Deutscher Novellenschatz 4 - Franz Berthold - E-Book

Deutscher Novellenschatz 4 E-Book

Franz Berthold

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Beschreibung

Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 4 von 24. Enthalten sind die Novellen: Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Ratskeller. Kinkel, Gottfried: Margret. Mörike, Eduard: Mozart auf der Reise nach Prag.

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Seitenzahl: 358

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Deutscher Novellenschatz

 

BAND 4

 

 

 

 

 

 

 

Deutscher Novellenschatz, Band 4

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849660970

 

Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/.  Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Irrwisch-Fritze. 1

Phantasien im Bremer Ratskeller. 56

Margret. 97

Mozart auf der Reise nach Prag. 127

 

 

Irrwisch-Fritze.

 

Franz Berthold (Adelheid Reinbold).

 

Vorwort

 

Adelheid Reinbold, geboren 1802 (?), aus einer hannoverischen Beamtenfamilie stammend, entwickelte frühzeitig Sinn für geistige Beschäftigung. Familienverhältnisse veranlassten sie, im Hause Pereira zu Wien die Erziehung einer Tochter zu übernehmen, aus welcher Stellung sie nach sieben Jahren mit einer Pension, die sie über die gewöhnlichen Sorgen des Lebens erheben konnte, schied. Allein sie machte es sich zur Pflicht, für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen, und da ihre Versuche, in vornehmen Häusern als Erzieherin oder Gesellschafterin unterzukommen, teils an den Umständen teils an der Selbständigkeit ihres Charakters scheiterten (Erfahrungen, die sie in einer ihrer Novellen niedergelegt hat), so griff sie, ermutigt durch den Beifall, den sie mit Einsendungen im Morgenblatt gefunden hatte, zur Feder, schrieb jedoch, vermutlich aus weiblicher Scheu vor der Öffentlichkeit unter einem angenommenen männlichen Namen. Sie lebte meist in Dresden, wo Tieck ihr ein teilnehmender Freund und Berater war.

"In der Blüte der Jahre, gesund, kräftig, schön, unermüdlich tätig, von keinem Wechsel der Witterung gestört, erkrankte sie plötzlich an der brandigen Halsbräune und war in acht Tagen gesund und tot"

. Sie starb am 14. Februar 1839, nachdem sie sich wenige Monate des Erfolges ihrer Erzählung "Irrwisch-Fritze" erfreut und noch die ersten Druckbogen ihres Romans "König Sebastian" korrigiert hatte. Ihre Schriften hat Tieck herausgegeben und eingeführt. Die beste ihrer Leistungen ist unstreitig der "Irrwisch-Fritze", der, als er unter der Bezeichnung "Idyll-Novelle" in der Urania mit des "Lebens Überfluss" von Tieck, der "Entführung" von Eichendorff und dem "Gekreuzigten" von L. Schefer zusammen erschien, trotz der Nachbarschaft dieser damals so gefeierten Namen das größte Aufsehen erregte. Heute freilich, wo man andere Maßstäbe anlegen gelernt hat, wird man nicht mehr ganz mit Tieck übereinstimmen können, der die Erzählung ein echtes bäurisches Idyll nennt, das niederdeutsche Sitten und Menschen ohne alle sogenannte poetische Verschönerung mit der höchsten Treue und Wahrheit abschildere. Aber treue und in anmutigen Zügen hervortretende Beobachtung ländlicher Natur und ländlichen Lebens wird man ihr auch jetzt noch nicht absprechen können; besonders meisterhaft ist der kleine Widerwart, die jüngere Schwester der Heldin, gezeichnet; und obgleich "Irrwisch-Fritze" dem "Münchhausen", mit dessen erstem Teil er gleichzeitig im September 1838 ausgegeben wurde, nicht völlig ebenbürtig an die Seite treten kann, so darf er sich doch einer entschiedenen Verwandtschaft mit ihm rühmen, ja er hat sogar, was die Wirkung betrifft, der Zeit nach den Vortritt, sofern er bereits abgeschlossen vorlag, während die gewaltigen idyllischen Bestandteile von Immermanns "Geschichte in Arabesken" noch des Erscheinens harrten. Diese beiden Idyllen sind es, die dem gesunden Realismus der neueren Erzählungskunst die Bahn gebrochen haben, und ihre Schuld ist es nicht, wenn die neue Richtung, wie dies übrigens im Wesen jeder Entwicklung liegt, zum Teil einseitig und handwerksmäßig breitgetreten wurde. Indessen ist noch eine Bemerkung anderer Art hervorzuheben, zu welcher die vorliegende Erzählung Anlass gibt. Wir haben früher gesagt, die Romantik habe ihren Rocken nur langsam und unter vielfachem Gestaltenwechsel abgesponnen: und wir behielten uns damals vor, als ein artiges Beispiel dieses Übergangs eben den "Irrwisch-Fritze" aufzustellen. Hier hält die Muse, die doch mit fliegenden Fahnen dem realen Leben zueilt, noch einen Augenblick still, um einen Blick des Heimwehs auf die verlassene Märchenwelt zurückzuwerfen. Denn es wird Niemand entgehen, dass in dieser liebenswürdigen Erfindung die Irrlichter keineswegs bloß naturwahr im Aberglauben der handelnden Personen sich betätigen, sondern dass auch der aufgeklärte Leser sie von dem Verdachte, etwas mehr als billig in die Handlung zu Gunsten ihres Helden eingegriffen zu haben, nicht völlig freisprechen kann. Oder, wenn auch der Hergang sich natürlich deuten lässt, so hat man doch den Eindruck, dass dem Natürlichen ein Überrest des Wunderbaren von ehedem zur Seite schleicht, und wäre es auch nur, um zuletzt als romantische Dekoration am Wege zu stehen.

 

***

 

 

Es war an einem schönen Junitage, das Gras lag in langen Reihen und begann unter dem Strahl der Sonne zu welken und zu duften. Die Mäher und Mäherinnen hatten sich einzeln und in Gruppen zurückgezogen; mehrere Männer ruhten am Saum des Kornfeldes, das neben der Wiese hinlief, und benutzten den schmalen Schatten der hochaufgeschossenen Ähren zum Mittagsschlaf. Ein Haufen Weiber beschäftigte sich, einen tönernen Henkeltopf, der das enthielt, was jene von der Mahlzeit übrig gelassen, mit einem hölzernen Löffel zu leeren, der reihum ging; ein paar Kinder kehrten, die in bunte und schmutzig weiße Tücher gebundenen Gefäße zum Zeichen der Inhaltlosigkeit schwenkend, nach dem Dörfchen zurück, aus welchem sie gekommen. In einiger Entfernung von den Andern saß ein hübsches Mädchen auf einem kleinen Rasenhügel, der ehedem Ameisen zur Wohnung gedient hatte, jetzt aber von duftendem Thymian überwachsen den natürlichsten Schemel bot. Auch sie schützte das Kornfeld, durch welches ein schwaches Lüftchen zog, das seinen Blütenstaub hin und her trug und den Geruch mit dem des welkenden Grases mischte. Das Mädchen hatte ihr Tuch von dem heißen Gesichte genommen und einen Haufen roter und blauer Blumen auf die abgebundene Schürze geworfen, die sie aus dem grünen Korne gepflückt, wo sie sie eben abreichen können; sie war nicht gerade schön zu nennen, aber leicht und zart gebaut, und aus dem klaren Auge strahlte eine Frische des Ausdrucks, welche an den Blick des Rehes erinnerte. Während die andern Dirnen entweder schliefen oder untereinander plauderten und mit den wenigen jüngeren Burschen schwatzten, bei denen ländliche Gefallsucht die Müdigkeit überwunden, lag nur eine einzelne Gefährtin neben ihr, und sie saß abgesondert und geringen Anteil nehmend, scheinbar in den schönen Kranz vertieft, der ihr unter den Händen wuchs; nur zuweilen blickte sie verstohlen von der Scene abwärts, die stiller und stiller ward. Das Lüftchen schwieg endlich auch und machte einer drückenden Schwüle Platz; keine Grille, kein Vogel rührte sich; die einzelnen Schmetterlinge, welche die Sense aus dem blühenden Grase verscheucht hatte, waren verschwunden und suchten Kühlung und Feuchtigkeit an der Wurzel des Kornes oder am benachbarten Quell bei den Libellen; das Geplauder der Mädchen und Knaben war verstummt, nur das Schnarchen einiger Schläfer störte noch die Mittags-Mitternachtsstunde.

Da kam ein rüstiger Bursche raschen Schritts mit einem Kruge daher. Auf seinem sonnengebräunten Strohhut steckte ein Busch Vergissmeinnicht, die er an dem kleinen Wiesenbache, ohne sich eben dabei aufzuhalten, eine gute Faust voll auf einmal abgerissen. Er nahm einen Umweg, zuerst mit dem Kruge zu der Kränzewinderin zu kommen, den er zum allgemeinen Besten da gefüllt hatte, wo die glücklichen Frösche nicht warten, bis man's ihnen bringt. Ich bring's Euch erst, flüsterte er, damit Ihr's am frischesten habt. Lieschen sah ihn freundlich dankbar an, nahm den Krug, trank und wollte ihn der Nachbarin reichen; diese aber schlief ganz fest. Lasst sie, sagte Fritz, ich komme noch einmal wieder, wenn ich herum bin.

Aber er schien keine Lust zu haben wegzugehen und stand noch immer. Lieschen wurde verlegen, die Blumen fielen ihr aus der Hand, und der Kranz rückte nicht weiter. Fritz dachte nicht daran sie aufzuheben, er stand und würgte an Etwas, das ihm nicht aus der Kehle wollte. Um nur was zu sagen, bemerkte er: Ihr macht ja da einen schönen Kranz!

Ja, antwortete Lieschen und sah zu seinem Strauß auf, als wollte sie in bäuerlicher Einfalt erwidern: Ihr habt ja da einen schönen blauen Busch! Den Namen der Blumen kannte sie nicht. Fritz wusste ihn eben so wenig, aber er nahm den Hut ab, langte sie herunter und warf sie ihr in den Schoss. Da! sagte er, und seine Augen leuchteten so blau wie die Blumen. Lieschen nahm sie und band sie in den Kranz, ohne sie zu vereinzeln. Fritz stand noch immer da. Sie wagte nicht aufzusehen. Endlich sagte sie mit unsicherer Stimme: Geht doch weiter, Euer Wasser wird warm, es steht ja in der Sonne, — und scheu glitt ihr Blick wieder auf die Blumen herab.

Fritz aber ließ sein Auge in der Versammlung umherschweifen, dann bückte er sich, wie um den Krug zu fassen, wodurch seine Gestalt Lieschen vor den Blicken der Gesellschaft schirmte, im Fall es noch welche unter ihr gab — aber statt den Henkel zu ergreifen, ließ er seine Hand auf Lieschens sinken und sagte: Lieschen, willst du mich?

Lieschen erschrak über die plötzliche Werbung, wollte die Hand zurückziehen und konnte nicht, sie zuckte und zuckte, aber es ging nicht, vielleicht wandte sie nicht alle Kraft an; endlich sah sie zu Fritzens treuherzigem blauem Auge auf und senkte ihr flüchtiges braunes schnell wieder; eine große Träne hing an den Wimpern.

Fritz sah das Mädchen einen Augenblick betroffen an, dann aber überwältigte ihn eine süße Überzeugung, und in täppischer, bäurischer Freude wollte er ihr mit einem: Heida! um den Hals fallen; eben warf er seinen Hut dazu in die Lüfte, als eine raue Stimme um die Ecke des Kornfeldes rief: Aber zum Henker, wo bleibt denn der Wetterjunge mit dem Wasser? Stellt er's da nicht auf die Erde in die Sonne und schwatzt! — Fritz nahm Krug und Hut auf und ging, Lieschen blickte nicht vom Kranze weg. Als jene eine Strecke weit waren, hörte sie sie reden und fürchtete, sie könnte der Gegenstand ihres Gesprächs sein. Aber es war nur der Durst, denn Beide standen still, der Mann nahm Fritzen den Krug aus der Hand, setzte ihn an den Mund und trank, als wolle er nie wieder aufhören. Dann gingen sie weiter. Lieschen folgte ihnen mit den Augen, Fritz sah sich nicht mehr um.

Als die Glocke vom fernen Dorfturm zwei Uhr schlug und der Laut wie erstickt durch die heiße Luft zitterte, kam der Verwalter vom nahen Gute auf der Wiese an, und die Reihen stellten sich wieder, Fritz an Lieschens Seite. Aber er sprach nicht mit ihr, doch ging er ihr zur Hand, wo er konnte, und übernahm so viel von ihrer Arbeit, wie, ohne Aufsehen zu erregen, möglich war.

Und Lieschen ging nach Hause mit den Andern, den Rechen auf der Schulter, aber im Herzen nicht wie die Andern. Die Dirnen schwatzten, sie war ganz still. Von fernher klang noch das Schärfen einer Sense durch die dunkelnde Luft, das Gezirp der Grillen verkündete einen heißen Tag. Im Dorfe kehrte die Herde eben heim, und Kühe und Schnitter langten gemischt vor den Türen an, wo die Menschen den Tieren den Vortritt ließen. Fritz wohnte am Anfange des Dorfes und verschwand zuerst; Lieschens Haus war am anderen Ende. Sie trat auf den Flur mit dem erdigen Boden, legte Hut und Rechen ab und ging in die Küche, den Milchbrei zu bereiten. Als sie das Mehl einstreute, kam ihr Schwesterchen mit dem Kranze daher, den sie von ihrem Hute genommen; sie guckte in den Topf und sagte: Süßer Brei, Lieschen? — Närrchen, antwortete diese, morgen ist Sonntag! — Ach so mache ihn doch alle Tage süß, was geht mich der Sonntag an, ich gehe ja noch nicht mit in die Kirche und aufs Feld! entgegnete die Kleine, indem sie den Kranz zerpflückte und einzelne welke Blumen ins Feuer warf. Doch Lieschen ließ den Löffel im Topfe stehen, dass die Flamme seinen langen Stiel ergriff und ihn wie gemeines Holz behandelte, setzte den Topf mit Mehl hastig neben die brennenden Töpfe und fuhr mit der noch ganz weißen Hand nach dem Kranze, den sie der Kleinen entriss. Darüber erhob diese ein großes Geschrei. Lieschen erschrak, sie dachte, die Mutter möchte kommen und Red' und Antwort fordern, denn das Nestküchlein war ihr Liebling; sie konnte gezwungen werden, ihm den welken Kranz zu überlassen, oder man konnte wissen wollen — sie wusste selbst nicht was. Sie wandte sich schnell ab, riss den Busch Vergissmeinnicht heraus, steckte ihn in den Eimer, der im Schatten stand, und gab der Kleinen den Kranz zurück, die nach Art verzogener Kinder zwar zu schreien aufhörte, doch nun ohne Unterlass fragte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? — Dummkopf, erwiderte Lieschen, weil mein — sie wollte sagen: Hutband daran hing, du hättest es mit den Blumen ins Feuer geworfen — aber ein neues Geschrei der Kleinen sparte ihr die Notlüge. Mariechen wies auf den brennenden Löffel und rief: Der Löffel brennt; Mutter, Mutter, Lieschen lässt den Löffel verbrennen! und damit stürzte sie in die Stube. Die Mutter kam mit ihr zurück, schalt, besah den Löffel hin und her. Lieschen nahm ihn ihr hastig aus der Hand, den Brei rasch umzurühren, dass er nicht verbrenne, dabei fiel aber ein Stückchen von dem verkohlten Stiel in den weißen Brei — Mutter, sagte sie, ich kann hier nichts machen vor dem Kinde; ich bin müde von der Arbeit, und das Mariechen macht mir den Kopf noch warm mit Dummheiten. — Pack' dich in die Stube und zieh dem Vater die Stiefeln aus! rief die Mutter, er wartet auf dich. — Die Kleine ging murrend fort, kam jedoch nach ein paar Minuten schon wieder, stellte sich dicht ans Feuer, Lieschen in den Weg, und wiederholte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? Dabei warf sie eine verwelkte Mohnblume, ein Kornblümchen nach dem andern ins Feuer und sah sie, in knisternde Funken verwandelt, den Schlot hinauffahren. Lieschen ergriff das beste Mittel, der Litanei des Quälgeists ein Ende zu machen, sie antwortete nicht.

Man setzte sich zu Tisch, und die Kleine vergaß über dem Essen, dass sie, bis sie die Mühen der Großen zu teilen im Stande sei, dieselben zu vermehren geschaffen schien. Auf einmal aber entdeckte sie in dem weißen Löffel voll Brei, den sie zum Munde führte, ein kleines schwarzes Köhlchen; der Teufel fasste sie bei dieser verwandten Materie, sie spuckte, und sobald sie den Mund wieder frei hatte, brauchte sie ihn zur Lästerung und sagte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben?

Eine zweite Kohle, die ihr zwischen die Zähne kam, erstickte die zum dritten Mal wiederholten Worte. Sie sprudelte wie eine Katze. Die hässlichen Kohlen, sagte sie, die waren einmal ein schöner Löffel; ja, ja, Lieschen! Lieschen lässt die Löffel verbrennen auf dem Herd. Sie heizen besser als Torf, nicht, Lieschen? Lässt sich auch schön Brei dabei kochen, sie leuchten gleich in den Kessel, so braucht man keine Lampe. — Der Vater, ein genauer Mann, erkundigte sich nach dem Zusammenhange dieser anklagenden Reden, und das arme Lieschen musste noch eine Strafpredigt in Gegenwart des verzogenen Schwesterchens hinnehmen. Doch sie hörte sie kaum. Der Lärm und das Gesumme des häuslichen Treibens störte ihre lieblichen Gedanken, und sie suchte sich ihnen hinzugeben. Ein paar Mal war ihr, als bewege sich ein dunkler Schatten vor dem Fenster, als müsse es Fritz sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an — Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Mute als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Tränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied.

 

Am andern Morgen ging Lieschen mit der kleinen geputzten Schwester über Feld, in die Kirche des nächsten Dorfs, die ein Filial war, wo der entfernte Prediger alle vier Wochen einmal Gottesdienst hielt; denn da unten in der Haide war's um die Seelsorge nicht besser bestellt, und konnte eben nicht viel anders sein. Die Mutter hatte der kleinen Range zum ersten Mal erlaubt, sich unter Christen zu erbauen, und sie ging stolz und breit neben Lieschen her, in der Überzeugung, man ahme durch Schweigen und Steifgehen die Würde der Großen am besten nach. Sie hatte sich einen dicken Nelkenstrauß gebunden, mit Melisse und Rosmarin rund umher, und hielt ihn zwei Schritt von sich ab, wie man auf alten Bildern die würdevolle Zitrone getragen sieht. Lieschen hatte einen einfachen Busch blauer, über Nacht frisch aufgeblühter Blümchen ans Mieder gesteckt, nur ein grünes Weinblatt schlang sich rings umher und hielt ihn zusammen wie ein Kelch. Auf dem ganzen Wege, vor ihnen, hinter ihnen, wandelten zerstreute, geputzte Männer und Weiber. Da hörte Lieschen hinter sich eine Stimme, die ihr das Blut in die Wange trieb. Mache doch nicht so viel Staub! hatte sie eben zu Mariechen sagen wollen, welche es mit ihrer sonntäglichen Würde vereinbar fand, der Schwester im Gehen so viel Erde wie möglich auf die weißen Strümpfe zu werfen, aber das Hauptwort blieb ihr im Munde stecken, sie schwieg. Mariechen blickte sie an und sah nach rückwärts. Welcher doch? dachte der kleine Dämon. Zwei flinke Burschen kamen daher, sie waren bald nach. Nun, Lieschen, brav Heu gemacht gestern? fragte Nachbars Franz. — Ach ja, antwortete sie, es war ein schöner Tag. — Und i was, Jungfer Mariechen auch auf dem Wege in die Kirche und so blank? fuhr jener fort. Ja, ja, was ein guter Haken werden will, krümmt sich bald. — Die Kleine spreizte sich wie ein Pfau, und Fritz sah Lieschen verstohlen mit einem Blick an, der in ihr Herz brannte; dann gingen Beide vorüber. Fritz hatte nichts Freundliches gesagt. Aber am Grenzstein seitwärts des Weges blieb er stehen, stellte den Fuß darauf und sagte: Meine Schnalle geht mir los, geh du nur immer zu. Der Andre ging, wartete, ging wieder, da die Schnalle gar nicht fest werden wollte. Lieschen kam heran, sie war ganz nah; jetzt war die Schnalle ganz fest. Sieh doch die schönen Blumen! sagte sie zu Mariechen, auf den gegenüberliegenden Rasenrain deutend, und bereute die List, sobald sie ihr entschlüpft war. Aber sie war bestraft, denn Mariechen drehte sich auf dem Absatz um und sagte: Ach was, ich habe ja viel schönere! Stolz roch sie an ihren vollen roten Nelken.

Fritz hatte sich zu ihnen gewendet; er sah den Busch Vergissmeinnicht an Lieschens Brust, und ein süßer Triumph ging über seine Züge. Er hatte ihr Wort noch vernommen und bemerkte mit einem raschen Blick auf ihre Blumen: Aber die riechen ja nicht, Lieschen; nehmt Euch in Acht, Ihr werdet über der Predigt einschlafen! — O ja, antwortete Lieschen verwirrt, sie riechen wohl! — Lasst doch sehen, sprach Fritz und langte nach den Blumen. Lieschen gab sie ihm; er drückte sie auf sein Gesicht, als wolle er riechen, zog eine prächtige Rose aus seinem zierlich gebundenen Busch und steckte sie mitten zwischen Lieschens Vergissmeinnicht. Er roch noch einmal daran und reichte sie ihr wieder hin, indem er sie ihr auf den Mund presste, wie einen wandernden Kuss. Nun riechen sie, lächelte er, und ging vorüber.

Mariechen sah ihm mit einem funkelnden Blicke nach. Der ist's! dachte sie. Es war ihr, als sei ein Blitz durch ihren Kopf gefahren, der Alles hell machte, was sonst dunkel war. Der ist's! wiederholte sie bei sich. Sie war über diesen Gedanken stehen geblieben, jetzt lief sie Lieschen nach. Warum hat er mir denn keine Rosen gegeben? fragte sie. Weil deine Blumen riechen, erwiderte Lieschen. Ja, das glaub' ich, sagte die Kleine boshaft, ich hatte sie auch frisch gepflückt und sie nicht über Nacht im Eimer stehen lassen. Und dann, so alte Wiesenblumen! Meine sind aus dem Garten, das ist doch viel vornehmer! — Ein Haufen Weiber holte sie ein, man sprach von anderen Dingen.

Als die Schwestern aus der Kirche traten, stand Fritz schon an der Tür. Gestern hat Lieschen einen Löffel verbrannt, Fritz, sagte die Kleine boshaft. Das wird einmal eine schlechte Hausfrau, Fritz! Sie hat ihn im Topfe stecken lassen, das Ende über den Topf hinaus, er ist zu Kohlen gebrannt, und sind lauter Kohlen in den Brei gefallen, dass er schwarz und weiß war. Sie wollte nicht, dass ich ihre hässlichen blauen Blumen ins Feuer werfen sollte. Das wird einmal eine schlechte Hausfrau, Fritz! — Lieschen errötete, aber sie verzieh dem Kinde die eine Hälfte des Zusatzes über der andern.— Sie wusste gestern gar nicht, was sie tat, Fritz, fuhr die Kleine fort. Wusste sie's denn auf der Wiese? Gewiss hat sie Korn statt Gras gemäht.

Naseweis! rief Lieschen, und Fritz blickte sie zärtlich an und schien in ihrer Betrachtung verloren. Sie errötete noch mehr. Es kommt ein Gewitter! sagte sie rasch, Mariechens Hand ergreifend, mach dass wir fortkommen!

Das Gewitter stand fern, aber drohend; schweigend gingen beide nach Haus; wie war ihnen seit gestern Alles so verwandelt! Lieschen hatte seit gestern ein Geheimnis, und schon war es entdeckt. Und Mariechen war seit dem Kirchengange alles Ernstes ein großes Mädchen geworden. Das macht die Kirche! sagte die Mutter vergnügt; ja, ja, was Gottes Wort nicht tut! Und sie beschloss, das Kind von nun an alle vier Wochen hinzuschicken.

Am nächsten Morgen konnte kein Heu gemacht werden; das Gewitter hatte sich in der Ferne entladen und sein Gefolge von Regentagen über die Gegend gesandt. Jedermann blieb daheim und besorgte das Haus. Als der Tag sank, ging Fritz ein paarmal vor dem Fenster vorüber, an welchem Lieschen saß. Sie begriff den Wink, stand auf und machte sich auf dem Hausflur zu schaffen, begann den gestern erst gekehrten zu fegen, um die Tür, trotz des Regens, mit Fug und Recht offen halten zu können.

Fritz ging gleich darauf wie zufällig an der Tür vorbei. Der Tag war finster, es dämmerte schon, von der Stube aus konnte man die Leute kaum mehr erkennen. Lieschen trat ganz nah an die Tür, um den Kehricht hinauszuwerfen. Guten Abend, Lieschen, sagte Fritz mit gedämpfter Stimme. Da bring' ich einen Löffel für den verbrannten, und wenn du mir ein bisschen gut bist —

In dem Augenblick glaubten sie einen Lärm im Winkel der Treppe zu vernehmen. Lieschen sah sich erschrocken um. Es war eine Fledermaus, sprach Fritz beruhigend. Er hatte ihre Hand ergriffen, sie zog sie nicht zurück. Sie standen noch ein Weilchen horchend, da war ihnen, als hörten sie wieder einen leichten Laut, ganz in ihrer Nähe. Jetzt wollte Lieschen sich mit Gewalt losmachen. Der Vater hustet nur in der Stube, bemerkte Fritz und hielt sie fester. Geh lieber nach Hause, flüsterte das Mädchen. Wenn du es willst, erwiderte er sanft, adjes! Sein Mund suchte ihre Lippen. Sie sträubte sich, bog sich zurück, aber Fritz ließ sich nicht abweisen. Liebes Lieschen, sagte er, ich habe dich ja so sehr lieb! Und aus dem Abschied wurde ein langer Kuss, der sie vereinte.

Abermals huschte die Fledermaus über ihrem Kopfe hin und erinnerte sie an die Welt, die sie vergessen. Jetzt wollte Fritz gehen, aber nun hielt Lieschen ihn zurück; ihr war, als würde ihr mit seiner Gegenwart das Leben entrissen. Ach, Fritz, flüsterte sie, bleibe doch, ich mag gar nicht wieder in die Stube, o wenn ich doch mit dir gehen könnte! — In dem Augenblick polterte aber wirklich etwas, und Beide fuhren auseinander. Fritz war schon zur Türe hinaus, als sich Mariechen oben an der Treppe zeigte. Die garstigen Fledermäuse! rief sie, kommt das Teufelszeug jetzt gar bis hier herauf? Wäre mir doch eben bald eine in die Haare gefahren.

Lieschen erschrak, das Kind hatte doch wohl gehorcht. Sie ging in die Küche, ihren Löffel in einen Topf zu stecken, damit er nicht neu aussehen sollte; wie sie die Hand öffnete, ihn zu betrachten, merkte sie erst, dass sie außer ihm noch eine schön geschnitzte buchsbaumene Nadel darin hielt, wie die Mädchen dieser Gegend sie statt Kammes zu tragen pflegen, die nestförmig gelegten Flechten über dem Scheitel zusammenzuhalten. Auf der linken Seite der Nadel standen die beiden Namen Fritz und Lieschen eingeschnitzt. Lieschen lächelte, küsste die Nadel und verbarg sie in ihrem Brusttuch.

Am andern Morgen kam Mariechen in die Küche, wie der Kaffee gekocht wurde, und trieb sich um Lieschen herum. Ei, was da für ein schöner neuer Löffel hängt! bemerkte sie. Lieschen wollte antworten: der ist ja alt, schämte sich aber der Unwahrheit und schwieg. Als Mariechen den Kaffee in Gesellschaft der Familie aus ihrem Schälchen schlürfte, sagte sie: Wir haben auch einen neuen Löffel, Mutter; Fritz hat Lieschen für den verbrannten wieder einen gebracht!

Fritz? fragte die Mutter und sah Lieschen streng an. Was haben wir mit dem zu schaffen? Lieschen wurde rot.

Höre, Mädchen, sagte der Vater, wenn dir's einfiele, dich mit dem Irrwischjungen einzulassen, so weiß ich nicht, was ich täte!

Es ist nötig, diesen Spottnamen zu erklären. Fritzens Mutter hatte sich, da sie eines Abends in ihrer Schwangerschaft Korn zur Mühle getragen, von Irrlichtern getückt, verirrt, und die Schmerzen der Geburt ergriffen sie am Saume des Moores, so dass ihr Knäblein das Licht des Tages, oder vielmehr der Sterne, in einer kalten Herbstnacht unter freiem Himmel erblickte, was seiner armen Mutter das Leben kostete. Fritzens Vater, der sein Weib zu suchen ausging, hatte sie schon in den letzten Zügen gefunden. Es gelang ihm zwar, das kleine erstarrte Wesen zu Hause wieder aufzutauen, aber ihm fehlte der Segen der Mutterbrust, denn drei Tage darauf begrub man Die, welche ihm das Dasein gegeben, und Ziegenmilch und Wasser war des Kindchens spärliche Kost. Doch wie rau das Leben es auch begrüßt, es gedieh ihm zum Trotze, und als der Vater, der nicht wieder heiratete und keine andern Kinder hatte, starb, war Fritz ein kräftiger Bursche von sechszehn Jahren, der sich nun mit seiner Hände Arbeit selbst durch die Welt helfen musste; darum schien es aber wohl sehr vermessen, dass er die Augen zu Lieschen erhob, der Tochter eines wohlhabenden Häuslers, während er nichts besaß, als einen einzigen Acker Kartoffelland und seines Vaters kleines Hüttchen. Dass Fritz arm sei, daran hatte Lieschen kaum noch gedacht, desto näher aber lag diese Betrachtung ihrem Vater, der schon seine eigenen Absichten mit der Tochter hatte.

Sein Wort sank schwer in ihre Seele, sie dachte den ganzen Abend daran, am andern Morgen war ihr etwas heiterer zu Mut; die Nacht lag dazwischen, sie meinte: Es fällt manches Wort zur Erde, das nicht aufgeht. Aber es kam ihr doch nicht aus dem Sinn, und da sie Fritz seitdem nicht gesehen hatte, wollte sie sich an seinem Stellvertreter, der neuen Nadel, darüber trösten und steckte sie, wie einen schützenden Zauber, die Namen zuunterst, in die Flechten, nachdem sie sie zuvor sorgfältig mit Kaffeesatz eingerieben hatte, dass das blanke Buchsbaumholz nicht so gelb und frisch scheinen sollte. Dennoch war ihr, als sehe die Mutter scharf darauf hin. Das machte sie verlegen, sie beschloss, die alte Nadel lieber wieder zu tragen. So steckte sie denn die neue in ein Paar Strümpfe, zog es übereinander und legte es zwischen die übrigen in ihren Kasten; dann ging sie aufs Feld, die Kartoffeln zu behacken, die schon in der Blüte standen.

 

Als sie mittags nach Hause kam, eilte sie an ihre Lade, die süße Bestätigung ihrer Verbindung, die ihr unter den häuslichen Geschäften immer ein Traum schien, in den beiden Namen zu lesen, die hier von seiner Hand verschlungen standen. Aber in den Strümpfen, in welche sie die Nadel gesteckt zu haben glaubte, war sie nicht. Sie meinte sich zu irren, öffnete ein anderes Paar, wickelte alle Paare auseinander, die Nadel war nicht da. Sie suchte sie wie eine Stecknadel, umsonst.

Beim Mittagstisch sprach Niemand mit ihr. Die Schwester sah sie von Zeit zu Zeit verstohlen an, wenn sie den Löffel zum Munde führte; Lieschen glaubte einen spöttischen Triumph in ihren Augen zu erblicken. Wäre Lieschen katholisch gewesen, so hätte sie gedacht: Ich bin in den Bann getan. Die Kehle war ihr zugeschnürt, sie konnte nicht essen. Sie atmete erst auf, als sie mit der Hacke auf der Schulter ins Freie trat. Bei der Arbeit fasste sie den Entschluss, Fritz, es koste was es wolle, erst zu sprechen, ehe sie wieder über ihre Schwelle schritte, und ihm das Vorgefallene mitzuteilen. Sie blieb daher, als Feierabend war, hinter den anderen Mädchen zurück und schlug den Weg ein, den sie glaubte, dass Fritz kommen müsse. Sie ging weiter und weiter, aber sie sah ihn nicht. Sie stand unter den Bäumen, die sich im weiten Halbkreis um das Dorf und seine dürre, mit kurzem Gras bewachsene Flur ziehen, und sah sich die Augen blind. Jetzt kam ein Haufen Bursche daher, aber wenn er unter ihnen war, wie sollte sie ihn abrufen? wenn die Männer sie erblickten, so spät, so allein, was hätten sie gedacht? Sie sprang in den Graben des Moosbächleins, das den Waldrand netzte — die Hitze hatte es an den höheren Stellen trocken gelegt — und verbarg sich im hohen Gras. Die Männer gingen vorüber, sie hörte sie reden, Fritz war nicht darunter. Lieschen erhob sich wieder, stellte sich hinter eine große Buche und sah ihnen nach. Die Sonne war untergegangen, ein Schwarm Krähen, der in dem Waldstreif nistete, fuhr von dem erkorenen Platze auf, durch irgendetwas geschreckt, und umkreiste sein Gebiet, als halte er Musterung über dasselbe für die Nacht. Seine Flügel dunkelten im Abendrot, unter den fernen Bäumen ward es finster. Ich muss doch nach Hause! sagte Lieschen; wer weiß auch, ob er mit den Andern auf der Wiese gearbeitet hat! Sie nahm ihre Hacke und ging. Da hörte sie ein bekanntes Lied; es kam um die Ecke des Waldes, es war Fritz. Sie dankte Gott, sie sprang hinter einen dicken Baum, sah überall umher — Niemand weiter war zu erblicken. O, dachte sie, wenn nur nicht noch Jemand kommt, eh Fritz vorbei ist! — Ach ja! der Jäger mit seiner Flinte schlich in der Ferne unter den Bäumen; darum fuhren die Krähen auf, aber sie selbst fuhr zusammen, denn eben fiel ein Schluss, und mit lautem, empörtem Gekrächz flogen die Raben wieder auf und weckten die Vögel des Waldes aus ihrem ersten Schlaf. Fritz hatte zu pfeifen aufgehört, er war stehen geblieben, jetzt kam er schneller heran; kaum war er noch dreißig Schritte entfernt; aber welch Glück! der Jäger, der ihm entgegengelaufen, stand plötzlich still, bückte sich, hob eine gefallene Taube vom Boden, betrachtete sie einen Augenblick und kehrte, dann in kurzen Sprüngen zum Dorf zurück. Fritz gab es auf, ihn einzuholen, er ging langsam an dem Baum vorbei, ohne Lieschen zu bemerken. Leicht wie ein Reh sprang sie vor und hielt ihm die Augen von rückwärts zu. Er befreite sich und schloss den kleinen Wegelagerer mit einem so lauten Jubelgeschrei in die Arme, dass ihre Hände ihm ängstlich auf die Lippen sanken und sie gewaltsam zudrückten. Aber auch ihre Brust machte sich Luft, sie lachte wie ein Kind in vollster Freude ihres Herzens, dann bemühte sie sich das Lachen zu unterdrücken, das plötzlich in ein Schluchzen überging. Fritz sah sie erstaunt an.

Ach Fritz, sagte sie, wir sind noch so glücklich und werden doch bald so unglücklich sein! — Was du da sagst! rief er zornig. Und sie erzählte ihm Alles, was geschehen, so gut sie konnte. Als Fritz das Wort Irrwischjunge vernahm, ballte er die Faust und sagte: Wenn es dein Vater nicht wäre, Lieschen! — Lieschen weinte.

Sei stille, mein Herzchen, tröstete er. Morgen ist Feiertag, da will ich kommen in meinem blanksten Rock und will bei ihm um dich anhalten. Vielleicht spricht er nur so, weil er denkt, es ist Tand; wenn er hört, dass es mein Ernst ist — ich bin doch ein flinker Bursch, die Arbeit fliegt mir von der Hand, ich habe auch schon was zurückgelegt; die Zeiten sind schlimm, man schüttelt die Freier nicht mehr so von den Bäumen; wer weiß, was er tut, wenn du ihn schön bittest! — Vielleicht! erwiderte Lieschen ungläubig, sie wusste keinen besseren Rat. Traurig gingen sie bis an die Waldecke, wo der Weg quer über die Flur lief. Unter den Bäumen hatte sie die Dämmerung vor Beobachtung geschützt, hier aber machte Lieschen ihre Hand aus Fritzens los und sprang dem Dorfe zu; es war fast dunkel, als sie nach Hause kam.

Du kommst recht spät, Lieschen, bemerkte die Mutter unfreundlich. Der Vater stand am Fenster und schnitzte einen Pfahl. Mach Feuer in der Küche, Lieschen, sagte er, ohne sich zu ihr zu wenden. Lieschen ging und tat, wie ihr geheißen.

 

Nach ein paar Minuten kam der Vater in die Küche. Er hielt den Pfahl mit dem spitzen Ende ins Feuer, bis er schwarz ward, dann griff er in die Tasche und holte Etwas heraus, was Lieschen anfangs für ein Messer ansah; doch wie erschrak sie, als sie ihre neue Nadel erkannte. Sie stand wie festgewurzelt. Der Vater nahm die Nadel und hielt sie ins Feuer, aber er zog sie nicht heraus, als sie schwarz ward, wie vorhin den Pfahl. Das schöne feste Holz wurde endlich rot wie glühend Eisen; der Vater zündete seine Pfeife gemächlich damit an, dann steckte er es vollends in die Glut. Lieschen stand noch immer auf demselben Fleck und starrte ins Feuer. Da schlug die Flamme aus der Nadel, sie knackte, als rufe sie um Hilfe, Lieschen machte eine Bewegung. Der Vater wandte sich langsam und sah die Tochter mit einem Blicke an, vor dem ihr Blut zu Eis gerann. Sie stand wie angeschmiedet, die Nadel verbrannte.

Der Bauer sah sie in Asche zerfallen, dann kehrte er sich vom Feuer ab, streifte Lieschens totbleiche Gestalt und sagte: Nun, denkt das Mädel nicht ans Essen? Er ging. Lieschen fuhr auf, wie ein Uhrwerk zusammenschnurrt. Sie wusste nicht, was sie tat, es lag ihr im Kopfe wie Blei, wie Blei lag's ihr in den Gliedern; sie kochte die Suppe, sie trug sie herein, sie sagte kein Wort. Es setzten sich alle zum Essen, mechanisch setzte sie sich auch auf die Bank; die Mutter stellte den irdenen Teller vor sie hin; sie hob den Löffel auf wie die Andern, aber als er in ihren zitternden Händen an den Teller klapperte, schien sie zum Bewusstsein zu kommen, sprang auf und sagte: Ich habe Kopfweh und will nicht essen!

Sie ging auf ihre Kammer, sie riss sich die Kleider ab, sie riss die alte Nadel vom Kopfe und zerbrach sie wie einen Span, dann warf sie sich aufs Bett, wo ihr die Sinne vergingen.

Am Morgen schüttelte sie eine Hand — es war Mariechens; die Sonne stieg schon hoch am Himmel. Nun, sagte die Schwester, du schläfst lange; die Mutter hat heute den Kaffee selbst gekocht, und der Vater hat sich geputzt und ist nach Altstadt gegangen.

Nach Altstadt! rief Lieschen und sprang auf — eine böse Ahnung trat ihr in dem Worte entgegen. Ja, antwortete Mariechen, nach Altstadt, er macht dort ein Korngeschäft mit dem Baumann. Lieschen dachte: Desto besser, so kommt der Baumann nicht hierher. Der wohlhabende Bäcker hatte ihr bei seiner letzten Anwesenheit ein paarmal Blicke zugeworfen, die sie in Verlegenheit gesetzt.

Die Mutter wird schelten, fuhr Mariechen fort; mach, dass du fertig wirst, dein Kaffee steht noch auf dem Herd.

Lieschen zog sich an; so wie sie sich allein sah, ergriff sie das Gefühl des Unglücks wieder in seiner ganzen Macht. Sie hätte so gern fortgeschlafen. Nichtsein schien ihr das höchste Glück. Dann meinte sie, sie habe geträumt, was gestern abends geschehen. Doch sie erinnerte sich der Umstände zu genau, und der rettende Wahn verschwand wieder. Ihr Verstand kam und wollte sie trösten, sagte, eine Nadel sei eine Nadel, Fritz könne eine andere schnitzen, und ihr Vater habe sie necken wollen. Aber das besser unterrichtete Gefühl antwortete, ihr Vater scherze nicht und habe auch nicht darnach ausgesehen; in diesem Verbrennen liege eine Antwort auf alle künftigen Fragen, er wolle nicht gebeten sein, Fritz schien ihr auf ewig verloren. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, sie trocknete sie hastig und ging hinunter. Die Mutter schalt nicht und sah sich nicht nach ihr um, erwiderte auch ihren Morgengruß nicht. Mariechen brachte ihr den Kaffee — Ich will nicht trinken, sagte Lieschen. Du willst nicht? fragte die Mutter streng, sie zum ersten Mal anblickend; fehlt dir etwas? Dann ist's besser, du gehst wieder zu Bett.

Lieschen dachte an Fritz und dass er kommen könnte; ich will's versuchen, erwiderte sie der grausamen Frau, der Kopf tut mir nur noch ein bisschen weh.

Sie setzte sich ans Fenster mit dem Töpfchen, in dem Milch und Kaffee zusammengegossen waren, und schluckte und schluckte, es wollte gar kein Ende nehmen. Da kam Fritz schön geputzt daher.

Die Mutter warf einen finstern Blick durchs Fenster, er grüßte von außen schon, Lieschen setzte den Topf hin und fuhr auf. Fritz trat ein, aber sein fröhliches Gesicht ward bestürzt, als er sein armes blasses Mädchen ansah; was gibts doch wieder? dachte er. Er drehte den Hut in der Hand. Frau Katharine, sagte er nach einer Pause, einen schönen guten Morgen, und ich wollte Euern Mann gern sprechen.

Der ist nicht zu Haus, antwortete Katharine kurz; er ist nach Altstadt gegangen, Ihr müsst ein andermal wiederkommen. Fritz sah Lieschen fragend an, sie wagte nicht, zu ihm aufzublicken. Frau Katharine, wenn Ihr mich anhören wolltet, fuhr er fort, zu der arbeitenden Mutter gewandt —

Ich habe keine Zeit, mich auch noch um meines Mannes Geschäfte zu bekümmern, entgegnete die Bäuerin; wenn er wiederkommt, soll er bei Euch anfragen, sobald er Zeit hat, oder Ihr kommt wohl einmal wieder vor; es wird ja keine so große Eile haben.

Fritz stand unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte; endlich dachte er, es wäre wohl besser, wenn er erst von Lieschen die Ursache ihres neuen Kummers erforschte, eh' er weiter in der Sache vorschritte; auch überlegte er, dass er Wohl täte, sich mit seinem Paten, einem alten Bauersmann, der mit Lieschens Vater auf einem ganz guten Fuße stand, zu beraten; er meinte, es sei schicklicher, diesen zu seinem Freiwerber zu machen; so sagte er nur: Dann werde ich morgen wiederkommen, und ging mit einem bedeutungsvollen Blick auf Lieschen weg.

Der Tag verstrich in Arbeit, Schweigen und Schmerz. Fritz schlich ein paar Mal um den Gartenzaun, aber vergebens, Lieschen ließ sich nicht blicken, oder wenigstens nicht zu der Zeit; die Mutter wusste sie in der Stube festzuhalten. Erst gegen Abend kam der Vater wieder; er war sehr vergnügt. Lieschen, sagte er freundlich, steck mir die Pfeife an. Lieschen, der gestrigen Scene eingedenk, näherte sich ihm mit einer Art von Abscheu und streckte die Hand schon von weitem nach der Pfeife aus; aber gleich darauf entsetzte sie sich vor ihrem eigenen Gefühl, bezwang sich und brachte die brennende Pfeife mit fast demütiger Miene zurück. Nun, Mädchen, sagte der Vater, ihr das Kinn aufhebend, lustig! ich habe dir einen Bräutigam ausgesucht. Lieschen stand erstarrt. Was braucht denn die Närrin zu erschrecken? Eltern denken mehr an ihrer Kinder Bestes als die Kinder, verstehen sich besser darauf. Ein angesehener Mann, Lieschen, ein hübscher Mann; was sagst du zum Bäcker Baumann in Altstadt?

Vater, macht mich nicht unglücklich! schrie Lieschen. Er lachte gezwungen. Wir kennen das, sagte er, nicht wahr, Mutter? Sind wir nicht nachher die besten Freunde geworden? Die Mutter schwieg. Lieschen glaubte plötzlich einen Bundesgenossen zu entdecken, wo sie ihn am wenigsten vermutet. Mutter, bat sie, liebe Mutter, ich kann keinen andern Mann heiraten als den Fritz! — Nenn' mir den Bettler noch einmal! rief der Vater mit einer Wildheit, die Lieschen entsetzte. Sie zitterte und schwieg, eine traurige Pause trat ein. Um Martini ist die Hochzeit, fuhr der harte Mann gewaltsam gefasst fort: es war, als kenne und fürchte er die vererbte Krankheit des Jähzorns, als suche er sie zu bändigen.

Mutter, ich kann nicht! flehte Lieschen.

Der Mensch kann Vieles, meine Tochter, erwiderte die Mutter mit einem Tone, in den sich etwas wie Missgunst widerwärtig mischte; ein Ton, der in seiner strengen Haltung von einer Schule des Lebens sprach, die vielleicht wenig Bäuerinnen zu Teil ward. Doch tauchte er nur auf, um zu verschwinden. Sie ging in die Küche und war wieder die gewöhnliche Hausfrau, die sie immer schien.

Vater, rief Lieschen, wenn ich Euer Kind bin, wenn Ihr Euch jemals über meine Geburt gefreut habt —

Sie erstaunte über ihren eigenen Mut, doch erblich er, so schnell er aufgelodert. Ihres Vaters Augen sprühten Flammen, er schleuderte sie mit Riesenkraft von sich. Mach mich nicht unglücklich, Mädchen, rief er, sonst weiß Gott, was aus euch Allen wird.

Als Lieschen die Augen wieder erhob, war sie allein. Sie raffte sich empor, sie wankte weg und fiel wie bewusstlos auf ihr Bette. Aber diese Bewusstlosigkeit wich einem instinktartigen Gefühl von Angst. Wenn eine Ratte knisterte, die Tür in der Angel bebte, fuhr sie in die Höhe und hüllte sich fester in ihre Decke; sie fror, die Zähne klapperten ihr. Sie dankte Gott als es wieder Tag ward; sie stand in ihren Kleidern auf, wie sie sich niedergelegt, sie ordnete sie — ach, musste sie denn hinuntergehen? Der Gedanke, Fritz könne kommen und von dem schrecklichen Vater mit dem Schlimmsten empfangen werden, beflügelte ihre Schritte. So brachte sie einige Stunden lautlos in der Gegenwart Derer zu, die sie so unglücklich machten. Es schlug neun Uhr. Da klopfte es an der Tür — wie schlug ihr das Herz! Fritz trat ein, blässer als gewöhnlich, aber festlich gekleidet — der Pate hatte sich nicht damit befassen wollen. Er grüßte Alle, die Mutter war nicht gegenwärtig, Mariechen saß und krüllte Erbsen, Lieschen nähte, ohne zu sehen, wohin sie stach.

Guten Tag, Nachbar, ich habe mit Euch zu reden, sagte Fritz.

Ich weiß, warum Ihr kommt, erwiderte jener; aber es tut mir leid, daraus kann nichts werden: denn seht, meine Tochter ist Braut.

Braut! schrie Fritz.

Wundert Euch das? Eine so hübsche Dirne, die eine gute Aussteuer mitbringt, wird doch wohl noch an den Mann kommen? Sie heiratet den Bäcker —

Liese! rief Fritz, die Geliebte ansehend.

Liese zitterte und wagte nicht zu antworten, der Blick des Vaters hatte sie wieder getroffen.

Und Ihr werdet mir einen Gefallen tun, fuhr der Bauer, als ob jener nichts gesagt hätte, fort, wenn Ihr uns nicht mehr heimsuchen wollt, weil es sich nicht schicken würde. Meiner Tochter Bräutigam ist ein wohlhabender und ein rechtlicher Mann, und ich werde sie Keinem geben, der nichts hat, als sein Paar gesunde Arme.

Lieschen schwieg noch immer. Fritzens Blick haftete auf ihr, aber er begegnete dem ihrigen nicht. Gut, sagte er, Herr Jürgen; Ihr sollt den armen Irrwischjungen nicht wieder auf Eurer Schwelle sehn. — Er schlug die Tür zu und ging.

Liesen war schrecklich zu Mut. Die folgenden Tage ließ man sie nicht ausgehen, dann gab man ihr Mariechen unter irgendeinem Vorwand zur Begleitung mit und schickte sie nur dahin, wo man sicher war, dass sie Fritzen nicht traf; vermutlich wurde Mariechen dazu gebraucht, die Orte, wo er Arbeit hatte, auszukundschaften. Liese begriff nicht, dass sie ihn nirgends sah. Schmollte er? Ach, wenn er ihr auch zürnte, dann war sie ganz verloren! Oder hatte er sich schon getröstet? — Einmal ging sie mit Mariechen auf ihr eigenes Feld zum Kornschneiden, da sahen sie ihn gerade auf sie zukommen. Aber sobald er sie gewahr ward, wandte er sich um, als habe ihn eine Schlange gestochen. Das machte sie sehr traurig, und schon dachte sie die verzweifeltsten Entwürfe aus, ihn zu sprechen, als sie ganz nahe bei sich ein Husten hörte; Mariechen schnitt eben am anderen Ende des Feldes. Es war Fritz, der in dem Ackergraben hinter einem Busche auf der Lauer lag. Lieschen ging dahin, als wolle sie sich einen Zweig brechen, die Fliegen damit aus der Stube zu jagen, und flüsterte: Fritz! bist du's — Freilich, Liese, wer sonst? Bist du mir noch gut? Ach, Liese, das war eine schreckliche Zeit! — Fritz, sagte sie, geh hier weg, aber ich will dich noch einmal sprechen. — Nur einmal? unterbrach sie Fritz. — Komm heut Nacht um elf Uhr an unsern Gartenzaun, wo das Loch ist, durch das man den Kopf stecken kann, und denke bis dahin nichts Schlimmes von mir.

Heiratest du ihn, Liese, fragte er, heiratest du ihn?

Ach Fritz! erwiderte sie. Mariechen sah sich um, und Liese riss einen großen Zweig ab, kehrte zurück und legte ihn neben ihr Bündelchen. Warum hast du ihn denn jetzt schon abgerissen? Nun wird er trocken, bis wir nach Hause gehen! sagte Mariechen. Fritz entfernte sich kriechend, wie er gekommen, bis ihn das hohe Korn verbarg.

Der sehnlich erwartete Abend kam endlich. Alles schlief oder schien zu schlafen; Fritz ging schon seit einer halben Stunde am Zaune auf und ab. Jetzt schlug die kleine Dorfglocke elf, Lieschen war noch immer nicht da. Fritz wartete noch fünf Minuten, sie schienen ihm eine Ewigkeit; da knarrte das Türchen, sie war's!