Devon Circle No 2 - Donatus Steinbrech - E-Book

Devon Circle No 2 E-Book

Donatus Steinbrech

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Beschreibung

Ein elegantes Haus in einer ruhigen Gegend mit gesitteten Bewohnern bietet die perfekte Umgebung für ein Leben voller Freundlichkeit, Ordung und Hilfsbereitschaft. Eine harmonische Fassade, die rasch bröckelt, als eine scheinbar beliebte Bewohnerin verschwindet. Beruflich in heikle Ermittlungen verstrickt, kommen somit viele Motive in Frage. Im Kollegenkreis hingegen haben alle nur ein gemeinsames Ziel: Cathleen wiederzufinden - und sei es lediglich als Leiche ...

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Seitenzahl: 518

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der Mensch behauptet, er sei das vollkommenste aller Wesen – leider weiß er nicht, dass er das schlimmste ist.

(nach dem atlanticanischen Professor für Philosophie, George Dunhill)

Devon Circle2

Eine Komposition verschieden heller Blautöne zaubert eine Harmonie an den frischen Junihimmel, wie sie Dank des Golfstromes wohl nur hier stattfinden kann. Keck wagen zwei bauschige Wölkchen die Trennung von einander, indem sie selbstzufrieden auf der Bahn ihrer Träume dahingleiten, ähnlich eines sich öffnenden Theatervorhanges. Elegant, in einem funkelnden Kleid, betritt sogleich die Sonne die Bühne des Vormittages. Im Stile einer Göttin angemessen, breitet sie majestätisch ihre Arme aus, um geschwind einen prachtvollen Teppich von Wärme und Licht über die Dächer der Küstenstadt hinweg auszurollen. Der Applaus des Publikums in Form von üppigem Tirilieren, verteilt auf unzählige Baumkronen, ist der Beweis des gewohnten Erfolges. Geblendet von all dem Glanz und der Milde entgeht dem jubelnden Volke allerdings leider so manche in den Winkeln kauernde Kälte, manche hoffnungslose Einsamkeit oder Träne, die vor Angst nicht weiß, ob sie gar die Letzte ihrer Art sei. Nein, die Vogelschar oben im Laub kümmert noch nicht einmal das Schattendasein eines dunkelroten Autos unter ihr. Lediglich die Augen eines vorbeikommenden Spaziergängers werden von einer scharfen Reflektion angelockt, ausgehend von einem Fleck auf der Windschutzscheibe, der selbst aber nichts anderes ist, als die Spiegelung der Sonne in einem fernen Fenster. Dennoch genügt dies, um dem Mann mit Hund einen Moment des Nachdenkens einzuflößen. Verstört folgt sein Blick der Strahlenachse längs zum dritten Stock des Nachbarhauses, scheint aber letztlich beruhigt, die Ursache erkannt zu haben, bevor er gemächlich den Gang durch die herrlich ruhige Allee fortsetzt.

In der eben erwähnten Etage des vornehmen Altstadthauses wird die beschauliche Stille der lichtdurchfluteten Räume unerwartet durch die kreischende Melodie eines Telephones förmlich zerrissen. Wie aus einem langen Schlummer aufgeschreckt, verharren Möbel und Gardinen. Angespannt, denn diese neue Situation verlangt nach Handlung. Nach Erlösung. Unsichtbare Augen reiten wild auf dem Klingelton von Zimmer zu Zimmer. Betteln um Gehör. Im Flur gähnt ein offenes Schränkchen, in der Küche ist die Geduld einer handvoll ungespülter Teller samt Bestecke langsam zu Ende und im Schlafzimmer, ja auch dort zeugt eine aufgeklappte Bettdecke von Abwesenheit. Alles ordentlich, aber leer. Einsam. Verlassen. Eine Täuschung? Das nervige melodische Geräusch wird plötzlich von einer sehr vertrauten Stimme abgelöst. Weiblich, liebevoll, von Wärme und Harmonie durchzogen. Trotzdem mit einem gefestigten, selbstsicheren Unterton versehen. Es sind nur zwei Sätze an der Zahl; zwei Sätze, die die Möbel langsam in und auswendig kennen. Die Ansage des selbstbesprochenen Anrufbeantworters. Danach kehrt wieder die vertraute endlose Stille ein. Ohne eine Nachricht zu erhalten, schaltet sich das Gerät für den nächsten Teilnehmer bereit. Die Ziffer am oberen Rand wechselt von sieben auf acht. Wer mag da wohl ein so eindringliches Anliegen zu haben, ohne seine Identität preisgeben zu wollen?

Fast zur gleichen Zeit, lediglich einige Häuserblocks entfernt, nahe des Bahnhofes, treffen wir in einer Seitenstraße auf eine recht undurchsichtige Person neben einem Briefkasten. Wartenden Charakters inspiziert sie mal die eine Richtung, mal die andere. Eventuell wäre die Bezeichnung »flüchtig beäugen« treffender, denn eine gewisse Nervosität lässt sich keineswegs verleugnen. Mag sein, dass zwei jüngere Männer in einem Hauseingang in unmittelbarer Nachbarschaft eine Mitschuld daran tragen, obwohl sie eher mit sich selbst beschäftigt sind und gerade zur Tür hineingehen. Die Vermutung bestätigt sich schnell, denn just nach erneuter Überprüfung der Umgebung, zieht der erwähnte Unbekannte einen Stoffhandschuh an, greift in die Innentasche seines sommerlichen Blousons, holt einen in der Mitte gefalteten Umschlag heraus, stockt allerdings erneut, weil sich nun ein aufdringliches Fahrzeuggeräusch nähert. Verursacht von einem bremsenden Lieferwagen, der aber letztlich erst einige Meter weiter vor einem Geschäft zum Halten kommt. Die Augen hasten zurück auf den Brief. Eine zwiespältige Gedankenpause steigert das unsichere Verhalten. Mit aufeinandergebissenen Zähnen wechselt der Kopf noch einmal verstohlen zu dem entfernten Wagen, dann in Gegenrichtung zum Kasten, kurz in alle Richtungen und schwuppdiwupp ist das Kuvert durch den Schlitz gestopft. Einen Absender gibt es nicht, dafür eine eindeutige Anschrift; nämlich die, des besagten Altstadthauses in der Baumallee.

Einen Sprung weiter zum Nordosten der Hauptstadt lässt den Pulsdruck um etliches in die Höhe treiben. Beim Anblick nicht alleine den unsrigen, sondern ebenso jenen, der zwei eisblaue Pupillen mit reichlich Energie versorgt. Flatterig wechseln sie vom Computer zur Wanduhr. Die dortigen Digitalziffern 9:34 Uhr scheinen eine magische Ausstrahlung zu verbreiten. Ungeduld wie Siegeslust durchzucken die Stirn und sorgen für eine hebende Verformung der mittelblonden Augenbrauen. Im gleichen Zustand gleitet die Sehachse verhalten hinüber zur transparenten Glasschiebetür des Nachbarraumes, weiter durch sie hindurch bis zum verlassenen Schreibtisch vor der dortigen Fensterfront. Obwohl es an diesem Ort im Grunde nichts Besonderes zu erspähen gibt, scheint gerade die Leere sich als Fixpunkt heraus zu kristallisieren, die Faszination von Abwesenheit. Wärme durchflutet den Körper. Milde, entspannende Wärme; untermalt von einem Freudenfältchen, dass verräterisch neben den dezent geschminkten Lippen aufbricht. Ja, bis zum Herz regt sich das befreiende Gefühl. Wenngleich bloß von kurzer Dauer, denn bereits ein nervöses Liderklappen weiter, umweht ein Hauch von Kühle sämtliche Sinne. Das unerwartete Geräusch eines vorbeigehenden Kollegen lenkt ab. Flink springen die Augen zu ihm, heften sich an sein beschäftigtes Gesicht. Die Gedanken werden neu sortiert. In einem unbeobachteten Moment aber kehren sie zum Ausgangspunkt zurück, begleiten danach den Blick über Tische und Stühle hinaus durch die große Glasfläche am Fenster, flüchten von Dach zu Dach bis zum Centrum hin, bevor sie im Bereich des Bahnhofes voller Sehnsucht immer schwammiger nach ihrem Ziel suchen.

Auch wir begeben uns ein zweites Mal in diese Gegend, in die Baumallee mit den üppig ausladenden Ästen, den vielen grünen Blättern, die durch das wilde Hüpfen der singenden Bewohner ein seltsames Schattenspiel auf den Gehsteig zaubern. Mitten hinein in die verbliebenen erhellten Flecken tritt ein massiger Schuh und bleibt so wie er aufsetzt stehen, als wäre er festgenagelt. Sein Besitzer hat die Augen nach vorne gerichtet, exact zum Eingang des nächststehenden Hauses. Offensichtlich behagt es ihm nicht im Geringsten, dass an der dortigen Tür ein Mann im Alter von ungefähr Dreißig die kleine Treppe verlässt, um geradlinig Richtung Straße zu gelangen. Flugs wird unter Knirschen die Sohle gewendet und zügig von dannen geschritten. Zurück bleibt ein zermahlener Erdkrumen, der somit ein neues Muster auf dem alten Pflaster bildet.

Wir drehen unauffällig ein Stück am Rad der Zeit. Die Digitalziffern der Bürowanduhr von eben erreichen fünf vor zehn. Gleich darunter springt die Tür vom Flur her auf: „Guten Morgen, zusammen“, ein seltsam verschmitztes Lächeln begleitet diesen flotten Auftritt, was wiederum erwähnte tiefblaue Pupillen interessiert verfolgen, so als würden sie auf der Oberkante des Monitores entlang rollen. Von Kälte in ihnen ist keinerlei Spur mehr zu finden. Im Gegenteil, sie beginnen wie Sterne zu funkeln. Aus Eis wird Feuer. „Alles in Ordnung?“, so lieblich die Schallwellen der zugehörigen Stimme auch zu ihrem Adressaten schwingen mögen, vom Nachbartisch her werden sie jäh von kräftigeren Tönen überlagert, wenn nicht gar zerstreut: „Morgen John. Da bist Du ja endlich. Weißt Du, wo Cathy steckt?“ Der Angesprochene legt seine Sachen ab. Soviel Ordnung muss sein. Dann wendet er das Gesicht, schließlich den gesamten Körper in Richtung seines Kollegen: „Nein – tut mir leid. Ich bin eben erst gekommen, – wie Du siehst.“ Diese betont ruhige wie gelassene Art gibt dem Fragesteller irgendwie zu denken. So kommt es, dass beide sich für einen Moment still anschauen, bis unser Hauptkommissar verlegen nachhakt: „Hast Du was?“ „Das wollte ich Dich gerade fragen.“ „Hast Du aber nicht. – Ich war schneller“, mit einem beinahe hämischen Grinsen wendet er sich der dritten Person im Raume zu. Sie zieht sofort voller Erwartung die Stirn hoch und verleiht ihren geschminkten Lippen einen guten Hauch an Erotik. „Hat Cathy schon die Auswertung von gestern bekommen?“ „Kann ich Dir leider nicht sagen“, Cheroly bewegt leicht verträumt den Kopf hin und her, wobei ihr Blick sich förmlich in den Augen ihres Gegenüber festbeißt. Der ist über diese Angewohnheit keineswegs begeistert. Neuerdings jedenfalls und nur auf sie bezogen, versteht sich. Im Grunde müssten jetzt bei ihm die Alarmglocken läuten – wie wir aus der Vergangenheit her wissen – aber heute scheint alles einen anderen Weg zu gehen. Geschäftig steuert er seinen eigenen Arbeitsplatz an: „Dann eben nich'“, und während des Setzens ergänzt er: „Sind Berthold und Jack schon unterwegs?“ „Woher soll ich das wissen?“, lautet es plötzlich von der anderen Seite her dicht neben ihm. Irritiert schaut er nüchtern auf: „Hab' ich Dich gefragt? – Andererseits, Du bist ja immer bestens informiert mit allem – neugieriges Knubbelchen.“ Spürbar getroffen durch das ungewohnt arrogante Verhalten plustert sich der Molligere auf: „Dir hat wohl beim Frühstück das Brot unter der Marmelade gefehlt, oder was? Was ist eigentlich los mit Dir? Und wieso heiße ich neuerdings Knubbelchen??“ John erhebt sich: „Sag' mir lieber, wo die anderen sind.“ „Die anderen?“, Edward wechselt die Blickrichtung, weil er etwas entdeckt hat, „Einer zum Beispiel kommt gerade 'rein.“ Dem Fingerzeig folgend, macht unser Chefermittler eine halbe Umdrehung, bevor er sichtlich an Laune verliert. Das darf jetzt echt nicht wahr sein! Mitten im Türrahmen steht der erst kürzlich in eine andere Abteilung strafversetzte Mitarbeiter Marco Sietel. Zudem äußerst wohlgemutet, wenngleich verwahrloster, als man ihn kennt. An ausgefranste Jeans hatte man sich seit längerem bereits gewöhnt, neu sind die dazu passend zerzausten Haare. Auch der Blick ist nicht ganz rein: „Hi Leute – alles klar??“ „Kommt drauf an“, prescht John verbal nach vorne, „Wahrscheinlich mehr als bei Dir. Darf man fragen, was Du möchtest?“ Natürlich, fragen darf man. Eine Antwort zu erhalten, ist allerdings ein anderes Kapitel. Cheroly schiebt mit der linken Hand eine an den Schläfen herunterhängende Lockensträhne beiseite, um so besser die Situation verfolgen zu können, ohne auffällig das Gesicht zu dem Besucher richten zu müssen. Der macht derweil eine kleine wackelige Drehung um sich selbst: „Macht ruich weider – ich bin so gud wie nich' da.“ „Wenn's ja so wäre“, unser Leiter verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. Eine abwartende Haltung gemixt mit kampfbereiter Stärke. Neben ihm schluckt man und verfolgt den Fortgang des Geschehens in der Mitte. „Was glotzt Ihr so?“ „Wir machen uns Sorgen um Dich“, wirft Cheroly unerwartet ein; unerwartet deshalb, weil die beiden fast nie ein Wort miteinander wechseln. „Is' alles paletti, Kleine“, ein extrem positionierter erhobener Daumen in Kombination einer breiten Fratze soll die Aussage unterstreichen. „Du bist aber mächtig in Stimmung“, versucht Edward die Angelegenheit aufzulockern, denn bei seinem Nebenmann klettert der Säurepegel kontinuierlich, „Gibt's was zu feiern?“ Marco hat anderes im Sinn, als darauf zu antworten. Mit unsicheren Schritten nähert er sich der Glastür zum Nachbarraum, die gewohnterweise brav von alleine zur Seite aufgeht. „Ich hab' vorhin 'nen geilen Witz gehörd – is' Cathy nich' da?“ Unser Abteilungsleiter stößt sich mit einem Ruck von der Tischkante ab, um sogleich, wenn auch behutsam, die Verfolgung aufzunehmen: „Nein, Cathleen ist nicht da. Du brauchst nicht länger zu suchen.“ „Schon gud, ey! Ich seh's ja“, abwehrend hebt der Unerwünschte beide Hände, dabei geht er ohne sich umzudrehen weiter zum dortigen Ausgang in den Flur. „Du bist sowas von – ach“, schüttelt John den Kopf, schaut auf den geordneten, fast leeren Tisch der abwesenden jungen Lady und kehrt alsbald in den Hauptraum zurück.

Zur gleichen Stunde stehen zwei jüngere Männer vor einer Schaufensterscheibe im Einkaufscentrum in der Innenstadt. Außer dem ausgestellten sportlichen Angebot ist besonders auf der linken Seite eine spiegelnde Fläche von Interesse. In ihr wird nämlich der leicht verwinkelte Gang mit zahlreichen Menschen abgebildet. „Wasch esch allesch tschu kaufen gibt“, bemerkt der mit einem Sprachfehler behaftete leicht Rothaarige, indem er auf einen ulkig anmutenden Fitnessgegenstand zeigt. „Well“, sagt sein aus dem englischen Bezirk stammender Nachbar, „if you're fit, you're the hit. Isn't it?“ „Wir schind auch fit – ohne dasch Tscheugsch da.“ „I hope, Miss Wild too.“ „Wie? Caschleen?“, der Blick auf die Uhr erzeugt Kummerfalten, „Komisch, komisch. Schie wollte schich um tschen treffen.“ „Um zehn?“, der Smarte mit dem englischen Akzent dreht sich zum Gang hin um, „Ich dachte at viertel vor.“ „Nun, schtimmt; da wollte schie dort im Café schitschen.“ Nach weiterer kurzer Überlegung entschließt man sich, das großflächige Rondell mit den zwei Bars einmal zu umrunden. Da die Fläche mit den Tischen und Stühlen drei Stufen tiefer liegt, hat man vom Rand her den perfekten Überblick ohne dabei gleich aufzufallen.

Im Polizeipräsidium schnappt sich unser Hauptkommissar einige Unterlagen und fragt diesbezüglich seine blonde Mitarbeiterin, die auch als seine Sekretärin tätig ist, nach einem weiteren Kollegen. „Ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, entgegnet sie mit einem teils neutralen teils tröstenden Gesichtsausdruck, indes sie sich von ihrem Arbeitsplatz erhebt, „Ist alles in Ordnung mit Dir?“ John verlangsamt seine Bewegungen: „Warum nicht?“, dabei fixiert er durchaus nachdenklich ihre Augen. Es folgt eine Pause, weil auch sie zögert: „Nur so – weißt Du?“ Um einer konkreteren Antwort auszuweichen, geht sie um ihn herum. Auf halbem Wege zur Tür aber hält sie inne, dreht sich noch einmal zu ihm, wobei sie ihn flüchtig, fast verschüchtert mustert: „Du bist heute so anders.“ Irritiert wendet er sich ab: „Das täuscht nur. Keine Sorge.“ Ja, heute ist tatsächlich irgendetwas anders als sonst, aber man muss es nicht gleich zeigen. Ein paar Schritt weiter beginnen wieder heimlich Flämmchen in den blauen Pupillen zu lodern, begleitet von einem versteckten kühlen Lächeln. Dann ist der Flur das Ziel.

Dort erspäht sie weiter rechts Marco gegenüber an der Wand lehnend. Gerade hatte er aus einer kleinen Flasche getrunken, weshalb er erschrocken herüberblinzelt. Cheroly schwenkt flüchtig den Blick in die entgegengesetzte Richtung. Alles ist ruhig. Niemand da. Hurtig schließt sie die Tür hinter sich und huscht zu dem Abwartenden hinüber: „Ist alles in Ordnung?“ „Sachde ich doch vorhin“, lautet es hörbar undeutlich. „Hast Du den Brief eingeworfen?“ „Klar, Mann.“ „Frau“, lächelt sie überheblich, „Frau heißt das, weißt Du?“ „Mann ey!“, faucht er mit einem kleinen Aufstoßer zurück, indes er sich von der Wand abdrückt, um die Stelle zu verlassen. Cheroly spitzt die Lippen, die Wangen werden hohl. Eine Siegerpositur zieht ein, so wie es sicher bei Cathleen in einer solchen Situation sein würde: „Und trink' nicht so viel – das schadet Deiner Männlichkeit!“ Ohne nach hinten zu sehen, hebt Marco bloß seitlich den Arm und zeigt einen fetten Mittelfinger. Ja, das ist typisch. Na dann scheint Gott sei Dank wirklich alles in Ordnung zu sein.

Weniger in Ordnung, um beim Wort zu bleiben, entpuppt sich die Lage im Einkaufscentrum. Getrennten Weges umrunden Berthold und Jack das Rondell. Jeder Passant wird flüchtig begutachtet, obwohl es vom Kern her um die schwarzhaarige Siebenundzwanzigjährige geht. Der Betrieb im Hause hält sich in Grenzen, vermutlich weil die erste Einkaufswelle vorüber ist. Dafür sind die zwei Barbereiche in der Mitte gut besucht. Man darf gar nicht hinsehen, was so alles verzehrt wird. Und erst der Duft. Kaffee- und Schokoaromen streiten um die Vorherrschaft. Als Kontrast schwebt ein Hauch von obstigem Eis in sanften Wölkchen um die Nase herum. Sehr verlockend. Einfach weitergehen. Schließlich steht der Dienst im Vordergrund. Vorbei an einer Raumabtrennung fixiert das wache Auge nun stärker die Gesichter. Es wird gelacht, erzählt, auch einmal telephoniert oder schlicht genossen. Wobei wir doch glatt wieder der Ablenkung verfallen. Insofern bietet ein Arrangement künstlicher Pflanzen eine willkommene Atempause für die schwächelnden Sinne. Andererseits möchte man seine Arbeit so gut wie möglich machen und endlich das Ziel erreichen. Eine sogenannte Ausblickempore könnte dabei hilfreich sein. Es handelt sich um nach innen hin angelegte schmale Flächen, bestückt mit Bänken, Abfallbehältern, Telephonautomaten oder Schrifttafeln. Seltsam. Wohin man auch sieht, an keinem der Tische sitzt Cathleen. Weder rechts in der "Coffee-Corner" noch links in der "Center Bar". Diagonal gegenüber rückt der Kollege ins Blickfeld. Bestimmt hegt er die selben Gedanken, wie man es hier tut. Irgendetwas muss dazwischen gekommen sein, irgendwas extrem Wichtiges; Cathleen ist nicht der Typ, der die Dinge laufen lässt. In dieser Hinsicht ist sie absolut zuverlässig.

Anstatt in seine neue Abteilung zu gehen, steht Marco wieder im Raum 810. Ist es die Gewohnheit oder ... „Was willst Du denn schon wieder?“, bemerkt John erheblich gereizt. „Ich binn sicher, Du weiß', wo'se stegt, abber sachst'es nich'!“, lallt der Teenie-Twen, als er schnurstracks den erstbesten Arbeitstisch aufsucht. Unser Leiter vergisst abrupt seine Unterlagen in der Hand: „Du meinst Cathy?“, ungläubig verfolgen die Augen, wie der Eindringling nun auch noch die Dreistigkeit besitzt und sich locker in den Drehstuhl plumpsen lässt, so, als wäre es das normalste der Welt, „Du sagst mir ja auch nicht, was Du von ihr willst.“ „Gehdich nix an.“ „Was heißt hier, geht mich nichts an??“, mit gespielter Ruhe schreitet John hinzu, „Ich bin der Chef hier.“ „Ja, Goodman, klar“, die Worte wie die Person völlig ignorierend, fummelt der Angeheiterte lieber in einigen abgelegten Papieren herum, „abber nich' mehr für mich, ha!“ „Marco!?“ Selbiger dreht mit dem Sitz schwungvoll eine halbe Runde, bis er in das Gesicht unseres Genervten blinzelt: „Also – wo is' die Subermauss?“ „Nichts Supermaus! Du verlässt jetzt den Raum, ja!?“ „Erst willichse seh'n“, mit der Ferse abgestoßen, schwingt er den Stuhl zur Tischplatte zurück. Dabei allerdings schießt er erheblich über sein Ziel hinaus. So sehr, dass er beinahe wieder auf der Ausgangsposition landet. Nebenbei hat die entstandene Fliehkraft ein kleines leeres Glasfläschchen in eine neue Umlaufbahn geschleudert. Mit einem kräftigen BOING prallt es gegen das Metallbein des Nachbartisches, rutscht über den Boden und kommt erst vor Cheroly's Füßen an der Flurtür zum Stillstand. Kühl übergeht sie die Sache. Zumindest solange John herüberschaut, denn dann wirft sie dem Unhold einen ziemlich giftigen Blick zu. Der aber scheint die Ermahnung schon nicht mehr erkennen zu können: „Ich bleib' hier, bisse kommd!“ Unser Leiter schielt kurz in Richtung seines Freundes, weiter zu Cheroly, weil sie dicht hinter ihm an ihrem Tisch vorbei geht und schließlich wieder nach vorne. Ja, das Thema ist ein hartnäckiger Streitpunkt. Alle vier Anwesenden haben nämlich – wie viele Leser aus der Vergangenheit wissen werden – so ihre ganz eigene Beziehung zu Miss Wild. „Komm', hau' ab hier!“ Weit gefehlt. Breit sitzend, als wäre er selbst der Boss, dreht Marco mit dem Stuhl erneut zum Schreibtisch. Flugs greift er den nächstliegenden dicken Packen mit Unterlagen und lässt den Daumen blätternd über die Ränder fahren: „Kennda schon den hier? Gehd 'ne Blondine –“ „Hör' auf!“, begleitet mit einem Klopfen auf die Finger, rupft John ihm das Bündel weg. Dies sorgt logischerweise für Unmut: „Ey, was soll'n das??“ „Darf ich Dich vielleicht daran erinnern, dass Du erstens betrunken bist und zweitens seit vorgestern offiziell für Herrn Rosner arbeitest?? Also mach', dass Du 'rüber kommst!“ Neben einem blöden Blick folgt als Contra noch ein Schimpfwort obendrauf. Eines der übelsten Kategorie. Gleichzeitig rückt die Computeranlage in den Brennpunkt des Interesses. „Du solls' die Finger da wegnehmen!!“ Just im selben Moment, als John Hand anlegt, Schlimmeres zu verhindern, dreht sich der Alcoholisierte mit dem Stuhl zur Seite weg, wobei er einige lose sortierte Blätter von der Tischplatte mit einem Wisch zu Boden schleudert. „Du has' wohl nich' mehr alle Tassen im Schrank, Du Penner!!“, ein Schubser unterstreicht die steigende Wut. Die daraus resultierende unausweichliche Bauchlandung kommt für Marco offenbar derart überraschend, dass er sich weder abfängt noch in irgendeiner Form wehrt. Selbst seine Bemerkungen versiegen. Dafür schleicht Edward heran. Ja, wenn zwei sich streiten, dann sollte man doch mal näher zum Geschehen rücken. Vielleicht lässt sich im passenden Augenblick ein bisschen eigener Senf dazu geben.

Für eine Weile warf der Blick an einer Säule vorbei zu den Tischen der "Coffee Corner" hinunter für unsere Beobachtenden im Einkaufscentrum eine neue Überlegung auf. Ein recht gut aussehender Mann hatte eine alleinsitzende junge Frau angesprochen. Was Bestandteil des kurzen Gespräches war, konnte Berthold von der Empore aus nicht hören, lediglich deuten. Es wirkte so, als wäre dieser Mann derjenige, mit dem Cathleen sich treffen wollte. „Wie kommst Du darauf?“, möchte Jack wissen. „Esch war nur eine Vermutung. Diesche Frau dadrüben schitscht alleine und hat dunkle Haare; verschtescht Du?“ „Ah ya – well, and wo ist der Mann now?“ Weitergegangen, zur "Center Bar". Da er aber dort jemand anderen gefunden hat, braucht man ihn wohl nicht zu beobachten. Stattdessen stellt sich die Frage, was als nächstes zu tuen sei. Ein erneuter Versuch, Cathleen anzurufen, verläuft im Sande. Ihr Miniphone1 scheint abgeschaltet zu sein.

Im Büro unterdessen spitzt sich die Auseinandersetzung zu. „Lass' mich mal mit ihm reden“, schlägt Cheroly vor und erhebt sich gleich wieder von ihrem Stuhl. „Du hälts' Dich da 'raus!“, klingt es fast böse seitens unseres Abteilungsleiters, „Das hier is' mein Problem“, mit beiden Händen packt er den Angetrunkenen am Kragen des offenen Jeansblousons und zerrt ihn Richtung Flur. „Ey – bleib' logger, Mann, was soll'n das??“ „Mit Cathy ist es ein für alle Mal aus, und mit Dir auch!“ „Red' doch nich' so 'ne Scheiße, ey!“ „Ruhe!“ „Die stehd auf mich! Echd!! Die is' geil, Mann – he!!“ Da nützt kein Zappeln und Wehren. „Du sollst die Klappe halten!“, gekonnt weicht John mit seinem Kopf immer wieder den gegnerischen Attacken aus, „Sie findet Dich widerlich, eklig –“ „Is' nich' wahr!!“ „Sie hasst Dich!!“ „Kann ich helfen?“, mischt sich der Dritte großzügig ein, als er die beiden im sicheren Abstand überholt. Jeder weiß, wie gerne Edward jeglichem Handgemenge aus dem Wege geht. Zum Glück übertönen ihn bereits Marco's derbe Worte: „Du A...!!!“ Ein Ausspruch, für den John sofort einen Faustschlag parat hat. Völlig gratis. Dann folgt ein Kniehieb in die Seite, der Körper wird in die entsprechende Position gedreht und während Edward zufrieden grinsend die Tür öffnet, darf der Widerspenstige direkt den Genuss des wohlbekannten Polizeigriffes auskosten. Aber beim Passieren des Rahmens bockt er plötzlich. „Wirst Du wohl weiter jetz'!“ „Ersd Cathy!!“ „Nein!!“ „Doch!!“ Der Versuch mit dem Ellbogen die Magengegend unseres Leiters zu treffen, wird umgehend mit einer harten Kopfnuss bestraft. „Au!!“, röhrt es mit kräftiger Fahne, „Fuck!“ „Wir geh'n jetz' zu Herrn Rosner, mein Lieber; und glaub' mir, der wird sich garantiert freu'n.“ „Ich hab' abber kein Bock auf den Ar... – argh! Au!!“ Wieder setzt es was auf den Lockenkopf: „Vorwärts! Los!!“, die andere Hand krallt in den Nacken und drückt den Hals nach vorne hinunter; ein perfekter Antrieb. Bloß, schon wenige Schritte weiter, wird es John erheblich kalt im Rücken. Eiskalt. Er weiß nicht, ob und wie er loslassen soll, denn von den Aufzügen her kommt jemand ganz Bestimmtes um die Ecke. Es ist der Oberste des Hauses: „Herr Goodman?! Was in aller Welt ist los?“ „Nichts, nichts!“, spontan ändert John die Richtung, wie auch die Haltung des Vordermannes. Hektik wird vorgegaukelt: „Ihm geht's nich' gut; furch'bar schlecht; wir müssen zur Toilette! Entschuldigung!“ Das verwunderte „Benötigen Sie Hilfe?“ schwebt unbeantwortet durch den Gang. Ratz-fatz hat John sein Opfer aus dem Blickfeld zum Waschraum hin gezerrt, die Tür aufgerissen und wie eine zu schwere Bowlingkugel den Klumpen von sich geschleudert. Über den glatten Kachelboden schlittert Marco bis unter die Waschbecken am Ende des Vorraumes. Der Abfluss dient als Prellbock, der Kopf als Puffer. Mag sein, dass der Betroffene sich nicht nur auf's Abstellgleis geschoben fühlt, sondern glatt für einen Moment Sterne sieht. Völlig egal. Hauptsache er hält Ruhe. Sicherheitshalber wird die Tür zugezogen, um von der Bildfläche zuverschwinden. Nun zählt die Zeit. Und die zählt langsam. Unglaublich, wieviel Ausdehnung eine Sekunde zu bieten hat. Die Blicke flüchten durch den Raum: Kacheln, Spiegel, Decke, Marco. Was aber wird aus Herrn Salvasanery? Wartet er im Flur auf eine Erklärung? Eine seltsame Stille befällt den Ort, abgesehen von einen kaum hörbaren Hicks vom Fußboden. Wie abwechslungsreich doch manchmal das Leben sein kann!

Zaghaft beginnt John nach einer Weile die Waschraumtür aufzudrücken. Ähnlich eines ausfahrenden Schneckenfühlers, tastet sich sein verstohlener Blick durch die Öffnung nach draußen. Die Lage sieht merkwürdig gut aus. Weniger gut hingegen präsentiert sich das begleitende kunststoffartige Quietschen der Türangeln. Im Alltag nimmt man es kaum wahr. Eventuell weil man diesen Ort regulär viel zügiger betritt. Die Augen wechseln in die Gegenrichtung, zu den Waschbecken. Marco rührt sich nicht. Perfekt. Fast auf Zehenspitzen wird ein Fuß vor den anderen gesetzt. Lautlos, schleichend. In der Ferne verklingen Reste sonorer Lateinfetzen, getragen von gedämpften Pensionärsanwärterschritten, die irgendwo abbiegen und letztlich in der Stille des Büroflures Ihre Spuren verwischen. Nein, beiseite geschubst werden, vom Aufspringen der Zimmertür schräg gegenüber. Erschrocken dreht sich John nach links: „Was willst Du denn??“ „Wie, was willst Du denn?“, Edward macht große Augen, „Ich – ich wollte fragen, ob ich Dir helfen kann.“ Zielsicher geht unser Freund auf ihn zu: „Mir helfen? Du wolltest doch nur wissen, ob Det Marco durch die Mühle dreht! Neugieriges Knubbelchen.“ Trotz erneutem Unmut über den eigenwilligen Spitznamen, kann der Ertappte ein verhaltenes Smile nicht unterdrücken: „Berthold hat eben aus dem City-Center angerufen, die warten schon eine halbe Stunde auf Cathy. Weißt Du, was los ist?“ Eigentlich wollte John gerade weiter, in den Arbeitsraum, nimmt aber kurzerhand von seinem Vorhaben Abstand und postiert sich neben dem Molligeren: „Aus dem City-Center? Wieso sind die dort? Wieso Cathy?“ „Keine Ahnung, das frag' ich Dich ja.“ „Die sollten doch zum Flughafen. – Fängt das schon wieder an, dass hier jeder seinen eigenen Weg geht??“ „Da fragst Du mich zuviel“, heißt es schulterzuckend. „Ich dachte, die Sache wäre jetzt endgültig abgehakt“, mit erheblich ernster Miene setzt John schließlich seinen Weg fort, „Na prima.“

An seinem Arbeitsplatz greift er sofort zum Telephon. Energisch lehnt er sich an die Tischkante und tippt die Nummer ein. Ab sofort werden Nägel mit Köpfen gemacht. Genug mit dieser Geheimniskrämerei! Ein für allemal! Die Augen schweifen durch das Zimmer, zu Edward der näher kommt sowie weiter drüben zu Cheroly. Das erste Freizeichen meldet sich. Mit ihm aber auch Erinnerungen. Erinnerungen an die letzten Tage und Wochen, an den Parteienskandal, an die Zeit, als jeder dem anderen misstraute. Am Ende war alles bloß ein aufgeblasenes Monster aus Irrtümern und dummen Zufällen. Obwohl eine Sache im Grunde nie geklärt wurde. Oder sogar zwei. Derweil das nächste Freizeichen summt, schielt unser Kommissar zum Nebenraum. Die Sache um Cathleen. Bis heute hat sie ihr Treffen mit dem französischen Geheimdienst lediglich lückenhaft erläutert. Es wäre angeblich alles geregelt. Ein Schatten zwingt die Augen zurück nach vorne zu springen. Edward steht dicht vor ihm. Zeitgleich klickt es in der Hörermuschel, aber ein hastiger Druck auf den Trennungsknopf unterbricht die Verbindung: „Sag' mal, hast Du heut' nichts zu tun??“ So vorwurfsvoll aggressiv die Frage klingen mag, sollte sie gar nicht sein, sondern eher abwehrend. Als subjektive Maßnahme zur Reduzierung chronisch-penetranter Neugierde. Oder schlicht als Schutz, gemünzt auf die eben erwähnte schlechte Erinnerung. „Sicher habe ich zu tuen“, knirscht es enttäuscht zurück, „Ich wollte Dir nur helfen.“ „Beim Telephonieren?“ „Aber Dir ist wohl nicht zu helfen.“ „Mach' lieber die Unterlagen für die Emissionskontrolle morgen fertig.“ Sichtlich beleidigt trollt sich der Jüngere von dannen, sprich: tippelt mit hängendem Kopf einen Tisch weiter in sein Revier. Cheroly blinzelt amüsiert herüber; unser Kriminalist bemerkt es und erwidert den Blick. Ein bisschen länger sogar. Es ist wieder ihre Schönheit, von der er sich einfangen lässt. Was für eine Frau. Eine richtig supersüße Vorzeigeschmusekatze, wie aus dem Katalog. Diese herrlichen wuscheligen langen Haare, die atemberaubenden verführerischen »Kiss me«Lippen, zusammen mit einem unwiderstehlichen »Ich will Dich«-Augenaufschlag. Meine Güte. Erst einmal langsam durchatmen, ohne dass sie es merkt. Und dann dieses absolut enge gelbe Jeansstoffkleid mit den vielen feschen Reißverschlüssen, unglaublich raffiniert – raffiniert, wie sie selbst. Das ist halt der Haken an dem Mädchen. Neben einer Menge Stroh im Kopf, besitzt sie ein gewaltiges Potenzial an Dummheiten. Dabei handelt es sich nicht um solche, die allen Spaß machen würden, sondern nur um die, die alleine ihr gefallen. Blondinenbelustigung. Käsekrempel! Ein wenig ausweichend schaut sie auf Ihre Tätigkeit zurück. Beinahe so, als hätte sie die Gedanken erraten. Na, und wenn schon. Es gibt schließlich noch Cathleen. John erhebt sich. Mit dem Telephon in der Hand geht er zum Nachbarraum. Das Schließen der Glastür hinter seinem Rücken bedeutet für ihn eine willkommene Trennung. Zumindest für den Moment. Sicher, er hätte ohne weiteres in sein eigenes Zimmer gehen können; aber bekanntlich nutzt er es kaum, da er lieber näher am Geschehen bei seinen Mitarbeitern sitzt. Nur jetzt und hier muss einmal ein möglichst unauffälliger Ruhepol her. Und den verkörpert Cathleen's Schreibtisch.

Bei den Zurückgelassenen schürt diese kleine Flucht dunkle Phantasien wie auch Argwohn; besonders bei einem: „Was hat John heute eigentlich? Ist ihm die Milch sauer geworden, oder hat er vielleicht Essig in die Cornflakes geschüttet? Gestern jedenfalls war alles noch normal und auf einmal – mal wieder – phhh.“ „Ich glaube, er hat Probleme, weißt Du?“, die Blonde unterbricht ihre Schreiberei, wendet den Körper ihrem Kollegen zu, „Seitdem Cathy bei uns ist, ist alles – ist er – reagiert er so komisch, weißt Du?“ „Meinst Du?“, Edward mag diese Worte nicht sonderlich gerne hören. „Ja, wirklich, glaub's mir. Alle sagen immer, ich würde hetzen, würde gegen sie sein“, ihre Augenbrauen hellen auf, der Blick schwankt zwischen sorgenvoll und träumerisch, „Sie kann was; das ist völlig ok. Das zweifele ich auch absolut nicht an, weißt Du? Aber in ihr steckt auch was Zerstörerisches, was Böses. Bloß es merkt keiner oder will keiner merken. Glaub's mir“, Kälte huscht durch die Pupillen, „Sie lassen sich alle einlullen. Und besonders der da!“, ihr Kopf zeigt zum Nebenraum. „Cheroly“, dem Dickeren wird es wärmer im Rücken. „Merkst Du nicht, dass John ihr verfallen ist, total?“ Die Bewegungen des Angesprochenen ersterben weiter, ihm ist gar nicht geheuer in seiner Haut. „Vielleicht mag er mich wirklich noch, aber es war seine Idee, seine eigene, mich mit Jack zusammen zu bringen! Und das wirst auch Du gemerkt haben!“, die Tonlage schlägt ins Schmollende um, „Dafür muss er büßen und genau das ist sein Problem, weißt Du?“, vorsichtig beginnt ein eiskaltes Lächeln von den Lippen aus als vorgetäuschte Zufriedenheit das gesamte Gesicht zu überziehen, „Er kann von mir alles bekommen. Alles, weißt Du? Wirklich alles.“ Die sanft zugeklappten Augenlieder setzen dem gekonnt gespielten Schlafzimmerblick glatt die Krone auf. Einfach zu viel für den armen Edward. Wie angewurzelt vernimmt er die verhallenden süßlichen Worte, wobei seinen Backen, selbst wenn er es noch so verkneifen will, ein ängstliches Grinsen entweicht. Cheroly hat es bemerkt. Vielmehr den Erfolg, einen Mann für ein paar Sekunden für sich zu gewinnen. Entspannt lehnt sie sich in ihrem Bürostuhl zurück. Obwohl auch diese Bewegung gekonnt inszeniert ist, denn sie gibt all ihren Rundungen die bestmögliche Positur. Wie zufällig greift sie Schüchternheit suggerierend an den mittleren oberen Reißverschluss ihres Kleides und beginnt spielerisch ihn langsam Zacke für Zacke ein wenig aufzuziehen: „Warum kümmerst Du Dich nicht um Cathy? Du magst sie doch auch, oder ist sie nicht Dein Typ?“ „E – äh“, die Poren setzen nun deutlich Schweiß an, „lass' mal. – John hat bestimmt einen gewissen Takt – äh – Ticktack.“ „Bitte?“, die Finger der linken Hand trennen sich von dem leicht geöffneten Verschluss und weiten sich großflächig über die Mitte der Brust aus, „Du meinst Tick?“ „Ja, äh – nein. Taktik. Genau, Taktik meine ich. – Phhfff, ist das warm hier“, um aus dem Blickfeld zu geraten, bückt er sich unter dem Vorwand, nur schwerlich an die unterste Schublade seines Tisches zu gelangen: „Nanu, klemmt die?“ Cheroly dreht sich mit dem Stuhl nach vorne, mit Aussicht auf die Glastür: „Hier klemmt nur einer. Und der ist total verklemmt, weißt Du?“ Nein, Edward weiß es nicht, sondern bezieht es prompt auf sich, mit der Folge, dass bald die Streifen auf seinem schicken Hemd vor Nässe verlaufen.

Der tatsächliche Adressat hingegen bleibt ahnungslos. In Erwartung des sich aufbauenden Telephonats nimmt er auf dem bequemen Bürosessel Platz. Die Polsterung ist vorzüglich. Selbst die der Armlehnen. Wieso hat er eigentlich nicht einen solchen Komfort? Das ertönende Besetztzeichen verwirft die Frage. Obendrein piepst jetzt leise das Gerät schräg vor ihm. Cathleen's Tischapparat. Soll man drangehen? Warum nicht, es ist immerhin das Dienstgerät. Mit einem Knopfdruck wird das eigene Telephon ausgemacht und der Hörer des anderen abgenommen: „Goodman, guten Tag.“ Eine hellere Männerstimme verlangt nach Frau Wild. „Tut mir leid, die Dame is' im Augenblick außer Haus. Kann ich Ihr was ausrichten?“ Mit dankbarer Ablehnung trennt der Anrufer die Leitung, ohne sich zu verabschieden. „Dann halt nich'“, ein Seufzer stellt auch hier die Ordnung wieder her, „Typen gibt's manchmal – hm. Tja, scheinbar auch ein Opfer dieser hinterhältigen kulturzersetzenden westlichen Arroganz, Opfer gewisser extremkapitalistischer Großimperialisten. Punkt. Oder heißt das großkapitalistischer Extremimperialisten? Ach, egal“, ein wenig befreit über den Ausspruch dieses Gedanken lehnt er sich erleichtert nach hinten und schaukelt mit dem Stuhl abwechselnd zur einen wie zur anderen Seite, wobei der Blick auf einem kleinen Tischglobus landet: „Im Osten gibt's ja leider auch nichts Neues. Nichts Richtiges. Das untertänige Europa versifft wie sein Vorbild Amerika. Und dabei ist das nichts anderes, als Eure eigene Brut“, ein teils abwehrendes teils hilfloses Lächeln durchstreift die sorgenvolle Miene, „Das hättet Ihr jetz' nich' gedacht, was? – So ein Kremp'l. Ein Dank all denen guten Auswanderern, die damals bei uns hängen geblieben sind oder später zu uns gekommen sind, wie Cathleen's Eltern.“ Die Augen verlassen die Karte, nehmen nun den kompletten Tisch in Betrachtung. Ja, das ist Ihr Schreibtisch. Schön aufgeräumt, schön übersichtlich. Im Grunde kaum mit Arbeit anmutenden Utensilien bestückt. Doch der daraus resultierende Verdacht wäre mehr als beleidigend. Gerade sie ist es, die dazu neigt, ein Arbeitstier zu sein. Sie ist fleißig, korrekt, aber auch knallhart. Ein richtiges kleines Teufelchen. In manchen Dingen jedenfalls. Andererseits kann sie so himmlisch lieb sein, wie eine bezaubernde Fee. Leider weiß man selten, was gespielt ist und was von Herzen kommt. Dies ist eventuell der einzige Punkt, den sie mit ihrer blonden Rivalin gemeinsam hat.

Tja, Frauen – wieder entfährt unserem Nachdenklichen ein Seufzer. Frauen meinen, sie könnten sich alles erlauben, dabei sind sie in Wirklichkeit ja sooo abhängig. Von uns Männern. Die einen zum Ausleben ihrer Phantasien, die anderen zum Einkaufen gewisser Phantasien. Ohne Geld keine Schuhe, keinen Schmuck, keine Kleider. Dabei scheinen Männer gar keinen Wert darauf zu legen. Man hört so oft, das Frauen ohne Schmuck, Schuhe und Kleider am Körper heiß begehrt sind. Na gut, das ist ein anderes Thema. In Wirklichkeit schauen die Männer schon auf die Schuhe. Wenn vielleicht auch nicht als erstes. Manche wollen sogar, dass ihre Frauen sie im Bett tragen. Ja, gar mit richtig langen Absätzen. Kommt daher der Begriff »Bettschuhe«? Ob mit oder ohne was an den Füßen, welche der Varianten nun auf die undurchsichtige Dunkelhaarige oder auf das blonde Flittchen zu projizieren sind, bleibt auszutüfteln. Man verzeihe im Übrigen diese voreingenommene Wertung, aber die Last der Vergangenheit beeinflusst mal wieder. Zumindest an diesem Morgen.

Während die Sonne schleichend durch die Fenster scheint, scannen die Augen erneut die Tischplatte ab; vom Displaytelephon über die lederne Schreibunterlage, vorbei am edlen Fülleretui neben der Tischlampe, am leeren Notizzettelstapel, am aufgeklappten länglichen Tischkalender – hier verlangsamt sich die Überprüfung. Der heutige Dienstag enthält eine Zeile mit dem Vermerk »12:30 Uhr Flughafen«. Allerdings von links unten nach rechts oben mit einem Schwung durchgestrichen. Die Linienführung zeigt sich zart aber zielsicher. Genauso wie ihre Schreiberin selbst. Überhaupt, die gesamte Schrift steckt voller Ästhetik, vollendet und ausgewogen im Stil. Man nimmt es im Alltag wohl nie so richtig zur Kenntnis. Warum aber sind die nächsten beiden Tage gänzlich gekreuzt? Komplett, von morgens bis abends? Urlaub hat sie keinen. Merkwürdig. Ein intensiveres Begutachten zeigt auch in der Woche danach und davor nur spärliche Eintragungen. Mag sein, dass sie die kompletten Termine im Planer bei sich trägt. Noch einmal wird das Mobilteil vom eigenen Telephon beauftragt, eine Verbindung zu Berthold herzustellen. Diesmal mit Erfolg: „Hallo, hier ist John. Ich hab' gehört, Ihr habt ein Problem?“ Genau; man warte schon eine geraume Zeit auf die Chefin. „Dann könnt Ihr gleich noch ein zweites Problem hinzukriegen! Völlig gratis! Warum nämlich seid Ihr nich' am Flughafen, wenn ich fragen darf??“, bei diesem Stichwort rückt wie zufällig der Kalendereintrag in Erinnerung. „Dasch können wir allesch erklären.“ „Eine kurze Nachricht hätte ja schon gelangt. Wir brauchen die Dokumente bis zum Mittag. Das ist wichtig, Berthold! Oder – vielleicht wisst Ihr das nicht, aber wenn wir alles zusammen haben, können wir heute den letzten verhaften. Dann ist Schluss mit diesem Partei-Clan. Und bevor erst die Staatspolizei wieder mitmischt – Ihr wisst ja, wie's läuft.“ Pause. Auf beiden Seiten. Zwei, drei Sekunden lang, bis man an diesem Ende der Leitung als erstes das Gespräch wieder aufnimmt: „So, Ihr wolltet Euch also mit Cathy treffen und die ist nich' gekommen? Um was soll's denn da geh'n?“ In Stichworten wird der Sachverhalt geschildert. „Moment, halt' mal – sie wollte sich mit jemandem treffen und Ihr wisst nichts davon? Soll das ein Alleingang sein?“ „Nischt gantsch“, beschwichtigt Berthold. Dennoch bleiben Details unklar. „Nur Details? Das Ganze klingt eher so, als wüsstet Ihr überhaupt von nichts“, vergewissert sich John. Die Beichte folgt auf dem Fuße. „Das darf nich' wahr sein; das is' nich' Ihre Art! Mist“, kopfschüttelnd bemühen die Augen sich an irgendeinem Gegenstand festzuklammern, „Oder sie hat es bewusst gemacht. Euch ausgetrickst! – Nein, Entschuldigung. Aber irgendwas stimmt da nich'. Im schlimmsten Falle hat sie denjenigen bereits irgendwo unterwegs getroff'n. Wann hattet Ihr zuletzt Kontakt?“ „Um neun. Schie hatte angerufen und schich kurtsch erkundigt, ob allesch wie beschprochen laufen kann.“ Am Schreibtisch hat man scheinbar nur die Hälfte verstanden, die Hintergrundgeräusche von der Einkaufspassage sind relativ laut: „Wann, sagtest Du?“ „Um neun Uhr!“ „Ok, um neun. Ich hab's gehört. – Dann schnappt Euch jetzt 'n Zug zum Flughafen und holt das Zeug ab. Ok? – Bis dann“, kribbelig berührt der Daumen den roten Knopf, ein Signalton bestätigt den Kontakt, „Auweih, auweih – ohne Cathy haben wir nich' alle Fakten. Es sein denn – es sei denn, es steckt eine Absicht dahinter! Na prima. Mist!“ Ein harter Klaps auf die Ledermappe erwirkt ebensowenig eine brauchbare Lösung.

Das dieser erste Juni sich langsam als Schicksalstag der besonderen Kategorie entpuppt, zeigt sich in der nächsten Stufe einige Ecken weiter. Wegen einer dringenden Reparatur an der Toilettenanlage ist man in der Chefetage heute gezwungen, sich für bestimmte Zwecke zwangsläufig hier hinunter herabzulassen. So kommt es dann, dass ein älterer Herr im Zweireihersakko voller Erwartung die Tür mit dem Männersymbol öffnet. Der erste Blick trifft unmittelbar auf einen sich aufrappelnden Menschenklumpen unterm Waschbecken: „Meine Herren, was in Gottes Namen machen denn Sie da unten??“ Noch im Trance reckt der Angesprochene den Kopf empor, was sogleich vom Porzellanbecken gebremst wird: „Au, fuck!“ „Was sagen Sie? Auch defekt?“, der Oberste stellt sich, für seine Art ungewöhnlich zügig, neben ihn, greift mit beiden Händen an die offenen Revers, „Soll das heißen, die komplette WCAnlage ist schadhaft?“ Marco stützt sich auf die Hände, wackelig sieht es aus: „Ich muss gleich kotzen.“ „Sie suchen einen Stutzen? Junger Mann, Ihre Artikulation ist ausgesprochen undeutlich“, wird sein nuschelnder Murmelton kritisiert, „Ich bitte Sie, mir umgehend ausführlich Bericht zu erstatten. Klar und deutlich.“ Reichlich umständlich krabbelt der Angeschlagene hervor, entsprechend trüb schielen die Augen in das erstaunte Gesicht des Älteren. „Ja, erlauben Sie mal; Sie sind doch kein Reparateur – habe ich Sie nicht vorhin schon einmal gesehen? In Begleitung unseres Herrn Goodman?“ Marco verformt die vom Deckenlicht geblendeten Augen, um den entstandenen Silberblick zu minimieren. Der Kreislauf ist nicht der stabilste. Ferner zeigen sich rote Flecken auf der Stirn, verursacht von der ersten Begegnung mit dem Siphon. „Sie sehen sehr krank aus“, anstatt die Hand zu reichen oder anderweitig behilflich zu sein, weicht Herr Salvasanery einen Schritt nach hinten weg, „Fehlt Ihnen etwas?“, dann wendet er den Blick steif zur Tür und schließlich hinter sich in den Raum mit den Kabinen, „Wo ist denn im Übrigen Herr Goodman verblieben? Er kann Sie doch in diesem Zustand keinesfalls alleine lassen“, ungläubig nimmt er wieder den Bedürftigen in Augenschein, wobei er die Arme in die Hüfte stemmt, „Vollkommen verantwortungslos! – Stehen Sie endlich auf, das ist kein Zustand da unten! Ich werde jemanden holen.“ „Gehd schon“, winkt Marco zurück, „Is' okay.“ Mit einem Griff an den Waschbeckenrand hievt er seinen Körper in eine akzeptable Stellung. „Warten Sie“, der Ältere drückt die Klinke und wechselt in den Flur, „Ah, Sie da, Fräulein! ...“ Cheroly ist gemeint. Sie hatte gerade eine dicke Akte über die in Verruf geratene Erneuerungspartei von Kollege Rosner geholt. „... Kommen Sie mal her. In welcher Abteilung arbeiten Sie?“ Im ersten Moment irritiert, weil in Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt, vergisst sie glatt zu grüßen. Dafür stellt sie sich nun militärisch aufrecht zu dem Fragesteller gewandt, den Ordner mit beiden Armen vor ihren Bauch haltend: „Abteilung Wirtschaft und Umwelt – John Goodman“, sagt sie mit einem Hauch Strammheit. Das Vorgesetzten-Untergebenenspiel von dieser Person kennt sie zur Genüge. „Excellent“, nickt der Ältere und winkt sie heran, „Kümmern Sie sich bitte unverzüglich um diesen Patienten hier drin“, seine Hand weist zur offenen Tür, „Bringen Sie ihn zu unserer Ärztin hinunter. Offenbar liegt ein Fall von Schwäche oder Hautausschlag vor!“ „Jawohl, Herr Salvasanery“, antwortet sie fesch. Am liebsten hätte sie noch mit der Hand an der Stirn den Befehl bestätigt. Aber diese Zeiten sind seit ein paar Jahren in unserem Hause vorbei, abgesehen von offiziellen Anlässen. Dankend verabschiedet sich der Oberste und begibt sich auf den Weg nach oben zu seiner »Präsidenten-Suite«, wie man bei uns das pompös eingerichtete Büro zu nennen pflegt. Ob ihm denn nicht in den Sinn kommt, unverrichteter Dinge die Toilette wieder verlassen zu haben?

Einige Schritte weiter hängt Marco über dem Spülbecken. Leichte Huster verraten den Ansatz zu größerer Übelkeit. Cheroly legt den Ordner am Türrahmen ab, streift hastig eine Lockensträhne von der Stirn und steuert den sich im Spiegel nicht wiedererkennen wollenden Teenie-Twen an: „Was ist denn mit Dir los? Du siehst so verquollen aus“, mütterlich fasst sie mit einer Hand an seinen rechten Oberarm, mit der anderen glättet sie tröstend die durchrauften, zottigen Haare: „Habe ich Dir nicht gesagt, wie unschick Trinken sein kann?“ „Halt's Maul“, hustet er ins Becken, dreht den Hahn auf und wischt mit beiden Händen über das Gesicht, „Ah – verdammt.“ „Ooooh“, grinst sie verhalten und flüstert mit übertriebener Stimme, „Die kleine Beule sieht aber wirklich sexy aus, weißt Du?“, gleichzeitig greift sie um den Kopf herum, um zärtlich die wunde Stelle zu streicheln. „Finger weg, Mann!“, wehrt sich der Betroffene mit beiden Armen, bevor er noch einmal Wasser über das Gesicht laufen lässt. „Frau heißt das“, haucht sie ganz dicht neben ihm, „Frau, weißt Du?!“ „Scheiße, Mann!“, wie ein angegriffenes Tier wirbelt er herum und schubst die Blonde weg, „Du blöde Zigge! Jedz' fängsde auch schon an!! Binnich hier eigendlich total allein'??“ „War doch nur Spaß.“ „Klar, nur Spaß! Logo. Ihr freud Euch doch alle, wenn Ihr auf mir 'rumkaggen könnd!“, äußerst gereizt taumelt er auf sie los: „Ich bin hier doch der ledzde A–, der allerledzde ledzde A–; ach, fuck!“ In ihren Adern beginnt es zu glühen. Auf der Suche nach einem vernünftigen Gegenargument benutzt sie eine ansonsten eher auf sie gemünzte Beleidigung: „Entschuldige“, tut sie einfühlsam traurig, „ich kann doch auch nichts dafür, dass ich blond und dumm bin, weißt Du? Ich bin nicht Cathy. – Sie ist eine Frau; ehrgeizig, erotisch –“ „Wo is' die überhaupd?“, wird ihre gekonnte Schauspielerei unterbrochen. „Keine Ahnung. Ich – ich habe sie noch nicht gesehen, weißt Du?“ „Fuck. – Ja, die Weiber.“ „Geht's Dir wieder besser?“, dieser unechten Anteilnahme folgt – sozusagen als Krönung – ein heißes Augenzwinkern, wobei sie unwiderstehlich den Mund halb öffnet: „Du schaffst das, weißt Du?“, anschließend drückt sie die Brust 'raus, was in dem engen Stoff noch mehr Üppigkeit vorgaukelt, greift seine nasse Hand und zieht ihn ein Stück an sich heran: „Komm, ich bring' Dich nach draußen, zu Herrn Rosner.“ „Mit dem komm' ich allein' klar!“, eine ruckartige Trennung soll den Rest an Mut und Kraft unter Beweis stellen, „Dem werd' ich's schon zeigen. Sorry Girly.“

Unterdessen hat unser Abteilungsleiter mehrmals probiert, die vermisste Kollegin auf verschiedenen Telephonen zu erreichen. Entweder hörte nur ein Anrufbeantworter zu oder die Leitung endete im Leeren. Hilflos starrt er auf das Anzeigefeld seines Mobilteiles. Es könnte bei Gelegenheit auch wieder geputzt werden. Durch den Schweiß der Hand hat sich eine dünne schmierige Schicht gebildet. Mit braunen Krümeln sogar, getragen von fettigen Rändern, wenn man genauer hinsieht. Wahrscheinlich Schokolade. Sowas kann nur von Edward's dreckigen Flossen stammen! Der hat schließlich überall seine Finger im Spiel! John blickt zu ihm hinüber durch die Glasscheibe. Na gut, diese Überlegung ist sicherlich überzogen. Im großen und ganzen ist er nämlich ein netter Kerl. Im Grunde sogar der beste Freund. Und das bisschen überschüssiger Speck wird in der Sommerhitze auch bald verbrutzeln! Mit einem kleinen Lächeln rückt nun wieder das Telephon in den Mittelpunkt, besonders das Display. Ein Wisch mit einem Papiertaschentuch schafft Klarheit. Was wäre, wenn Cathy in einer Situation steckt, in der sie gar kein Gespräch entgegennehmen kann, beziehungsweise darf? Aber eine Textnachricht lesen könnte –. Allerdings hätte sie diese auch schreiben können! Die Gedanken lassen die Augen flimmern. Vielleicht ist sie unerklärlicherweise in einem Funkloch. Bloß, so lange? Unser Ermittler dreht sich mit dem Stuhl zur Fensterfront. Der Funkturm rückt in den Kern des Blickfeldes. Ein historisches Monument aus den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit circa 91,46 Metern (300 Fuß) ist er nicht wirklich riesig, aber immerhin ein Wahrzeichen der Stadt. Seine unzähligen renovierten Stahlverstrebungen glänzen in der Sonne. Bestimmt werden wieder eine Menge Touristen auf der Aussichtsplattform sein. John erhebt sich. Ein Spaziergang am Meer wäre ideal. Die Sinne beleben lassen durch die frische Seeluft. Wer würde es merken? Es könnte ja ein Auftrag sein. Cathleen sitzt dort sehr gerne in einem bestimmten Restaurant. Seine Augen schwenken hinunter auf die Straße vor dem Besucherparkplatz beim Haupteingang. Dort biegt ziemlich geschwind ein leuchtendgelber Kastenwagen mit roten Blinklichtern in die Kreuzung ein. Ein Fahrzeug des RSR-Rettungsdienstes. Im Nacken bildet sich eine Gänsehaut. Je länger die Lämpchen aufblitzen, desto unguter wird das Gefühl. Könnte ihr eventuell etwas zugestoßen sein? „An die Lösung hatte ich noch gar nicht gedacht“, spricht er zu sich selbst, „aber es ist die vernünftigste von allen.“ Schon nimmt er erneut das Telephon und wählt Berthold an. „Wir schind noch nischt am Flughafen“, klingt es zögerlich aus der Muschel. „Macht nichts. Mir geht's um was And'res. Kannst Du noch nachvollziehen, von welchem Apparat Cathy Dich angerufen hat?“ Offenbar war es nicht das Dienstgerät. Sehr schade. Man hätte sonst im Ernstfall eine Ortung durchführen lassen können. Aber warum soll es einfach sein, wenn die kompliziertere Variante im Leben deutlich mehr Abwechslung bietet. „Du hast also keine Nummer mehr?“ „Leider nischt.“ „Das is' doch völliger Blödsinn. Ihr müsst doch die Chance hab'n, mit ihr sprech'n zu könn'n, wenn was schief läuft.“ Trotz einer gewissen Neigung zur Spontanität gehört die junge Dame unumstritten zu den Kollegen, die gut organisiert sind. Nun bitte, vielleicht war der Akku leer und vielleicht war sie in Eile, konnte kein Ersatzgerät mitnehmen oder hat es schlicht vergessen, eine andere Nummer zu sagen. Es kommt alles einmal vor. John beendet das Gespräch und wählt neu. Zu ihrem mobilen Privatanschluss. Auch hier begrüßt ihn lediglich die Mailbox. „Hallo, hier ist John. Könntest Du mich bitte so schnell wie möglich auf meinem Dienstphony2 anruf'n? Es gibt da ein Problem, dass wir unbedingt klär'n müssen. – Bevor's die anderen tun.“ Am liebsten hätte er noch ergänzt „Ich vermiss' Dich“ oder gleich ein Küsschen hinterlassen. Aber eventuell wäre dies nicht ganz so ideal. Man weiß schließlich nie, wer auf die Nachricht noch Zugriff hat oder haben wird. In Erinnerung bleibe die Angelegenheit um die Partei. Mein Gott, das Theater hätte beinahe den gesamten Staat ruiniert.

Ein Zimmer weiter breitet Cheroly die mitgebrachte Akte auf dem Konferenztisch aus, wobei sie sich ein Stück nach vorne beugt und beginnt, aufmerksam Seite für Seite umzuschlagen. Da sie ihren Kopf relativ tief hält, baumeln verspielt zahlreiche Locken vor ihren Augen. Zunächst scheint es sie nicht zu stören, erst nach einigem Blättern fährt sanft die rechte Hand an die lästige Strähne und legt sie beinahe in Zeitlupe hinter das Ohr. Eine scheinbar unbewusste Handlung. Genauso das zärtliche Beiseitestreifen der übrigen Fronthaare nach links mit der selben Hand. Alle diese Bewegungen drücken so unglaublich viel Gefühl aus, dass Edward wie festgewurzelt zu ihr hinüberstiert. Seine Augen werden groß und größer. Welch faszinierender Anblick. Mit unvorstellbarer Sanftheit streift Haar für Haar über die brillant lackierten Fingernägel, so als wären sie alleine durch Liebe zähmbar und blieben gleichwohl frei wie der Wind. Je mehr er zusieht, desto mehr werfen Hypnoseansätze ihre Schlingen aus. Und dies sei insofern äußerst bemerkenswert, da Cheroly ihn ansonsten weitgehend unberührt lässt. Stichwort: »Dumme Blondine«. Ein typisches Vorurteil, denn jeder bei uns weiß, wie tapfer sie kämpfen kann. Wenn es hart auf hart kommt, ist sie eine prima Partnerin. Mit Haaren auf den Zähnen. Aber die auf dem Kopf bleiben beeindruckender. So flauschig. Bestimmt unvorstellbar weich! Edward's Mundmuskulatur erschlafft; sprich: die Kinnlade senkt sich unkontrolliert langsam abwärts. Beim nächsten Atemzug allerdings gerät alles ins Stocken. Wie bei einem Schnappschuss friert die Mimik ein. Was die Augen melden, setzt das Gehirn viel zu langsam um. Cheroly hatte sich zwischenzeitlich aufgerichtet und zu ihm herübergedreht. „Äh – e – ehm“, stammelt er. Sein Pech, denn erst durch diese eigenwilligen Laute wird sie konkret auf ihn als Zuschauer aufmerksam. Rapid huscht ein Lächeln durch ihre Wangen. Ein kleines Siegerlächeln. Solche Situationen erkennt sie sofort. Bewunderung. Welch fabelhaftes Wort, welch wohlige Empfindung. Das Herz schlägt spürbar höher. Sofort ändert sie ihre Gangart. Die Augen beginnen zu glänzen und heften sich an jene, die von Begeisterung in Sprachlosigkeit umgeschlagen sind. „Du wolltest was von mir?“, zum betonten Hüftschwung stützt sie obendrein die linke Hand in die Taille. Langsam, dafür zielstrebig wandelt sie auf den Ertappten zu. „Ja – äh – nein. Ich – wunderte mich nur, weil John – warum John – was er da warum macht, da drüben, im Neben–.“ „Was er da macht?“, an seinem Tisch bleibt sie stehen, stellt die Füße einen Schritt breit auseinander und stützt sich vor ihrem Oberkörper mit beiden Handflächen auf die Tischkante. Soviel Provokation verträgt er arme Herr Stang wohl kaum. Was ist heute hier bloß passiert? Die gesamte Abteilung scheint durcheinander geraten. Das einzig Verlässliche bleibt der Schweißfilm im Rücken. Obwohl er sowas von überflüssig ist. Bekanntlich stets zu Diensten, wenn man ihn nicht braucht. Aber fühlt er sich missachtet, versucht er's auf der Stirn. „Pfff – ist Dir – auch so warm?“ Ein ängstlich japsendes Ablenkungsmanöver. „Mir kann's nicht heiß genug sein“, lächelt Cheroly beinahe unverschämt zurück, „weißt Du?“, dann verlässt sie ihre Position und geht in normaler Haltung zu ihrem Platz, allerdings nicht ohne im Vorbeigehen einmal versöhnlich über Edward's Schulter zu streichen, „Wenn Du möchtest, stelle ich die Klimaanlage an.“ „N-nicht nötig.“ „Nein?“ „Nein – äh, danke. Hhhffff“, im unbeobachteten Moment wird flugs das Gesicht getrocknet. Glück im Unglück, denn die Erlösung naht; in Form von John: „Ich werd' Euch mal für 'ne Weile allein' lass'n. Ich muss nochmal los.“ „Ich komme mit!“, springt der Durchschwitzte beflissen auf. „Langsam! Du weißt ja gar nich', wo ich hin will.“ Trotz des bremsenden Handtellers, ertönt ein übereifriges „Egal“, gefolgt von der kleinlauten Schadensbegrezung: „Äh, wenn's Dir recht ist.“ Einen Tisch weiter zur anderen Seite hin, erzeugt dieser Nachsatz Erheiterung: „Ihm ist alles recht, weißt Du?“, Cheroly wählt im Stehen einige Papiere aus, „Wo soll es denn hingehen?“ „Ich will Cathy such'n.“ „Oh, das arme Miezekätzchen“, sie hebt ihren Kopf, „unser kleines süßes Maskottchen.“ Ein Appell an die Magensäure. Unser Leiter weiß nur zu gut um die Bedeutung dieser Aussage: „Cheroly, bitte“, da die Ermahnung nicht viel bringen wird, könnte der ergänzte Satz erfolgversprechender sein: „Ich habe mir sag'n lass'n, wenn Jack mal eine Minute nicht pünktlich käme, würdest Du gleich die Polizei ruf'n!“ Prima, das sitzt. Ihre Augenpartie verrät es. Gefestigt wendet er sich seinem Freund zu, der erleichtert „Witzbold“ murmelt und unaufgefordert abfahrbereit aufsteht.

Nachdem das Telephon getauscht wurde und Handgelenktasche samt Schlüsselbund gegriffen sind, geht es zur Tür: „Nanu, hab' ich jetz' zwei Bodyguards?“ „Nur einen“, spielt Cheroly, „denn ich bin Dein Schutzengel, weißt Du?“ „Oh, wie nett. Ist es denn so gefährlich auf dem Flur?“ Sie hält die Papiere vor die Brust ihres Nachbarn und bleibt mit ihm stehen: „Ja, furchtbar, weißt Du? Da draußen lauern so manch böse Frauen. Und ich weiß, wie schwach Du bist –“ „Entschuldigt mich gerade mal“, unterbricht der Dritte, „ich will nur rasch noch zur Toilette.“ „Ja gut“, nickt John, „tu' Dir kein'n Zwang an – eh, das heißt, nicht gut! Warte mal! ...“ Eine urplötzliche Erinnerung durchsaust das Gestrüpp an Hirnfalten. Vollkommen vergessen war Marco, den er vorhin unsanft dort abgeladen hatte. „... Du kannst auch unt'n geh'n!“ „Wieso das?“ „Eh, naja“, die Bewegungen werden hektischer, „Du weißt doch, dass die da 'rummontieren.“ Edward zieht die Tür auf: „Aber doch nicht bei uns.“ „Ja, trotzdem nein!“, John stellt sich flink neben ihn, „Unter uns: eh, eben war einer von Det's Leuten da drin und hat alles vernebelt. Die ganze Luft. Deshalb.“ „Witzbold“, grinst der Dickere und betritt als erster den Flur. Als unser Freund ihm folgt, springt ihm beinahe der Puls aus den Adern. Da biegt doch vorne der Polizeioberste geradewegs zu den stillen Örtchen ab. „Oh Mist. Eh – Herr, Herr –!!“ „Lass' ihn“, zischelt Cheroly von der Seite. Zu spät. „Ah, mein lieber Herr Goodman! Gut, dass wir uns begegnen. ...“ Eine durchaus bloß einseitige Feststellung, wie wir mittlerweile wissen. „... Was macht denn das werte Befinden Ihres erkrankten Untergebenen?“ Reichlich verzweifelt schielt John abwechselnd zu seinen Begleitern. Beim Luftholen wird eine Begründung gebastelt, die im ersten Wort glatt abgesägt wird, weil Cheroly vorprescht: „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Rosner kümmert sich darum.“ „Excellent. Hoc erat in votis3. Ich danke Ihnen“, spricht er zufrieden und öffnet den Waschraum. Derweil unser Leiter mit krassem Farbverlust an der Hautoberfläche zu kämpfen hat, schüttelt seine Kollegin lediglich dezent den Kopf: „Siehst Du“, flüstert sie ganz dicht neben ihm, wobei sie mit ihrer Schulter die seine berührt und seitlich intensiv aber fesch in sein Gesicht blinzelt, „ich bin Dein Schutzengel. Wenn ich's Dir mache, mache ich's Dir richtig, weißt Du?“, mit ihrem typischen frivolen Lächeln samt entsprechendem Augenzwinkern folgt ein zarter brüderlicher Klopfer in den Rücken, bevor sie die beiden Männer ihrem weiteren Schicksal überlässt. Einer von ihnen hofft, wenigstens halbwegs der Situation noch folgen zu können, während der zweite dickere im doppelten Sinne nichts kapiert und aus aktuellem Anlass nun doch lieber die Toilette in den unteren Stockwerken bevorzugt.

Eine gute Viertelstunde darauf haben unsere zwei Freunde den 'Devon Circle' erreicht. Mit Schrittgeschwindigkeit rollen sie über das Kopfsteinpflaster. Bekanntlich liegt das Haus gleich am Anfang der Allee. „Ist das nicht Cathy's Wagen da drüben?“, Edward zeigt zur anderen Straßenseite, „»R 111 C«?“ „Ja, sicher“, nickt man hinterm Steuer und nimmt die erst beste Parklücke. „Dann wird sie sicher gerade zurückgekommen sein, was John?“ „Keine Ahnung, wir werden's seh'n“, mit einem Griff ist der Motor aus und der Haltegurt gelöst, „Denk' aber dran, dass sie wie ich sehr oft mit der Bahn zur Arbeit kommt. Denn wofür hab'n wir denn unseren Dienstausweis, mein lieber Herr Stang?“ „Witzbold.“ „Gut, ich kann's ja versteh'n, diese mörderischen 200 Meter von Deiner Haustür zur Haltestelle sind unzumutbar –“ „250“, grinst Edward gefoppt zurück. „Noch schlimmer. Das wären ja umgerechnet schon ¼ Kilometer. Weißt Du was? Wir werden einen Antrag stell'n, einfach ein paar Schienen anzubau'n. Am besten direkt bis zum 'Pinieneck' hoch“, begleitet von einem überheblichen Lächeln wird die Fahrertür geöffnet, „Ich wette, unsere Sozialkasse4 wird uns dabei tatkräftig unterstützen“, es folgt noch ein kurzer neckischer Kiekser zwischen die Rippen des Verdrossenen, so zur Auflockerung, und schon steht man mit beiden Beinen wieder auf dem festen Boden des Lebens. Jedenfalls, was unseren Hauptkommissaren betrifft.

Im Präsidium derweil ist es ziemlich still geworden, bezogen auf eine uns bekannte Abteilung im achten Stock. Eine gute Gelegenheit für die selbsternannte blonde Herrscherin manche Dinge einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen. Besonders solche, an die man nur schwerlich herankommt. Also wird flink eine Lockensträne beiseite geschoben und das Nebenzimmer jenseits der Glastür anvisiert. Nebenbei schnell ein kleines Pillchen auf die Zunge gelegt, einen kräftigen Schluck Wasser getrunken, besser gleich noch zwei weitere hinterher, damit das aufputschende Teilchen auch ungehindert in den Magen gelangt und los geht es. Jetzt wird endlich einmal mit der Konkurrentin abgerechnet. Dieses Miststück meint wohl, hier die große Nummer spielen zu können. In Cheroly's Augen beginnen wiederholt Flämmchen zu lodern. Diesmal frisch aus der Hölle importiert. Bei soviel Kraft im Willen wirkt das Beiseiteschieben der Glastür beinahe wie ein ängstliches untertäniges Verneigen. Der geistig ausgerollte rote Teppich schnappt unerwartet zurück, da ein Geräusch von der Raummitte das Zeremoniell beendet. Cheroly ändert sofort ihre Absicht und damit auch die Richtung, denn hinter ihr stürmt bereits Herr Rosner zur Tür herein: „John??“, die flüchtige Suche endet in ihren Augen: „Ist John nicht da??“ „Hallo Det“, grüßt sie verlegen, wobei sie versucht, ganz unschuldig ihre gepflegten Hände in die arg eng genähten Taschen ihres Kleides zu pressen. „Weißt Du, wo er steckt?“ „Nein, tut mir leid“, in circa drei Schritt Distanz bleibt sie vor ihm stehen, „Er ist vorhin mit Edi weggegangen.“ Nervös rupft der Ältere sich die Pfeife aus dem Mund: „Ist Miss Wild drüben?“ Auch dies muss verneint werden. „Herrje – es ist zum Affenlausen!“, hart greift er die halb offene Tür und drückt sie ohne die Klinke zu benutzen ordentlich hörbar zu. Im Anschluss beginnt er offenbar ziellos durch den Raum zu wandern, wobei er das Rauchinstrument wieder seitlich zwischen die Lippen klemmt, um besser mit den freigewordenen Händen herumgestikulieren zu können: „Dieser Herr Sietel ist – ist ja – eine Katastrophe!“ „Du sprichst von Marco?“, mit vorgetäuschter Anteilnahme verfolgt die Blonde den rastlosen Gang, der Schleifen wie Drehungen beinhaltet. „Der Junge ist doch nicht mehr ganz bei Trost. Ich kann doch nicht volltrunken zum Dienst erscheinen! Was denkt der sich dabei?!“ „Er war vorhin auch bei uns. John hat ihn 'rausgeschmissen.“ „Richtig so“, Detlef wendet sich zu ihr herüber und krempelt die Ärmel auf, „Bei Euch ist es aber massiv warm.“ „Findest Du?“, ein zaghaftes echtes Lächeln legt sich über den rosaroten Mund. Obwohl diesmal keine Haare vor der Stirn stören, greift unsere Blonde trotzdem an ihre Schläfen und streicht teils zur eigenen Ablenkung teils zur Kokettierung durch die erstbeste Locke. Dabei begibt sie sich zu ihrem Tisch und lehnt sich entsprechend inszeniert an die Kante. Ihr Besucher unterdessen muss noch einigen Frust abladen: „Ich wollte John anfangs nicht ernst nehmen, als er diesen Fatzke unbedingt loswerden wollte.“ „Marco ist unberechenbar geworden. Früher war er nicht so, weißt Du? Die Sache mit Andrea's Tod damals war wohl der Auslöser. Und jetzt ist es Cathy.“ „Dann taugt er nicht zum Dienst“, erneut zieht Detlef die mittlerweile erkaltete Pfeife heraus, zeigt mit dem Stiel auf das Mädchen, „So einfach ist das. Allfällig reicht das heute aus, um ihn zu versetzen. Ich werde gleich einmal eine Etage höher gehen. Mit mir macht der Fatzke keinen Unfug! Du kennst mich, Cheroly!“

Wir kehren zurück in die Straße mit den stilvoll gestalteten drei- bis vierstöckigen Häusern aus den Anfängen der Blütezeit dieser Stadt. Manche sind aneinandergereiht, andere stehen einzeln, von Gärten umgeben. Durch ihre zahlreichen Verzierungen, besonders an den Giebeln, oder den erkerähnlichen Vorbauten wirken sie wie großzügige Villen. Eine handvoll besitzt sogar