Deutsches Haus - Annette Hess - E-Book
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Deutsches Haus E-Book

Annette Hess

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Beschreibung

Von der Erfinderin der TV-Serien Weissensee und Ku'damm 56 / 59 / 63 »Dieser Roman kommt genau zur richtigen Zeit.« Iris Berben  Frankfurt 1963. Eva, gelernte Dolmetscherin und jüngste Tochter der Wirtsleute Bruhns, steht kurz vor ihrer Verlobung. Unvorhergesehen wird sie gebeten, bei einem Prozess die Zeugenaussagen zu übersetzen. Ihre Eltern sind, wie ihr zukünftiger Verlobter, dagegen: Es ist der erste Auschwitz-Prozess, der in der Stadt gerade vorbereitet wird. Eva, die noch nie etwas von diesem Ort gehört hat, folgt ihrem Gefühl und widersetzt sich ihrer Familie. Sie nimmt die Herausforderung an, ohne zu ahnen, dass dieser Jahrhundertprozess nicht nur das Land, sondern auch ihr eigenes Leben unwiderruflich verändern wird.  

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Seitenzahl: 465

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Deutsches Haus

Die Autorin

Annette Hess stammt aus Hannover und studierte zunächst Malerei und Innenarchitektur, später Szenisches Schreiben. Sie arbeitete als freie Journalistin, Regieassistentin sowie Drehbuchlektorin. Seit 1998 ist sie ausschließlich als Drehbuchautorin tätig. Bekannt wurde sie durch ihre Fernsehserien Weissensee, Ku’damm 56 und Ku’damm 59. Annette Hess lebt in Niedersachsen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Grimme-Preis, den Frankfurter Preis der Autoren sowie den Deutschen Fernsehpreis. Deutsches Haus ist ihr erster Roman.

Das Buch

Eines Nachmittags wird die junge Dolmetscherin Eva Bruhns zu einer Zeugenbefragung gerufen. Verstört nimmt sie den Inhalt der Aussage zur Kenntnis – sie kann die geschilderten Geschehnisse nicht einordnen. In den nächsten Tagen stößt sie in ihrem Viertel am Kiosk auf Überschriften zum bevorstehenden Auschwitz-Prozess. Alle Zeitungen scheinen darüber zu berichten. Als sie mit ihren Eltern, die die Gaststätte ›Deutsches Haus‹ betreiben, darüber sprechen möchte, sträuben sich Edith und Ludwig Bruhns. Sie wollen nicht, dass ihre Tochter beim Prozess übersetzt. In den folgenden Wochen öffnen sich Eva die Türen zu einer anderen Welt, sie begegnet Richtern, den Angeklagten und vor allem den ehemaligen Häftlingen, denen sie ihre Stimme gibt.

Annette Hess

Deutsches Haus

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ISBN 978-3-8437-1816-5Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: akg-images / ClassicStock / H. ARMSTRONG ROBERTSAutorenfoto: © Gerald von ForisE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Anhang

Schlussbemerkung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1

Teil 1

In der Nacht hatte es wieder gebrannt. Sie roch es sofort, als sie ohne Mantel auf die sonntagsstille, mit einer dünnen Schneeschicht bedeckte Straße trat. Es musste diesmal ganz in der Nähe ihres Hauses gewesen sein. Der scharfe Geruch zeichnete sich klar vor dem gewöhnlichen Winterdunst ab: verkohltes Gummi, verbrannter Stoff, geschmolzenes Metall, aber auch angesengtes Leder und Haar. Denn manche Mütter schützten ihre neugeborenen Kinder mit einem Schaffell vor der Kälte. Nicht zum ersten Mal dachte Eva darüber nach, wer so etwas tun könnte, wer seit einiger Zeit nachts über die Hinterhöfe in die Mietshäuser eindrang und in den Fluren die abgestellten Kinderwagen anzündete. ›Ein Verrückter oder die Halbstarken!‹, so dachten viele. Glücklicherweise hatte noch kein Feuer auf ein Haus übergegriffen. Niemand war bisher zu Schaden gekommen. Nur finanziell natürlich. Ein neuer Kinderwagen kostete bei Hertie 120 Mark. Kein Pappenstiel für junge Familien.

›Junge Familien‹ echote es in Evas Kopf. Sie ging nervös auf dem Bürgersteig auf und ab. Es war frostkalt. Doch obwohl Eva nur ihr neues hellblaues Seidenkleid trug, fror sie nicht, sie schwitzte vor Aufregung. Denn sie erwartete nichts weniger als ihr ›Lebensglück‹, wie ihre Schwester das spöttisch nannte. Eva wartete auf ihren Ehemann in spe, der sich heute, am dritten Adventssonntag, zum ersten Mal ihrer Familie vorstellen wollte. Er war zum Mittagessen gebeten. Eva sah auf ihre Armbanduhr. 13 Uhr und drei Minuten. Jürgen kam zu spät.

Vereinzelt fuhren Wagen langsam vorüber. Sonntagsfahrer. Es schnieselte. Das Wort hatte Evas Vater eigens für dieses Wetterphänomen erfunden: Kleine Eisspäne segelten aus den Wolken. Als ob oben einer an einem riesenhaften Eisblock hobelte. Einer, der alles bestimmte. Eva blickte hinauf in den grauen Himmel über den weißlichen Dächern. Da bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde: Am Fenster in der ersten Etage über dem Schriftzug ›Deutsches Haus‹, über den Buchstaben ›au‹, stand eine hellbraune Gestalt und sah auf Eva hinab. Ihre Mutter. Sie schien unbewegt, aber Eva hatte den Eindruck, als nehme sie Abschied. Eva drehte ihr schnell den Rücken zu. Sie schluckte. Das fehlte noch. Jetzt weinen.

Die Tür der Gaststätte öffnete sich, und ihr Vater trat heraus. Schwer und vertrauenerweckend in seiner weißen Jacke. Er ignorierte Eva und öffnete den Schaukasten rechts von der Tür, um eine vermeintlich neue Speisekarte einzulegen. Aber Eva wusste, die gab es erst zur Fastnacht. In Wahrheit war ihr Vater voller Besorgnis. Er hing an ihr und wartete eifersüchtig auf den unbekannten Mann, der da kommen sollte. Eva hörte, wie er leise sang, um Alltäglichkeit vorzutäuschen. Eines der Volkslieder, die er mit Genuss verstümmelte. Ludwig Bruhns war zu seinem eigenen Bedauern vollkommen unmusikalisch: »Wir summen vor dem Tore und sind in bester Laune. Unterm Liiii-indenbaume.«

Am Fenster neben Evas Mutter erschien eine jüngere Frau mit hellblondem, auftoupiertem Haar. Sie winkte Eva übertrieben aufgeregt zu, doch selbst auf diese gewisse Entfernung konnte Eva erkennen, dass sie deprimiert war. Aber Eva hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte lange genug darauf gewartet, dass ihre große Schwester vor ihr heiraten würde. Doch als Annegret 28 Jahre alt wurde und zudem immer mehr in die Breite ging, hatte Eva sich entschlossen, nach geheimer Absprache mit ihren Eltern, die Konvention außer Kraft zu setzen. Immerhin war sie selbst schon beinahe ein spätes Mädchen. Sie hatte nicht viele Anwärter gehabt. Ihre Familie verstand es nicht, denn Eva wirkte gesund und fraulich, mit ihren vollen Lippen, der schlanken Nase und dem langen naturblonden Haar, das sie selbst schnitt, frisierte und zu einem kunstvollen Dutt drehte. Doch ihre Augen zeigten häufig einen beunruhigten Ausdruck, als rechne sie mit dem Eintreten einer Katastrophe. Eva hatte den Verdacht, dass das auf Männer abschreckend wirkte.

13 Uhr und fünf Minuten. Kein Jürgen. Stattdessen öffnete sich die Haustür links neben der Gaststätte. Eva sah ihren kleinen Bruder herauskommen. Stefan trug keine Jacke, was auch gleich zu besorgtem Klopfen und Gestikulieren der Mutter oben am Fenster führte. Doch Stefan starrte trotzig nach vorn. Denn immerhin hatte er seine orangefarbene Pudelmütze und die passenden Handschuhe angezogen. Er zerrte einen Schlitten hinter sich her. Um ihn herum tänzelte Purzel, der schwarze Dackel der Familie, ein hinterlistiger, aber von allen innig geliebter Hund.

»Hier stinkt’s!«, sagte Stefan. Eva seufzte: »Ihr jetzt auch noch! Diese Familie ist ein Fluch!« Stefan begann, den Schlitten durch den dünnen Schnee auf dem Bürgersteig hin und her zu schleifen. Purzel schnüffelte an einer Laterne, drehte aufgeregt Kreise und kackte dann in den dünnen Schnee. Der Haufen dampfte. Die Schlittenkufen kratzten auf dem Asphalt. Dazu kam das Scharren einer Schneeschaufel, mit der sich der Vater vor der Eingangstür zu schaffen machte. Eva sah, wie er sich an den Rücken fasste und die Augen zusammenkniff. Ihr Vater hatte wieder Schmerzen – was er nie zugeben würde. An einem Morgen im Oktober, nachdem es schon seit Längerem in seinem Kreuz ›höllisch gezwiebelt‹ hatte, wie er es ausdrückte, hatte er nicht mehr aufstehen können. Eva hatte einen Krankenwagen gerufen, im Stadtkrankenhaus hatten sie ihn geröntgt und einen Bandscheibenvorfall festgestellt. Er war operiert worden, und der Arzt hatte ihm nahegelegt, die Gaststätte aufzugeben. Ludwig Bruhns hatte erklärt, er hätte eine Familie zu ernähren. Wie sollte das von seiner kleinen Rente gehen? Sie hatten auf ihn eingeredet, er solle doch einen Koch anstellen, nicht mehr selbst in der Küche stehen. Aber Ludwig hatte sich geweigert, einen Fremden in sein Reich zu lassen. Die Lösung war dann gewesen, den Mittagstisch abzuschaffen. Seit dem Herbst öffneten sie erst am Abend. Der Umsatz hatte sich seitdem fast halbiert. Doch Ludwigs Rücken ging es besser. Dennoch wusste Eva, der größte Wunsch ihres Vaters war es, im Frühjahr den Mittagstisch wieder eröffnen zu können. Ludwig Bruhns liebte seinen Beruf, liebte es, wenn seine Gäste gesellig beieinandersaßen, wenn es ihnen schmeckte, und sie zufrieden, satt und beschwipst nach Hause gingen. »Ich halte den Menschen Leib und Seele zusammen«, sagte er gern. Und Evas Mutter scherzte dann: »Wer nichts wird, wird Wirt.« Eva fröstelte jetzt doch. Sie verschränkte die Arme und schauderte. Sie hoffte inständig, Jürgen würde ihre Eltern respektvoll behandeln. Sie hatte ihn schon ein paar Mal Kellnern oder Verkäuferinnen gegenüber unangenehm herablassend erlebt.

»Polizei!«, stieß Stefan hervor. Ein schwarz-weißer Wagen mit einem Martinshorn auf dem Dach kam heran. Darin saßen zwei Männer in dunkelblauer Uniform. Stefan erstarrte ehrfürchtig. Eva dachte, sicher waren die Beamten auf dem Weg zum verbrannten Kinderwagen, um Spuren zu sichern und die Hausbewohner zu befragen, ob sie in der Nacht etwas Verdächtiges bemerkt hätten. Der Wagen glitt fast lautlos vorüber. Die beiden Polizisten nickten zuerst Ludwig, dann Eva kurz zu. Man kannte sich im Viertel. Dann bog der Polizeiwagen in die Königstraße ein. ›Ja. Wahrscheinlich hat es in der Siedlung gebrannt. Der rosa Neubau. Da wohnen einige Familien. Junge Familien.‹

13 Uhr und zwölf Minuten. ›Er kommt nicht. Er hat es sich anders überlegt. Er wird mich morgen anrufen und mir sagen, dass wir nicht zusammenpassen. Den gesellschaftlichen Unterschied unserer Familien, liebe Eva, den können wir nicht überbrücken.‹ Baff!!! Stefan hatte sie mit einem Schneeball beworfen. Der hatte sie direkt an der Brust getroffen, der Schnee rutschte ihr eisig in den Ausschnitt. Eva packte Stefan am Pullover und zog ihn zu sich heran. »Bist du verrückt?! Das ist ein nagelneues Kleid!« Stefan bleckte die Vorderzähne, das war sein schuldbewusstes Gesicht. Eva wollte weiterschimpfen, aber in diesem Moment tauchte Jürgens gelber Wagen am Ende der Straße auf. Ihr Herz sprang los wie ein panisches Kalb. Eva verwünschte ihr schwaches Nervenkostüm, mit dem sie sogar schon beim Arzt gewesen war. Ruhig atmen. Was Eva nicht gelang. Denn ihr wurde schlagartig klar, während Jürgens Wagen näher kam, ihre Eltern würden durch nichts davon zu überzeugen sein, dass er ihre Tochter glücklich machen könnte. Nicht einmal durch sein Geld. Eva konnte jetzt Jürgens Gesicht hinter der Windschutzscheibe erkennen. Er sah müde aus. Und ernst. Er sah sie gar nicht an. Eva dachte einen schrecklichen Augenblick lang, er würde Gas geben und weiterfahren. Doch da bremste er ab. Stefan platzte heraus: »Der hat ja schwarze Haare! Wie ein Zigeuner!«

Jürgen steuerte etwas zu nah an den Bürgersteig heran. Das Reifengummi quietschte die Bordsteinkante entlang. Stefan griff nach Evas Hand. Eva spürte, wie der Schnee in ihrem Ausschnitt taute. Jürgen stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment lang im Wagen sitzen. Er würde dieses Bild nicht vergessen: die beiden Frauen, eine dicke und eine kleine, oben am Fenster über dem Wort ›Haus‹, im irrigen Glauben, unsichtbar zu sein, der starrende Junge mit dem Schlitten, der massige Vater mit der Schneeschaufel, der zu allem bereit in der Tür der Gaststätte stand. Sie sahen ihn an wie einen Angeklagten, der zum ersten Mal das Gericht betritt und auf seiner Bank Platz nimmt. Bis auf Eva. Ihr Blick war voll ängstlicher Liebe.

Jürgen schluckte, setzte seinen Hut auf und nahm einen in Seidenpapier eingeschlagenen Blumenstrauß vom Beifahrersitz. Er stieg aus und ging auf Eva zu. Er wollte lächeln, doch etwas kniff ihn plötzlich kurz, aber schmerzhaft von hinten in die Wade. Ein Dackel. »Purzel! Aus! Aus!«, rief Eva. »Stefan, bring ihn rein! Ins Schlafzimmer!« Stefan murrte, aber er griff sich den Hund und trug das strampelnde Tier ins Haus. Eva und Jürgen sahen sich befangen an. Sie wussten nicht recht, wie sie sich unter den Augen von Evas Familie begrüßen sollten. Dann schüttelten sie sich die Hand und sprachen gleichzeitig. »Tut mir leid, sie sind so neugierig.« »Was für ein Empfangskomitee! Wie komme ich denn zu der Ehre?« Als Jürgen Evas Hand losließ, verschwanden Vater, Mutter und Schwester von ihren Ausgucken wie Kaninchen in ihre Löcher. Eva und Jürgen waren allein. Ein Eiswind fegte über die Straße.

Eva fragte: »Hast du Hunger auf Gans?«

»Ich denke seit Tagen an nichts anderes.«

»Du musst dich nur mit meinem kleinen Bruder verstehen. Dann hast du alle auf deiner Seite.«

Beide lachten, ohne zu wissen, worüber. Jürgen steuerte auf die Tür der Gaststätte zu, aber Eva lenkte ihn nach links, zum Hauseingang. Sie wollte Jürgen nicht durch den halbdunklen Gastraum mit seinem Geruch nach vergossenem Bier und feuchter Asche führen. Also stiegen sie durch das gebohnerte Treppenhaus mit seinem schwarzen Geländer in die Wohnung hinauf, die über der Gaststätte lag. Das zweistöckige Haus war nach dem Krieg neu aufgebaut worden, nachdem es bei einem Luftangriff auf die Stadt fast völlig zerstört worden war. Am Morgen nach dem Inferno hatte nur noch der lange Tresen unter freiem Himmel gestanden, dem Wetter schutzlos ausgesetzt.

Oben in der Wohnungstür wartete Evas Mutter und setzte das Lächeln auf, das normalerweise für die Stammkunden der Gaststätte reserviert war. Ihr ›Zuckergesicht‹, wie Stefan es nannte. Edith Bruhns hatte ihre zweireihige Granathalskette angelegt, außerdem trug sie ihre vergoldeten Ohrstecker mit den baumelnden Zuchtperlen und ihre reingoldene Brosche in der Form eines Kleeblattes. Edith Bruhns präsentierte ihren ganzen Schmuck, was Eva noch nie erlebt hatte. Sie musste an das Märchen vom Tannenbaum denken, das sie Stefan vorgelesen hatte. Der Tannenbaum, der nach dem Weihnachtfest auf dem Dachboden gelagert wurde, um im Frühjahr im Hof verbrannt zu werden. Und in seinen vertrockneten Zweigen hingen noch vergessene Reste des Heiligen Abends.

›Immerhin passend zum dritten Advent‹, dachte Eva.

»Herr Schorrmann, was haben Sie denn für ein Wetter mitgebracht? Rosen im Dezember?! Wo haben Sie die denn aufgetrieben, Herr Schorrmann?«

»Er heißt Schoormann, Mutti, mit Doppel-O!«

»Geben Sie mir Ihren Hut, Herr Schooormann.«

In der Stube, die an Sonntagen auch als Esszimmer genutzt wurde, trat Ludwig Bruhns Jürgen mit Spießgabel und Geflügelschere entgegen. Er reichte Jürgen zur Begrüßung sein rechtes Handgelenk. Jürgen entschuldigte sich. Der Schnee. »Keine Sorge. Ist alles noch im grünen Bereich. Ist eine große Gans, sechzehn Pfund. Die braucht ihre Zeit.« Annegret schob sich aus dem Hintergrund an Jürgen heran. Sie hatte einen etwas zu schwarzen Lidstrich und einen etwas zu orangefarbenen Lippenstift aufgelegt. Sie gab Jürgen die Hand und lächelte verschwörerisch: »Glückwunsch. Mit ihr kriegen Sie was Reelles.« Jürgen fragte sich, ob sie die Gans oder Eva meinte.

Kurz darauf saßen alle am Esstisch und blickten auf den dampfenden Vogel. Daneben standen die von Jürgen mitgebrachten gelben Rosen in einer Kristallvase wie eine Grabbeigabe. Das Radio spielte leise und unkenntlich Sonntagsmusik. Auf dem Büfettschrank drehte sich eine Weihnachtspyramide, angetrieben von drei flackernden Kerzen. Die vierte war noch unberührt. In der Mitte der Pyramide standen Maria, Josef und die Krippe mit dem neugeborenen Kind vor einem Stall. Um die Familie herum eilten Schafe, Hirten und die Heiligen Drei Könige mit ihren Kamelen in einem ewigen Kreis. Sie würden die Heilige Familie nie erreichen, nie dem Christkind ihre Geschenke darbringen können. Eva hatte das als Kind traurig gefunden. Schließlich hatte sie dem Mohrenkönig sein Geschenk entrissen und es vor die Krippe gelegt. Zum nächsten Weihnachtsfest war das kleine rote Päckchen aus Holz dann verschwunden gewesen, der Mohrenkönig kreiste seitdem mit leeren Händen. Das Geschenk war nie wieder aufgetaucht. Evas Mutter erzählte diese Geschichte jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit, wenn sie die Pyramide vom Dachboden holte. Damals war Eva fünf Jahre alt gewesen, doch sie konnte sich nicht daran erinnern.

Evas Vater schnitt der Gans mit der Geflügelschere längs durch die Brust. »Hat die mal gelebt, die Gans?« Stefan sah seinen Vater fragend an. Der zwinkerte Jürgen zu. »Nein, das ist eine künstliche Gans. Nur zum Essen.« »Dann Brust!« Stefan hielt seinem Vater den Teller hin. »Schnuffel, zuerst der Gast.« Evas Mutter nahm Jürgens Teller, das Dresdener Geschirr mit den grünen Fantasieranken, und hielt diesen ihrem Mann hin. Eva beobachtete, wie Jürgen sich unauffällig umsah. Er betrachtete das durchgesessene Sofa mit der gelb karierten Decke, die ihre Mutter über eine zerschlissene Stelle gelegt hatte. Auch für die linke Armlehne hatte sie eine kleine Decke gehäkelt. Dort saß ihr Vater nach Mitternacht, wenn er aus seiner Küche kam und die Füße auf den niedrigen gepolsterten Hocker legte, was ihm der Arzt empfohlen hatte. Auf dem Sofatisch lag die Wochenzeitung ›Der Hausfreund‹, aufgeschlagen beim Kreuzworträtsel, das zu einem Viertel gelöst war. Eine weitere Häkeldecke schützte das kostbare Fernsehgerät. Jürgen zog Luft durch die Nase ein und bedankte sich höflich für den gefüllten Teller, den Evas Mutter ihm hinstellte. Sie drehte ihn so, dass er besonders appetitlich aussah. Dabei schaukelten ihre Ohrringe. Evas Vater, der die weiße Jacke gegen sein Sonntagsjackett ausgetauscht hatte, setzte sich neben Eva. Er hatte einen kleinen grünen Fetzen an der Wange. Petersilie wahrscheinlich. Eva strich ihm schnell über das weiche Gesicht. Ihr Vater hielt ihre Hand fest und drückte diese kurz, ohne Eva anzusehen. Eva schluckte. Sie wurde wütend auf Jürgen mit seinem abschätzenden Blick. Gut, er war anderes gewohnt. Aber er musste doch sehen, wie bemüht ihre Eltern waren, wie rechtschaffen, wie liebenswert.

Alle aßen zunächst schweigend. Annegret, wie immer in Gesellschaft, hielt sich zurück, stocherte scheinbar appetitlos in ihrem Essen herum. Später würde sie in der Küche die Reste von den Tellern in sich hineinstopfen und nachts in der Vorratskammer an die kalte Gans gehen. Sie reichte Jürgen das Gewürzrondell und zwinkerte ihm zu.

»Nehmen Sie Pfeffer, Herr Schoooormann? Salz?«

Jürgen lehnte dankend ab, was Evas Vater ohne aufzusehen registrierte.

»Bei mir hat noch keiner nachwürzen müssen.«

»Eva hat mir erzählt, Sie sind Krankenschwester? Im Stadtkrankenhaus?«, wandte sich Jürgen an Annegret, die ihm ein Rätsel war. Annegret zuckte mit den Schultern, als sei das nicht der Rede wert.

»In welcher Abteilung?«

»Säuglinge.«

Es entstand eine Pause, in der plötzlich alle den Ansager im Radio verstanden: »Aus Gera grüßt zum dritten Advent Oma Hildegard die Familie in Wiesbaden und besonders ihren achtjährigen Enkel Heiner.« Musik setzte ein.

Edith lächelte Jürgen zu.

»Und was machen Sie beruflich, Herr Schoooormann?«

»Ich habe Theologie studiert. Jetzt arbeite ich in der Firma meines Vaters. In der Leitung.«

»Versandhandel? Oder? Ihre Familie macht in Versandhandel?«, fragte jetzt der Vater.

Eva stieß ihn an. »Vati! Jetzt stellt euch doch nicht dümmer, als ihr seid!«

Eine kurze Stille, dann lachten alle, auch Stefan, obwohl er nicht verstand, warum. Eva entspannte sich. Sie und Jürgen wechselten einen Blick: ›Wird doch!‹ Evas Mutter sagte: »Wir haben natürlich auch den Schoormann-Katalog.«

Stefan sang im Falsett den Werbespruch: »Schoormann hat’s, Schoormann bringt’s. Ding-Dong! Dong-Ding!«

Jürgen fragte gespielt streng: »Haben Sie denn auch schon etwas bestellt? Das ist die entscheidende Frage.«

Edith erwiderte beflissen: »Selbstverständlich. Einen Haarfön und eine Regenjacke. Wir waren sehr zufrieden. Aber Sie sollten auch Waschautomaten anbieten. Ich gehe für so eine große Anschaffung nicht gern zu Hertie. Die belatschern einen da immer. Und mit einem Katalog, da kann man gemütlich zu Hause abwägen.«

Jürgen nickte freundlich: »Ja, Sie haben recht, Frau Bruhns. Ich habe ohnehin einige Veränderungen im Haus geplant.«

Eva sah Jürgen aufmunternd an. Er räusperte sich.

»Mein Vater ist krank. Er wird die Firma nicht mehr lange leiten können.«

»Wie traurig, das zu hören«, sagte die Mutter.

»Was fehlt ihm denn?« Der Vater reichte Jürgen die Sauciere. Aber Jürgen war nicht bereit, eine weitere Auskunft zu geben. Er kleckerte Soße auf sein Fleisch.

»Es schmeckt ausgezeichnet.«

»Das freut mich.«

Eva wusste, Jürgens Vater litt an zunehmender Verkalkung. Jürgen hatte ihr nur einmal davon erzählt. Es gebe gute und schlechte Tage. Aber die Unberechenbarkeit nehme zu. Eva hatte Jürgens Vater und dessen zweite Frau noch nicht kennengelernt. Zunächst war schließlich der Besuch des Bräutigams bei den Eltern der Braut an der Reihe. Eva hatte mit Jürgen darüber gestritten, ob er schon beim ersten Kennenlernen um ihre Hand anhalten sollte. Jürgen war dagegen gewesen. Evas Eltern würden ihn für unseriös halten, wenn er derart schnell mit der Tür ins Haus fiele. Oder, schlimmer noch, glauben, dass etwas unterwegs wäre. Diese Auseinandersetzung zwischen ihnen war ohne Ergebnis geblieben. Eva versuchte, in Jürgens Gesicht zu lesen, ob er vorhatte, ihren Vater heute zu fragen. Aber Jürgens Blick verriet nichts. Sie betrachtete seine Hände, die etwas verkrampfter als sonst das Besteck hielten. Eva hatte mit Jürgen noch keinen ›intimen Verkehr‹ gehabt, wie Doktor Gorf es nannte. Dabei wäre sie bereit dazu, zumal sie ihre Unschuld schon vor zwei Jahren verloren hatte. Aber Jürgen hatte eine klare Vorstellung: kein Beischlaf vor der Ehe. Er war konservativ. Die Frau hatte sich der Führung des Mannes unterzuordnen. Jürgen hatte Eva gleich bei ihrer ersten Begegnung so angesehen, als lese er in ihrem Inneren, als wüsste er besser als sie selbst, was gut für sie wäre. Und Eva, die zu oft nicht wusste, was sie eigentlich wollte, hatte nichts dagegen, geführt zu werden. Beim Tanzen nicht und nicht im Leben. Eva würde außerdem durch diese Hochzeit gesellschaftlich aufsteigen. Von der Bornheimer Wirtstochter zur Ehefrau eines angesehenen Unternehmers. Eva wurde schwindelig bei dem Gedanken. Aber es war ein freudiger Schwindel.

Nach dem Mittagessen bereiteten Eva und ihre Mutter in der geräumigen Küche gleich den Kaffee vor. Annegret hatte sich verabschiedet. Sie musste zur Spätschicht ins Stadtkrankenhaus, ihre Säuglinge päppeln. Und sie machte sich ohnehin nichts aus Kuchen mit Buttercreme.

Eva schnitt den Frankfurter Kranz in dicke Scheiben, ihre Mutter mahlte Kaffeebohnen in einer kleinen elektrischen Mühle. Edith Bruhns starrte auf das röhrende Gerät. Nachdem das Geräusch verstummt war, sagte sie: »Er ist so gar nicht dein Typ, Evchen. Ich meine, wenn ich an Peter Kraus denke, der war doch immer dein Schwarm …«

»Nur weil Jürgen nicht blond ist?«

Eva war erschrocken, denn es war offensichtlich, dass ihre Mutter Jürgen nicht mochte. Und Eva hielt viel von der Menschenkenntnis ihrer Mutter. Als Wirtin war Edith Bruhns unzähligen Menschen begegnet. Sie konnte auf den ersten Blick einen Anständigen von einem Unanständigen unterscheiden.

»Diese schwarzen Augen …«

»Mutti, seine Augen sind dunkelgrün! Musst du nur mal richtig hingucken.«

»Ich meine, du musst es wissen. An der Familie gibt es ja auch nichts auszusetzen. Aber ich bin ehrlich, ich kann nicht anders, Kind. Der macht dich nicht glücklich.«

»Jetzt lern ihn doch erst mal kennen.«

Evas Mutter goss sprudelndes Wasser in das gefüllte Kaffeesieb. Es duftete nach der teuren Sorte.

»Er ist zu sehr in sich gekehrt. Eva, er ist mir unheimlich.«

»Er ist nachdenklich. Jürgen wollte ja eigentlich auch Pfarrer werden …«

»Gott bewahre.«

»Er hatte schon acht Semester Theologie studiert. Aber dann hat er mich kennengelernt. Und ihm wurde klar, dass er das mit dem Zölibat niemals durchhalten kann.«

Eva lachte, aber ihre Mutter blieb ernst. »Wegen seinem Vater hat er doch bestimmt sein Studium abgebrochen? Weil er die Firma übernehmen muss.«

»Ja.« Eva seufzte, ihre Mutter war nicht zu Scherzen aufgelegt. Beide blickten auf das blubbernd versickernde Kaffeewasser im Filter.

Im Wohnzimmer saßen der unheimliche Jürgen und Evas Vater bei einem Cognac. Das Radio spielte unermüdlich. Jürgen rauchte eine Zigarette. Dabei betrachtete er das wuchtige Ölgemälde über dem Büfett. Es zeigte eine Marschlandschaft im Abendrot, das hinter einem Deich aufflammte. Etliche Kühe grasten auf einer saftigen Wiese. Neben einer Kate hängte eine Frau Wäsche auf. Ein wenig entfernt von ihr am rechten Bildrand stand eine weitere Gestalt. Sie war unscharf gemalt, wie nachträglich hineinskizziert. Es war nicht zu erkennen, ob es der Kuhhirte war, der Ehemann oder ein Fremder.

Stefan kniete auf dem Teppich und stellte seine Plastikarmee zum Kampf auf. Purzel hatte das Schlafzimmer wieder verlassen dürfen, er lag auf dem Bauch und beobachtete blinzelnd die Soldaten vor seiner Nase. Stefan bildete lange Reihen. Er besaß auch einen Panzer aus Blech, den man aufziehen konnte. Dieser lauerte noch unberührt in seiner Schachtel.

Evas Vater gab seinem Schwiegersohn in spe inzwischen einen groben Abriss über die Familiengeschichte. »Ja, ich bin ein Wattwurm, Juist, da stamme ich von wech, datt hört man wohl. Meine Eltern hatten ein Geschäft. Haben die ganze Insel versorgt. Kaffee, Zucker und Fensterglas. Bei uns gab es alles. Also eigentlich wie bei Ihnen, Herr Schooormann. Meine Mutter ist früh gestorben. Das hat mein Vater nie richtig verwunden. Jetzt ist er auch seit fünfzehn Jahren nicht mehr da. Edith, meine Frau, die habe ich an der Hotelfachschule in Hamburg kennengelernt. Das war ’34, was waren wir da noch grün hinter den Ohren! Meine Frau stammt aus einer Künstlerfamilie, man glaubt es kaum. Ihre Eltern waren beide Musiker, in der Philharmonie. Er erste, sie zweite Geige. In der Ehe war’s genau andersrum. Die Mutter meiner Frau, die lebt noch, in Hamburg. Meine Frau, die sollte auch die Geige spielen, nur hat sie zu kurze Finger gehabt. Da wollte sie Schauspielerin werden. Aber das wurde ihr allerstrengstens verboten. Dann wollte sie wenigstens die Welt sehen, und sie haben sie auf die Hotelfachschule geschickt.«

»Und wie hat es Sie hierher verschlagen?« Jürgen fragte freundlich interessiert. Der Gänsebraten hatte ihm geschmeckt. Er mochte Ludwig Bruhns, der ihm so eifrig Rechenschaft über seine Familie ablegte. Eva hatte den sinnlichen Mund von ihrem Vater geerbt.

»Das ›Deutsche Haus‹ hat einem Cousin von meiner Frau gehört, und der wollte es verkaufen. Das passte dann wie Arsch auf Eimer. Entschuldigung. Wir haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ’49 neu eröffnet. Das haben wir nie bereut.«

»Ja, Berger Straße lohnt sich …«

»Das anständige Drittel, das will ich man aber mal betonen, Herr Schoormann!«

Jürgen lächelte beschwichtigend.

»Na ja, seit ich meinen Vorfall mit dem Rücken hatte, da hat mir der Arzt gesagt, ich soll zumachen! Ich habe ihm mal meine Rente vorklamüsert. Jetzt machen wir erst ab fünf auf. Aber im Frühjahr, da is wieder Schluss mit dem Lotterleben!«

Sie schwiegen. Jürgen merkte, dass Ludwig noch etwas auf der Seele lag. Er wartete. Ludwig räusperte sich und sah Jürgen nicht an.

»Ja, das mit meinem Rücken, das fing im Krieg an.«

»Eine Verletzung?«, fragte Jürgen höflich.

»Ich war in der Feldküche. An der Westfront. Nur dass Sie es wissen.« Evas Vater kippte den Rest seines Cognacs herunter. Jürgen wunderte sich ein wenig. Er bemerkte nicht, dass Ludwig Bruhns gerade gelogen hatte.

Paff-paff-paff! Stefan hatte seinen Panzer losgelassen. Dieser kämpfte sich unter heftigem Getöse über den Teppich wie durch eine östliche Sumpflandschaft. Er überrollte eine kleine Soldatenfigur nach der anderen.

»Junge! Mach das im Flur!«

Aber Stefan sah nur Jürgen an. Der fürchtete die Direktheit von Kindern. Doch er dachte an Evas Worte, Stefans Herz zu gewinnen.

»Zeigst du mir mal deinen Panzer, Stefan?«

Stefan stand auf und reichte Jürgen das Blechspielzeug.

»Der ist fast doppelt so groß wie der von Thomas Preisgau.«

»Thomas ist sein bester Freund«, erklärte Ludwig und goss Cognac nach.

Jürgen bewunderte den Panzer gebührend. Stefan klaubte eine Soldatenfigur vom Teppich. »Guck mal, den habe ich angemalt. Das ist ein Ami! Ein Neger!«

Jürgen blickte auf die kleine Plastikfigur mit dem bemalten Gesicht, die Stefan ihm entgegenhielt. Es war blutrot. Jürgen schloss die Augen, doch das Bild verschwand nicht gleich.

»Und vom Weihnachtsmann kriege ich ein Luftgewehr!«

»Ein Luftgewehr«, wiederholte Jürgen abwesend. Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Gleich würde die Erinnerung verflogen sein.

Ludwig zog Stefan an sich. »Das weißt du doch noch gar nicht, min Lütt.« Doch der machte sich los.

»Ich kriege immer alles, was ich mir wünsche.«

Ludwig warf Jürgen einen entschuldigenden Blick zu. »Das ist leider wahr. Der Junge ist völlig verwöhnt. Wir haben ja auch gar nicht mehr damit gerechnet, meine Frau und ich, dass noch was nachkommt, nach den Mädchen.«

In diesem Moment klingelte das Telefon im Flur. Stefan war der Erste am Apparat und schnurrte seinen Spruch ab: »Hier spricht Stefan Bruhns bei der Familie Bruhns. Wer spricht dort bitte?« Stefan lauschte. Dann rief er: »Eva, Herr Körting! Für dich!« Eva kam aus der Küche, sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und nahm den Telefonhörer entgegen. »Herr Körting? Wann denn? Jetzt sofort? Aber wir sind hier …«

Eva wurde unterbrochen. Sie hörte zu und sah die beiden Männer durch die geöffnete Tür am Tisch sitzen. Sie fand, sie sahen schon ganz vertraut miteinander aus. Dann sprach Eva ins Telefon: »Gut, ja, ich komme.« Sie legte den Hörer auf.

»Es tut mir so leid, Jürgen. Aber das war mein Chef. Ich muss arbeiten!«

Ihre Mutter kam mit dem Kaffeetablett aus der Küche.

»Am Adventssonntag?«

»Es ist anscheinend dringend. Da ist ein Gerichtstermin in der nächsten Woche.«

»Na, Pflicht ist Pflicht und Schnaps ist Schnaps, sage ich immer.« Ludwig erhob sich. Auch Jürgen stand auf.

»Aber Sie bleiben! Sie probieren noch den Frankfurter Kranz!«

»Der ist mit echter Butter. Ein ganzes Pfund!«, ergänzte Edith.

»Und du hast auch noch gar nicht mein Zimmer gesehen!«

Jürgen begleitete Eva in den Flur. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ihr schlichtes Bürokostüm. Jürgen half ihr in ihren hell karierten Wollmantel und sagte dabei in komischer Verzweiflung: »Das hast du arrangiert, ein Test, oder? Du willst mich mit deiner Familie alleine lassen und sehen, wie ich klarkomme?«

»Sie fressen dich nicht.«

»Dein Vater hat doch schon blutunterlaufene Augen.«

»Das kommt von seinen Schmerztabletten. In einer Stunde bin ich wieder da. Es geht bestimmt um diese Schadensersatzklage. Die Maschinenteile aus Polen, die nicht funktionieren.«

»Soll ich dich hinfahren?«

»Es holt mich gleich jemand ab.«

»Ich komme mit. Nachher wirst du noch kompromittiert.«

Eva zog sich ihre Hirschlederhandschuhe über, das Nikolausgeschenk von Jürgen.

»Der einzige Kunde, der mich je kompromittiert hat, warst du.«

Die beiden sahen sich an. Jürgen wollte Eva küssen. Sie zog ihn in die Flurecke neben der Garderobe, wo die Eltern sie nicht sehen konnten. Sie umarmten sich, lächelten, küssten sich. Eva spürte Jürgens Erregung, sah in seinen Augen, dass er sie begehrte. Liebte? Eva machte sich los. »Bitte, frag ihn heute, ja?«

Jürgen antwortete nicht.

Eva verließ die Wohnung, Jürgen wandte sich wieder dem Wohnzimmer zu. Dort warteten die Eltern Bruhns am Kaffeetisch wie Schauspieler auf einer Bühne auf ihr Stichwort.

»Wir sind ganz ungefährlich, Herr Schoormann.«

»Völlig harmlos, Herr Schooormann.«

»Nur Purzel beißt manchmal«, rief Stefan vom Teppich her.

»Na, dann probiere ich mal den Kuchen.«

Jürgen ging zurück in die Wärme der Bruhns’schen Stube.

Eva trat vor das Haus. Draußen dämmerte es schon. Die Schneedecke leuchtete sanftblau. Unter den Laternen lagen gelborange Kreise. Mitten auf der Straße stand ein großer Wagen mit laufendem Motor. Der Fahrer, ein junger Mann, winkte Eva ungeduldig mit der Hand zu sich. Eva setzte sich auf den Beifahrersitz. Im Wagen roch es nach Zigarettenrauch und Pfefferminz. Der junge Mann kaute Kaugummi. Er trug keinen Hut und reichte Eva nicht die Hand. Er nickte nur kurz: »David Miller.« Dann gab er Gas. Er fuhr nicht gut Auto, zu schnell, er schaltete zu spät oder zu früh. Eva hatte keinen Führerschein, aber sie merkte, dass ihm der Wagen nicht vertraut war. Auch sonst war er ein schlechter Fahrer. Der Wagen geriet mehrmals ins Rutschen. Eva musterte den jungen Mann aus dem Augenwinkel. Er hatte dichte rötliche Haare, ein wenig zu lang im Nacken, Sommersprossen, feine helle Wimpern und schlanke Hände, die seltsam unschuldig aussahen.

Herr Miller hatte augenscheinlich kein Interesse an einem Gespräch. Schweigend fuhren sie in Richtung Innenstadt, die Reklamelichter leuchteten heller und bunter. Und vor allem zunehmend in Rot. Im unteren Teil der Berger Straße gab es einige einschlägige Lokale. ›Bei Susi‹ und die ›Mokka-Bar‹. Eva dachte an Jürgen, der jetzt wieder an den Tisch zurückgekehrt war, wie er sich hinsetzte und den von ihr gebackenen Frankfurter Kranz aß, aber wohl kaum den Geschmack wahrnahm. Denn er überlegte sicher nervös, ob er ihre Familie seiner Familie gesellschaftlich zumuten konnte und ob er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte.

Die Kanzlei befand sich in einem vielstöckigen Bürogebäude an einer der Hauptstraßen der Stadt. David Miller stieg mit Eva in einen kleinen Fahrstuhl. Die Türen schlossen sich automatisch, zweimal. Doppeltüren. David drückte auf die Acht, sah dann an die Decke der Kabine, als erwarte er etwas. Eva sah ebenfalls nach oben auf eine verschraubte Klappe mit unzähligen kleinen Löchern. Eine Lüftungsöffnung. Eva fühlte sich plötzlich beengt. Ihr Herz klopfte schneller, ihr Mund wurde trocken. David sah Eva an. Von oben herab, obwohl er nicht viel größer war als sie, er schien ihr unangenehm nah. Seine Augen sahen merkwürdig aus. »Wie war noch Ihr Name?« »Eva Bruhns.«

Der Aufzug blieb mit einem Ruck stehen, kurz fürchtete Eva, sie wären stecken geblieben. Aber die Türen öffneten sich. Sie stiegen aus, gingen nach links und klingelten an einer schweren Glastür. Ein Fräulein in Grün trabte von der anderen Seite heran und schloss ihnen auf. Eva und das Fräulein schätzten sich kurz ab. Gleiches Alter, ähnliche Figur. Das Fräulein war dunkelhaarig, hatte eine unreine Haut, aber klare graue Augen.

Eva und David folgten dem Fräulein über einen langen Flur. Eva sah dabei auf das eng anliegende Kostüm, auf die Falten, die es bei jedem Schritt am Gesäß warf. Die schwarzen Pumps hatten gewagt hohe Absätze. Wahrscheinlich gab es die bei Hertie in der Hauptstraße. Ein Geräusch wie ein Schluchzen drang aus einem Zimmer am Ende des Flurs. Aber je näher sie dem Zimmer kamen, umso leiser wurde es. Als sie schließlich vor der Tür stehen blieben, war es still. Vielleicht hatte sich Eva das Weinen auch nur eingebildet.

Das Fräulein klopfte an, öffnete dann die Tür zu einem überraschend engen Büro. Hier warteten drei Männer umgeben von Zigarettenrauch und zahlreichen Aktenordnern, die auf Tischen, in Regalen und auf dem Fußboden übereinanderlagen.

Einer von ihnen, ein älterer, kleiner Herr, saß kerzengerade in der Mitte des Raumes auf einem Stuhl, als sei das ganze Zimmer, das ganze Haus nur um ihn herumgebaut worden. Vielleicht sogar die ganze Stadt. Ein jüngerer hellblonder Mann mit feiner Goldrandbrille klemmte hinter einem Schreibtisch, der voller Akten gepackt war. Er hatte sich einen kleinen Platz frei geschoben, auf dem er jetzt schrieb. Er rauchte eine Zigarette und hatte vergessen, die Asche abzustreifen. Gerade als Eva zu ihm hinsah, fiel ein langer Streifen auf seine Notizen. Er wischte die Asche mechanisch auf den Boden. Keiner der beiden Männer erhob sich, was Eva einigermaßen unhöflich fand.

Der dritte Mann, eine knorrige Gestalt, drehte ihr sogar den Rücken zu. Er stand am Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. Eva musste an einen Film über Napoleon denken, den sie mit Jürgen gesehen hatte. Der Feldherr hatte in dieser Haltung an einem Schlossfenster gestanden. Im Zweifel über seinen geplanten Feldzug, hatte er ins Land geschaut. Und man hatte sehen können, dass die Landschaft vor dem Fenster auf Pappe gemalt war.

Der hellblonde Mann hinter dem Schreibtisch nickte Eva zu. Er wies auf den Mann auf dem Stuhl. »Das ist Herr Josef Gabor aus Warschau. Es sollte heute auch der polnische Dolmetscher mitkommen. Aber er hatte Schwierigkeiten bei der Ausreise. Er wurde am Flughafen festgehalten. Bitte.«

Da keiner der Herren Anstalten machte, Eva behilflich zu sein, zog sie sich allein den Mantel aus und hängte ihn an einen Garderobenständer hinter der Tür. Der Hellblonde wies auf einen Tisch an der Wand. Darauf standen benutzte Kaffeetassen und ein Teller mit ein paar übrig gebliebenen Keksen. Eva liebte Spekulatius. Aber sie versuchte, sich diese zu verkneifen. Sie hatte in den letzten Wochen zwei Kilo zugenommen. Eva setzte sich so an den Tisch, dass sie Herrn Gabor ins Gesicht sehen konnte, und nahm die beiden Wörterbücher aus ihrer Handtasche. Ein Allgemeines und das wirtschaftliche Fachwörterbuch. Sie schob den Keksteller zur Seite und legte die Bücher an seine Stelle. Dann zog sie ihren Notizblock und einen Bleistift hervor. Das grüne Fräulein hatte sich an die andere Seite des Tisches gesetzt, wo eine Stenografiermaschine stand. Sie drehte knatternd einen Papierstreifen ein. Dabei ließ sie den Hellblonden nicht aus den Augen. Sie hatte Interesse an ihm, er aber nicht an ihr, was Eva schnell bemerkte. David Miller zog ebenfalls seinen Mantel aus und setzte sich wie unbeteiligt auf einen Stuhl an der Wand gegenüber, den Mantel über den Knien.

Alle warteten nun wie auf einen Startschuss. Eva blickte auf die Kekse. Der knorrige Mann am Fenster drehte sich um. Er wandte sich an den Mann auf dem Stuhl.

»Herr Gabor, bitte erzählen Sie uns ganz genau, was am 23. September 1941 geschehen ist.«

Eva übersetzte die Frage, wobei sie sich über die Jahreszahl wunderte. Das war über zwanzig Jahre her. Es handelte sich also eher um einen Straffall (aber der müsste doch verjährt sein?) und nicht um eine Vertragssache. Der Mann auf dem Stuhl sah Eva direkt ins Gesicht, offensichtlich erleichtert, in diesem Land endlich jemanden zu treffen, der ihn verstand. Er begann zu sprechen. Seine Stimme stand im Widerspruch zu seiner geraden Erscheinung. Es war, als lese er aus einem verblassten Brief vor, so als könne er nicht alle Worte auf Anhieb entziffern. Er sprach außerdem einen ländlichen Dialekt, der Eva einige Schwierigkeiten bereitete. Sie übersetzte stockend.

»An diesem Tag, es war warm, fast sogar schwül, da sollten wir alle Fenster schmücken. Alle Fenster der Herberge mit der Nummer elf. Wir schmückten sie mit Sandsäcken und versahen alle Ritzen mit Stroh und Erde. Wir gaben uns viel Mühe, denn wir durften keinen Fehler machen. Wir waren gegen Abend mit unserer Arbeit fertig. Dann führten sie die 850 sowjetischen Gäste in den Keller der Herberge hinab. Sie warteten die Dunkelheit ab, damit man das Licht besser sehen konnte, nehme ich an. Dann warfen sie das Licht in den Keller, durch die Lüftungsschächte, und schlossen die Türen. Am nächsten Morgen öffnete man die Türen wieder. Wir mussten als Erste hineingehen. Die meisten der Gäste waren erleuchtet.«

Die Männer im Zimmer sahen Eva an. Eva wurde leicht übel. Etwas stimmte nicht. Das Fräulein tickerte zwar unbeeindruckt auf ihre Maschine ein. Doch der Hellblonde fragte Eva: »Sind Sie sicher, dass Sie das richtig verstehen?« Eva blätterte in ihrem Fachwörterbuch. »Entschuldigung. Ich übersetze sonst bei Verträgen, also in Wirtschaftsfragen und bei Verhandlungen wegen Schadensersatz …«

Die Männer wechselten Blicke. Der Hellblonde schüttelte ungeduldig den Kopf, doch der knorrige Mann am Fenster nickte ihm besänftigend zu. David Miller sah Eva durch den Raum hindurch abschätzig an.

Eva nahm ihr Allgemeines Wörterbuch zur Hand, das schwer wog wie ein Ziegelstein. Sie schlug es auf und fand, dass es nicht Gäste, sondern Häftlinge waren. Keine Herberge, sondern ein Block. Und kein Licht. Kein Erleuchten. Eva sah den Mann auf dem Stuhl an. Der blickte zurück, als sei er innerlich ohnmächtig geworden.

Eva sagte: »Es tut mir leid, ich habe das falsch übersetzt. Es heißt: Wir fanden die meisten der Häftlinge erstickt durch das Gas.«

Im Raum herrschte Stille. David Miller wollte sich eine Zigarette anzünden. Sein Feuerzeug funktionierte lange nicht. Rscht-Rscht-Rscht. Dann hustete der Hellblonde und sah den knorrigen Mann an: »Wir können ja froh sein, dass wir überhaupt einen Ersatz gefunden haben. So kurzfristig. Besser als nichts.«

Der erwiderte: »Versuchen wir es weiter. Was bleibt uns anderes übrig?«

Der Hellblonde wandte sich an Eva. »Aber wenn Sie unsicher sind, sehen Sie gleich nach.«

Eva nickte. Sie übersetzte langsam. Das Fräulein tippte ebenso tröpfelnd auf ihrer Maschine. »Als wir die Türen öffneten, lebte noch ein Teil der Häftlinge. Ungefähr ein Drittel. Es war zu wenig Gas gewesen. Die Prozedur wurde mit der doppelten Menge wiederholt. Diesmal warteten wir zwei Tage, bis wir die Türen wieder aufmachten. Die Aktion war ein Erfolg.«

Der Hellblonde stand hinter seinem Schreibtisch auf:

»Wer hat den Befehl gegeben?« Er schob die Kaffeetassen zur Seite und legte nacheinander 21 Fotografien auf den Tisch. Eva betrachtete die Gesichter von der Seite. Männer, vor weiß gekalkten Wänden mit Nummern unter dem Kinn. Manche aber auch in sonnigen Gärten, mit großen Hunden spielend. Ein Mann hatte ein Gesicht wie ein Schimpanse. Josef Gabor stand auf und trat heran. Er blickte lange auf die Fotografien und zeigte dann so plötzlich auf eine, dass Eva zusammenzuckte. Auf dem Bild hatte ein jüngerer Mann ein dickes Kaninchen im Nacken gepackt und präsentierte dieses stolz lächelnd der Kamera. Die Männer im Zimmer wechselten zufriedene Blicke und nickten. Ihr Vater hatte auch Kaninchen gezüchtet, dachte Eva, in ihrem Schrebergarten außerhalb der Stadt, wo er auch das Gemüse für die Küche zog. In den kleinen Verschlägen hatten etliche, ewig kauende Tiere gesessen. Doch als Stefan eines Tages verstand, dass er die seidigen Gefährten nicht nur streichelte und mit Löwenzahn fütterte, sondern auch aß, hatte er einen schlimmen Schreianfall bekommen. Ihr Vater hatte die Kaninchen abgeschafft.

Später musste Eva die Übersetzung der Aussage unterschreiben. Ihr Name sah anders aus als sonst. Wie von einem Kind geschrieben, unbeholfen und rundlich. Der Hellblonde nickte ihr abwesend zu. »Danke. Abrechnung machen wir über Ihre Agentur?« David Miller erhob sich von seinem Stuhl an der Wand und sagte unwirsch:

»Warten Sie draußen. Zwei Minuten.«

Eva zog ihren Mantel an und ging auf den Flur hinaus, während David auf den Hellblonden einredete. Sie verstand »Ungeeignet. Ganz ungeeignet!«. Der Hellblonde nickte, griff zu einem Telefon und wählte eine Nummer. Der Generalstaatsanwalt setzte sich schwer auf einen Stuhl.

Eva trat an eines der hohen Flurfenster und blickte hinaus in den dunklen Hinterhof. Es hatte zu schneien begonnen. Dicke, schwere Flocken. Aus dem Hochhaus gegenüber erwiderten unzählige schwarze Fensterhöhlen menschenleer und stumm Evas Blick. Eva dachte: ›Dort wohnt keine Menschenseele. Nur Büros.‹ Auf der Heizung unter dem Fenster lagen drei dunkle Wollhandschuhe zum Trocknen. Sie fragte sich: ›Wem die wohl gehören? Wem gehört der einzelne Handschuh?‹

Josef Gabor erschien neben ihr. Er machte eine kleine Verbeugung und bedankte sich höflich. Eva nickte ihm zu. Durcheinander. Sie sah durch die geöffnete Bürotür, dass der knorrige Mann sie von seinem Stuhl am Fenster aus beobachtete. David Miller kam auf den Flur, wobei er sich seinen Mantel überzog. »Ich fahre Sie.« Es gefiel ihm sichtlich nicht.

Im Wagen schwiegen sie wieder. Die Wischer bewegten sich unruhig, verscheuchten die unzähligen Flocken von der Scheibe. David war aufgebracht. Eva konnte seine Wut spüren.

»Es tut mir leid, aber ich bin nur eingesprungen. Normalerweise habe ich nur mit Verträgen zu tun … Das war ja furchtbar, was der Mann da …«

Der Wagen schlitterte knapp an einer Laterne vorbei. David fluchte leise.

»Wovon hat er gesprochen? Eine Begebenheit aus dem Krieg?«

David sah Eva nicht an. »Ihr seid alle so ignorant.«

»Wie bitte?«

»Für euch kamen ’33 die kleinen braunen Männchen in einem Raumschiff und landeten in Deutschland, was? ’45 haben sie sich dann wieder verzogen, nachdem sie euch armen Deutschen diesen Faschismus aufgezwungen hatten.«

Erst als er länger sprach, hörte Eva, dass er kein Deutscher war. Er hatte einen leichten Akzent, amerikanisch vielleicht. Und er setzte die Worte sehr präzise. Als habe er alles, was er sprach, vorher einstudiert.

»Ich möchte bitte aussteigen.«

»Sie sind eins von diesen Millionen dummen Fräuleins! Das habe ich schon gesehen, als Sie eingestiegen sind. Ahnungslos und ignorant! Wissen Sie, was ihr Deutschen getan habt!? Wissen Sie, was ihr getan habt?!!«

»Halten Sie sofort an!«

David bremste ab. Eva hantierte am Türgriff, bekam die Tür auf und stieg aus. »Ja, genau, laufen Sie nur weg. Ich hoffe, dass Sie an Ihrer deutschen Gemütlichkeit er–«

Eva warf die Tür zu. Sie ging durch die fallenden Flocken. Alles war plötzlich leise, der Furor vorbei. Der schwere Wagen glitt davon. Eva dachte, ›dieser Chauffeur, oder was auch immer er ist, ist geistig doch nicht ganz gesund!‹

Vor dem ›Deutschen Haus‹ war Jürgens Wagen verschwunden. Die Stelle, an der er gestanden hatte, war von Schnee bedeckt, als wäre Jürgen nie da gewesen. Hinter den Fenstern der Gaststätte leuchtete es warm. Das Stimmengewirr war bis auf die Straße zu hören. Betriebsweihnachtsfeiern. Das bedeutete in jedem Jahr ein gutes Geschäft. Eva blickte auf die sich bewegenden Schemen hinter den Scheiben. Sie erkannte ihre Mutter, mit Tellern beladen, sie trat an einen Tisch, servierte schnell und geschickt. Kotelett. Schnitzel. Gans mit Rotkohl und den unzähligen Klößen, die ihr Vater wie ein Zauberer mit seinen geschickten, weichen Händen formte und in siedendes Salzwasser gleiten ließ.

Eva wollte hineingehen, aber sie zögerte. Der Ort schien ihr für einen Moment wie ein Schlund, der sie verschlucken könnte. Dann riss sie sich zusammen. Herr Gabor hatte Schlimmes erlebt, aber die Frage der Stunde war: Hatte Jürgen um ihre Hand angehalten?

Als Eva in den Gastraum trat, in die Menschenwärme, in den Gänsefettdunst, in den Raum voller Körper, alle beschwipst und froh, kam ihre Mutter heran, gefüllte Teller balancierend. Edith Bruhns trug nun ihre Arbeitskleidung: schwarzer Rock und weiße Bluse, darüber eine weiße Schürze, ihre bequemen beigen Schuhe. Sie flüsterte besorgt: »Was ist mit dir passiert? Bist du gestürzt?« Eva schüttelte unwillig den Kopf. »Hat er gefragt?« »Rede mit deinem Vater!« Edith wandte sich ab und bediente weiter.

Eva ging in die Küche. Ihr Vater schuftete hier zusammen mit zwei Hilfskräften. Ihr Vater in seiner weißen Jacke, der dunklen Hose, seine Kochmütze auf dem Kopf, den Bauch immer ein wenig nach vorn geschoben, was ihm einen komischen Ausdruck verlieh. Eva flüsterte: »Hat er gefragt?« Ihr Vater öffnete einen Ofen, aus dem ihm eine mächtige Dampfwolke entgegenschlug. Er schien es gar nicht zu bemerken. Er wuchtete eine große Form mit zwei ganzen braunen Gänsen aus dem Ofen. Dabei sah er seine Tochter nicht an. »Netter junger Mann. Ordentlich.«

Eva seufzte enttäuscht. Sie musste sich beherrschen, um nicht zu weinen. Da trat der Vater an sie heran: »Er wird schon fragen, Evamädchen. Aber wenn der dich nicht glücklich macht, dann gnade ihm Gott!«

In der Nacht lag Eva in ihrem Bett und starrte an die Decke. Die Laterne vor dem Haus warf hier einen Schatten, der wie ein Mann auf einem Pferd aussah. Ein langer Mann mit einer Lanze. Ein Don Quijote. Eva betrachtete ihn jeden Abend, wie er über ihr schwebte, und fragte sich: ›Wogegen kämpfe ich vergeblich?‹ Eva dachte an Jürgen und verfluchte ihre Angst, er könnte sie auf den letzten Metern noch sitzen lassen. Vielleicht machte er sich gar nichts aus Frauen? Wer will denn freiwillig Pfarrer werden? Warum hatte er sie noch nicht angerührt? Eva setzte sich auf, knipste die Lampe auf dem Nachttisch an, öffnete die Schublade und zog einen Brief heraus. Der einzige Brief von Jürgen, in dem er ›Ich liebe Dich‹ geschrieben hatte. Davor stand allerdings: ›Wenn ich mich auf ein Gefühl festlegen müsste, könnte ich durchaus sagen:‹ Doch. In Jürgens umständlicher Art, wenn es um Gefühle ging, war das ein makelloses Liebesgeständnis! Eva seufzte, sie legte den Brief zurück in den Nachttisch und löschte das Licht. Sie schloss die Augen. Sie sah Flocken wirbeln, eine dunkle Fassade mit schwarzen Fensterhöhlen. Sie begann, die Fenster zu zählen. Irgendwann schlief sie ein. Sie träumte nicht von Jürgen. Sie träumte von einer Herberge weit im Osten. Einer mit Blumen und Gräsern schmuckvoll abgedichteten Herberge, gegen den Wind und die Kälte, in die sie viele Gäste einlud. Während Eva zusammen mit ihren Eltern bediente, feierten die Gäste ausgelassen bis in den frühen Morgen. Bis niemand von ihnen mehr atmete.

Montag. Die Stadt lag unter einer dichten Schneedecke. Die Verkehrsverantwortlichen frühstückten im Stehen, führten erste Telefonate über die prekäre Lage, um dann in ihren überheizten Amtsstuben den ganzen Tag über mit Beschwerden über ungeräumte Straßen und Blechschadenmeldungen bombardiert zu werden.

Montag bedeutete in der Gaststätte ›Deutsches Haus‹ Ruhetag. Ludwig Bruhns schlief bis neun Uhr ›seinen wöchentlichen Schönheitsschlaf‹. Auch Annegret, die erst früh am Morgen von ihrer Schicht nach Hause gekommen war, hatte sich noch nicht blicken lassen. Die übrigen Familienmitglieder frühstückten in der großen, hellen Küche, die zum Hinterhof hinaus lag. Die dort hoch aufragende Tanne war weiß geschneit, ein paar Krähen saßen reglos auf den Zweigen, als könnten sie den Schnee nicht fassen. Stefan war zu Hause geblieben, weil er angeblich »bestialische« Halsschmerzen hatte. Edith Bruhns hatte scheinbar mitleidlos gesagt: »Na, wer ohne Jacke in den Schnee geht …« Aber dann hatte sie seine Kinderbrust mit Eukalyptussalbe eingerieben, wonach jetzt zart die ganze Küche roch. Sie hatte ihm einen Schal umgelegt und bestrich ihm nun sein drittes Brot mit Honig, da dieser gut gegen Halsschmerzen war. Dabei redete Edith tröstend auf Eva ein, die unglücklich in der Tageszeitung blätterte.

»Es sind zu verschiedene Welten. Ich verstehe ja den Reiz, Kind. Aber du gehst da ein. Wenn ich allein an dieses Anwesen denke. Ich kenne die da oben am Berg, das ist die Gegend, da sind die Grundstücke groß wie zehn Fußballfelder …«

»Kann ich dann da Fußball spielen?!«, fragte Stefan mit vollem Mund.

»Wenn die erste Verliebtheit weg ist«, sprach Edith weiter, »dann musst du repräsentieren. Dann musst du immer lächeln und stark sein. Und denk man nicht, dass du viel von deinem Gatten hast. Der hat einen so wichtigen Posten, den kriegst du gar nicht mehr zu sehen. Du bist alleine. Und das ist kein Leben für dich, Eva. Da wirst du krank. Dein Nervenkostüm war immer zart …«

›Nervenkostüm‹. Dieses Wort irritierte Eva jedes Mal. Das war also etwas, womit man sich verkleidete? Somit hatte sie mit einem schwachen Nervenkostüm die falsche Verkleidung gewählt. Eva dachte an den Kostümverleih Brommer am Bahnhof, einen gleichermaßen miefigen wie magischen Laden, dunkel, gefährlich und undurchdringlich wie ein Urwald. Seit sie ein junges Mädchen gewesen war, tauchte sie jedes Jahr zu Karneval genüsslich darin ein. Sie stellte sich vor, wie an einer der etlichen Stangen zwischen berüschten Prinzessinnenkleidern ein starkes Nervenkostüm hing. Ein Mantel, geflochten und geknotet aus dicken fleischfarbenen Strängen. Undurchdringlich, unzerreißbar, ein Schutz vor allem Schmerz. »Mutti, das kann man doch lernen! Guck dir Grace Kelly an. Erst Schauspielerin. Jetzt ist sie Prinzessin …«

»Dafür muss man gemacht sein.«

»Und wofür bin ich dann bitte gemacht?«

»Du bist eine normale, junge Frau, die einen normalen Mann braucht. Vielleicht einen Handwerker. Dachdecker verdienen sehr gut.« Eva schnaubte empört, sie wollte sich abfällig über jegliche Art von Handwerkern äußern, doch da blieb ihr Blick an einer kleinen Schwarz-Weiß-Fotografie in der Zeitung hängen. Es zeigte zwei der Männer, mit denen sie gestern eine Stunde lang in einem verrauchten Zimmer zusammen gewesen war: den hellblonden jüngeren Mann und den älteren Mann mit der komischen Sturmfrisur. Sie unterhielten sich ernst. Die Bildunterschrift lautete: ›Der leitende Staatsanwalt und der Generalstaatsanwalt im vorbereitenden Gespräch.‹ Eva begann, den einspaltigen Artikel zu lesen. Offensichtlich sollte in der Stadt noch in dieser Woche ein Prozess gegen ehemalige SS-Angehörige eröffnet werden.

»Eva? Hörst du mir nicht zu? Ich rede mit dir! Was ist mit dem Peter Rangkötter? Der hat dir doch so lange den Hof gemacht. Fliesenlegern geht nie die Arbeit aus.«

»Mutti, glaubst du im Ernst, ich will jemals Frau Rangkötter genannt werden?« Stefan kicherte und wiederholte fröhlich, das kleine Kinn voller Honig: »Frau Rangkötter! Frau Rangkötter!« Eva beachtete ihren Bruder nicht, sie zeigte auf den Artikel und sah ihre Mutter an. »Hast du das mitbekommen, mit diesem Prozess? Das war der Auftrag gestern.« Edith nahm die Zeitung in die Hand, betrachtete die Fotografie und überflog den Artikel. »Das ist alles schlimm, was da war. Im Krieg. Aber man möchte das doch gar nicht mehr wissen. Und warum muss das gerade in unserer Stadt sein?« Edith Bruhns faltete die Zeitung zusammen. Eva sah ihre Mutter überrascht an. Sie klang, als ginge sie das etwas an. »Warum denn nicht?« Ihre Mutter antwortete nicht. Sie stand stattdessen auf und begann, das schmutzige Geschirr abzuräumen. Dabei machte sie ihr verschlossenes Gesicht, das ›Zitronengesicht‹, wie Stefan es nannte. Sie schaltete den Boiler über der Spüle ein, um heißes Wasser zu bereiten.

»Kannst du heute unten helfen, Eva, oder hast du einen Auftrag?«

»Ja, kann ich. Vor Weihnachten ist es mau. Und der Chef fragt immer zuerst Karin Melzer. Weil die immer so spitze Büstenhalter trägt.«

»Psst«, machte Edith mit Blick auf Stefan, aber der feixte nur.

»Als wie wenn ich nicht weiß, was ein Büstenhalter ist.«

»Als wenn ich nicht weiß«, verbesserte Edith. Das Wasser im Boiler begann zu simmern. Edith stapelte das Geschirr im Becken.

Eva schlug die Zeitung wieder auf und las den Artikel zu Ende: 21 Männer waren angeklagt, sie hatten alle in einem Lager in Polen gedient. Der Prozessbeginn war mehrfach verschoben worden. Der Hauptangeklagte, der letzte Kommandant des Lagers, war ihnen dabei schon weggestorben. Jetzt war statt seiner der Adjutant angeklagt, ein Hamburger Kaufmann mit tadellosem Leumund. Im Prozess sollten 274 Zeugen gehört werden. In dem Lager sollten angeblich Hunderttausende Menschen – »Buuh!« Plötzlich schlug Stefan von unten gegen die Zeitung, einer seiner Lieblingsscherze. Und wie jedes Mal erschrak Eva heftig, sie warf die Zeitung beiseite und sprang auf. »Na, warte!« Stefan stürmte aus der Küche, Eva lief hinterher. Sie jagte ihren kleinen Bruder durch die Wohnung, fing ihn schließlich in der Stube ein, hielt ihn fest und drohte damit, ihn gnadenlos zu zerquetschen wie eine lästige Laus. Und Stefan schrie genüsslich und schrill auf, sodass die Kristallgläser im Büfettschrank zitterten.

In der Küche stand Edith weiter am Spülbecken und blickte auf den Wasserboiler. Das Wasser darin kochte jetzt laut und beunruhigend. Das schmutzige Geschirr wartete im Becken. Aber Edith rührte sich nicht. Sie blickte reglos auf die großen, heißen Blasen, die hinter dem Glas tanzten.

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