Deutschland misshandelt seine Kinder - Prof. Dr. Michael Tsokos - E-Book
SONDERANGEBOT

Deutschland misshandelt seine Kinder E-Book

Prof. Dr. Michael Tsokos

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jeden Tag werden in Deutschland mehr als 500 Kinder von Erwachsenen aus ihrem familiären Umfeld misshandelt. Fast jeden Tag wird ein Kind durch körperliche Gewalt getötet. Das deutsche Kinder- und Jugendschutzsystem versagt mit grausamer Regelmäßigkeit. Die Rechtsmediziner der Berliner Charité Michael Tsokos und Saskia Guddat decken gravierende Missstände auf. Sie liefern bisher unveröffentlichte Belege für die dramatische Steigerungsrate kindlicher Misshandlungen und zeigen, wie wir die Gesundheit und Rechte der Kinder besser schützen können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 359

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Tsokos / Saskia Guddat

mit Andreas Gößling und Gunnar Schupelius

Deutschland misshandelt seine Kinder

Knaur e-books

Über dieses Buch

Polizeistatistiken verzeichnen etwa 4000 schwere Kindesmisshandlungen pro Jahr in Deutschland. Die Dunkelziffer ist jedoch enorm. Experten gehen von mehr als 200000 Fällen aus – mit steigender Tendenz. Die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat schildern das schockierende Ausmaß der Gewalt. Und sie decken gravierende Missstände auf: Der Kinder- und Jugendschutz versagt auf ganzer Linie; Sozialarbeiter schreiten oft nicht ein und gefährden das Leben der Kinder. Ärzte deuten aus Unkenntnis Misshandlungsspuren falsch und Richter sprechen in Zweifelsfällen vorschnell die angeklagten Eltern frei. Anhand vieler Beispiele aus europäischen Nachbarländern zeigen die Autoren, wie wir Gesundheit und Rechte der Kinder auch in Deutschland besser schützen können.

Inhaltsübersicht

VorbemerkungVorwort zur TaschenbuchausgabeDas Problem mit den offiziellen ZahlenSchicksaleEinleitungDas alltägliche VerbrechenKindesmisshandler sind SerientäterWas ist eigentlich Kindesmisshandlung?Null Toleranz gegenüber Misshandlern1 Generation Kevin – aus Opfern werden TäterTierisch gedemütigtGeneration Kevin: Fast ein Viertel ist gewalttätigFrühstart in die GewaltkarriereDie Zusammenhänge sind wissenschaftlich erwiesen»Mir hat es auch nicht geschadet!«»Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie«Vererbte Gewalt?Kindesmisshandler sind geisteskrankGuter Zwilling, böser ZwillingUnsichtbare Wunden: seelische MisshandlungAuch in Villen wird geprügelt2 Vorkämpferin gegen Kindesmisshandlung: die RechtsmedizinAufgaben der klinischen Rechtsmedizin»So etwas machen Eltern doch nicht!«Kindesmisshandlung als Folklore?Das Kartell der VerleugnerWoran man Misshandler erkenntMisshandler lügenMisshandler sind oftmals DrogenmissbraucherMisshandler zögern den dringend nötigen Arztbesuch hinausEntlastung unschuldiger ElternSechs Wochen alt – 23 KnochenbrücheAusgepeitscht?Blau geprügelt?3 Ritter mit stumpfen Schwertern: Warum der Kinderschutz versagtMilliarden für das KindeswohlNackt im KellerlochCola und KolikenEin Fehler im – oder mit? – SystemAusgebrannt und abgestumpft: die »Wächter des Kindeswohls«Komplizen der MisshandlerGoldene Tipps für SadistenIm TiefschlafBlinde Helfer, taube KontrolleureHelfer im DoublebindUnter den Augen der HelferAbsichtlich ahnungslos?4 Freispruch zweiter Klasse: Das Gesetz schützt die TäterIm Zweifel für die Knochenbrecher?Freispruch für Baby-Totschüttler?Eine der schwersten KindesmisshandlungsformenDas alltägliche SäuglingsmassakerZombie-BabyRechtsstaat kontra Kinderschutz?5 Das Schweigen der ÄrzteDie Kinder- und Jugendärzte dürfen nicht länger wegschauenJenseits der SchweigepflichtGesetzliche Meldepflicht einführen?Für eine gesetzliche ReaktionspflichtElternrecht kontra KindeswohlSchuld und Sühne6 Friede den Toten – nicht den TäternSerienmord im KinderzimmerObduktion nur bei konkreten VerdachtsfällenEntlastung schuldloser Eltern7 Zum Fressen gern: Verletzung der AufsichtspflichtVorsicht, bissige Eltern!Betreute VerwahrlosungWarum manche Eltern bissig sindBlutrausch in der KitaGebranntes KindAngefressen8 Der Elterntest – Wunschbild und WirklichkeitVom Recht der Misshandler auf ihre OpferBeobachter der Kindeswohlgefährdung9 Nicht nur Misshandler haben Rechte: das Opfer-EntschädigungsgesetzMisshandlungsopfer haben Anspruch auf EntschädigungStrafanzeige stellen!Hin- und hergerissen10 Rechtzeitig helfen – nicht nachträglich reparierenZum Schreien!Erweiterte ElternschaftInvestment mit Traumrendite11 Was sich ändern mussKinder schnell von ihren Misshandlern trennen!Helfer schulen und stärken!Kontrolle der Kontrolleure!Wirkungslose »Hilfen« abschaffen!Ahnungslose Entscheider aufklären!»Begehen durch Unterlassen« statt »Freispruch zweiter Klasse«!Ärztliche Reaktionspflicht einführen!Kinderschutzambulanzen einrichten!Leichenschaupflicht bei minderjährigen Verstorbenen!Mehr Realismus im Adoptionsrecht!Krippen und Kitas nach skandinavischem Standard!Den Teufelskreis durchbrechen!12 Eingreifen, nicht wegschauenAlarmzeichen und WarnhinweiseWohin kann man sich wenden?Eine Bitte zum AbschlussLiteraturnachweisDanksagungLeseprobe »Schwimmen Tote immer oben?«
[home]

Personen- und Ortsnamen sowie etliche Nebenumstände der geschilderten Fälle wurden verfremdet, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren.

[home]

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Was unser Buch bewirkt hat (und was noch nicht)

 

 

Das Erscheinen unseres Debattenbuchs Anfang 2014 löste heftige Reaktionen aus – nicht nur bei Ärzteverbandsfunktionären, die unsere Kritik reflexhaft zurückwiesen, sondern vor allem bei Praktikern innerhalb des deutschen Kinderschutzsystems, die uns in unzähligen Mails und Briefen überwiegend ihre Zustimmung zu unserer Darstellung des Systems versichert haben.

Auch die Medien berichteten breit über unsere Thesen, Falldarstellungen und Forderungen. Die Illustrierte stern widmete unserer Thematik eine Titelgeschichte; wir wurden von unzähligen Zeitungen und Radiosendern interviewt und in diverse TV-Sendungen eingeladen bzw. von Formaten begleitet, darunter das ZDF-Morgenmagazin, Frontal 21, 37 Grad, stern-tv und gleich zweimal in die Talkshow Markus Lanz. Zweimal waren wir auch bei Günther Jauch eingeladen, wurden jedoch jeweils im letzten Moment wieder ausgeladen, da sich die Redaktion für ein anderes, offensichtlich viel wichtigeres Thema entschieden hatte. Inwiefern die Schweizer Schwarzgeldkonten einer Alice Schwarzer brisanter sein sollen als das von uns angeprangerte tödliche Versagen des deutschen Kinderschutzsystems und inwiefern die Edathy-Affäre keine Überschneidungspunkte mit unserer Thematik aufweist, will sich uns allerdings bis heute nicht erschließen. Aus unserer Sicht lässt dies in Sachen Günther Jauch einen schalen Nachgeschmack zurück. Denn gerade so ein Format mit einem Millionenpublikum zur besten Sendezeit hätte die Möglichkeit, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Nur leider fehlte den Verantwortlichen bei Günther Jauch entweder der Mut, oder Kinder haben für sie schlichtweg keine Lobby.

Der Dachverband der evangelischen Einrichtungen, Verbände und Vereinigungen der Jugendhilfe, EREV, veranstaltete im Juni 2014 in Kassel ein Symposium zum Thema »Misshandelt Deutschland seine Kinder? Kinderschutz in der Diskussion«, zu dem wir beide eingeladen waren. Auf dieser Tagung setzten sich Praktiker verschiedener Fachrichtungen offen mit Missständen und Schwachstellen im deutschen Kinderschutz auseinander.

Professor Ludwig Salgo, renommierter Spezialist für Familien- und Jugendrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und langjähriger Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes, referierte zu den Allgemeinen Grundlagen und den ersten Evaluationsergebnissen des § 8a zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, und ein engagierter Familienrichter aus Frankfurt erläuterte dem staunenden Publikum, dass es für Familienrichter in Deutschland keine verbindlichen Qualitätsstandards gebe. Jeder junge Richter kann mit Ende zwanzig das Amt des Familienrichters bekleiden; dafür braucht er keine spezielle Aus- oder Fortbildung über seine juristischen Examina hinaus. Er kann also über Wohl und Wehe misshandelter Kinder entscheiden, ohne auch nur die nötige Lebenserfahrung, geschweige denn eigene Erfahrung im Zusammenleben mit Kindern vorzuweisen. Das ist in etwa dasselbe, wie wenn ein Medizinstudent direkt nach seinem letzten Staatsexamen in den Operationssaal spazieren und ohne jegliche Erfahrung Schwerstverletzte nach Verkehrsunfällen operieren oder Hirntumore entfernen würde.

Doch es fehlte auch nicht an uneinsichtigen Teilnehmern, die sich jede Kritik am deutschen Kinderschutzsystem und seinen Akteuren verbaten. Eine Landesjugendamtsmitarbeiterin aus Rheinland-Pfalz verkündete, dass der Jugendschutz in Deutschland außer in Einzelfällen vorbildlich funktioniere. Der Leiter eines freien Trägers verstieg sich gar zu der Behauptung, Kinder wollten doch eigentlich immer zu ihren Eltern zurück. Zum »Beweis« führte er die Kinder der Angehörigen der Zwölf Stämme an, die erklärt hatten, sie wollten zu ihren Eltern zurück, als sie vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, obwohl diese sie schwer misshandelt hatten. Willkommen zurück im Wildwest-Kinderschutz, dachten wir uns nur angesichts solch hanebüchener Deutungsversuche kindlichen Verhaltens.

Bei einer Tagung des Kinderschutzbundes im Juni 2014, zu der von uns beiden Dr. Guddat eingeladen war, bot sich ein ähnlich zwiespältiges Bild. Einige Teilnehmer brachten ihre Zustimmung zu den in diesem Buch vertretenen Thesen und Forderungen offen zum Ausdruck; andere hielten mit ihrer Missbilligung uns gegenüber nicht hinterm Berg.

Auf Einladung diverser freier Träger und Ämter hin führten wir zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen durch. Viele Jugendämter in Berlin sowie der städtische Kinder- und Jugendgesundheitsdienst nahmen unser Angebot gern in Anspruch, ihre Mitarbeiter zu schulen, damit diese dann in der Lage sind, misshandlungsbedingte Verletzungen von durch Unfällen im häuslichen Umfeld verursachten Verletzungen zu unterscheiden. Auch Kinderschutzfachkräfte, offiziell »insofern erfahrene Fachkräfte« (ISEF) genannt, und die Sanitäter der Berliner Feuerwehr wurden und werden von uns seither entsprechend geschult.

Wir wurden zu Botschaftern des bundesweit aktiven Deutschen Kindervereins Essen e.V. ernannt und stehen seitdem in engem Kontakt mit dessen Geschäftsführer Rainer Rettinger, mit dem derzeit eine bundesweite Aufklärungskampagne zum Thema Kindesmisshandlung in Vorbereitung ist.

Marco K. König, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbandes Rettungsdienst, kam nach Erscheinen des Buches auf uns zu und fragte, wie die Rettungsdienste zur Problemlösung beitragen könnten. Gemeinsam haben wir einen Flyer und eine sogenannte Kitteltaschenkarte entwickelt, auf denen für die Rettungssanitäter übersichtlich zusammengefasst ist, anhand welcher typischen Verletzungslokalisationen man erkennen kann, ob es sich um eine Misshandlung oder einen Unfall handelt. Ferner informieren sie darüber, wie das weitere Vorgehen in konkreten Fällen aussehen kann.

Im September 2014 suchten uns der Dekan der Katholischen Hochschule und der Lehrbeauftragte der Evangelischen Hochschule Berlin auf, um die Einrichtung eines Curriculums »Kindesmisshandlung« zu diskutieren – ein begrüßenswertes Weiterbildungsangebot für künftige Erzieher, Sozialarbeiter, Ärzte und alle anderen Praktiker, die bei ihrer Arbeit mit Kindesmisshandlungsfällen zu tun haben. Ob diese Idee in absehbarer Zukunft Wirklichkeit wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch ungewiss.

Das gilt genauso für etliche weitere Projekte zur Förderung des Kindeswohls, die an uns herangetragen wurden. Durch das Buch aufgerüttelt, kamen etliche Privatpersonen, Träger und Verbände mit Ideen und Projekten auf uns zu. Wir versprachen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen – doch viele dieser Initiativen scheinen inzwischen wieder versandet zu sein.

Mehr der Kuriosität halber seien einige äußerst bedenkliche Beiträge zu der von uns angestoßenen Debatte erwähnt.

Ein freier Träger hatte uns zu einem Kongress zum Thema »Kinderschutz in Berlin« eingeladen. Dr. Guddat sollte den Eröffnungsvortrag halten, anschließend sollte Professor Tsokos an der Podiumsdiskussion teilnehmen. Dann übernahm ein anderer Dachverband kurzfristig die Organisation der Tagung. Plötzlich sollte Dr. Guddat nicht mehr den Einführungsvortrag halten, sondern auf dem Podium sitzen, und Professor Tsokos stand überhaupt nicht mehr auf der Teilnehmerliste. Dr. Guddat erhielt überdies vor der Tagung einen Anruf, in dem sie aufgefordert wurde, sich bei der Diskussion »zu mäßigen«.

Die Tagung war dann eine reine Schlammschlacht. Jeder zweite Satz der Referenten richtete sich gegen unser Buch und die Autoren, die es gewagt hatten, angebliche Fehler des deutschen Kinderschutzsystems offen anzuprangern. Die Teilnehmer der Tagung machten ihrem Unmut immer wieder Luft und ließen dabei tief in ihre Seelen blicken: »Warum tun wir uns das hier überhaupt an?«, war ein typischer Beitrag. »Ich will nicht hören, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Mir müssten die Füße dafür geküsst werden, dass ich diesen harten Job überhaupt mache!«

Die abschließende Podiumsdiskussion dauerte gerade mal eine halbe Stunde; Dr. Guddat bekam keine Gelegenheit, ihre Position systematisch darzustellen. Dafür wurde nach der Tagung die Bitte an sie herangetragen, ihre Argumente aus der Diskussion und »alles, was Sie dort nicht loswerden konnten«, schriftlich zusammenzufassen; dieses Papier wolle man dann den Teilnehmern der Tagung zukommen lassen. Dr. Guddat lehnte ab; schließlich hatte sie den ganzen Tag auf dem Kongress verbracht, wo man sie kaum zu Wort kommen ließ.

Ein weiterer bizarrer Zwischenfall: Im April 2014 versuchte ein unter Mordverdacht in U-Haft einsitzender Mann, der beschuldigt wurde, ein kleines Mädchen durch wiederholte massive Schläge in den Bauch getötet zu haben, unser Buch per einstweilige Verfügung zu verbieten. Als Begründung führte er an, dass er sich selbst und die ihm zur Last gelegte Tat in einer unserer Fallgeschichten wiedererkannt habe.

In der fraglichen Fallgeschichte wie auch im gesamten Buch haben wir jedoch alle Akteure und Schauplätze so verfremdet, dass reale Personen keinesfalls zugeordnet werden können. Tatsächlich war der in seinen Grundzügen maßgebliche Misshandlungsfall zuvor in den Medien so breit und unverschlüsselt erörtert worden, dass von einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch unser Buch ohnehin nicht die Rede sein konnte.

Dem Antrag auf einstweilige Verfügung wurden vom zuständigen Gericht keine Erfolgsaussichten eingeräumt, woraufhin der Mann den Antrag zurücknahm. Stattdessen wurde er wenig später wegen Mordes an der kleinen Tochter seiner Lebensgefährtin zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Zumindest die Meinungsfreiheit wird also von der deutschen Justiz zuverlässig geschützt. Für das kleine Opfer des streitbaren U-Häftlings und seine viel zu zahlreichen Schicksalsgenossen ist das allerdings ein allzu schwacher Trost.

Um die tödlichen Fehler des deutschen Kinderschutzsystems nachhaltig zu beheben, braucht es engagierte Politiker. Nach Erscheinen unseres Buches wurden wir u.a. von der Bundes-Kinderschutzkommission, von Dr. Franziska Brantner, kinder- und familienpolitischer Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, und von Dr. Eva Högl (SPD), stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzende des Edathy-Untersuchungsausschusses, zu Gesprächen eingeladen. Die Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Christina Schwarzer bat uns zu einer Diskussionsveranstaltung in der CDU-Parteizentrale und initiierte überdies eine Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung, bei der wir gleichfalls unsere Thesen und Forderungen vortragen konnten.

Bis auf wenige Ausnahmen hielten sich die Politiker zu diesem heiklen Thema bisher jedoch bedeckt. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig verkündete zwar, wir bräuchten hierzulande »eine Kultur des Hinsehens«, ließ es aber bislang bei dieser Floskel bewenden. Allerdings ist mittlerweile, über ein Jahr nach Erscheinen unseres Buches, ein gemeinsamer Termin, initiiert von Rainer Rettinger vom Deutschen Kinderverein Essen e.V., mit der Ministerin im Bundesfamilienministerium vereinbart. Das Resultat bleibt abzuwarten, aber es besteht zumindest für uns die Hoffnung auf ein stärkeres Engagement in Sachen Kinderschutz auf bundespolitischer Bühne.

Auf Einladung der Präsidentin des Landtags von Nordrhein-Westfalen verfasste Professor Tsokos eine Stellungnahme zum »Gesetz zum Ausbau des Kinderschutzes in Nordrhein-Westfalen«. Darin geht es um eine Änderung des Heilberufegesetzes, die Kinderärzten erlauben soll, sich bei Verdacht auf Misshandlung auszutauschen – eine wichtige Maßnahme, damit elterliche Misshandler nicht mehr durch Kinderärzte-Hopping ihre Spur verwischen können.

Auf der Berliner Politebene ist besonders das Engagement des ehemaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky (SPD) und seines Stellvertreters, Bezirksstadtrat Falko Liecke (CDU), hervorzuheben. Als bislang einziger Politiker äußerte sich Liecke öffentlich zu den von uns angeprangerten Missständen. Er erklärte, dass er unsere Forderungen unterstütze, und lädt uns regelmäßig zu Fortbildungsveranstaltungen ein. Sein Ziel ist es, alle Jugendamtsmitarbeiter in Neukölln schulen zu lassen, damit sie Misshandlungssymptome erkennen können und wissen, wie sie zum Besten der Kinder zu reagieren haben.

Zusammen mit Bezirksstadtrat Falko Liecke haben wir auch das Projekt »Babylotse« am Krankenhaus Neukölln bei seiner Entstehung und Proklamation im Februar 2015 begleiten dürfen. Als eine Maßnahme der »Frühen Hilfen« wird noch im Krankenhaus mit den werdenden Eltern evaluiert, welche Risikofaktoren für ihr Kind bestehen. Je geringer die – materiellen und immateriellen – Ressourcen der Eltern sind, desto höher ist nachweislich das Risiko, dass sie ihr Kind misshandeln werden. Wenn man sie jedoch gezielt und frühzeitig unterstützt und insbesondere Wege aus der Krise und bestehende Hilfsangebote aufzeigen kann, dann steigen die Chancen, dass das Kind ohne elterliche Misshandlung aufwachsen kann.

Die Zusammenarbeit mit den Neuköllner Behörden ist vertrauensvoll und gut eingespielt. Sowohl die Jugendamtsmitarbeiter als auch die Ärzte des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes stellen Kinder bei Verdacht auf Misshandlung routinemäßig in der Charité-Gewaltschutzambulanz vor, wo sie dann von Rechtsmedizinern untersucht werden.

Auf Einladung von Falko Liecke haben wir an Vorschlägen für eine Weiterentwicklung und Verbesserung des Berliner Kinderschutzgesetzes mitgewirkt. Insbesondere haben wir dabei darauf hingewiesen, dass eine kinderärztliche Reaktionspflicht aus unserer Sicht gesetzlich festgeschrieben werden muss. Zudem müssen die Kinderärzte in die Lage versetzt werden, sich in Verdachtsfällen mit Kollegen über den betreffenden Fall auszutauschen. Wir haben auch angeregt, nach Hamburger Vorbild gesetzlich vorzuschreiben, dass alle Kinder, bei denen ein Misshandlungsverdacht besteht, einer Kinderschutzambulanz bzw. einem Rechtsmediziner vorgeführt werden müssen, um rechtsmedizinisch zu klären, inwieweit der Verdacht begründet ist. Des Weiteren müssen unseres Erachtens sämtliche Kinderschutzfachkräfte (ISEF) und Jugendamtsmitarbeiter zwingend rechtsmedizinisch geschult werden.

Zeitgleich mit Erscheinen unseres Buches hat der »Fall Yagmur« die Öffentlichkeit weit über die Grenzen Hamburgs hinaus aufgerüttelt. Obwohl das Kind formell unter der Aufsicht des Jugendamtes stand, wurde die dreijährige Yagmur über viele Monate von ihrer Mutter schwer misshandelt und starb schließlich an den Misshandlungsfolgen. Die Tragödie illustriert auf beklemmende Weise nahezu alle Konstruktionsfehler des deutschen Kinderschutzsystems, die wir in unserem Buch anprangern.

Doch anders als der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, der uns bei der Berliner Ärztekammer unseres Buches wegen anzeigte, waren die Akteure des Hamburger Kinderschutzsystems erfreulich kritikoffen. Über den Ersten Bürgermeister der Hansestadt, den jüngst in seinem Amt bestätigten Olaf Scholz (SPD), wurde uns berichtet, dass er sich im Rahmen der Untersuchungen zum Fall Yagmur auch intensiv mit unserem Buch auseinandergesetzt habe. Jedenfalls hat die Hamburger Bürgerschaft den Fall Yagmur mit einem Untersuchungsausschuss schonungslos durchleuchtet und dabei das gesamte Kinderschutzsystem des Stadtstaates auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis ist nicht nur ein fünfhundert Seiten umfassender Bericht, der die verschiedenen Facetten des Systemversagens ungeschönt benennt, sondern auch ein Katalog konkreter Verbesserungsmaßnahmen, mit deren Umsetzung bereits begonnen worden ist.

Das Hamburger Ärzteblatt hat im November 2014 ein ganzes Heft der Frage »Wie können wir Kinder besser schützen?« gewidmet. In Berliner Fachblättern wie KV-Blatt oder Berliner Ärzte hingegen bekamen Verbandsmitglieder und selbsternannte Buchkritiker vor allem Gelegenheit, unser Buch falsch darzustellen und wegen angeblicher »Realitätsferne« und vermeintlich »überzogener Kritik« am System zu verreißen. Erstaunlich nur, dass wir, die angeblich so ahnungslosen Autoren, in Nordrhein-Westfalen um Mitwirkung an der Weiterentwicklung des Kinderschutzgesetzes gebeten wurden!

In Berlin hingegen drohte uns zwischenzeitlich wegen angeblichen Verstoßes gegen das Standesrecht ein standesrechtliches Verfahren. Der Vorwurf: »Ehrabschneidendes Verhalten gegenüber einer ganzen Berufsgruppe«. Das Standesrecht untersagt Ärzten, sich öffentlich über Zunftkollegen negativ zu äußern – auch wenn diese gar nicht namentlich genannt werden und es um allgemeine Äußerungen betreffend den Umgang einer bestimmten Berufsgruppe der Ärzteschaft mit einer konkreten Problematik geht. In der ersten Ausgabe unseres Buches hatten wir festgestellt, dass Kinderärzte vor dem Dilemma stehen, Misshandlungssymptome zu ignorieren oder die betreffenden Eltern als Kunden zu verlieren – und aus dieser sachlich kaum angreifbaren Aussage sollte uns nun mithilfe des Standesrechts ein Strick gedreht werden!

Es war zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, mit Aussagen in unserem Buch »ehrabschneidend« gegenüber der Berufsgruppe der Kinderärzte oder einzelnen ärztlichen Kollegen zu agieren. Wenn wir Einzelnen mit unseren Aussagen zu nahe getreten sind, bedauern wir das. Aber: Es ist falsch, wenn man seine Augen vor unliebsamen Wahrheiten verschließt. Zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Kindesmisshandlung gehören auch die kritische Selbstreflexion der Funktion der eigenen Person im System und das ständige Überprüfen von Effektivität und Effizienz des diesbezüglichen Handelns. Ist es tatsächlich zum Wohl des Kindes? Oder ist mein Tun eher um seiner selbst willen? Um überhaupt etwas zu tun? Und dient es nicht vielleicht doch eher (oder vielmehr nur) dem Wohl der Eltern und damit dem System eines nicht kindzentrierten, sondern auf Unterstützung der Eltern ausgerichteten Systems? Unterstütze ich vielleicht ein System, das – auch unter den Vorzeichen des Kostendrucks und zunehmender Delegation staatlicher Aufgaben an private Träger – in die Jahre gekommen und nicht mehr zeitgemäß ist?

Angesichts einiger deutlich überzeichneter öffentlicher Reaktionen auf unser Buch fragt man sich in der Tat, ob diese nicht eher Ausdruck und Eingeständnis eigener Unzulänglichkeiten sind und mit dieser Erkenntnis zugleich ein Verhaltensmuster an den Tag tritt, das schon in der Antike bekannt war, nämlich den Überbringer schlechter Nachricht stellvertretend für deren Ursache zur Verantwortung zu ziehen.

Uns wurde vorgeworfen, den Begriff des »Kinderärzte-Hoppings« nicht in seinem eigentlichen Kontext zu verwenden bzw. modifiziert zu haben. Dem ist mitnichten so. Gemeint ist hier nicht etwa das »Ärzte-Hopping« oder »Doktor-Hopping«, ein von den Krankenkassen geprägter Begriff, der den Umstand beschreibt, dass bestimmte Patienten bei mehreren unterschiedlichen Ärzten vorstellig werden und sich so eine zweite, dritte oder vierte Meinung bzw. Diagnose einholen oder auch Alternativtherapien parallel beginnen, ohne dass die involvierten Ärzte voneinander wissen. Das »Kinderärzte-Hopping« ist ein in der Rechtsmedizin und insbesondere Kriminalistik gebräuchlicher Begriff (siehe www.riskid.de) für das, was täglich in Deutschland passiert: Kinderärzte, die Misshandlungen gegenüber den Eltern offen ansprechen, werden von ebendiesen Misshandlern nicht mehr aufgesucht; sie wechseln dann den Kinderarzt.

Wenn es um das »Kinderärzte-Hopping« geht, haben wir es mit einer ganz anderen Intention und damit auch Qualität des Handelns der dafür Verantwortlichen zu tun. Die rechtsmedizinische Erfahrung zeigt, dass sehr viele Kinder, die von körperlichen Misshandlungen betroffen sind, eine langjährige »Arzt-Patienten-Karriere« durchmachen bzw. hinter sich haben. Aus unserer Sicht ist allein schon der Umstand ein Skandal, dass diejenigen, die Kinder misshandeln und sich der Strafbarkeit dieser Handlung sehr wohl bewusst sind, in Deutschland die Möglichkeit haben, die betroffenen Kinder einer genaueren Exploration und nachfolgenden Intervention zu entziehen. Es bedarf dringend einer Änderung des Heilberufsgesetzes dahingehend, dass Ärzte sich interkollegial über misshandlungsverdächtige Befunde austauschen dürfen, ohne hierdurch ihre Schweigepflicht zu verletzen. Nur so kann dem Wohl der kleinen Patienten gedient werden und Misshandlung als einer Form einer »chronischen Krankheit« entgegengewirkt werden.

Was den Versuch des Präsidenten des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, bei der Berliner Ärztekammer ein standesrechtliches Verfahren gegen uns einleiten zu lassen, anbelangt, bat der Präsident der Berliner Ärztekammer Professor Tsokos und den Vorsitzenden des Kinder- und Jugendärzteverbandes in Berlin zu einem »Konsensgespräch«, und damit war der Konflikt auch tatsächlich schon entschärft.

Am fehlenden Willen von Verbandsfunktionären, auf anderer Ebene das mangelhafte Kinderschutzsystem von Grund auf zu reformieren, hat sich jedoch dadurch leider wenig geändert. Das gilt bedauerlicherweise auch für unsere eigene Standesorganisation, die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM). Deren Präsident war sich nicht zu schade, Anfang Februar 2014, wenige Tage nach Erscheinen unseres Buches, in einer offiziellen Stellungnahme zu behaupten, dass wir bloße Einzelfälle aufgebauscht hätten und von Systemversagen keine Rede sein könne.

Erwähnt sei hier allerdings auch, dass sich daraufhin zahlreiche Kollegen aus anderen rechtsmedizinischen Instituten bei uns meldeten und uns versicherten, dass der Präsident der DGRM nicht in ihrem Namen spreche. Auch viele Kinderärzte schrieben uns, dass sie mit dem Vorgehen ihres Verbandsoberen nicht einverstanden seien und unserer kritischen Analyse uneingeschränkt zustimmen würden.

Andrea Titz, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, wies namens ihrer Zunft die Kritik an oftmals ahnungslosen Familienrichtern und haarsträubenden Fehlurteilen gleichfalls zurück. Unsere kritische Bestandsaufnahme sei »populistisch«, argumentierte sie – doch gerade das ist sie definitiv nicht. Populistisch sind Behauptungen und Forderungen, mit denen man wider besseres Wissen auf den Beifall einer bestimmten Klientel setzt. In unserem Buch aber werden keine Institution, kein Akteur und keine Berufsgruppe von Kritik verschont, die zum System des fehlkonstruierten deutschen Kinderschutzes gehören.

Wichtiger als Abwehr- und Abwiegelungsreflexe sind die positiven Impulse und Initiativen, die wir mit unserem Buch anstoßen konnten.

Zahlreiche kleinere freie Träger machten und machen von unserem Angebot Gebrauch, ihre Mitarbeiter – ob Familienhelfer oder Kita-Mitarbeiter – zu schulen. Auch von diversen städtischen Arbeitskreisen, in denen teilweise auch Familienrichter sitzen, wurden wir zu Fortbildungsveranstaltungen eingeladen.

Positiv hervorzuheben ist zudem das Engagement einiger Grundschulleiter, die uns gebeten haben, ihre Lehrer zu schulen. Auch etliche Notarzt- und regionale Kinderarztverbände zeigten sich offen für unsere Kritik und luden uns zu Symposien in Berlin und Brandenburg ein, um ihre rechtsmedizinischen Wissenslücken zu schließen.

Mit gutem Beispiel geht die GESOBAU, ein kommunales Wohnungsunternehmer und mit einem Bestand von über 37 000 Wohnungen einer der größten Vermieter in Berlin, voran. Aufgerüttelt durch unser Buch, rief der Vorstand dieses Unternehmens Ende 2014 die »Kooperation Kinderschutz« ins Leben und schloss bereits mit mehreren Bezirksämtern, die für die Berliner Jugendämter zuständig sind, Kooperationsvereinbarungen zum Kinderschutz. Damit werden konkrete Maßnahmen zum aktiven Kinderschutz geregelt, wie zum Beispiel die Erarbeitung gemeinsamer Standards und Verfahrensweisen in Krisensituationen, die Benennung eines Verantwortlichen pro GESOBAU-Kundencenter, der das Jugendamt über mögliche Kindeswohlgefährdungen informiert und als Ansprechpartner dient, die Einbeziehung der GESOBAU in lokale Kinderschutzkonzeptionen, die fallunabhängige Zusammenarbeit und der Austausch in regionalen Netzwerken sowie die Schulung von GESOBAU-Mitarbeitern durch uns. Dies ist ein gutes Beispiel für Engagement dort, wo es vor Ort gebraucht wird und direkt auch ankommt.

Solange die grundlegenden Konstruktionsfehler des Kinderschutzsystems fortbestehen, werden sich Fälle wie die in unserem Buch geschilderten oder wie der Fall Yagmur landauf, landab wiederholen.

Im Januar 2015 beispielsweise erlag in Süddeutschland der dreijährige Alessio seinen Verletzungen. Die Familie war vom Jugendamt betreut worden, da das Kind bereits mehrfach mit massiven Misshandlungssymptomen in der Kinderklinik behandelt worden war. Doch einmal mehr scheinen weder die Jugendamtsmitarbeiter noch die Familienhelfer bemerkt zu haben, dass der kleine Junge buchstäblich vor ihren Augen zu Tode geprügelt wurde. Zumindest kam niemand auf die Idee, das Kind aus der Familie nehmen zu lassen, solange es noch am Leben war. Und das, obwohl Kinderärzte und Rechtsmediziner mehrfach gemeinsam auf die Lebensgefahr, in der sich der kleine Junge bei seinen Eltern befand, hingewiesen hatten.

Gespenstisch klingt auch in diesem Fall der Kommentar der verantwortlichen Politikerin, Landrätin Dorothea Störr-Ritter: »Wir haben alles umgesetzt, was machbar war. Unsere Arbeit war richtig, war gewissenhaft.« (Stuttgarter Zeitung, 22.1.2015)

Also haben wieder einmal alle alles richtig gemacht. Doch das Kind, das so aufwendig »beschützt« wurde, hat sein ganzes kurzes Leben in einer Hölle auf Erden verbracht, bevor es wie eine Katze totgeschlagen wurde.

Wie eine Katze? Tiere genießen hierzulande einen weit wirkungsvolleren Schutz als Kinder. So kann sich die kleine Lara glücklich schätzen, dass man sie irrtümlich für eine Katze hielt. Ihre Eltern und die beiden älteren Geschwister hatten die Zweijährige einfach in der Wohnung zurückgelassen. Die Nachbarn hörten ein Wimmern und sagten sich, dass die Leute nebenan wohl versehentlich ihre Katze eingeschlossen hätten. Dass zu der unauffälligen Familie auch noch ein kleines Mädchen gehörte, wussten sie nicht. Die Eltern hatten ihren schulpflichtigen Kindern untersagt, ihre Schwester jemals zu erwähnen. Als die Nachbarn beim Tierschutz anriefen und erzählten, dass nebenan womöglich eine Katze verhungere, reagierten die Tierschützer sofort. Sie riefen die Feuerwehr an, und die rückte aus und brach die Tür auf.

Die Tierschützer müssen sich wie in einem Horrorfilm gefühlt haben, als sie sahen, was dort in dem Zimmer lag – keine Katze, sondern ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatten. Einer der Retter sprach nachher davon, dass er bei dem Anblick des kleinen Mädchens an Bilder aus Konzentrationslagern erinnert wurde.

Die Kleine war mit zwei Jahren nicht größer als ein wenige Monate altes Baby und wog auch nur wenig mehr. Sie war nicht nur völlig verdreckt, sondern auch in ihrer Entwicklung so weit zurückgeblieben, dass sie noch nicht einmal alleine sitzen konnte. Und das mit zwei Jahren! Sie war so mager, dass jede Rippe, jeder Wirbel unter ihrer Haut deutlich zu sehen war. Lara war kurz vor dem Verhungern gewesen. Nachdem sie in der Kinderklinik gelernt hatte, feste Nahrung zu sich zu nehmen, legte sie innerhalb einer Woche eineinhalb Kilo zu.

Die Eltern sagten später aus, sie hätten sich nichts dabei gedacht, dass die Kleine so winzig und mager gewesen sei. Es habe schon früher in der Familie Fälle von Kleinwüchsigkeit gegeben. Aber sie hätten sich geschämt, weil Lara so klein und hässlich sei, und sie deshalb vor den Nachbarn versteckt.

Die Verantwortlichen beim Familiengericht und im Jugendamt sahen keine Gefährdung für die beiden älteren Kinder. Die jungen Eltern seien unterdurchschnittlich intelligent, aber zumindest ihre beiden älteren Kinder hätten sie ja ordentlich ernährt.

Also beschloss das Familiengericht, die beiden Kinder, die das zuständige Jugendamt mittlerweile in Obhut genommen hatte, den Eltern wieder zurückzugeben. Der Argumentation, dass beide psychisch auffällig und durch das Erlebte schwer traumatisiert seien, wollten sich die Richter nicht anschließen.

Dies geschah im Sommer 2014, ein halbes Jahr nach Erscheinen unseres Buches. Wie viele Kinder müssen noch unter den Augen oder gar mit tätiger Mithilfe der »Kinderschützer« sterben, bis die tödlichen Systemfehler endlich behoben werden?

Voller Dankbarkeit sei hier der Mäzen Volker Mascheski aus Rosengarten gewürdigt, der sich nach Lektüre unseres Buches entschlossen hat, unsere Arbeit mit einer großzügigen Spende zu unterstützen. Die von ihm gegründete Maschewski Foundation sichert die Miete der am Institut für Rechtsmedizin angesiedelten Gewaltschutzambulanz der Charité für zunächst vier Jahre. Hier sehen wir regelmäßig Kinder, bei denen es unsere Aufgabe ist, festzustellen, ob Verletzungen tatsächlich durch körperliche Misshandlung oder vielleicht doch durch einen Unfall im häuslichen Umfeld entstanden sind oder ob Gedeihstörungen durch Vorenthalten von Nahrung oder auf eine innere Erkrankung zurückzuführen sind. Darüber hinaus beraten wir Mitarbeiter von Jugendämtern hinsichtlich des weiteren Vorgehens in den konkreten Fällen. Aber das ist alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und es bedarf noch vielerlei Einsicht bei allen Verantwortlichen und politischen Entscheidern im deutschen Kinderschutz, bis vielleicht irgendwann einmal Entwarnung gegeben werden kann.

Natürlich hoffen wir sehr, dass Volker Mascheskis Beispiel von Nächstenliebe und großzügigem Stiftertum Schule macht. Gesetze und Behörden allein können das Übel zigtausendfacher Kindesmisshandlung in unserer Gesellschaft nicht besiegen – ebenso wichtig ist privates Engagement in Form von konkreten Initiativen und finanzieller Unterstützung.

[home]

Das Problem mit den offiziellen Zahlen

In der jährlich veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes zur Kriminalitätsentwicklung in Deutschland sind u. a. auch die Zahlen der kindlichen Gewaltopfer aufgeführt. Diese werden dort unterteilt in tödliche und überlebte Misshandlungen und aufgeschlüsselt nach Deliktart: vollendete Morddelikte, vollendete Totschlagsdelikte, vollendete fahrlässige Tötungsdelikte sowie Körperverletzungen mit Todesfolge, entsprechend PKS-Schlüssel 010000, 020000, 030000 und 221000, zusammengefasst als tödliche Misshandlungen in einer Gruppe und Misshandlung von Kindern (PKS-Schlüssel 223100) als Misshandlungsopfer. Zudem erfolgt in der Polizeilichen Kriminalstatistik eine Aufschlüsselung in drei Altersgruppen der betroffenen Kinder: 0 – <6 Jahre, 0 – <14 Jahre, 6 – <14 Jahre.

Dabei ist die Zahl der in Deutschland durch Misshandlungen getöteten Kinder laut Polizeilicher Kriminalstatistik – und durch die entsprechende mediale Verbreitung der genannten Zahlen damit auch in der öffentlichen Wahrnehmung – seit Jahren rückläufig. Was die Zahlen der überlebenden Kinder anbelangt, so liegen die Zunahmen von Jahr zu Jahr allenfalls im niedrigen einstelligen Prozentbereich, für einige Jahre wurde auch ein Rückgang des Deliktes Kindesmisshandlung vermeldet. Also kein Grund zur Panik, mag man denken. Das Phänomen Kindesmisshandlung ist eher ein marginales und die Situation wohl kaum dramatisch.

Weit gefehlt! Schaut man sich dieses offizielle Zahlenwerk einmal genauer an, hält diese Statistik nicht lange stand. Denn die Beobachtung der Kriminalitätsentwicklung, betreffend verschiedene Deliktgruppen im zeitlichen Verlauf, erfolgt in der Polizeilichen Kriminalstatistik durch den Vergleich absoluter Fallzahlen mit Angabe der jeweiligen Veränderung in Prozent (Zunahme/Abnahme) zu den Vorjahren.

Die Kriminalitätsentwicklung durch den Vergleich absoluter Zahlen abzubilden ist zwar die gängige Praxis, hierbei handelt es sich allerdings um eine wenig informative Kennzahl, die gerade im Hinblick auf kindliche Gewaltopfer der Komplexität der Thematik nicht gerecht wird. Warum nicht? Weil die Demographie der deutschen Bevölkerung dabei überhaupt nicht berücksichtigt wird. Wir alle wissen, dass die Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten einem erheblichen demographischen Wandel unterliegt. Seit 1991 geht die Anzahl der Geborenen mit Ausnahme einzelner Jahre beständig zurück, und seit drei Jahrzehnten sinkt zudem die endgültige durchschnittliche Kinderzahl der Frauenjahrgänge kontinuierlich. In Deutschland ist jede nachwachsende Generation ein Drittel kleiner als die ihrer Eltern. Im Jahr 2009 war mit 665000 Geburten ein historischer Tiefpunkt erreicht. Insofern nehmen die Anzahl an Kindern in absoluten Zahlen, aber auch ihr prozentualer Anteil an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung kontinuierlich ab.

So macht es denn auch wenig Sinn, die absolute Zahl von 2400 Misshandlungen von Kindern, die zum Beispiel im Jahr 2000 polizeilich erfasst wurden, mit den 2411 Kindern, die dies offiziell im Jahr 1998 betraf, zu vergleichen. Bei Betrachtung dieser absoluten Zahlen (1998: 2411 Misshandlungen, gegenüber 2000: 2400 Misshandlungen) muss man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass im Jahr 2000 weniger Kinder in Deutschland misshandelt wurden als noch zwei Jahre zuvor – denn genauso weist es die Polizeiliche Kriminalstatistik ja aus. Dies ist leider schlichtweg falsch. Legt man nämlich die Bevölkerungsstruktur zugrunde, sieht es wie folgt aus: Im Jahr 2000 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 11 841 487 Kinder unter 14 Jahre; dagegen waren es im Jahr 1998 noch 12084491 Kinder – knapp eine Viertelmillion Kinder mehr in der Gruppe der unter Vierzehnjährigen. Bei einer adäquaten Darstellung, also unter Berücksichtigung dieser demographischen Veränderung, ergibt sich für das Jahr 1998 ein Gefährdungsrisiko von durchschnittlich 19,95 pro 100000 Kinder (unter 14 Jahre), für das Jahr 2000 steigt das Gefährdungsrisiko auf durchschnittlich 20,27 pro 100000 Kinder. Statt eines Rückgangs liegt hier ein Anstieg um 1,6% von 1998 zu 2000 vor, wenn man das Gefährdungsrisiko berechnet. Bei dieser auch als Opfergefährdungszahl bekannten Kennzahl wird die Anzahl der Opfer mit 100000 multipliziert und dieses Produkt durch die Einwohnerzahl der jeweiligen Altersgruppe dividiert. Somit erhält man eine vom demographischen Einfluss bereinigte Kennzahl, die gut vergleichbar ist.

Auf Basis der Bevölkerungsstatistik, und damit unter Berücksichtigung des demographischen Wandels in Deutschland, haben wir für die drei in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesenen Altersgruppen (0 – <6 Jahre, 0 – <14 Jahre, 6 – <14 Jahre) das Gefährdungsrisiko von Kindern, Opfer von Misshandlung zu werden, im zeitlichen Verlauf berechnet. Die Ergebnisse sind erschreckend. Bei alleiniger Betrachtung der absoluten Zahlen, wie sie die Polizeiliche Kriminalstatistik ausweist, stellt sich die Steigerungsrate überlebter Misshandlungen wie folgt dar: Im Vergleich zu 1995 nahm die Anzahl der Misshandlungen insgesamt im Jahr 2010 um 108,55% zu; bei isolierter Betrachtung der Gruppe der Sechs- bis Vierzehnjährigen um 97,42% und der unter Sechsjährigen um 126,01%. Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn man das Gefährdungsrisiko (Opfergefährdungszahl, s.o.) betrachtet. Hier betragen die Steigerungsraten im Jahr 2010 jeweils im Vergleich zu 1995: unter 14 Jahre 153,55%, in der Gruppe 6 – <14 Jahre 140% und bei den unter Sechsjährigen sogar 174,83%! Dieser dramatische Anstieg der Steigerungsraten ist anhand der Gefährdung pro 100000 Kinder ablesbar. Während in der Gruppe unter 6 Jahre im Jahr 1995 etwa 16,35 Kinder pro 100000 gefährdet waren, ergab sich für das Jahr 2010 bereits ein Wert von 44,93. In der Gruppe 6 – <14 Jahre konnten wir die Gefährdung pro 100000 im Jahr 1995 mit 17,43 quantifizieren, für das Jahr 2010 berechnete sich ein Wert von 41,83. Mit anderen Worten: Im Jahr 2010 waren knapp 42 von 100000 Kindern von massiver, polizeilich zur Anzeige gebrachter Gewalt betroffen. Und man darf nicht vergessen: Es wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur das sogenannte Hellfeld – also die der Polizei bekannt gewordene Kriminalität – erfasst. Aufgrund fehlender statistischer Daten kann das sogenannte Dunkelfeld – die der Polizei nicht bekannt gewordene Kriminalität – in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht abgebildet werden. Insofern können diese Steigerungsraten, die die demographische Entwicklung einbeziehen, zwar einen guten Hinweis geben auf die tatsächliche Dimension von Kindesmisshandlung, was ihren sprunghaften prozentualen Anstieg von Jahr zu Jahr betrifft, aber über wie viele Fälle wir wirklich reden, wie viele Fälle nie zur polizeilichen Anzeige kommen, das bleibt spekulativ. Wenige sind es jedenfalls nicht.

Für tödlich verlaufene Kindesmisshandlungen ergibt der Vergleich der Steigerungsraten auf Basis der Gefährdung pro 100000 Kinder einen geringeren Rückgang als in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesen, wenn der Geburtenrückgang in den Jahren 1995–2010 berücksichtigt wird. Diese Diskrepanz besteht insbesondere für die Altersgruppe unter 6 Jahre. In dieser Gruppe wird ein lediglich leicht rückläufiger Trend verzeichnet. Bei alleiniger Betrachtung der absoluten Zahlen stellt sich der Rückgang tödlicher Misshandlungen wie folgt dar: Im Vergleich zu 1995 nahmen die tödlichen Misshandlungen im Jahr 2010 um 31,97% ab; bei isolierter Betrachtung der Gruppe 6 – <14 Jahre sogar um 40%. Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn man das Gefährdungsrisiko betrachtet. Es ergibt sich lediglich eine Abnahme um 17,29% im Vergleich von 2010 zu 1995 und um 12,37% in der Altersgruppe unter 6 Jahre.

Diese Abnahme tödlich verlaufener Kindesmisshandlungen ist, wie oben aufgeführt, mit einer massiven Zunahme überlebender Misshandlungsopfer assoziiert. Dass kontinuierlich seit 1995 weniger tödliche Fälle von Kindesmisshandlung registriert werden (dafür aber mehr Kinder auch schwerste Misshandlungen überleben), ist mit der stetigen Verbesserung intensivmedizinischer Maßnahmen und besserer Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen auch schwer verletzter Kinder zu erklären.

Kinder unter 6 Jahre sind gegenüber Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren überproportional gefährdet, Opfer von Misshandlung zu werden. Ein noch höheres Gefährdungsrisiko besteht für die unter Sechsjährigen im Vergleich zu den anderen Altersgruppen, Opfer einer tödlichen Misshandlung zu werden. Das deckt sich mit einer im Auftrag des Statistischen Bundesamtes erstellten Studie, nach der Säuglinge in Deutschland seit Jahren dem höchsten Risiko ausgesetzt sind, durch Gewalt zu sterben. Laut Statistischem Bundesamt kann mehr als ein Drittel aller tödlichen Verletzungen bei Säuglingen, die sich im Zeitraum von 2001 bis 2010 ereigneten, auf Gewalthandlungen zurückgeführt werden – im Gegensatz zur tendenziell abnehmenden Unfallmortalität in dieser Altersgruppe.

Als Fazit ist festzustellen, dass das in der öffentlichen Wahrnehmung suggerierte Bild, die Zahlen der kindlichen Gewaltopfer würden sich von Jahr zu Jahr im einstelligen Prozentbereich nach oben oder unten bewegen, und dabei haben wir es immer nur mit geringfügigen Schwankungen zu tun, schlichtweg falsch ist. Durch die in der Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich sinkende Geburtenrate, die keinerlei Berücksichtigung in der derzeitigen Gewaltopferstatistik der Polizeilichen Kriminalstatistik findet, zeigt sich ein verzerrtes Bild der Häufigkeit des Phänomens Kindesmisshandlung, insbesondere was die Steigerungsrate anbelangt. Die Steigerungsrate kindlicher Misshandlungen von 2010 im Vergleich zu 1995 beträgt je nach Betrachtung der verschiedenen Altersgruppen zwischen 140% und 175%! Die Dimension ist dramatisch, trotzdem versuchen offenbar zahlreiche Interessenverbände, Berufsverbände und sogar staatliche Institutionen nach wie vor, die desolate Situation des deutschen Kinderschutzsystems zu verharmlosen und insbesondere das institutionelle Versagen der Verantwortlichen zu vertuschen. Wenig hilfreich ist dabei, wenn durch die Polizeiliche Kriminalstatistik ein falsches Bild, jedenfalls was die Kriminalitätsentwicklung Gewalt gegen Kinder betreffend, erzeugt wird.

Statistiken sollen Sachverhalte leicht überschaubar zur Darstellung bringen. Der Vergleich absoluter Fallzahlen von kindlichen Gewaltopfern in der Polizeilichen Kriminalstatistik wird dem demographischen Wandel der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht mehr gerecht. Wer Gewalt gegen Kinder verhindern will, muss sich mit solchen Schwachstellen des Systems aktiv und konstruktiv auseinandersetzen. Und dazu gehören nun mal auch unliebsame Wahrheiten und eine kritische Auseinandersetzung mit Statistiken.

[home]

Schicksale

Die Opfer des Systems berichten

Ein Gastbeitrag von Gunnar Schupelius, Chefkolumnist der B.Z. Berlin

Es war ein Buch, das Wellen schlug. Die erste Ausgabe von Deutschland misshandelt seine Kinder hatte der Öffentlichkeit die Augen geöffnet. Den Lesern löste sie die Zunge. Als ungewöhnlich vielfältig und heftig erlebten die Autoren Michael Tsokos und Saskia Guddat, was an E-Mails und Briefen über sie hereinbrach. Eltern, Verwandte und Angehörige der Opfer oder Menschen, die in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren hatten, wollen ihre Geschichten erzählen, sich die drückenden Erinnerungen von der Seele schreiben. Einige bitten um Rat; viele wollen einfach nur Gehör finden, wünschen sich, dass das, was sie erlebten oder was ihnen selbst wiederfuhr, bekannt werde, damit die Öffentlichkeit vom Unrecht weiß und eine bessere Zukunft kommen möge. Die Leser erzählen intime Geschichten und bitten meistens um Anonymität. Deshalb greifen wir ihre Berichte mit geänderten Namen auf, um die Privatsphäre zu schützen. Die echten Namen sind uns bekannt, und die Dokumente liegen uns vor.

Es sind Berichte von Erwachsenen, die von grausamen Erinnerungen der Kindheit eingeholt werden. Es sind Beschreibungen von Pflegeeltern, die nicht fassen können, was den Kindern angetan wurde, bevor sie in ihre Obhut gelangten. Von grausamen Vätern wird berichtet, gleichermaßen aber auch – und vielleicht überraschender – von gewalttätigen Müttern. Und schließlich wird in den Zuschriften ein vielfaches und erschreckendes Versagen der Instanzen erkennbar, von Ärzten, Richtern und Jugendämtern, die durch falsche und unqualifizierte Entscheidungen das Leid der Opfer noch verschlimmerten.

Maria ist wegen posttraumatischer Belastungsstörungen bereits in Rente, obwohl sie das Rentenalter noch lange nicht erreicht hat. Als sie bei Markus Lanz im ZDF ein Interview mit Michael Tsokos sah, hörte sie nicht mehr auf zu weinen. Alles kam zurück.

Ihre Mutter, schreibt Maria, war sehr gewalttätig. Aus nichtigem Anlass geriet sie in Wut und außer Kontrolle. Ein falscher Blick, ein Lachen im falschen Moment, und sie schlug auf Maria oder ihren Bruder ein. Sogar nachts. Sie kam ins Kinderzimmer, wenn beide Kinder schon schliefen, und verprügelte sie. Wenn am nächsten Tag blaue Flecken zu sehen waren, behauptete die Mutter, ihre Kinder seien von Schulkameraden auf dem Heimweg verdroschen worden. Maria und ihr Bruder schlossen die Tür des Kinderzimmers von innen ab, weil sie fürchteten, die Mutter könnte mit einem Messer kommen und auf sie einstechen, denn so, wie sie sich verhielt und äußerte, war sie vollkommen unberechenbar. Nach außen hin und gegenüber allen Fremden gab sich die Mutter als liebenswerte, freundliche Frau. Deshalb trauten sich die Kinder über lange Jahre nicht, mit anderen Menschen über das zu sprechen, was ihnen geschah. Sie schämten sich und meinten, dass ihnen niemand Glauben schenken würde. Die Mutter schirmte beide Kinder stark ab, so dass sie keine Freunde hatten. Zum Geburtstag kamen keine Gäste. Marias Bruder blieb lange Zeit ein Bettnässer und hatte sehr große Schwierigkeiten in der Schule. Als kleine Kinder glaubten beide, ihr Leben verlaufe normal, weil sie nichts anderes kannten. Der Vater war so gut wie nie zu Hause, nur manchmal am Wochenende.

Beide Eltern unterhielten sich nie mit ihren Kindern. Sie gaben allenfalls Anweisungen, denen gehorcht werden musste. Das Einzige, was diese außer den Anordnungen von ihren Eltern hörten, waren die Flüche und Verwünschungen der Mutter. »Was hätten wir uns nicht alles leisten können, wenn es euch nicht gäbe«, sagte sie besonders häufig. Solche Sätze taten fast noch mehr weh als die Prügelorgien.

Maria und ihr Bruder sollten auch nicht im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, damit sie dort keinen Schmutz hinterließen. Der Vater stellte einen Fernseher ins Kinderzimmer, damit sie dort blieben und Ruhe gaben. Von dem Ausmaß der Gewalt, dem seine Kinder während seiner Abwesenheit ausgesetzt wurden, wusste er offenbar nichts. Wenn er zu Hause war, änderte seine Frau ihr Verhalten. Als Maria bereits eine erwachsene Frau war, nahm sie all ihren Mut zusammen, denn es fiel ihr immer noch schwer, über die Vergangenheit zu sprechen, und erzählte dem Vater, was geschah, wenn er nicht zu Hause war. Er glaubte ihr kein Wort, und sie war darüber so verunsichert und erschüttert, dass sie dann keinen Kontakt mehr mit ihm wünschte.

In dem Haus, in dem Maria mit ihrem Bruder aufwuchs, wohnten auch noch die Eltern der Mutter und ein Onkel mit seiner Frau. Maria ist davon überzeugt, dass sie alle mitbekommen haben mussten, was die Mutter tat. Doch keiner kam auf sie zu, keiner half ihr. Später, kurz bevor ihre Tante an Krebs verstarb, richtete diese ein einziges Mal das Wort an Maria und gab zu erkennen, dass sie von der prügelnden Mutter wusste. Sie sagte: »Ich habe dich immer schreien hören!« Mehr nicht – doch in ihrer Stimme lag ein großes Bedauern, und Maria meint heute, dass ihre Tante einfach nie gewusst hatte, was sie hätte tun sollen und wie sie den Kindern hätte helfen können. Vermutlich hatte sie Angst vor Marias Mutter, der niemand jemals eine Grenze setzte.

Als Maria heranwuchs, kam es hin und wieder vor, dass sie mit Erwachsenen über ihre Mutter sprach. Wenn sie dann berichtete, was ihr und ihrem Bruder als Kinder widerfahren war und immer noch widerfuhr, schenkte man ihr keinen Glauben und reagierte ohne jedes Mitgefühl. Viele verletzende und beleidigende Phrasen musste sie sich anhören: »Ein Klaps kann manchmal helfen!« – »Deine Eltern meinten es doch nur gut mit euch!« – »Du musst jetzt nach vorne schauen!« – »Du willst wohl dein eigenes Versagen den Eltern nachträglich in die Schuhe schieben?« – »Hättest du selber Kinder, dann wüsstest du, wie belastend und unausstehlich Kinder sein können.«

Eigene Kinder hat Maria nicht bekommen. Als wenn ein böser Wunsch der Mutter in Erfüllung gegangen wäre. Die empfahl ihr, als Maria den ersten Freund hatte, gleich einen Frauenarzt: Damit es dir nicht so geht wie mir und du dir mit Kindern nicht das Leben versaust! Maria entgegnete, ihr Leben sei bereits ruiniert, wegen der vielen Schläge und Erniedrigungen. Da verhöhnte die Mutter sie und sagte, bitter lachend, die Prügel hätten ihr alle Tage gutgetan.