Deutscher Novellenschatz 18 - Wilhelm Müller - E-Book

Deutscher Novellenschatz 18 E-Book

Wilhelm Muller

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Beschreibung

Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 18 von 24. Enthalten sind die Novellen: Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. Müller, Wilhelm: Debora.

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Seitenzahl: 267

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Deutscher Novellenschatz

 

BAND 18

 

 

 

 

 

 

 

Deutscher Novellenschatz, Band 18

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661267

 

Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Debora.1

Die beiden Tubus. 71

 

Debora.

 

Wilhelm Müller.

 

Vorwort.

 

Wilhelm Müller, der bekanntlich unter den deutschen Lyrikern eine der ersten Stellen einnimmt, wurde den 7. Oktober 1794 in Dessau geboren, studierte in Berlin Philologie, Philosophie, Geschichte und schöne Wissenschaften, trat 1813 als Freiwilliger unter die Gardejäger und machte die Treffen von Lützen, Bautzen, Kulm und Hanau mit, kehrte dann nach Berlin zu seinen Studien zurück, reiste später mit dem Freiherrn von Sack nach Rom, von welcher Stadt er eine vorzügliche Schilderung gab, und wurde nach seiner Zurückkunft von seinem Herzog Leopold Friedrich, der seinen Wert zu schätzen wusste, als Bibliothekar und Gymnasiallehrer nach Dessau berufen. Mit dem geschmackvollen Philologen, Sprachforscher und Kritiker vereinigte er den Liederdichter, dessen Liebes-, Wander-, Trink-, Postillons-, Jäger-, Müller- und Hirtenlieder fortleben werden, solange die deutsche Zunge klingt. Seine berühmten Griechenlieder dagegen, die so zündend auf die Zeitgenossen wirkten, sind vor veränderten politischen Stimmungen in den Hintergrund getreten. Auf der Neige seines kurzen Lebens versuchte sich Müller auch in der Novelle, aber die Frist war ihm nicht gegönnt, sich zu der vollen Selbständigkeit zu entwickeln, die er auch auf diesem Gebiete zu erringen der Mann gewesen wäre. Nach einer glücklichen Erholungsreise zu den schwäbischen Dichtern, zu welchen ihn eine innere Verwandtschaft zog, starb er zu Dessau plötzlich in der Nacht auf den 1. Oktober 1827 an einem Herzschlage, wenige Wochen vor Wilhelm Hauff, mit dem er bei jenem Besuch in Stuttgart innige Freundschaft geschlossen hatte. — Die jüngere der beiden Novellen, die er hinterlassen hat (die erste erschien in der Urania für 1827), weist trotz eines ungemeinen Fortschritts Elemente auf, die ihrem Dichter nicht eigen sind: zu Anfang begegnen Züge, die man kaum anders als trivial nennen kann, gewisser krasser Geschmacklosigkeiten, wie des Kirschkerns, den der alte Herr als Liebesandenken im Munde trägt, ganz zu geschweigen, — und weiterhin zeigt sie sich von dem romantischen, katholisierenden Geiste der Zeit beherrscht. Allein dessen ungeachtet verrät das ganze Gefüge der Erfindung eine immer bedeutender hervortretende Kraft, die den künftigen Meister ankündigt; und so glaubten wir es nicht bloß dem schönen Dichternamen, den sie vertritt, sondern der Erzählung selbst in ihren Hauptbestandteilen schuldig zu sein, sie dem Kreise auserlesener Novellen einzureihen.

***

 

Erstes Kapitel.

 

Das Zimmer fing an dunkel zu werden, und Arthur nahm vor dem Spiegel den Widerschein einer Laterne, welche seinem Fenster gerade gegenüber unter den Linden brannte, zu Hilfe, um seine Abendtoilette mit dem Einstecken einer goldenen Nadel in den englischen Knoten seines Halstuches zu beschließen. Dabei hatte er das Missgeschick, das glatte Tuch ein wenig zu verknicken, und darüber ungeduldig und verdrießlich, zog er die Klingel. Aber der helle Ruf der Glocke blieb unbeantwortet, und um seinen Unwillen an irgendeinem Dinge außer sich so merklich, als es jetzt geschehen konnte, auszulassen, zuckte er so lange an der Klingelschnur, bis sie zerriss. Eine abscheuliche Wirtschaft hier im Hause! brummte er vor sich hin, warf sich auf das Sofa, ließ seine Uhr repetieren und zählte fünf und drei Viertel. Die Madame ist wieder ins Theater gegangen und das Mädchen hinterdreingelaufen, und nach mir fragt keine Seele. Ich muss ausziehen, wenn das nicht bald anders wird. Es ist mir hier unter den Linden in der Nähe des Opernplatzes ohnedies zu viel Lärm, und ist es nicht eine Schande, wie teuer ich diese Rumpelkammer, die sie Chambre garnie nennen, bezahlen muss, und bei einer solchen spitalmäßigen Aufwartung!

Er trat an das Fenster und schrieb mit nachdenklicher Miene Buchstaben auf die angelaufenen Scheiben. Wagen auf Wagen rollten unten vorüber und machten das Glas unter seinen Fingerspitzen dröhnen. Was mag es denn heut' Abend in dem großen Opernhause für kleine Spektakelkünste geben? Gewiss irgendeine recht gemeine Kuriosität, weil die vornehmen Leute so hitzig darnach fahren. Ich begreife die Geheimrätin nicht, wie eine so geistreiche Frau sich von dem neugierigen Strome kann fortreißen lassen und ein Paar Abende in der Woche daran setzen, um in dem großen Guckkasten zu gaffen und begafft zu werden. Nun, heute habe ich das nicht zu besorgen. Den Montag hält sie gewissenhaft, und ich nicht minder. Ich verspreche mir heute einen himmlischen Abend. Diese Nacht habe ich von Schlangen geträumt, und die sollen ja Ringe bedeuten. Du loses, liebes Mädchen, dass ich dich doch endlich einmal fassen kann! Du hast mir in diesem Thema ein Bändchen in die Hand gegeben, woran ich dich, wie du dich auch drehen und winden magst, so lange festhalte, bis ich dir das Losungswort meines Lebens, das Geständnis meiner Liebe, Stirn gegen Stirn, Aug' in Auge, zugerufen. Meine Glosse auf dieses Thema entzückt mich selbst; so wahr, so warm, so innig hab' ich nie gedichtet. Ich dichtete sie ja aus deinem Herzen heraus.

 

Inbegriff von meinen Freuden!

Hab' ich das verdient um dich?

 

Erst verschmäht, nun fliehst du mich?

Wie, du willst von hinnen scheiden?

 

Nein, nein, ich bleibe bei dir, meine Fanny! Seit du mir dieses Thema gegeben hast, denk' ich nicht mehr an die Reise nach Italien und an den alten wunderlichen Marquis.

Arthur hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, wenn auch vielleicht zu Ende gedacht, als er draußen auf seiner Treppe leise Fußtritte, lautes Husten und starkes Aufstoßen mit einem Stocke hörte. Ecce, lupus in fabula! rief er aus. Da kommt der alte Narr mir wieder über den Hals. Es ist um toll zu werden. Aber ich will ihn einmal ablaufen lassen. Es ist nur ein Glück, dass er schon von Weitem einen so vernehmlichen Anmelder hat. Er eilte nach der Stubentüre, um den Riegel vorzuschieben: aber ein Stuhl, über den er seinen eben ausgezogenen Schlafrock geworfen hatte, stellte sich ihm in den Weg, und so stolperte er darüber weg und fiel mit vollem Gewicht gegen seinen Flügel, von welchem er eine Wasserflasche, einen Leuchter und ein Notenpult herunterwarf. Inzwischen war der Marquis, ohne anzuklopfen, auf das donnernde Signal, überrascht und ein wenig erschrocken, in das Zimmer getreten.

Guten Abend! Guten Abend, meine Herren! grüßte er in seiner langsamen und scharf gemessenen Sprache, der man es auch in jedem richtig gewählten und gestellten Worte anhörte, dass sie mehr aus Büchern, als in lebendiger Schule erlernt war. Lassen Sie sich nicht unterbrechen von mir, meine Herren, wenn Sie haben voltigiert oder gefochten. Spielen Sie weiter. Diese Exercitien gefallen mir wohl, und als ich war jung und unter den Pagen in Versailles, da hab' ich die gymnastischen Künste getrieben mit großem Eifer. Aber, meine Herren, damals übten sich diese Künste mit Delikatesse. Ah, mon dieu, wie machen die Polissons es jetzt da draußen vor dem Tor, in dem großen Sand! Sie laufen herum in schmutzigen Säcken und brechen sich die Hälse. Das ist, was sie heißen das Turnen.

Ich bin ganz allein, Herr Marquis, nahm Arthur das Wort, und bitte um Entschuldigung, dass ich Sie in einer finstern Stube empfangen muss. Ich wollte eben nach meinem Hute greifen, um auszugehen, als ich über diesen Stuhl stolperte —

Hat nichts zu sagen, mein Herr Doktor, unterbrach ihn der Marquis. Ich will Sie nicht lange halten. Ich komme, um Sie zu fragen für das letzte Mal, ob Sie wollen reisen in meiner Begleitung und auf meine Kosten nach Italien. Denn ich muss benutzen die wenigen Tage vor der Eintretung des starken Frostes, um zu kommen heraus aus den kalten Landschaften.

Herr Marquis, entgegnete Arthur mit gemachter Verlegenheit, ich weiß in der Tat nicht, wie ich es verdiene —

Lassen Sie das, Herr Doktor! fiel ihm der Marquis in das Wort. Sie verdienen gar nichts für Ihre Person, aber Sie wissen recht wohl, Ihr Herr Vater hat an mir verdient Großes, sehr Großes, das Gott ihm wird vergelten im Himmel. Er hat mich, als ich kam bettelarm und verwundet nach Mannheim, aufgenommen in sein eigenes Haus, er hat mich geheilt und gepflegt, er hat mich genährt und gekleidet, bis dass meine Mittel sind angekommen aus der Schweiz, von meiner emigrierten Familie. Sehen Sie, Herr Doktor, das hab' ich nicht gekonnt abtragen an ihn selbst, darum will ich es abtragen an den Sohn.

Herr Marquis, Sie beschämen mich mit jedem wiederholten Anerbieten Ihrer Gunst. Aber Sie wissen, dass ich damit umgehe, meinen großen medizinischen Kursus zur praktischen Habilitation hier in Berlin zu machen.

Erlauben Sie, Herr Doktor, dass ich mich setz' auf einen Moment. Ihre Treppe hat mich gemacht sehr müde, und ich muss einmal husten.

Der Marquis setzte sich auf das Sofa und hustete ein paar Minuten lang, dass die Wände zitterten. Arthur stand wie auf Kohlen, trippelte in der Stube herum und sann auf Mittel, seines Besuches so schnell als möglich ledig zu werden. Es ist Ihnen zu kalt in meiner Stube, Herr Marquis, hub er nach der Pause das Gespräch wieder an, und das reizt Sie zum Husten.

Nicht so, Herr Doktor. Ich bin gegangen zu schnell in den Wind hinein. Sie haben gesprochen von Ihrem großen praktischen Kursus. Aber nehmen Sie es nicht auf die böse Seite, wenn ich Ihnen mache das Bekenntnis, dass die Herren Professoren von der Universität mir haben gesagt, Sie machen hier viele kleine Kursus in der Stadt, in der schönen Welt, in den belles lettres, kleine Kursus, nicht praktisch, alle mit einander ideal und poetisch, und die Sie nicht werden führen zu der Habilitation. Und dieselben Herren haben mir gegeben die Versicherung, dass es wäre Ihr gutes Glück, wenn Sie würden mit Gewalt herausgerissen aus dieser berlinischen Manier zu leben. Und was die gelehrte Geheimrätin betrifft und ihre kleine Mignon —

Herr Marquis, brach hier Arthur mit wenig beschönigter Entrüstung in die Rede des Alten ein. Herr Marquis, wiederholte er und steigerte den Ton seiner Worte bis zur entschiedenen Grobheit, die Herren Professoren, die Ihnen das gesagt haben, scheinen zu vergessen, dass ich bei ihnen für medizinische und nicht für moralische Vorlesungen pränumeriert habe.

Nicht zu rasch! nicht zu rasch, mein junger Freund! beschwichtigte ihn der Marquis. Sie werden machen Ihren Cursus medicus in Salerno, und wenn Sie mir kurieren meinen Husten, so sollen Sie von mir genannt werden ein Hippokrates.

Arthur, durch die kleine Zurechtweisung des Alten umso schärfer gereizt, je gerader er sich von ihr getroffen fühlte, war nicht so leicht in den Scherz überzuspielen und fuhr in seiner vorigen Stimmung fort: Suchen Sie Ihren Hippokrates unter den hochgelehrten Herren, die mich Ihnen so angelegentlich zum Begleiter nach Italien empfohlen haben.

Sagen Sie mir nichts Böses von diesen Herren, Herr Doktor. Sie meinen es gut, sehr gut mit Ihnen. Aber, mein lieber Arthur, versprechen Sie mir, dass Sie wollen nicht mehr Verse machen und mit mir reisen nach Italien. Ich bin ein alter Narr, dass ich Sie so quäle, aber ich weiß wohl, warum ich es bin, und ich will es sein. Ich habe Sie lieb, als ob Sie wären mein eigenes Kind, und ich habe Sie als ein kleines, kleines Ding getragen auf meinen Armen, und da haben Sie mir einmal beschmutzt einen neuen hellgrünen Rock, und da habe ich Ihrem seligen Vater meine Hand gereicht, dass ich wollte sorgen für Sie, wenn in der Zukunft meine schlechten Umstände sich hätten verbessert. Sehen Sie, darum will ich Ihnen wohltun, malgré vous.

Herr Marquis, fuhr bei diesen Worten Arthur heraus, entschuldigen Sie meine Grobheit; aber ich bin zu einer Gesellschaft geladen, welcher ich die Stunde halten muss. Ich werde mir die Freiheit nehmen, Ihnen morgen Adieu zu sagen.

Hiermit nahm Arthur seinen Hut in die Hand und schickte sich an, aus der Stube zu gehen, deren Schlüssel er schon lange in der Hand geschwungen hatte. Der Marquis, ohne sich zu übereilen oder aus seiner gutmütigen Laune zu fallen, stand vom Sofa auf und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. Nächsten Donnerstag reisen wir, Herr Doktor! Diese Worte, von dem Alten mit einer gewissen prophetischen Bedeutsamkeit ausgesprochen, machten den Jüngling betroffen, und er fühlte sich von ihnen nicht wie bisher unangenehm bedrängt. Er verstummte, und der Marquis fuhr fort: Und wenn Sie auch nichts wollen zu treiben haben mit meinem alten bösen Husten, ich nehme Sie doch mit mir als meinen Hippokrates, und was Sie nicht bewirken, das wird bewirken das weiche Klima und die heiße Atmosphäre. Sehen Sie, und wenn ich alsdann ohne Husten, aber mit Ihnen, zurückkomme nach Berlin, so gehe ich in die Konferenz, wo alle die großen Herren Professoren sitzen beisammen, und spreche zu ihnen: Da bin ich kuriert von dem Herrn Doktor Arthur Lerchenfels! Da werden die Herren machen große Augen und kleine Nasen und werden Ihnen abstatten ihre Reverenz. Und damit, mein Lieber, haben Sie gemacht Ihren großen praktischen Kursus zu der Habilitation.

Arthur, von dem leisen Anfluge eines halb dankbaren, halb mitleidigen Wohlwollens berührt und einen Stich der Reue über sein grobes Betragen gegen den Marquis empfindend, fasste den Arm desselben, sobald er sich in Bewegung setzte, und führte ihn behutsam über den finstern Saal und die steile Treppe hinunter. Vor der Haustüre verabschiedete er sich mit einem stummen, aber herzlichen Drucke der alten, zitternden Hand und wollte schnell nach der Richtung des Brandenburger Tores entschlüpfen. Aber der Marquis, dessen Weg der entgegengesetzten Straße folgte, hielt ihn noch einen Augenblick zurück und flüsterte ihm vertraulich in das Ohr: Sagen Sie diesen Abend der Geheimrätin und ihrer kleinen Tochter das Adieu, welches Sie mir haben zugedacht auf morgen. Sie lassen sich herumführen an der Nase und führen sich selbst herum. Liebe! Ah mon dieu, nennen Sie das nicht Liebe. Phantasie, mein Lieber, Phantasie!

 

Zweites Kapitel.

 

Arthur fand auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze, wo die Geheimrätin Flügel wohnte, einige Muße, über das nachzudenken, was der Marquis ihm halb im Scherze halb im Ernste vorgehalten hatte. Die gutmütige Art und Weise, mit welcher der alte Mann ihm, trotz seiner rücksichtslosen Grobheit, zugesprochen hatte, war nicht ohne Eindruck auf sein weiches und bewegliches Herz geblieben, und seine leicht erregbare Phantasie spielte mit dem schönen Klange des Namens Salerno behaglich fort und bildete sich daraus eine reiche Seelandschaft, belebt von singenden Fischerinnen, unter denen sich die ehrwürdige Gestalt eines alten salernitanischen Doktors langsam vorübertrug. Dazu trat auch die Erinnerung an seinen verstorbenen Vater, der ihm noch auf seinem letzten Krankenlager in demselben Sinne, wie der Marquis, wenn auch in andern Worten, das unstete und oberflächliche Wesen mit drohenden Aussichten vorgestellt hatte, welches ihn schon seit dem Anfange seiner medizinischen Studien befangen hielt, und seine guten Anlagen in der Übung leichter Künste ohne Nutzen für sich und andere zersplitterte. Er fühlte damals und auch jetzt, nachdem er um fünf Jahre älter geworden war, die Wahrheit dieser Vorstellungen, aber doch nur mit sehr beschränkenden Bedingungen, welche seine Eigenliebe vorgeschrieben hatte. Denn diese träumte in manchen seligen Stunden davon, dass er einmal ein großer Dichter und nebenher auch wohl noch ein geschmackvoller Gelehrter werden möchte, oder dass er es gar schon wäre, wenn die Leute außer ihm es nur anerkennen wollten. Diese Träume wurden ihm am günstigsten in dem Hause der Geheimrätin gedeutet, und daher kam es, dass er sich dort wohler fühlte, als irgendwo.

Die ungefähr vierzigjährige Witwe des Geheimrats Flügel, zwar nicht aus Berlin gebürtig, gehörte doch zu der in dieser Stadt vorzüglich heimisch und eigentümlich gearteten Classe von Frauen des sogenannten Mittelalters, welche es zu der höchsten Aufgabe ihres geselligen Lebens machen, jedem schönen Geiste, der nur irgend in ihren Bereich zu ziehen ist, eine Tasse Tee zu bereiten und ein Stammbuchblatt zu übergeben. Die Geheimrätin trieb es sogar noch weiter in ihrem Anteile an den schönen Wissenschaften und freien Künsten. Sie besaß mehrere ungedruckte Gedichte gedruckter Autoren in eigenhändigen Abschriften derselben, auch einige Bücher mit geschriebenen Zueignungen und endlich ein Manuskript, welches ihr eine förmlich gedruckte Dedikation verhieß, wenn es ihr gelungen wäre einen Verleger für dasselbe zu finden. Für eine Dame dieses Charakters musste der Doktor Lerchenfels ein unschätzbarer Hausfreund sein, und sie ließ es daher auch an keinem Mittel fehlen, ihn an ihr Haus zu fesseln. Er verschaffte ihr die neuesten Zeitschriften und Taschenbücher, hinterbrachte ihr aus seinem Briefwechsel mit namhaften Autoren anziehende Nachrichten und Bemerkungen, machte ihren Vorleser in größeren Zirkeln, führte ihr berühmte Fremde zu und war überhaupt in allen gelehrten Beziehungen der belebende und ordnende Geist ihres geselligen Lebens. Dafür wurde er aber auch wieder von der Geheimrätin auf jede Weise ausgezeichnet und fast wie ein liebes Kind verzogen. Sein Urteil in Sachen des Geschmacks galt ihr für ein untrügliches Orakel, seine Muse wurde von ihr angebetet, zu allen Stunden des Tages stand ihr Haus ihm offen, und die kleine Fanny, ihre witzige und naseweise Tochter, welche die Ansichten ihrer Mutter über die Schöngeisterei wie über den Vertreter derselben nicht ganz zu teilen schien, musste sich manchen Verweis gefallen lassen, wenn sie den Doktor nicht mit der Aufmerksamkeit behandelte, welche dessen Sorge für ihre höhere Ausbildung zu verdienen schien. Ob der Geheimrätin in diesem Bestreben, das Herz ihrer Tochter dem junger Manne geneigt zu machen, außer dem geistigen Zwecke, noch ein anderer von festerem Gehalt vor Augen schwebte, hat sich nie deutlich erwiesen. Jedoch kann es als wahrscheinlich angenommen werden, dass sie ihm die Hand ihrer Fanny nicht versagt haben würde, wenn er einmal in glänzender Equipage als Rat oder Professor zu einer Werbung vorgefahren wäre; und auch die Tochter hätte ihm dann vielleicht die Langeweile vergeben, die das Vorlesen seiner Verse ihr so oft verursacht haben mochte.

Wenn Arthur auf dem Wege nach dem Wilhelmsplatze manchen ernsten und trüben Gedanken Gehör gab, die sich ihm in der Betrachtung seines gegenwärtigen Lebens und der Pläne für seine Zukunft aufdrängten, so gewann doch bald seine lebhafte Phantasie, welche nie müde wurde, ihn mit sich selbst zu täuschen, den Sieg über die scheltende und warnende Vernunft. Er musste sich zwar gestehen, dass ihm fast ein ganzes Jahr nach seiner Promotion ohne irgendeine Förderung seines ärztlichen Berufes verstrichen war: aber er tröstete sich darüber mit seinen Fortschritten in der Laufbahn der freien Musenkünste. Das mäßige Vermögen, welches sein Vater ihm hinterlassen hatte, war in diesem Jahre bedeutend verringert worden: aber er hoffte im nächsten auf ein großes Honorar für eine schriftstellerische Arbeit. Dass er die Gelegenheit von sich gewiesen hatte, Italien, die Heimat der schönen Kunst, auf Kosten des Marquis zu bereisen, auch dafür fand er eine Entschuldigung in den seltsamen Launen und Gewohnheiten des alten Mannes, dessen Gesellschaft ihm selbst ein Paradies unerträglich machen müsste. Endlich geriet er auch auf eine Prüfung des schnippischen Betragens der kleinen Fanny gegen sich. Wie oft hatte sie über seine Gedichte gelacht oder gar gegähnt, wie bitter hatte sie über seine kleinmütige Bedenklichkeit, dem Marquis nach Italien zu folgen, gespöttelt, ohne auch nur von fern ahnen zu wollen, was ihn an Berlin fesselte, wie wenig erkannte sie endlich das in ihm, wodurch er sich aus dem Schwarme der jungen Welt, die ihr mit ihm huldigte, in glänzender Eigentümlichkeit hervorzuheben meinte!

Aber! so rief er im alles verschlingenden Gefühl seines Triumphes aus, aber das Thema zu der Glosse! Spricht der Inhalt desselben nicht mit deutlichen Worten ihr lange verheimlichtes und hinter Spott und Laune verstecktes Gefühl gegen mich aus? Und wenn ich gar noch bedenke, in welcher Stunde und unter welchen Umständen sie mir dieses Thema niederschrieb!

Fanny hatte sich nämlich den boshaften Spaß mit ihrem poetischen Anbeter erlaubt, ihm jenes Thema in einer Stunde zu übergeben, als ihm eben in einer plötzlichen Entrüstung über ihre neckische Laune die drohende Äußerung entschlüpft war, er wolle morgen abreisen. Arthur, viel zu gutmütig und eitel, um die Mystifikation durchzusehen, hatte das Thema als eine Liebeserklärung der endlich Bezwungenen mit einer so überschwänglichen Fülle von Glut und Dampf glossiert, dass er nicht zweifelte, sie selbst werde, ergriffen von ihrer durch ihn ausgesprochenen Leidenschaft, ihm gleich nach der ersten Strophe in die Arme stürzen und ihre Aufgabe lebendig darstellen.

Von solchen übermütigen Hoffnungen trunken gemacht, zog Arthur mit ungestümer Hast die Klingel an dem großen Haustore, welches ihm jetzt die einzige Schranke zu bilden schien, die seine Sehnsucht von dem ihr winkenden Ziele trennte. Knarrend öffnete sich durch einen unsichtbaren Druck der schwere Torflügel, ließ ihn eintreten und schlug hinter ihm mit lautem Getöse wieder zu. Er eilte mit beschwingten Schritten die Treppe hinauf, aber schon auf den ersten Stufen legten sich bleierne Gewichte unter seine Sohlen und über sein Herz, als das an ihm vorbeischlüpfende Kammermädchen die Worte fallen ließ: Madame werden gleich ausgehen. — Heute? Heute? fragte er sich selbst statt des Mädchens. Und ohne mir etwas sagen zu lassen? Weiß sie doch, wie gewissenhaft ich gerade den Montag halte, und wie keines Ministers Einladung mich bewegen könnte, mich an diesem Abend ihrem Zirkel zu entziehen! Es wird gewiss ein Irrtum von der dummen Soubrette sein.

Noch hatte er die Türe der Geheimrätin nicht erreicht, als diese ihm schon aus derselben entgegenlief: Mein lieber, guter Doktor, sein Sie nur gleich recht böse auf mich! Schelten Sie, so scharf Sie wollen, aber lassen Sie meine Vergesslichkeit damit auch ein für alle Mal abgebüßt sein. Nichts nachtragen, nur nichts nachtragen, das müssen Sie mir versprechen. — Arthur wusste nicht, was er entgegnen sollte, so tief schlug ihn dieser Empfang trotz aller feiner Freundlichkeit nieder. Stumm trat er auf die Einladung der Dame in ihr Zimmer ein und erstaunte merklich über die glänzende Toilette, in welcher er sie erblickte. Sie haben mich noch nicht in dem neuen Pariser Anzuge gesehen, Herr Doktor, sprach sie ihm zu, und Sie werden glauben, ich gehe zu einem Balle. Aber setzen Sie sich; mein Tänzer wartet schon, bis ich komme. Sie sind mit Recht betroffen, und ich bin Ihnen eine Aufklärung schuldig. Die Majorin von Felbel überrascht mich heute gleich nach Tische und kündigt mir einen Besuch an, einen Besuch, und raten Sie einmal von wem? — von Casimir Delavigne. Stellen Sie sich meine Entzückung vor oder auch meinen Schreck, wenn Sie wollen. Ich konnte mich kaum fassen und nur die Frage herausbringen, wie der gefeierte Mann nach Berlin käme. Er steht vor der Türe, sagte die Majorin dringend, und wartet nur auf Ihren Befehl. Ich lasse öffnen, und ein junger Mann von der feinsten französischen Tournüre, gekleidet wie ein Bild aus dem Pariser Modejournal, schreitet auf mich zu, küsst mir die Hand und redet mich an mit einem Akzent, ich sage Ihnen, mit einem Akzent ohne Gleichen. Aber in demselben Augenblick fängt er an laut zu lachen, und die Majorin stimmt ein. Es war ihr Sohn, der seit einigen Jahren in Paris bei unsrer Gesandtschaft gearbeitet hat und dort in Paris selbst, wegen einer ganz frappanten Ähnlichkeit, oft mit dem berühmten Delavigne verwechselt worden ist. Ein höchst interessanter junger Mann. Er hat Delavigne häufig in den Clubs der Liberalen gesprochen, mit Béranger hat er Brüderschaft getrunken — Sie müssen ihn durchaus kennen lernen, lieber Doktor. So hat er mir zwei, drei Stunden hinweggeplaudert, und dann haben wir ihm versprechen müssen, diesen Abend bei der Majorin Tee zu trinken. Er hat Fanny so geschwätzig gemacht, wie ich sie seit Jahren nicht gesehen habe, und sie hat sich sogar dazu verstanden, denken Sie sich, Französisch mit ihm zu konversieren. Aber nun, lieber Doktor, Ihre Hand und das Versprechen: Nichts nachgetragen! Sie wissen ja, wie ich für Delavigne portiert bin, und so ist es kein Wunder, dass auch der falsche Delavigne einen Teil meiner Bewunderung des echten in Anspruch genommen hat.

Arthur, fast von jedem Wort dieser Erzählung an den empfindlichsten Stellen seiner Eigenliebe verletzt, vermochte noch immer nicht einen Ton zu finden, welcher das ausspräche, was sein Inneres empörte. Endlich brachte er nicht ohne Beklommenheit die Frage heraus: Kann ich nicht die Ehre haben, Fräulein Fanny auf einen Augenblick zu sprechen?

Meine Tochter wird noch mit der Toilette beschäftigt sein, erwiderte die Dame ziemlich gleichgültig. Lisette, geh doch einmal hinein zu dem Fräulein, der Herr Doktor wünschen sie zu sprechen.

Bestellen Sie, die Glosse wolle ihre Aufwartung machen, rief Arthur dem Kammermädchen nach. Die Geheimrätin, vor dem Spiegel stehend, überhörte diesen Nachtrag zu ihrem Befehl, und das steigerte wieder des Doktors Entrüstung. Das Kammermädchen kam zurück und meldete: die Madame Klosse möge morgen wiederkommen, wenn sie nicht schon heute Nacht abreise. Die Dame, ohne den Grund des komischen Missverständnisses zu begreifen, fing an aus vollem Halse zu lachen, und der misshandelte Dichter, unfähig, seine innere Wut länger zurückzuhalten, eilte so stürmisch aus dem Zimmer hinaus, dass er sein trotziges „Leben Sie wohl!“ kaum noch auf dem Vorsaal aussprechen konnte. Ebenso stürzte er die Treppe hinunter, zog den Drücker des Haustores in die Höhe und schob sich durch den zurückgedrängten Flügel hinaus. Dieser, schnell hinter ihm zufallend und einschnappend, klemmte einen seiner Rockschöße fest, und er war gefangen. Er wollte nach der Klingel greifen, aber diese hing am Pfosten des breiten Tores zu weit seitwärts, als dass er sie hätte erlangen können. Ängstlich blickte er in der Finsternis um sich her, ob er nicht eines Menschen ansichtig würde, welcher ihm in dieser seltsamen Verlegenheit Hilfe leisten könnte. Aber die Straße über den Wilhelmsplatz führte nicht in den finstern Winkel hinein, welchen das Haus der Geheimrätin einnahm, und alle Vorübergehenden waren daher zu weit von ihm entfernt, um seine Bitte zu hören, wenn er nicht ein lautes Geschrei anstimmen wollte. Je länger er aber auf Erlösung wartete, desto quälender empfand er das Lächerliche seiner Stellung, und wenn er daran dachte, dass jetzt die Geheimrätin und Fanny heraustreten und ihn entfesseln könnten, so wollte er sich den Kopf gegen das Schloss einstoßen. Seine mit jedem Augenblicke bis zur Verzweiflung steigende Angst machte ihn so besinnungslos, dass er sich wie ein Rasender zu gebärden anfing und schon im Begriffe stand, seinen Rock mit Gewalt herauszureißen und einen Schoß desselben im Stiche zu lassen, als es ihn plötzlich wie eine Eingebung durchleuchtete, dass er ja den Rock nur auszuziehen brauche, um die Klingel zu erreichen Augenblicklich schlüpfte er aus den Ärmeln heraus, ließ den Rock in der Torklemme und hatte eben die Klingel gefasst, als der Flügel sich öffnete, sein Frack auf die Erde fiel und die beiden Damen mit ihrem Kammermädchen heraustraten. Wie ein Wütender sprang Arthur nach seinem Rock, trat die eine Dame auf den Fuß und stürzte noch in Hemdsärmeln gegen die Mitte des Platzes fort. Hinter ihm her scholl ein gellendes Gelächter, und ein handfester Gesell, den er anlief, fasste ihn unsanft am Arme und brummte in den Bart: Nu, nu, Musjö, renn' er man die Menschen nicht um!

 

Drittes Kapitel.

 

Wohl eine halbe Stunde trieb sich der unselige Arthur, ohne zu sich selbst kommen zu können, in den entlegensten Straßen auf und ab. Es wogte so verworren und ungestüm in seiner Brust und seinem Kopfe umher, dass er keine Empfindung und keinen Gedanken festhalten konnte, und so oft er seinen kochenden Ingrimm gegen die Geheimrätin und ihre Tochter auszulassen anfing, so oft erhob sich auch gleich in ihm ein widersprechender Gegner, welcher ihn selbst einen anmaßenden und närrischen Menschen schalt. Nachdem er sich aber einigermaßen gesammelt und beruhigt hatte, wagte er sich die Frage vorzulegen: Was soll ich jetzt beginnen? Unter allen mehr oder minder übereilten Vorschlägen, die bald sein Zorn, bald seine Eitelkeit, bald sein Ehrgeiz ihm eingaben, blieb dennoch ein großer Entschluss, welcher schon mit seiner Flucht aus der Torklemme in seinem Inneren aufgegangen war, unter dem Kampfe der Meinungen unerschütterlich stehen. Er wollte das Haus der Geheimrätin nie wieder betreten, und seine Liebe schien durch die Lächerlichkeit der letzten Szenen, welche sie eben mit ihm gespielt hatte, so beschämt, dass sie keinen Widerspruch gegen diesen Vorsatz einzulegen unternahm. Italien! Italien! dieses Losungswort riss ihn jetzt plötzlich wie ein Zauberspruch aus den Trümmern seiner niedergeschlagenen Pläne und Hoffnungen empor, und als ob unsichtbare Mächte ferne Schritte zu diesem Ziele gelenkt hätten, stand er gerade vor der Wohnung des Marquis in der Brüderstraße, als die Reise nach Italien ihn durch und durch wie ein Blitz erleuchtete. Italien! Italien! wiederholte er laut die Stimme seines Inneren und trat in das Haus ein. In dem Flur stand der Diener des Marquis, ein ehemaliger Souffleur des Theaters, welcher den an ihm vorübereilenden Doktor erkannte und seiner Frage mit der Meldung zuvorkam, der Herr Marquis sei schon schlafen gegangen.

Schlafen? fragte Arthur verwundert. Es kann ja wohl kaum acht Uhr geschlagen haben.

Ein Viertel auf neun Uhr, wenn der Herr Doktor erlauben. Das ist so die Gewohnheit des Herrn Marquis, nach acht Uhr sich zur Ruhe zu begeben. Wenn er auch so früh nicht einschläft, er geht doch immer um diese Stunde in seinen Tempel, und dann darf ich keine Menschenseele anmelden.

Aber mein Besuch ist sehr wichtig, guter Freund, sehr dringend, und der Herr wird mich gewiss annehmen.

Daran zweifle ich nicht, Herr Doktor, aber ich habe die strengste Ordre, nicht einmal anzuklopfen an den Tempel, wenn der Herr Marquis sich nach acht Uhr darin eingeschlossen hat. Auf ein Wort, Herr Doktor. Der Herr hat mir heute gesagt, Sie werden nun doch mit ihm reisen. Das ist mir eine rechte Beruhigung, dass ich ihn unterwegs und in der Fremde in guten Händen weiß. Denn, sehen Sie, Herr Doktor, ich habe mich anders besonnen. Man wird auch alt und hinfällig und hat Frau und Kinder hier. Wenn der Marquis in Berlin geblieben wäre, da wollt' ich's wohl bis an sein Ende mit ihm aushalten. Ich habe mich nun einmal so nach und nach in seinen Eigensinn und seine Wunderlichkeit gefunden, und ich denke, wir haben alle ein bisschen davon. Und übrigens ist er Ihnen ein kreuzbraver Mann. Aber Italien, das ist mir doch zu weit, und ich hab' es dem Herrn heute gerade herausgesagt. Man will doch auch wissen, wo man sein Haupt in die Grube legen soll, und ich verschlüge mir obendrein noch einen schönen Posten, den ich da drüben bei der alten Gräfin bekommen soll. Jeder ist sich selber der Nächste.

Aber das hätt' Er nicht so lange verschieben sollen, Konrad, dem Marquis den Dienst aufzusagen. Der alte Mann kann doch nicht ohne Diener reisen.

Warum nicht, mein Herr Doktor? Der alte Mann braucht keinen Diener, zu nichts in der Welt, sag' ich Ihnen. Denn es kann ihm doch Keiner etwas recht machen, und so hat er Ihnen eigentlich mehr zu tun, wenn er sich aufwarten lässt, als wenn er sich selbst aufwartet. Nicht einmal die Stube kann ihm ein Mensch so ausfegen, dass er nicht mit seinem kleinen Wedel hinterher noch einmal abstäuben sollte. Wenn ich ihm des Morgens den Schuhanzieher unter den rechten Fuß schiebe, so will er den linken Schuh zuerst anziehen, und komm' ich ihm mit dem linken zuerst, so soll es der rechte sein. Noch niemals habe ich ihm auch nur einen Knopf zu Danke zuknöpfen können. Und nun vollends in seinem Tempel!

Aber, Konrad, sag' Er mir nur, was meint Er denn mit dem Tempel, von dem Er da spricht?

Das ist das kleine Kabinett, Herr Doktor, hinten heraus, in welches kein Tageslicht hineingeschienen hat, solange der Marquis hier wohnt, ein kleines Kabinettchen, nicht viel größer als mein Souffleurkasten im großen Opernhause, aber der Marquis nennt's nun einmal einen Tempel. Ihnen, Herr Doktor, darf ich's wohl sagen, Sie werden's ja doch über lang oder kurz einmal zu sehen bekommen, wenn Sie erst mit dem Marquis auf Reisen gehen. Sonst soll ich eigentlich, so zu sagen, nicht davon sprechen. Sehen Sie, da hat er das ganze Kabinettchen, Türen und Fenster, von oben bis unten mit einer Art von Tapete behangen, mit so einem altmodischen Zeuge, große bunte Kerls darauf, der König David mit der Harfe und der Bundeslade und die schöne Susanne, und Gott weiß, was noch mehr für Geschichten. Dann hat er Ihnen eine Maskeradengarderobe rings herum aufgehängt, bunte gestickte Röcke und Westen von allen Farben, abgetragene Lumpen, es zöge sie bei uns kein Statist auf den Leib, zerrissene Degenscheiden, rostige Klingen, spanische Röhre, zerzauste Perücken, ich sage Ihnen, eine wahre Trödelbude. Aber die Hauptsache ist ein kleines Häuschen von Pappe, so wie's die Buchbinder auf dem Weihnachtsmarkt feil haben, mit Fensterchen und Türchen, und aus dem größten Loche guckt eine Frauensperson heraus, ein Gemälde, ganz fein und niedlich. Die ganze Bescherung steht auf einem Tischchen, das heißt er den Altar, und vor dem Tischchen liegt ein großes Kissen, das ist mit Erde gestopft, ich glaube von seinen Gütern in Frankreich. Den Tag über schläft immer der alte Bologneser darauf, aber wenn des Abends die großen Lichter auf dem Altar angesteckt werden, so geht das Tier herunter, ohne dass man's ihm heißt, und macht dem Marquis Platz. Aber, Herr Doktor, dass Sie mich auch nicht verraten! Ich habe einmal durch das Schlüsselloch geguckt, Gott verzeih' mir's; denn wen soll auch die Neugierde nicht plagen, wenn so eine Komödie nebenan gespielt wird? Da lag der Marquis mit seinen Knieen auf dem Kissen und hatte die Hände gefaltet vor dem Häuschen, und die Tränen liefen ihm immer die Backen herunter; ich hätte nicht geglaubt, dass in dem ganzen Gerippe noch so viel Wasser wäre. Seinen Kirschkern hatte er aus dem Munde genommen und ihn mit samt dem Goldkettchen an das Häuschen angehängt, unter dem Fenster mit dem Portrait.

Sonderbar! murmelte Arthur vor sich hin. So sollte die lächerliche Geschichte mit dem Kirschkern wirklich wahr sein. Ich habe sie immer für eine Fabel gehalten. Man ersinnt so viele wunderliche Dinge auf Kosten des Marquis.

Reine Wahrheit, Herr Doktor, fuhr der Schwätzer fort. An einem kleinen feinen Goldkettchen mit zwei Häkchen trägt er den Kirschkern im Munde, an zwei Zähnen befestigt, solange ich ihm diene, und Gott weiß, wie viel länger schon. Was es aber mit dem Kirschkern eigentlich für eine Bewandtnis hat, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber fürchten Sie sich deswegen nicht vor dem alten Mann. Er ist ein kreuzbraver, herzensguter Herr bei aller seiner Wunderlichkeit. Was er im Stillen für Gutes tut, das ist gar nicht zu sagen. Sein halbes Vermögen schenkt er weg an die Armut. Und wenn er gleich für seine eigene Person lebt wie ein Hund, mit Respekt zu sagen, so lässt er Unser einen doch deswegen nicht darben. Man muss sich nur in sein Wesen zu schicken wissen, so lässt er sich um den kleinen Finger wickeln, wie ein Seidenfädchen.

Es schellte. Der Souffleur verstummte und verlor den Faden seiner Erzählung. Alle Wetter! rief er aus, das ist die Glocke des Marquis. Was mag das zu bedeuten haben? Warten Sie noch einen Augenblick, Herr Doktor; jetzt will ich Sie melden.

Mit diesen Worten eilte er hinein und brachte unverzüglich den Bescheid zurück, der Marquis wolle den Herrn Doktor sprechen. Aber lachen Sie nicht! flüsterte er dem Eintretenden nach.