vorsitzenden: »Die ganzen Büroräume müssten mal frisch gestrichen werden, finden Sie nicht auch?«

Bei der Mittelgewichtsmeisterschaft, die ebenfalls durch die säuberungsbedingte Streichung Seeligs frei geworden war, ging es ganz schnell. Sie sollte schulbuchmäßig mit vorausgehenden Ausscheidungskämpfen aufgezogen werden. »Bewerber wollen sich melden, erledigt«, brummte Breitensträter, als Englert beiläufig ein Papier aus seinen Blättern hervorzog und es den beiden Herren hinlegte: »Das hier ist die erste Bewerbung, von Zirzow für Trollmann.« Und jetzt konnte der Erste Vorsitzende natürlich nicht zurück, und Breitensträter, geübt durch die Entscheidung über die Halbschwergewichtsmeisterschaft, sagte sofort und reinen Herzens: »Anerkannt.«

Trollmann fuhr nach Hause nach Hannover, musste im Zug fünf Autogramme geben und kaufte auf dem Weg vom Bahnhof zur elterlichen Wohnung zwei Flaschen Rotwein. Stieg in dem Haus in Ricklingen die enge, steile, ausgetretene Treppe in den ersten Stock hinauf und fand in der Küche seine Mutter und vier seiner acht Geschwister mit Anhang vor, nämlich die Schwestern Lämmchen und Kerscher und die Brüder Carlo und Benny, wovon nur Letzterer jünger, die anderen aber älter waren als er. Er schloss die Mutter in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. Es ging ihr gar nicht gut, alles wurde immer schwieriger, der Vater lag krank im Bett, das Geld wurde knapper, die allgemeine Feindseligkeit größer. Er flüsterte ihr ins Ohr, dass er eine gute Nachricht habe. Sie löste sich und sah ihn skeptisch an. Immerhin, er hatte keine Schramme im Gesicht, und die Nase war gerade. Packte sein Kinn und drehte seinen Kopf nach beiden Seiten, auch die Ohren waren heil. Dass er seine letzten Kämpfe teils gewonnen, teils nicht verloren hatte, wusste sie, was für eine gute Nachricht konnte er bringen? Er legte den Finger auf die Lippen und begrüßte erst die anderen, umarmte, küsste, hob Kerschers Jüngste hoch, schüttelte Hände. Dann kniff er Benny in die Wange, fuhr ihm durchs Haar und schlug eine linke Gerade in die Luft neben seinem Ohr, worauf Benny die Arme zur Verteidigung hochriss und er ihn seitlich in der Taille kitzeln konnte: »Morgen zeig ich dir was ganz Neues, damit schlägste jeden.« Benny boxte bei den Amateuren.

Als alle einmal dran gewesen waren, öffnete Trollmann den Wein und verkündete seine amtlich verbrieften Titelaussichten.

Carlo: »So? Amtlich? Haste das schriftlich?«

Lämmchen machte dünne Lippen: »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«

Benny: »Klar wirst es sehen, und das Kampfgericht wird durch und durch unparteiisch sein, und Rukelie wird von jetzt bis zum Kampf nix anderes mehr machen als trainieren.«

Allgemeines Gelächter. Carlo mahnte. Man müsse gerecht bleiben, es gebe auch anständige Kampfgerichte, das beweise Rukelies Kampfbilanz, Rukelie müsse sich mehr anstrengen, das beweise seine Bilanz auch, und Benny solle nicht so vorlaut sein, sondern lieber Gläser herholen, damit man einschenken und anstoßen könne. Benny holte Gläser, Carlo schenkte ein, die Mutter schüttelte den Kopf. Sie war mit dem Boxen nicht ganz einverstanden, aber vielleicht würde es mit einem Deutschen Meister in der Familie irgendwie besser werden. Trollmann, mit Siegerlächeln: »Und jetzt müssen sie wirklich die Wäsche von der Leine holen. Prost!«

4

Der Erste Vorsitzende war vollends beschäftigt damit, das gesamte Berufsboxen auf nationalen Boden zu stellen. Nur wenige Tage nachdem sein Säuberungsplan in den amtlichen Mitteilungen im Box-Sport veröffentlicht worden war, rief ihn ausgerechnet dieser Zirzow im Büro an und kritisierte Punkt sieben: »Nicht reichsdeutsche Mitglieder und Funktionäre sind bis auf weiteres zu suspendieren.«

»Hören Sie«, sagte Zirzow auffallend ruhig, »Sie suspendieren sowohl nicht reichsdeutsche Verbandsmitglieder als auch nicht reichsdeutsche Funktionäre. Nun denken Sie bitte daran, wie erst kürzlich Adolf Witt in Hamburg diesen Franzosen, wie heißt er gleich, diesen Scrève, in der ersten Runde niedergeschlagen und wie der Franzose aus der Nase geblutet hat. Dazu wäre es mit Punkt sieben gar nicht gekommen, weil die französischen Sekundanten in ihrer Eigenschaft als nicht reichsdeutsche Funktionäre noch vor Kampfantritt suspendiert worden wären. Mit Punkt sieben kann kein ausländischer Boxer mehr in Deutschland zu einem Kampf antreten. Vergegenwärtigen Sie sich bitte den Anteil ausländischer Boxer an deutschen Kampftagen. Im Übrigen werden unsere nationalen Nachbarverbände kein Verständnis dafür aufbringen, dass wir ihre Funktionäre en gros suspendieren. Denken Sie auch an die Auslandskämpfe unserer deutschen Boxer.« Der Erste Vorsitzende war angeschlagen, und Zirzow holte kurz Luft und setzte nach: »Das ist das Ende des Berufsboxens, und das ausgerechnet jetzt, wo der Führer den Boxsport favorisiert. Überhaupt wird sich der Führer bei Ihnen bedanken, dass Sie mit Ihrem Punkt sieben der ausländischen Gräuelpropaganda Vorschub leisten, anstatt, wozu jeder aufrechte Deutsche jetzt angehalten ist, durch tätige Praxis die Friedfertigkeit unserer Regierung unter Beweis zu stellen. Sie müssen begreifen, dass wir uns das nicht leisten können.«

Der Erste Vorsitzende sagte nichts, sondern drückte die Gabel herunter. Legte den Hörer neben den Apparat, stand auf, ging zum Fenster, sah auf die Lindenpassage hinaus, ging zum Schreibtisch zurück. Das war entsetzlich! Dabei wollte er doch bloß die Ausländerclique um Burda kaltstellen. Es war ein Skandal, dass der gesamte Vorstand es abgenickt hatte. Was heißt abgenickt, applaudiert hatte der Vorstand! Der Vorstand hatte versagt. Er wählte Zirzows Nummer, bedauerte, dass man unterbrochen worden sei, er habe verstanden und würde umgehend das Nötige veranlassen. Zirzow solle sich keine Sorgen machen, nein, wirklich nicht.

Als ob der Erste Vorsitzende nicht genug zu tun gehabt hätte. Auf seinem Schreibtisch häuften sich ungelenk geschriebene Briefe von Boxern, deren Verträge mit jüdischen Managern aufgelöst worden waren. Nun standen sie da. Neue arische Manager aus dem Hut zaubern konnte der Erste Vorsitzende natürlich auch nicht. Überdies erwies sich Punkt fünf des Säuberungsplans als sauberer Wirkungstreffer: Wegen des Verbots, jüdisches Kapital für Boxveranstaltungen in Anspruch zu nehmen, fielen Kampftage aus. Da half es ihm nun auch nicht weiter, dass er inzwischen in allen drei Entscheidungsgremien des deutschen Berufsboxens Sitz und Stimme hatte: im Vorstand des Verbands, im Präsidium der Behörde und im Sportausschuss.

Indessen schlenderten Plaschnikow und Kurzbein die Friedrichstraße hinunter. Sie hatten frei, sie waren auf Bummel. Die Berliner Luft war ganz frühlingshaft, und die beiden Bäckereifräulein fanden es großartig, dass Elly Beinhorn mit dem Hindenburg-Pokal für ihre fliegerische Leistung geehrt werden sollte.

Kurzbein: »Die traut sich was.«

Plaschnikow: »Und sieht wahnsinnig gut aus.« Anerkennendes Nicken.

Die Friedrichstraße war voller Leute. In blitzsauberen Schaufenstern lagen und lockten unerschwingliche Dinge, erstklassige Hüte, Brillanten, Südfrüchte, Schirme, Liköre, und die Cafés machten gutes Geschäft. Weiter unten, wo es günstiger wurde, erstand Kurzbein einen dicken Wollschal für den Winter zum halben Preis. Am Ende der Straße, auf dem kreisrunden Belle-Alliance-Platz, fuhr eine Straßenbahn an ihnen vorbei, hielt an, Leute raus, Leute rein, und fuhr weiter die Friedrichstraße hinauf, von wo Kurzbein und Plaschnikow hergekommen waren. Darin saß der Chefredakteur des Box-Sport auf dem Weg in die Redaktion am Schiffbauerdamm. Kurz vor der Ecke Behrenstraße überlegte er es sich anders und stieg aus.

Er hatte mit dem Ersten Vorsitzenden schon die Schulbank gedrückt und fand ihn im Büro, erfüllt von unstillbarem Tatendrang. Man begrüßte einander, und dann platzte der Erste Vorsitzende sofort damit heraus: Jetzt werde er restlos durchgreifen! Soeben sei er im Begriff, einen Zehnpunkteplan für die Gründung einer »Nationalen Notgemeinschaft der Boxer« auszuarbeiten! Und er zeigte dem alten Schulfreund das Konzept, mit dem er, das war den Anfängen schon anzusehen, dann wirklich rücksichtslos durchgreifen würde. Der Chefredakteur war begeistert. »Darauf müssen wir anstoßen. Komm, wir gehen rüber zu Mueck.«

Mueck lächelte schief, als sie hereinkamen. Er war vor zwei Jahren Präsident der Behörde gewesen, hatte den Sportpalast gepachtet und betrieb den Stammtisch in seinem Restaurant Unter den Linden. Draußen ließ sich Johnny Bishop von seinem traurigen Chauffeur zum Bankhaus Bleichröder fahren. Bishop musste Gespräche führen und Verträge unterzeichnen, denn er war im Begriff, sein Kapital und seine Geschäfte Schritt für Schritt nach England zu verlagern. Es fiel ihm nicht leicht, er war unglücklich darüber, er wäre gerne in Berlin geblieben. Ob er auch sein Haus in Dahlem verkaufen würde, hatte er noch nicht entschieden.

Trollmann fuhr nach Wien, erledigte dort den Österreichischen Weltergewichtsmeister Hans Fraberger und kam dann zurück nach Berlin, um sich mit Zirzow auf seinen Titelkampf vorzubereiten, dessen Termin noch gar nicht feststand. Zirzow hatte mit größter Sorgfalt den Trainingsplan entworfen und zu Trollmann gesagt: »Und wenn ich dich in einer Straßenschlacht erwische, dann schuldest du mir tausend Mark und ich löse unser Vertragsverhältnis auf. Haben wir uns verstanden?« Es war die Verletzungsgefahr, derentwegen SA und Kommunisten inzwischen gefährlicher waren, als Frauen und Alkohol es je hatten werden können.

Anderntags liefen Trollmann und Zirzow am frühen Morgen durch den Grunewald. Trollmann leichtfüßig, Zirzow gedanklich beschäftigt, es war ein warmer Frühlingstag. Sie waren von der S-Bahn-Station Heerstraße her gekommen und liefen eine Schleife um die Saubucht. Sie sprachen nicht. Sie hörten ihre Schritte, sie liefen synchron und im Takt. Halbschatten wechselte mit sonnigen Stellen. Nur auf den ersten zwei Kilometern waren ihnen vereinzelt Frühsportler begegnet, eben kreuzte in ihrem Rücken ein Reiter den Weg und sah ihnen nach. Sie liefen ein bequemes Tempo. Sie waren warm geworden. Der Weg stieg an.

Trollmann: »Was glaubst du, wann der Kampf stattfindet?«

Zirzow, zwischen Atemzügen: »Frühestens Ende Mai … spätestens Ende Juni.« Einige Schritte weiter: »Aber auf den Termin … kommt es überhaupt nicht an … Wir müssen uns … völlig … von diesem Termin frei machen.« Kurz darauf: »Wir trainieren für den Titel … Wir machen uns bereit … um den Titel zu holen … Das ist alles.« Und dann: »Wir gehen jetzt nur noch auf den Titel … Mach dir überhaupt keine Gedanken … wegen Eggert nächste Woche … da gibst du nichts dran … den hast du sowieso in der Tasche.« Die Steigung ließ nach. »Uns interessiert ab jetzt nur noch der Titel.«

Vor ihnen lag ein langer, ebener, schnurgerader Weg. Hoch über ihnen berührten sich die Bäume, die ihn an beiden Seiten säumten, zu gotischen Portalen aus Laub und Licht. Trollmann sagte nichts, sondern lauschte in seinen Körper hinein. Er war durchlässig, er lief wie geölt. Die Kraft ging durch die Beine gegen den Boden; der gab sie zurück. Bauchnabelaufwärts war er leicht wie ein Schmetterling, die Atmung eins mit den Füßen. Er fühlte sich wohl. Der Puls war perfekt. Es war, als könnte er ewig und ewig so laufen, und plötzlich riss er in einer blitzartigen Kraftanspannung seinen Oberkörper herum und wich aus vor einem imaginären Schlag, der im Leeren landete, während Trollmann wieder hochkam und hierbei einen Aufwärtshaken ans Kinn des imaginären Gegners schlug. Alles im Laufen.

Zirzow, nicht ohne Stolz und mit gezogenem Ö: »Schön!«

Es roch gut und frisch hier draußen. Der Weg schwang leicht nach links und teilte sich weiter vorne. Zirzow kannte sich im Grunewald aus und hatte die Route im Kopf. Von hinten hätte man ihn für den kleinen Bruder Trollmanns halten können, obwohl er fünf Jahre älter war.

So liefen sie und liefen, und allmählich ließ die Frische nach, und dann war die Leichtigkeit dahin, und später wurde das Laufen eine Kraftanstrengung. Die Körper wurden schwerer. Der Weg wurde länger. Die Luft wurde knapper. Daher fing Zirzow wieder mit dem Titel an, nämlich mit den famosen Zukunftschancen, die sich daraus ergeben würden.

Trollmann unterbrach ihn: »Und dann geht alles ordentlich vorneher und nicht mehr hintenrum, ja?«

Zirzow: »Was machen die Beine?«

Trollmann: »Es zieht in den Waden.«

Zirzow: »Immer schön hinspüren, immer schön hinspüren.«

Trollmann spürte hin. Ein Muskelstrang in jeder Wade zog sich zusammen, rechts ein bisschen stärker als links. Solche Sachen machten Lämmchen immer so wütend: Wie er erst bei den Amateuren nicht zur Olympiade zugelassen worden war, obwohl er dran gewesen wäre. Wie sie dann bei den Profis für die Titelbewerbung den Staatsbürgerschaftsnachweis verlangt hatten, der von anderen Boxern nie verlangt wurde, und wie sie ihn mitsamt erbrachtem Nachweis trotzdem nicht zuließen. Und wie sie ihn beim nächsten Mal damit verhöhnt hatten, dass er zugelassen sei und einen Ausscheidungskampf um den Titel kämpfen dürfe, der, wie sich zeigte, in Wirklichkeit gar kein Ausscheidungskampf war. Und wie sie jetzt wieder, zum zweiten Mal, den Staatsbürgerschaftsnachweis verlangten, als ob er ihn nicht schon erbracht hätte, und wie es mitsamt dieser hochheiligen Urkunde doch nur hintenrum ging. Ein Schweißtropfen lief ihm ins Auge und brannte. Schritte und Atem schienen überlaut, ließen nichts anderes hören.

Trollmann: »Dauerts noch lange?«

Zirzow: »Ja.«

Zirzow hatte auch deshalb den Grunewald gewählt, weil man hier, wenn man sich nicht oder zu langsam bewegte, sofort von zahllosen Stechmücken zerfressen wurde. Sie hatten ihr Tempo gehalten und hielten es noch. Aber jetzt war es so, dass zahllose Nervenenden von allen Stellen des Körpers aus wiederholt die gleiche Botschaft ans Hirn sendeten: Pause machen! Ausruhen! Es half Trollmann, nach oben zu schauen, der Blick nach oben hob einen an, der Blick in das grüne luftige Dach, durch das ein wolkenloser Himmel schimmerte. Zwischendurch immer auch nach unten auf den Boden, um nicht zu stolpern über herausgewachsene Baumwurzeln, durch loses Geröll und kopfgroße, von Wildschweinen gebuddelte Löcher.

Zirzow richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Trollmann. Er sah auf die Uhr. Es galt, den Zeitpunkt, an dem Trollmann seine Lockerheit verlor, nach hinten zu verschieben, obwohl er keineswegs in schlechter Verfassung war. In Wien hatte er Fraberger derart frisiert, dass der Ringrichter den Kampf hatte abbrechen müssen. Trollmann war Zirzows Perle und Sorgenkind im Stall. Von seinen anderen Boxern war Harry Stein jüdisch und hatte das Land verlassen, und Erich Tobeck war arisch und ohne Titelaussichten. Überhaupt hatte Zirzow in dem einen Jahr seiner Managertätigkeit noch nie einen Titel eingefahren. Jetzt endlich würde er ihn mit Trollmann holen. Er war aufgeregt. Er sah ihn mit Besitzerstolz von der Seite an. Vor einem halben Jahr hatte er ihn der Managerkonkurrenz gerade noch vor der Nase weggeschnappt.

Sie begannen, sich an die Erschöpfung und an die Botschaften von den Nervenenden zu gewöhnen. Die Saubucht lag ein gutes Stück hinter ihnen, vor ihnen das letzte Viertel der Strecke. Sie liefen etwas langsamer. Zirzow war erschöpfter als Trollmann, er hatte kürzere Beine und musste im Verhältnis zu seinem Körper größere Schritte machen, aber für den Titel tat er es gern. Die Temperatur war gestiegen, ihre Hemden waren nass geschwitzt. Für Trollmann waren ab jetzt nicht nur Straßenschlachten zwischen SA und Kommunisten verboten, sondern auch solches Amüsement wie gestern Nacht. Und Zirzow wusste, dass Trollmann sich nicht daran halten würde.

Gestern Nacht war er um die Häuser gezogen und dann im Jockey Club in der Keithstraße gelandet. Die Hausband hatte gehottet wie verrückt, wer nicht tanzte, wackelte doch im Stehen mit dem Hintern, die Leute traten sich die ganze Kellertreppe bis zum Eingang rauf auf die Füße, und die Musiker hatten ihr Publikum genauso im Griff wie Trollmann seines, wenn er boxte. Auf einmal war im Gedränge Witt neben ihm: »Na, Herr Kollege!« Sie tippten einander mit den Fäusten an, Witt strahlte übers ganze Gesicht: »Kannst mir übrings gratuliern, ich bin jetzt nämlich Ha-De.« Trollmann legte die Hand aufs Herz, schlug die Hacken zusammen und machte eine Verbeugung.

Die besseren Berufsboxer wetteiferten darum, eines der zwei höchsten Komplimente des Chefredakteurs zu erlangen und es im Box-Sport zu lesen. Das eine hieß der alte Haudegen, HD, das andere der alte Ringfuchs, RF. Weiter hinten lehnte, mit einer Molle in der Hand, der »Bauhle« an der Wand und schnippte mit den Fingern. Über ihn hatte der Chefredakteur geschrieben: Paul Samson Körner, der alte Haudegen, hat jetzt das Angebot, SA und SS zu trainieren. Aber natürlich machten die Boxer auch Witze darüber und schlossen nach manchen Kämpfen Wetten ab, ob daraus ein HD oder RF werden würde oder nicht. Jedenfalls war nun auch Witt als Haudegen geadelt: »Adolf Witt, der alte Haudegen, schickte den Franzosen gleich in der ersten Runde für die Zeit auf die Bretter«, und war bei allem Witzereißen doch mächtig stolz darauf.

Witt war mit seiner Verlobten, Gerlinde Schlachter, da gewesen. Sie hatte ihn gleich wieder weggezogen, sie konnte nicht genug kriegen vom Tanzen, obwohl er ihr dabei immer wieder auf die Füße trat. Trollmann verließ den Club zusammen mit einer fröhlichen Telefonistin. Sie drängelten sich dem Ausgang zu, an den Saxophonisten vorbei, die oft nach Mitternacht kamen und auf der Treppe ihre Instrumente auspackten, weil es unten zu eng war, und von dort oben aus mit der Band im Keller jammten. Draußen war es mild. Er begleitete sie nach Hause. Hin und wieder wankten Nachtschwärmer und liefen nervöse Lebenskünstlerinnen an ihnen vorbei, Tippelbrüder lagen in windgeschützten Ecken. Vor ihrer Haustür in der Augsburger Straße legte Trollmann der Telefonistin die Hand in den Nacken, um sie zu küssen, und fing sich dabei eine Backpfeife, die plötzlicher kam als seine Fäuste im Ring. Seine legendäre Reaktionsschnelligkeit reichte gerade eben noch aus, um mit der Backpfeife k.o. zu gehen. Er ließ sich in Richtung des Schlages der Länge nach hinfallen und blieb reglos am Boden liegen. Nun war die Telefonistin irritiert. Sie brachte das Offenkundige nicht zusammen, oder sie nutzte den Vorwand, beugte sich zu ihm herab, kniete nieder, fasste ihn an, rüttelte vorsichtig an ihm, hob mit beiden Händen seinen Kopf vom Pflaster. Trollmann, wie leblos, öffnete das linke Auge einen Spalt und dann das rechte und sah ihr, ohne eine Miene zu verziehen, geradewegs in die Augen. Darauf hauchte sie einen Kuss auf seine Wange, und zwar in gefährlicher Nähe zum Mund, und verschwand in Windeseile im Haus. Sie hatte angenehm gerochen, Trollmann wusste nicht, wie sie hieß.

Zirzow, außer Atem: »Gleich ham wirs geschafft.«

5

Es hätte dem Ersten Vorsitzenden auch einmal gutgetan, im Grunewald zu laufen, sich an der frischen Luft körperlich zu ertüchtigen, gerade bei seiner schwächlichen Konstitution und sitzenden Tätigkeit im systemvergilbten Büro. Doch daran war nicht zu denken, schon weil er vorher nicht mitgedacht hatte. Erst eine Woche nachdem er die Seeligs hatte verschwinden lassen, an dem Tag also, als er die Nationale Notgemeinschaft der Boxer ersonnen und mit dem Chefredakteur bei Mueck einen gehoben hatte, erst an diesem Tage war ihm die Boxschule der Judenbrüder in den Sinn gekommen.

Im Herbst vorletzten Jahres hatte Heinrich Seelig zur beiderseitigen Zufriedenheit Georg Koenig jenes Hinterhofgebäude in der Georgenkirchstraße abgekauft, in dem Koenig seine Druckerei betrieben hatte und unter anderem den Box-Sport druckte. Koenig vergrößerte seinen Betrieb und zog in die Magazinstraße. Die Seeligs hatten renoviert und modernste Geräte angeschafft. Heinrich Seelig trainierte, genau wie andere Betreiber von Boxschulen auch, tagsüber seine Berufsboxer, die er managte, und ließ Boxer trainieren, die ohne Manager arbeiteten oder deren Manager keine eigenen Trainingsräume besaßen. Aber während sich etwa in Sabri Mahirs Boxschule am Kurfürstendamm allabendlich glamouröse Persönlichkeiten wie die berühmte Marlene Dietrich oder der als Brillenträger zum Boxen völlig ungeeignete Bertolt Brecht zu Teestunden am Ring versammelten, um kluge Gespräche zu führen über Brechts geplanten Boxerroman, die neue Sachlichkeit und ähnliche Themen, ging es bei den Seeligs anders zu. Hier kamen abends ganz gewöhnliche Leute, um für moderate Preise, unter fachkundiger Anleitung, aus allen Poren schwitzend und mit größter Ernsthaftigkeit hochwertige Sandsäcke zu malträtieren, und jeden Donnerstag trieb eine Turnlehrerin mit gesundheitsgymnastischen Übungen sowie Kraft- und Ausdauertraining bewegungshungrige Frauen und Mädchen zu Höchstleistungen an. Bald war die Turnlehrerin dazu übergegangen, ihre begeisterten Elevinnen die letzten fünfzehn Minuten des Kursus schattenboxen zu lassen, wie sie selbst es von Heinrich Seelig lernte. Die öffentlichen Abendkurse waren ausgebucht, für Interessierte gab es eine Warteliste.

Die Seelig’sche Boxschule war dem Ersten Vorsitzenden eingefallen, als ihn der Chefredakteur bei Mueck zwischen zwei Schlucken Berliner Pilsner fragte, woher er eigentlich das Kapital für die Nationale Notgemeinschaft nehmen wolle. Denn unter diesem Namen plante der Erste Vorsitzende den Verband eigene Kampfabende veranstalten zu lassen. Der Chefredakteur schätzte die Seelig’sche Boxschule auf »na, übern Daumen zehntausend.« Nun waren sich die beiden Herren einig und mussten gar nicht darüber reden, dass die Schule dem Verband ohnehin zustand, da dieser selbst es auf sich genommen hatte, die Seeligs zu vertreiben. Sie musste nur noch rechtlich in den Verband inkorporiert und dann verkauft werden, und schon war das Kapital für die Nationale Notgemeinschaft bereitgestellt. Der Erste Vorsitzende hatte das Bierglas zur Seite geschoben und auf die Rückseite seines Papiers den Punkt eins hingeschrieben: 1. Von privater Seite wird dem Verband deutscher Faustkämpfer der Betrag von 10000RM (in Worten: zehntausend Mark) zur Durchführung des Notgemeinschaftsplans zur Verfügung gestellt.

Aber ein anderer war schneller gewesen. Manager Katter, der sonst nicht in der ersten Reihe agierte, hatte sich just am Abend vor Seeligs verhinderter Titelverteidigung in einer Kreuzberger Eckkneipe von Schriftführer Funke leutselig erzählen lassen, mit welcher außerordentlichen Umsicht der Erste Vorsitzende die spektakuläre Seelig-Streichung durchziehen würde: »Dem schickt ern paar Ledermäntel in die Kabine, und damit hat sichs.«

Und als der Erste Vorsitzende davon erfuhr, dass Funke den Überraschungsschlag vereitelt und den Verband um die Schule gebracht hatte, beschloss er, an ihm ein Exempel zu statuieren. Allerdings hatte er im Augenblick Wichtigeres zu tun, schon wieder war eine hektische Woche ins Land gegangen. Der Erste Vorsitzende hatte hart daran gearbeitet, den richtigen Mann als Nachfolger für den zurückgetretenen Präsidenten der Behörde Peter Eijk zu gewinnen, und der richtige Mann war kein geringerer als SA-Obersturmbannführer und SA-Verbindungsführer im preußischen Innenministerium Rechtanwalt Dr. Heyl. Jedoch konnte der Erste Vorsitzende nicht voraussehen, dass Heyl als Präsident der Behörde ihm selbst (unmittelbar nach seiner Funke-Exempelstatuierung) das Amt des Obmanns des Sportausschusses entziehen würde. So war immer alles in Bewegung, seit die Bewegung an der Macht war, und der Erste Vorsitzende machte mit, indem er die Nationale Notgemeinschaft der Boxer in Bewegung brachte. Sie musste so rasch als möglich ins Werk gesetzt werden, denn mit ihr war das gesamte deutsche Berufsboxen unter Kontrolle zu bringen. Dies war ohnehin unerlässlich im Sinne der nationalen Revolution, aber am allerwichtigsten war es für den Titelkampf des elenden Zigeuners und seines schwierigen Managers. Dieser Kampf, diese Kröte, die er für die Seelig-Streichung hatte schlucken müssen, rückte unaufhaltsam näher. Bereits in zwei Tagen fand in Hamburg der Titelkampf zwischen Witt und Hartkopp statt, nach dessen Ausgang der Zigeuner gegen den Sieger am Zuge war. Aber ebenso, wie dieser Kampf unaufhaltsam näher rückte, rückte nun auch die Notgemeinschaft unaufhaltsam näher. Der Erste Vorsitzende hatte seinen Zehnpunkteplan ausgearbeitet, und der Chefredakteur hatte ein Exposé dazu geschrieben, das den Zehnpunkteplan im Box-Sport propagandistisch umrahmen und über ihn aufklären sollte, damit alle Bescheid wussten, wohin die Reise ging.

Zu diesem Zweck war der Erste Vorsitzende erneut mit dem Chefredakteur bei Mueck verabredet, und zwar in einem der drei Hinterzimmer, die für bestimmte Gäste zur Verfügung standen. Er packte seine Unterlagen ein und verließ das Büro. Durchquerte die Lindenpassage, trat auf den Prachtboulevard hinaus, warf einen kurzen Blick nach links, ob das Brandenburger Tor noch stand, und ging dann nach rechts. Draußen war es wärmer als drinnen, die Bäume strotzten vor frischem Grün, Menschen trugen lächelnd ihre Jacken überm Arm, Autofahrer hupten aus reiner Lust, und ein kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter wedelte mit einem Hakenkreuzfähnchen. All das streifte den Ersten Vorsitzenden nur am Rande. Er war nervös. Zwar sonnte er sich in der geradezu phantastischen Autorität, die er sich mit der Seelig-Streichung verschafft hatte, aber in den oberen Sphären der Autorität wurde die Luft spürbar dünner. Gerade jetzt, wo es um Großes ging, war er nicht sicher, ob er dem Chefredakteur wirklich trauen konnte. Schulkamerad und Parteigenosse hin oder her, manches Mal fiel er ihm und der Bewegung doch böse in den Rücken. Seine damaligen Äußerungen zum Witt-Trollmann-Ausscheidungskampf oder jetzt sein Schweigen zum Haymann-Buch, das er sich weigerte im Box-Sport zu bringen: Solches Gebaren war absolut unverantwortlich. Der Erste Vorsitzende stand an der Friedrichstraße an der Ampel zwischen den Wartenden, er stand ganz vorne am Kantstein. Auf der anderen Seite entdeckte er Herbert Obscherningkat vom Angriff