Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Weihnachten in den Tropen – eigentlich ein Traum! Doch statt eines entspannten Urlaubs mit Freundin Nina erlebt Bastian in Thailand sein ganz persönliches Fegefeuer: Rastlos sitzt er auf glühenden Kohlen im Paradies, geplagt von Erinnerungen an seine Kindheit in einer zerbrechenden Familie. Als er auf eine rätselhafte Botschaft in einem Bücherregal stößt, nimmt die Reise eine unerwartete Wendung: Was als Geocaching-Abenteuer durch Thailands Nationalparks beginnt, endet für Bastian in einer selbstzerstörerischen Konfrontation mit seiner eigenen Schuld …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
verlag duotincta
E-Book
Frank O. Rudkoffsky
Dezemberfieber
Roman
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Erste Auflage 2015
Copyright © 2015 Verlag duotincta
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Typographie: Verlag duotincta
Einband: Nadine Tsalawasilis, Stuttgart
Cover-Fotografie: Frank O. Rudkoffsky
Printed in Germany
ISBN 978-3-946086-03-1
Besuchen Sie uns im Internet unter:
www.duotincta.de
An Ninas rechtem Knie knistert der Golf von Thailand. Bastian richtet sich auf und küsst sie, schmeckt erst Mango, dann Tabak, und sinkt wieder aufs Papier zurück, die Andamanensee im Rücken und die Ellenbogen im Nichts. Ninas Sommersprossen werden unsichtbar, ihre Wangen glänzend und rot. Das Duschen hätte sie sich sparen können. Im Hotelzimmer ist es noch genauso stickig wie vor einer halben Stunde. Nach vier Wochen ohne Nina hätte Bastian am liebsten gleich mit ihr geschlafen. Als sie endlich aus dem Bad kam, musste es darum schnell gehen, schneller jedenfalls, als sie die Landkarte vom Bett werfen konnte. Sie beugt sich zu ihm hinunter und atmet in sein Ohr, streift mit ihren nassen Haaren immer wieder seinen Hals. Anders als sonst versucht Nina nicht, den Orgasmus hinauszuzögern, sondern schläft mit ihm, wie sie Sport treibt, ergebnisorientiert, verbissen. Bastian will auf sie warten, kann sich aber nicht länger zurückhalten. Er greift ihr an den Po und verkrallt sich in die Karte, kommt dann mit einer Wucht, die ihn fast erschreckt. Nina legt eine Hand auf seine Brust und lächelt.
»Danke«, flüstert er.
»Schon gut.«
Sie stützt sich auf, um aus dem Bett zu steigen. Bastian hält sie noch einen Augenblick fest und merkt erst, als er loslässt, dass er mit seiner anderen Hand ganz Bangkok zerknüllt hat.
Kaum hat sich Nina ihr Duschhandtuch umgebunden, ist sie schon in Eile. Sie zieht die Karte vom Bett, faltet sie zusammen und streicht die Kanten glatt, damit sie wieder in den Plastikbeutel passt. Demonstrativ kehrt sie Bastian den Rücken zu, als sie den kleinen Beutel mit der Karte zurück in den großen Beutel mit den anderen Dokumenten legt und diesen dann mit einem Clip verschließt. Er hat sich oft genug über ihren Ordnungstick lustig gemacht. Ihre Packliste, deren neueste Version sie ihm regelmäßig per Mail zukommen ließ, hat er immer wieder um Posten wie Laminiergerät oder Pudelmütze ergänzt. Bastian muss jetzt nichts sagen. Während Nina mit vorwurfsvoller Hektik ins Bad eilt, liegt er noch immer regungslos im Bett, quer zur holzvertäfelten Wand und mit einem Bein am Boden. Das ist Kommentar genug. Sie kommt nur wenige Sekunden später mit leeren Händen zurück und öffnet das Fahrradschloss an ihrem Rucksack. Zuhause hatte sie ihre Kleidung platzsparend zusammengerollt und nach Farbe sortiert. Genauso akkurat packt Nina auch wieder aus. Sie klemmt sich nacheinander T-Shirts unters Kinn, mustert sich im Spiegel und faltet sie zu Rechtecken. Ein olivgrünes Top landet auf der Kommode, alles andere im Schrank.
Bastian muss grinsen. Morgen um diese Zeit sitzen sie bereits im Nachtzug nach Surat Thani.
»Gib’s zu: Jetzt ärgerst du dich, dass das Bügeleisen nicht mehr in deinen Rucksack gepasst hat!«
Nina nimmt ihr Handtuch ab und lächelt ihm im Wandspiegel zu.
»Was meinst du, warum deiner so schwer ist?«
Es hat lange gedauert, bis sie sich ohne Hemmungen vor ihm ausziehen konnte. Sie fand sich einfach nie hübsch genug, geschweige denn sexy. Dabei sind es gerade die kleinen Widersprüchlichkeiten, die Bastian an ihrem Körper so mag. Nina hat eine weibliche Figur und weiche, fast kindliche Gesichtszüge. Anders ihr Rücken: Dort ähneln ihre Schulterblätter gestauchten Eisschollen, erinnert ihre Wirbelsäule an die Schiene einer Zahnradbahn.
»Wolltest du nicht duschen gehen?«
Bastian antwortet nicht, sondern verschränkt die Arme hinter seinem Kopf und wartet auf die übliche Choreographie, wenn er eine ihrer Aufforderungen ignoriert: halbe Drehung samt Schulterblick, dicht gefolgt von Augenrollen und Zungenschnalzen. Stattdessen steigt sie in ihren Slip und cremt sich so eilig ein, dass etwas Lotion am Arm zurückbleibt. Der weiße Klecks klebt gleich neben einem ihrer großen, scherenschnittartigen Leberflecke, von denen Nina gerne behauptet, sie hielten Vögel von versehentlichen Kollisionen ab. Bei einem spielerischen Rorschachtest hatte Bastian auf ihrem Rücken einmal mehrere Staaten und Prominente identifiziert. Jetzt zieht sich Nina ihren BH an und verpasst Winston Churchill mit einem der Träger einen Pornobalken.
»Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du mich so mit deinen Blicken sezierst.«
»Mein Interesse ist rein anthropologisch!«
Nach einem genervten Seufzen verschwinden Kopf und Oberkörper im Top. Nina schlüpft mit der Nase voran durch den Ausschnitt und streicht sich die Haare aus dem Nacken. Plötzlich fährt sie herum und wirft Bastian das Handtuch ins Gesicht.
»Bitte weitergehen – hier gibt es nichts zu sehen«, imitiert sie die Stimme eines Verkehrspolizisten.
Bastian lacht künstlich ins Frottee, hört Nina etwas Unverständliches sagen, dann nur noch ihren Fön. Er versucht erst gar nicht, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Seit dem Sex fühlt er sich wie aus einer zu straffen Spule gelöst. Es ist inzwischen fast eine Woche her, dass er schlafen konnte, und obwohl er noch vor dem Start fünf Bier getrunken hatte, kam er auch im Flugzeug nicht zur Ruhe. Wann immer ihm die Augen zufielen, riss Bastian wieder etwas heraus. Erst stieß ihm eine Flugbegleiterin mit dem Servierwagen ans Bein, dann musste sein Sitznachbar aufs Klo. Beim dritten Mal stand sich Bastian selbst im Weg: Er schrak im Halbschlaf aus einem Traum, in den er auf keinen Fall zurückkehren wollte. Die Nacht war spätestens ab den Turbulenzen über Indien gelaufen, die so heftig waren, dass ihm selbst drei Stunden nach der Landung noch schwindelig ist. Kaum schließt er die Augen, kommt er sich vor wie in einem eiernden Karussell; sogar die schneidenden Luftzüge des Ventilators geben ihm das Gefühl von Bewegung. Das Handtuch hebt sich immer flacher über seinem Mund und heizt sich am Atem auf. Als Nina das Gebläse des Föns eine Stufe höher stellt, wird Bastian schwerer, driftet weg. Die Bilder in seinem Kopf knüpfen nahtlos an den Traum im Flugzeug an: Bastian sieht Ivan im Zimmer seiner Eltern. Er ist dumm vor Wut, knurrt und winselt und bellt, rauft sich mit dem Bettvorleger und verbeißt sich in den Teppich. Ivan ist verrückt geworden, glaubt Bastian, tollwütig vielleicht; der Hund schreckt auf und starrt ihn an, Flokatifasern statt Schaum zwischen den Zähnen. Dann sieht auch Bastian die Leiche.
Er reißt sich das Handtuch vom Gesicht und springt mit einem Satz aus dem Bett.
»Scheiß aufs Duschen!«
Nina zieht den Fön aus der Steckdose.
»Bitte?«
»Wir sind in Thailand! Duschen kann ich später noch – lass uns lieber raus und was sehen!«
»Wollten wir nicht Pause machen?«
Bastian schnürt seinen Rucksack auf und findet gleich obenan die Sachen, die er für den ersten Tag gepackt hat: Cargohose, Leinenhemd und Flipflops.
»Dann wird der Jetlag nur noch schlimmer. Wir sollten uns besser schnell an den neuen Rhythmus gewöhnen!«
Er knöpft sein Hemd erst falsch, dann richtig zu und schaut aus dem Fenster. Was Nina bei ihrer Ankunft irritiert als Gewusel bezeichnete, ist genau das, wonach er sich seit Tagen gesehnt hat. Unter dem Schilderwald aus Neon und Blech strömen Touristen an dampfenden Garküchen, Bars und Geschäften vorbei. Sie schwärmen aus wie Termiten nach einem Fußtritt in ihren Bau, bilden immer neue Muster auf dem Asphalt. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Gestern hörte Bastian seine Schritte noch in leergeräumten Zimmern hallen.
Nina schaut auf die Uhr und zuckt mit den Achseln.
»Ach, warum nicht! Müssen’s ja nicht gleich übertreiben.«
Bastian ist wieder hellwach. Er öffnet ein Bier aus der Minibar und nimmt die Flasche mit ins Badezimmer. Weil der Lüftungsschacht mit Klebestreifen abgedichtet ist, ist es drinnen so feucht, dass ihm sofort der Schweiß ausbricht. Bastian will lieber nicht wissen, was sich auf der anderen Seite befindet; er schaudert beim Gedanken an verklebte Chitinpanzer und im Todeskampf ausgerissene Fühler. Aber auch ohne Kakerlaken ist das Bad bereits widerlich genug. Schwarzer Schimmel breitet sich metastatisch über die Deckentapete aus. An den Kacheln kleben blutige Moskitoreste, im Abfluss Haare, die ganz sicher nicht Ninas sind. Angeekelt atmet Bastian durch den Mund und sprüht sich großzügig mit Deo ein. Als er mit seinem Ärmel ein Bullauge in den Spiegel wischt, ist er fast dankbar, dass er gleich wieder beschlägt. Bastian wäscht sein fahles Gesicht, ohne sich abzutrocknen und drückt mit seinem Unterarm die verkantete Tür auf. Die Zimmerluft ist jedoch nicht erfrischend, sondern so satt und schwer, dass Bastian das Gefühl hat, zu ersticken. Er will nur noch raus. Nina hat es offensichtlich nicht ganz so eilig. Sie liegt bäuchlings im Bett, liest im Reiseführer und wippt langsam ihre angewinkelten, an den Füßen überkreuzten Beine.
»Wonach suchst du?«
»Ich guck nur schnell, wo man hier gut essen kann.«
»Wir sind mitten auf der Khao San Road«, sagt Bastian und schaut wieder aus dem Fenster.
»Die eine Straße schaffen wir gerade noch so ohne Fremdenführer.«
Unten versucht ein Thailänder mit einem mannsgroßen Bambuskorb am Rücken vergeblich, Besen an eine Gruppe trinkender Jugendlicher zu verkaufen. Keine zwei Sekunden später bleibt an ihrem Tisch eine alte Frau mit Origamifiguren stehen. Bastian platzt vor Ungeduld. Überall da draußen tauschen Backpacker bei Pad Thai und Singha ihre Abenteuergeschichten aus, feilschen um gefälschte Ed Hardy- oder Hard Eddy-Shirts, stoßen auf sich und das Leben an. Er stellt sich unter den Ventilator, zieht sein nass geschwitztes Hemd in die Länge und versucht, sich auf den Klang der Straße zu konzentrieren, ein diffuses Rauschen aus Schritten, Stimmen und Musik, das immer wieder jäh vom Geraschel vor- und zurückgeblätterter Seiten zerschnitten wird.
»Hm. Möchtest du lieber am Stand was essen oder ins Restaurant?«
Bastian seufzt hörbar. Es ist so typisch: Nina tritt immer dann auf die Bremse, wenn er Gas geben will, zieht immer dann die Reißleine, wenn er lieber fallen will. Die Anspannung der letzten Tage ist sofort wieder da: die schlaflosen Nächte im Haus seiner Eltern, die vielen Stunden am Schalter, der zähe, holprige Flug nach Thailand. Am meisten hatte ihm ausgerechnet die Taxifahrt zugesetzt. Auf dem Weg zum Hotel standen sie zwei Stunden im Stau, in denen Nina schlief und er mit seinen Gedanken alleine war. Beim Verkehrsinfarkt wirkte Bangkok wie eine begehbare Plastik seines Gehirns – alles in Bewegung, doch nichts kommt voran.
Nina dreht sich um. Halb verunsichert, halb gereizt fragt sie:
»Was ist denn?«
Bastian schaut zu Boden. Sie kann nichts dafür, dass seine Nerven momentan so blank liegen. Nach einer Pause sagt er:
»Nichts. Wärst du mir böse, wenn ich schon mal runtergehe und eine rauche?«
»Ich bin dir grundsätzlich böse, wenn du rauchst.«
»Und davon einmal abgesehen?«
»Solange du nicht mit dem erstbesten Tuk Tuk durchbrennst«, grinst sie, »darfst du dich in einem Radius von fünf Metern frei bewegen.«
»Ich binde mich gleich an die nächste Laterne, versprochen. Komm einfach runter, wenn du soweit bist!«
»Ich beeil mich. Ist wirklich alles okay?«
»Alles gut, keine Sorge.«
Bastian beugt sich zu Nina hinunter und gibt ihr einen Kuss. Dann schnappt er sich Portemonnaie und Zigaretten vom Nachttisch und verlässt das Zimmer, nimmt Treppe statt Fahrstuhl, zwei Stufen statt einer. In der Lobby drängelt er sich an einer Horde britischer Backpacker vorbei und eilt aus der Tür. Ein paar Schritte weiter, und er steht mitten auf der Khao San: vor ihm ein 7-Eleven, der jeden Besucher mit einem schrillen Signalton empfängt, links zwei Mädchen, die sich Ramsch andrehen lassen, rechts drei Tuk Tuk-Fahrer, die durcheinander quasseln wie die Kontrollgruppe einer Ritalin-Studie. Das, was hinter ihm liegt, spielt plötzlich keine Rolle mehr. Seine Gedanken verlieren sich im Lärm, und er fühlt sich augenblicklich besser.
*
Bastian drückt die Zigarette bis zum Filter ins Fruchtfleisch, und es geht ganz leicht, fast ohne Druck. Ein kurzes Zischen, schon stinkt es, als hätte jemand in einen heißen Wok gekotzt. Die Durian wird ihrem Spitznamen wirklich gerecht: Stinkfrucht. Nina hatte sie unbedingt probieren wollen, das teigige Obst aber nach nur einem Bissen angewidert an Bastian abgetreten. Während er sie vom Bordstein aus in der Menschentraube um einen T-Shirt-Stand verschwinden sieht, fischt er drei weitere Stummel aus der Hosentasche und bohrt sie ebenfalls hinein. Man findet so ziemlich alles auf der Backpackermeile, aber keinen einzigen Mülleimer. Auf Ninas Geheiß hatte er seine Zigaretten darum bislang auf dem Asphalt ausgedrückt und eingesteckt. Er stellt die Durian zur Seite und zündet sich gleich die nächste Zigarette an. Dann streifen seine Augen wieder rastlos umher, und er muss an Ninas Satz im Hotelzimmer denken: Du weißt, dass iches nicht mag, wenn du mich so mit deinen Blickensezierst. Bangkok ziert sich nicht. Im Gegenteil: Die Menschen auf der Khao San Road buhlen geradezu um Bastians Aufmerksamkeit. Fliegende Händler, Gaukler und Huren konkurrieren auf nur wenigen hundert Metern Straße mit Geschäften, Bars und Garküchen um die grellsten Reize. Bastian kann sich kaum sattsehen an den vielen neuen Eindrücken, und genau das ist es, was er jetzt braucht. Er hat genug von kargen Räumen, hat genug davon, Erinnerungen an leere Wände zu projizieren. In den letzten Tagen hat er alles versucht, um sich abzulenken. Während der Haushaltsauflösung drehte er die Musik auf, so laut es die Boxen erlaubten, sang manchmal sogar aus vollem Hals mit. Auf der Beerdigung studierte er die Marotten der Trauergäste oder starrte aufs Brusthaar des Pfarrers, das buschig wie Zuckerwatte aus seinem Talar hervorragte. Einzig Ivans Tod musste Bastian ohne Ablenkung ertragen. Das war er ihm schuldig.
Vor ihm bleibt ein Wagen mit getrockneten und gepressten Tintenfischen stehen. Der Verkäufer, ein verhutzelter Thailänder mit weißen Haaren, ruft Bastian etwas zu und deutet auf die Squids, die von hinten mit einer Lichtorgel bestrahlt werden. Seine Zähne sehen aus, als hätte er einen Haufen Kieselsteine mitsamt Erde in seinen Mund gestopft. Trotzdem lächelt er stolz und breit.
»Khop-Khun Khrap«, lehnt Bastian dankend ab. Kaum hat der Alte seinen Fischladen weitergeschoben, versucht eine Frau in der traditionellen Tracht thailändischer Bergvölker gelangweilt, pawlowsche Kaufreflexe in ihm zu wecken: Sie reckt ihm einen faustgroßen Holzfrosch entgegen und ratscht mit einem Klöppel über dessen Rücken, um ein Quaken zu imitieren.
»I have a better one«, sagt Bastian und zeigt auf den Tabakigel zu seiner Linken.
Die Froschfrau lässt die geschnitzte Amphibie noch mehrere Male ohne besonderen Enthusiasmus quaken, zieht aber erst weiter, als sich Bastian von ihr abwendet. Wenig später kehrt Nina mit einer grünen Tüte vom Klamottenstand zurück und nimmt neben ihm auf der Bordsteinkante Platz.
»Sieht aus, als hättest du ordentlich zugeschlagen!«
»Klar, bei den Preisen! Ich hab den Typ auf 500 Baht für drei Shirts heruntergehandelt!«
»Da lässt sich die Schwäbin nicht lumpen!«
»Es gab auch einiges, das dir gefiele!«
»Heute nicht mehr. Obwohl ich vorhin im Spiegel fast wie ein Vampir aussah, bist du die Blutsaugerin von uns beiden.«
Nina beugt sich vor und mustert Bastian mit zusammengekniffenen Augen.
»Okay, blass bist du vielleicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in eine Ahnenreihe mit Brad Pitt und Tom Cruise stellen würde.«
»Ich dachte da auch eher an den späten Bela Lugosi.«
»Klingt … sexy!«
Nina legt eine Hand auf sein Bein.
»Zum Glück kann ich dich beruhigen: Vampire haben kein Spiegelbild!«
»Das macht sie umso mysteriöser! Hast du je einen schlecht frisierten Vampir gesehen?«
»Du wärst der erste!«
Bastian versucht, seine Zähne zu fletschen, muss dann aber grinsen.
»Komm, lass uns was trinken gehen!«
»Nach Euch, Herr Graf!«, lacht Nina und lässt sich von ihm aufhelfen.
Sie scheren wieder in den Touristenstrom ein und ignorieren die aufdringlichen Verkäufer, die ihnen ständig maßgeschneiderte Anzüge, Scherzartikel oder very strong cocktails andrehen wollen. Gegenüber einem Pub mit Livemusik finden sie einen Tisch mit guter Sicht auf die Passanten und amüsieren sich über Individualtouristen im Kollektivrausch. Als sie einander mit styroporummantelten Bierflaschen zuprosten, können Bastian und Nina nicht anders, als sich vor Erleichterung anzustrahlen. Sie hatten ihren Urlaub seit fast einem Jahr geplant und sich, je stärker ihnen ihre Distanzbeziehung zusetzte, immer öfter mit der Aussicht auf zwei Wochen Asien vertrösten müssen. Ein Urlaub zu zweit im Paradies war, wie Nina nach jedem Streit betonte, genau das, was sie brauchten, um sich als Paar wieder zu eichen. Darum hatte sie Bastian sogar einen selbstgebastelten Thailand-Kalender geschenkt, dessen Motive immer denselben Monat illustrierten: Dezember 2008. Kurz vor der Reise wurde das Paradies aufgrund von Logistikproblemen aber plötzlich geschlossen: Regierungsgegner hatten Bangkoks Flughafen besetzt und den internationalen Luftverkehr lahmgelegt. Bis zuletzt glaubte Bastian nicht mehr an ihren Abflug.
Jetzt ist er dafür umso euphorischer. Die Khao San Road ist genauso, wie er sie sich vorgestellt hatte. Die Backpacker aus aller Welt könnten kaum unterschiedlicher sein, doch ihre Ausgelassenheit eint sie wie in einer Fankurve. Am liebsten würde Bastian die ganze Nacht sitzen bleiben und ihnen einfach bloß zusehen. Nina kann ihre Müdigkeit allerdings immer schlechter verbergen. Sie wird minütlich stiller und öffnet ihren Mund fast nur noch zum Gähnen. Obwohl noch Bier in ihren Flaschen ist, bestellt Bastian beim Kellner zwei neue und richtet ihren Tisch zur Liveband gegenüber aus. Die Thais spielen Rockklassiker aus den Siebzigern und Achtzigern und klingen wie Profis. Der Sänger trifft beinahe akzentfrei jeden Ton zwischen Axl, Ozzy und Zappa, offenbart in seinen Ansagen jedoch, dass seine Akribie vor allem der Mimikry gilt. Er bedankt sich beim Publikum in verstolpertem Englisch, fährt in den Strophen von Paradise City dann aber wieder mit derart unfallfreiem Staccato fort, als hätte er nie eine andere Sprache gesprochen. Nach dem Mainset steht Bastian auf, um der Band Trinkgeld in die Box zu legen. Ninas anfängliche Neugierde schlägt dagegen zunehmend in Desinteresse um. Beim Beginn der Zugabe schaut sie erst lange auf ihre Uhr, dann holt sie einen Zettel hervor und bittet Bastian, mit ihr noch einmal die Programmpunkte für morgen durchzugehen: auschecken um elf, danach zu Fuß zum liegenden Buddha. Von dort zum Pier und auf dem Chao Praya zur nächsten Skytrain-Station. Fahrt zum Chatuchak-Wochenendmarkt, dann bummeln. Wenn die Zeit reicht, den Sonnenuntergang im Lumpinipark genießen und Warane beobachten. Schließlich mit dem Taxi zum Bahnhof, rechtzeitig für den Nachtzug um 19:30.
»Puh, da haben wir uns ganz schön was vorgenommen, was?«, lächelt sie unschuldig.
Bastian streicht vor ihren Augen mit der Hand durch die Luft und versucht es mit einem Jedi-Gedankentrick:
»Du bist nicht müde.«
»Ich bin nicht müde«, wiederholt Nina wie in Trance.
»Du willst noch ein Bier trinken.«
»Ich will noch ein Bier trinken.«
»Das sind nicht die Droiden, die du suchst.«
Nina schenkt ihm ein mitleidiges Lächeln und steigt aus dem Spiel aus. Sie langweilt sich, wenn sie Filme ein zweites Mal sehen muss. Ähnlich reagiert sie auch bei schlechten Witzen. Beim Kellner bestellt Bastian zwei Singha, wird von Nina aber gleich wieder ausgebremst: Sie habe genug für heute. Bastian versucht zu lächeln, so gut es mit zusammengepressten Lippen geht. Dann streckt er sich zum Nachbartisch aus, um ihr eine Getränkekarte zu holen.
»Falls du was anderes möchtest. Die Cocktails sehen lecker aus!«
»Danke, aber mir reicht der Jetlag – da brauche ich nicht auch noch einen Kater.«
»Du könntest eine Cola trinken.«
»Dann kann ich nicht schlafen.«
»Umso besser!«
Nina gähnt nur und sagt dann nichts mehr. Stattdessen stützt sie ihren Kopf auf und schaut gelangweilt dabei zu, wie die Musiker ihre Instrumente einpacken. Bastian starrt so lange in die entgegengesetzte Richtung, bis ihm der Nacken schmerzt. Als ihm sein neues Bier serviert wird, revanchiert er sich für ihr vorwurfsvolles Schweigen, indem er die Flasche zunächst minutenlang nicht anrührt und dann bloß aus ihr nippt. Zwei Zigaretten später kann er sich nicht länger zurückhalten:
»Du willst allen Ernstes, dass ich mich jetzt schuldig fühle, oder?«
»Wir sind seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen«, erwidert sie ruhig. »Ich bin einfach nur müde. Deswegen brauchst du dich aber nicht gleich angegriffen zu fühlen. Oder habe ich irgendetwas gesagt, als du dein Bier bestellt hast?«
Bastian weicht ihrem Blick erneut aus und beobachtet, wie sich ein Thailänder in exzentrischen Gewändern und mit mangogroßen Sonnenbrillengläsern neben Touristen fotografieren lässt. Seine knallbunt ausstaffierte Fahrradrikscha trägt den Schriftzug Mr. Thailand, er selbst erinnert Bastian aber eher an Mr. Libyen, den exaltieren Despoten Gaddafi.
»Du kannst gerne schon aufs Zimmer gehen, das wäre echt kein Problem. Ich komme einfach nach.«
»Sehr großzügig, danke«, lacht Nina bitter, fügt dann aber etwas leiser hinzu: »Ich lasse dich momentan ganz bestimmt nicht alleine.«
»Du hast recht, das wäre unverantwortlich. Auf Bangkoks Straßen droht Waisenkindern bekanntlich ein Schicksal wie bei Dickens.«
»Das ist nicht witzig, Bastian. Ich mache mir eben Sorgen um dich.«
Im Pub gegenüber ist das Mikrofon nun fest in der Hand von Karaokesängern. Ein Brite mit nacktem Oberkörper scheitert grandios an den langgezogenen Vokalen in Wonderwall, dann lallt ein Amerikaner Sinatras My Way, verliert aber schon nach wenigen Takten den Faden. Beim Versuch, das Etikett auf seiner Flasche zu lesen, spürt auch Bastian den Alkohol. Der Schwindel ist inzwischen so stark, dass es ihm schwerfällt, seine Augen auf einen Punkt zu fixieren. Richtet er sie auf die ausgeblichenen Fähnchen, die an Leinen über die Straße gespannt sind, streift sein Blick schon bald den hepatitisgelben Mond am Himmel und wandert zum Kabelgewirr am Strommast ab.
»Es geht mir gut. Ich möchte einfach ein bisschen runterkommen, das ist alles.«
»Das verstehe ich ja. Aber es würde dich ganz sicher mehr entlasten, wenn du endlich über alles sprichst. Wie wär‘s damit: Wir holen uns im 7-Eleven einen Sixpack, gehen zurück aufs Zimmer und reden da weiter. Was denkst du?«
Bastian nimmt einen großen Schluck Bier und muss aufstoßen. Nina begreift es einfach nicht. Dass er nicht traurig, sondern wütend ist. Und dass darüber zu reden das Letzte ist, was er will.
Neben ihnen bleiben zwei Deutsche stehen, die sich nach einem freien Tisch umsehen. Der Mann ist ungefähr in Bastians Alter, Ende zwanzig, Anfang dreißig, die Frau an seiner Seite dagegen schwer einzuschätzen. Die jugendliche Kleidung kann nicht über ihr sonnengegerbtes, faltiges Gesicht hinwegtäuschen; ihr Batikkopftuch ist von Dreadlocks ausgebeult, die auf Höhe ihrer Schläfen den Weg ins Freie suchen und sich von dort bis hinter die Ohren zurückkringeln. Bastian findet sie lächerlich. Trotzdem dreht er sich zu ihnen um und lädt sie ein, Platz zu nehmen. Sie geben ihm und der irritierten Nina die Hand und stellen sich als Peter und Marie vor. Die beiden wirken nicht wie ein Paar: Peter passt nicht zu Marie. Im V-Ausschnitt seines Poloshirts verraten entzündete Haarwurzeln allzu akribische Körperpflege, und der Bart, den er sich vermutlich gerade zum ersten Mal im Leben stehen lässt, ist alles andere als frei gewachsen, sondern erinnert in Gleichmäßigkeit und Farbe eher an Schnitzelpanade.
»Echt nett, dass ihr uns die Stühle angeboten habt!«
»Tja, so ist mein Freund nun mal«, entgegnet Nina, schaut dabei aber nicht Peter, sondern Bastian an. »Denkt immer zuerst an andere.«
*
Es bringt nichts, die Augen zu schließen. Die Stroboskopblitze hämmern ihre Muster sogar durch die Lider. Deckenventilatoren scheinen stillzustehen, peitschen jedoch permanent Kondenswasser in die Menge. Menschen tanzen wie im Daumenkino, abgehackt, mechanisch. In grellen Schnappschüssen erstarren Gesichter zu Fratzen, verrenkte Körper zu bizarren One-Second-Skulpturen. Alles bewegt sich, selbst die Gläser klirren zum Bass. Bastian spürt die Vibrationen des Tresens bis in seine Ellenbogen. Es ist zwanzig nach vier und mindestens sechs Songs her, seit Nina gegangen ist; lange genug, um in der Zwischenzeit zwei Gläser vom Mekhong-Whiskey zu trinken, der so streng schmeckt, dass Bastian beim Nippen hauptsächlich am Eiswürfel saugt. Peter sitzt neben ihm, rückt allerdings mit jedem Getränk näher an Marie heran und stützt sich inzwischen auf der Lehne ihres Barhockers ab. Es ist offensichtlich, dass er sie langweilt: Marie nestelt geistesabwesend an einer vagabundierenden Rastalocke herum und klopft mit dem Daumen Morsezeichen ans Strangende. Weil seine Flirtversuche zunehmend verzweifelt wirken, ahnt Bastian, dass Peter nach Nina der Nächste sein wird, der das Handtuch wirft. Dabei schien Nina anfangs sogar Spaß zu haben. Sie ging mehrmals mit Marie tanzen und bestellte sogar Cocktails. Je später der Abend wurde, desto öfter bat sie Bastian jedoch, mit ihr zurück ins Hotel zu gehen. Er vertröstete sie jedes Mal damit, nur noch ein Bier trinken, einen Song hören, eine Zigarette rauchen zu wollen. Als er und Peter die Flasche Mekhong ins Spiel brachten, verabschiedete sich Nina plötzlich bei allen außer Bastian und verließ einfach den Club. Über ihren theatralischen Abgang aus dem Maa Dam ärgert er sich noch immer. Der Versuch, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, war so unfair wie überflüssig: Bastian ist auch ohne Ninas Zutun von sich genervt. Schon gleich nach ihrem Kennenlernen hielt Marie einen wirren Monolog über Spiritualität und Selbstfindung. Während sie sprach, schielte Nina ständig zu ihm herüber und grinste. Sie erkannte natürlich sofort, wie sehr er seinen Schachzug bereute. Allerdings hatte sie seinen unbedingten Willen unterschätzt, sich heute Nacht gehen zu lassen.
Plötzlich wird es immer lauter. Der DJ bekommt Szenenapplaus für einen billigen Eurodance-Hit aus den Neunzigern, und schon nach wenigen Takten stauen sich hinter Bastian die Menschen an der schmalen Schneise zur Tanzfläche. Auch Marie springt begeistert auf und verschwindet kommentarlos in der Menge.
Peter schiebt seinen Hocker wieder näher an Bastians heran und prostet ihm zu.
»Irgendwas machen wir wohl falsch, wenn heute alle Frauen das Weite suchen, was?«
»Tja«, sagt Bastian. Mehr fällt ihm nicht ein.
»Aber du bist’s ja nicht anders gewohnt! Nina meinte vorhin, dass ihr ihretwegen eine Distanzbeziehung führt?«
Bastian muss lachen. »Das hat sie gesagt? Dass es ihretwegen sei?«
Nina hatte ihr Studium drei Jahre nach ihm begonnen und trotzdem vor zwei Semestern abgeschlossen; während Bastian in Tübingen gerade zum zweiten Mal die Abgabefrist für die Magisterarbeit verlängert hat, wird ihr in Hamburg schon jetzt eine Festanstellung in Aussicht gestellt. Zwar wagt sie nur selten, Bastian deswegen offen zu kritisieren, zettelt dafür aber umso öfter Stellvertreterkriege an.
»Da hat sie wohl ein klitzekleines Detail vergessen.«
»Das mit deinen neunzehn Semestern hat sie erwähnt. Ich glaube, sie meinte damit eher, dass sie ausgerechnet einen Job im Norden angenommen hat!«
»Tja.«
»Irgendwie beneide ich dich ja ein bisschen. Ich hab mein Studium in der Regelzeit durchgepeitscht und mir alle Semesterferien mit Praktika versaut. Vielleicht hätte ich die Zeit mehr genießen sollen. Hast du schon eine Idee, was du danach machen willst? Nina sagte, du schreibst?«
Bastian trinkt sein Glas in einem Zug aus und zerkaut einen Eiswürfel. Die Splitter knirschen zwischen seinen Zähnen und schmerzen beim Schlucken kalt im Hals. Seit mehr als einem halben Jahr hat er keinen ganzen Satz mehr zu Papier gebracht und sämtliche Romankapitel, die Nina gelesen und für gut befunden hatte, inzwischen verworfen. Schon wieder.
»Quatsch!« grinst er. »Ich bin Tänzer!«
Er springt vom Hocker und fällt fast hin, deutet dann aber auf die Tanzfläche: »Lass uns zu Marie!«
Bastian drängelt sich durch die Menge und achtet darauf, dass Peter ihm folgen kann. Es dauert nicht lange, bis sie Marie gefunden haben. Sie bewegt sich derart ekstatisch zur Musik, dass alle anderen Abstand zu ihr lassen. Und zwar Sicherheitsabstand. Ohne ihr Kopftuch peitschen die Rastas in einem Radius von fast einem Meter durch die Luft. Die Bewegungen ihrer Arme sind kaum kontrollierter; würden Bastian und Peter sie nicht schon kennen, würde ihnen Marie spätestens jetzt ins Auge stechen – mit ihren Ellenbogen. Bastian findet ihren Ausdruckstanz entweder orgiastisch oder epileptisch, in jedem Fall aber exorzismuswürdig. Als Marie sie entdeckt, fordert sie beide mit rudernden Armbewegungen auf, zu ihr auf die Tanzfläche zu kommen. Peter zögert.
»Na, willst du sie noch ein bisschen zappeln lassen?« ruft ihm Bastian ins Ohr. Er selbst will nicht länger warten. Die furchtbare Musik ist ihm ausnahmsweise egal; er will tanzen, bis er seine Beine nicht mehr spürt. Kaum ist er in der Menge, fühlt sich Bastian jedoch schlagartig betrunken. Bislang hat er seinen Schwindel klar im Kopf verorten können, jetzt ist es plötzlich der ganze Raum, der schwankt. Bastian weiß nicht, wie er sich bewegen soll und äfft, um Peter zu belustigen, stattdessen Marie nach. Er hält nach ihm Ausschau, kann ihn aber nirgends sehen. Sein Blick wird plötzlich unstet. Er jagt von einem Detail zum nächsten und verliert sich immer wieder jäh zwischen nah und fern. Nichts steht still: Die Lichter ziehen Schlieren und laufen aus, sogar der Boden scheint unter seinen Füßen nachzugeben. Je stärker er taumelt, desto mehr begreift Bastian, dass es nicht Marie ist, die sich lächerlich macht, sondern er. Alle um ihn herum weichen aus und wirken entweder genervt oder amüsiert. Bastian verliert sein Gleichgewicht, gerät ins Stolpern und kann sich nur noch fangen, weil Peter ihn rechtzeitig zu fassen kriegt.
»Raus hier?«
Bastian nickt.
Aus dem stickigen Maa Dam in Bangkoks Nacht hinauszukommen, ist alles andere als erfrischend, die Luft wie ein schweres, nasses Handtuch, das durch Dreck geschleift wurde. Trotzdem fühlt sich Bastian im Freien gleich besser.
»Ich schaff’s jetzt alleine, geh du ruhig zurück.«
»Mir reicht’s auch. Komm, ich bring dich zum Hotel.«
Bastian lehnt Peters Angebot ab, ihn beim Laufen zu stützen, braucht deshalb jedoch fast die ganze Breite der Straße. Inzwischen ist die Khao San Road wie ausgestorben. Alle Bars sind geschlossen, und nur vereinzelt stehen noch Verkäufer mit Kühlboxen am Rand, um die Letzten mit Bier zu versorgen.
»Tut mir leid, dass ich dir das mit Marie jetzt versaut habe.«
»Ich glaube, da gab’s nicht viel zu versauen.«
Ihnen kommt eine Gruppe kichernder Thaifrauen in knappen Kleidern entgegen. Bastian grinst:
»Du könntest immer noch aufreizende Bardamen gegen Bares aufreißen!«
»Da passe ich lieber«, lacht Peter.
Vor dem Lobbyeingang lässt sich Bastian auf den Bordstein sinken. In seinem Mund sammelt sich so viel Speichel, dass er glaubt, sich übergeben zu müssen. Er beugt sich vornüber, speit aber bloß überflüssige Spucke aus.
»Fängt ja gut an, dein Urlaub«, sagt Peter und reicht ihm ein Taschentuch.
»Kann ab jetzt nur besser werden. Hab das gebraucht, meinen Motor einmal richtig zu überdrehen.«
»Deine Beifahrerin schien davon nicht gerade begeistert zu sein.«
»Manchmal ist sie eben einfach zu vernünftig.«
Bastian zündet sich eine Zigarette an und starrt auf das abschreckende Bild auf der Schachtel: ein Mann mit einem offenen Geschwür im Gesicht.
»Ihr seid ziemlich unterschiedlich, was?«
»Weißt du, Nina und ich, wir sind wie … keine Ahnung, sagen wir: Kontinent und Ozean. Sie ist stur wie Fels, wirklich. Um sie zu erschüttern, brauchst du schon ein Erdbeben. Tja, und mich bringt bereits ein leichter Sturm aus der Fassung.«
»Ha, gutes Bild – kein Wunder, dass du schreibst! Du wirkst aber tatsächlich gerade ziemlich durch den Wind.«
»Scheiße, ja. Ich bin in Thailand sozusagen als Klimaflüchtling unterwegs.«
»Was ist passiert?«
»Mein Vater ist letzte Woche gestorben.«
»Tut mir leid.«
»Schon okay. Er war ein Arschloch.«
Bastian steht auf und reicht Peter die Hand. »Hey, danke fürs Nachhausebringen.«
»Keine Ursache. Ich habe versprochen, dich heil wieder abzuliefern.«
»Hab ich mir fast gedacht«, sagt Bastian. Dann verabschiedet er sich von Peter und kehrt taumelnd ins Hotel zurück. Er schleicht sich ins Zimmer, ohne Nina zu wecken, und verbringt den Großteil der verbleibenden Nacht kotzend und schwitzend neben dem Klo.
*
Ihr Zug hat mehr als eine Stunde Verspätung. Obwohl es erst Viertel vor neun ist, sind bereits sämtliche Sitze in Schlafkabinen umgeklappt. Bastian und Nina quetschen sich durch den schmalen Gang an den Batterien zweistöckiger Nischen vorbei und bemühen sich, keinen der Vorhänge mit ihren Rucksäcken zu streifen. Nassgeschwitzt vom langen Warten am Bahnsteig beginnt Bastian in der kühlen Klimaanlagenluft sofort zu frieren. Bis auf vereinzeltes Schnarchen herrscht im Waggon beklemmende Stille. Um leise zu sein, müssen sich Nina und er allerdings nicht anstrengen. Schon den ganzen Tag haben sie ihre Konversation aufs Nötigste beschränkt. Sie mussten ihr Hotelzimmer bereits um zwölf verlassen, blieben dank Bastians Kater jedoch ausschließlich im Bahnhofsgebäude, wo sie sich die Wartezeit mit Musikhören und gelegentlichen, gesprächsarmen Mahlzeiten vertrieben. Nina wollte sich Bangkok nicht alleine ansehen und schlug Bastians Angebot, auf ihr Gepäck aufzupassen, kommentarlos aus. Auch seinen Versuch, sich bei ihr zu entschuldigen, erstickte sie schnell im Keim. Als er einräumte, sich wie ein selbstsüchtiges Arschloch benommen zu haben, erwiderte sie schlicht: »Stimmt.«
Sie erreichen ihre Plätze am Ende des Abteils und wünschen einander ähnlich wortkarg eine gute Nacht. Dann ziehen sie die Vorhänge ihrer gegenüberliegenden Nischen zu. Bastian fühlt sich sofort eingeengt. Zur Ablenkung stützt er sich auf die Ellenbogen und schaut aus dem Fenster, als der Zug eine ums Gleis gewachsene Siedlung zerschneidet. Er fährt nur wenige Meter an Wohnräumen und Terrassen vorbei, wirbelt Wäsche an Leinen und Dampf über Gaskochern auf, wird dann aber plötzlich so langsam, dass mehrere Frauen, die bereits an den Schienen gewartet haben, aufspringen können. Sie haben Körbe mit Snacks und Getränken dabei, laufen einmal durchs Abteil und begrüßen die noch wachen, aus ihren Nischen hervorguckenden Kunden mit einem leisen »Sawadee-Khaa«, ehe sie an der nächsten regulären Haltestelle wieder aussteigen. Bastian beobachtet, wie eine von ihnen einem Mönch eine Dose Cola schenkt.
Kaum setzt sich der Zug wieder in Bewegung, nimmt er spürbar Fahrt auf. Von Bangkok bleibt nur ein diffuser Lichtfleck, der im verkratzten Fenster kristallin ausfranst und bald verblasst. Dann gibt es draußen nichts mehr zu sehen. Bastian will seine Beine ausstrecken, kann allerdings nur mit angezogenen Knien auf dem Rücken liegen. Mindestens genauso unbequem ist das Kissen, das er aus der Hygienefolie reißt. Der Schaumstoff wurde von unzähligen Schleudergängen in zwei Hälften gerissen, lose gekoppelt wie Planet und Trabant. Auch Bastian fühlt sich wie in einer Waschtrommel: Der Zug wirft seinen Kopf erst nach links, dann nach rechts, täuscht kurz links an und wirft ihn dann doch wieder nach rechts. Nach mehreren Versuchen, eine angenehme Position zu finden, gräbt Bastian seinen Kopf wie in einer Nackenrolle zwischen die Pole des Kissens und hofft, dass sein Gehirn während der elf Stunden Fahrt nicht genauso entzweigerissen wird. Beim Versuch, zu schlafen, spürt er eine Unruhe, als setzten sich die holprigen Gleise bis in seine Nervenbahnen fort. Er will sich entspannen, denkt an morgen und ans Meer, lässt seinen Blick am Ufer in die Ferne schweifen. Doch schon bei der nächsten Erschütterung faltet sich der Horizont wieder zur engen Kabine zusammen, und Bastian fühlt sich eingesperrt, möchte aufstehen, herumlaufen, aussteigen. Unbequeme Gedanken zwingen sich auf: Dass er Nina liebt, sich in ihrer Nähe aber selbst nicht mehr erträgt. Dass seine Mutter enttäuscht von ihm wäre, weil er näher an der Exmatrikulation als am Abschluss ist. Und dass er nach dem Tod seines Vaters als Letzter seiner Familie noch lebt.
Bastian fühlt sich elend. Sein Schwindel ist kaum besser geworden. Wenn er den Kopf zu schnell bewegt, federt sein Blick nach und justiert sich erst Sekunden später.
Nach all den Jahren kehrt plötzlich die Angst zurück: Alte Reflexe melden sich zum Dienst und attestieren seinen schweren Beinen Thrombosen, diagnostizieren seinen Schwindel als Hirntumor oder Schlaganfall.
Plötzlich trifft ihn etwas am Kopf. Bastian schreckt hoch und findet in seinem Schoß ein zusammengeknülltes Blatt Papier:
Kannstdu auch nicht schlafen? Ich glaube, hier ist eine Kakerlake drin! Sie war nur ganz klein, aber sie hat esbestimmtauf mich abgesehen!Du fehlstmir hier (und zwar nicht nur als Kammerjäger)!
PS: Es tut mir leid, wenn ichgesternüberreagiert habe. Ich mache mir einfach Sorgen um dich!
Bastian holt einen Stift aus seiner Tasche und antwortet ihr.
Mach dir keine Sorgen – die Kakerlake wird dir nichts tun! Ich habe ihre Fahrkarte gesehen, siesteigtschon in Ratchaburi aus. Aber pass auf, dass sie nichts klaut!
Gute Nacht, Liebes!
Er knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn über Ninas Vorhang. Dann holt er seinen iPod heraus und legt sich auf die Seite, klammert seinen Kopf zwischen die Ohrstöpsel ein und den Zuglärm aus.
Erst Stunden später dämmert er auf Höhe von Hua Hin endlich weg, wacht jedoch ständig wieder auf. Die Sprünge auf seiner Playlist sind selten länger als zwei Lieder. Um vier Uhr morgens knallt sein Kopf nach einer scharfen Kurve gegen die Wand, und Bastian ist wieder hellwach.
Nach einem Eintrag in sein Reisetagebuch schlägt er den Lonely Planet auf und fährt mit seinem Finger die Bahnstrecke ab, die die Landkarte wie an einer perforierten Linie entlang des Golfs von Thailand zerschneidet.
Es ist noch dunkel draußen, aber wenn sie in zweieinhalb Stunden in Surat Thani ankommen, wird die Sonne bereits aufgegangen sein.
16. August 1988
Wunder Dich nicht, ich hatte gerade keinen Zettel zur Hand. Hermanns haben angerufen. Es geht um Din Dienstag – ruf doch bitte zurück.
Kuß, Gert
3. September 1988
Schatz, es ist noch Lasagne im Kühlschrank – einfach in der Mikrowelle heiß machen (4 Min, 700 W). Vergiß nicht, Bastian um 6 vom Tennis abzuholen! Ich denke, es wird nicht so spät bei mir.
Ich liebe Dich!
Anke
9. September 1988
Du fehlst mir jetzt schon! Hab’ einen guten Flug und ruf bitte an, wenn Du im Hotel bist – ich werde noch wach sein!
Anke
Wenn Bastian nicht besonnen handelt, sind sie geliefert. Die Eingeborenen Siams sind dafür bekannt, nicht gerade zimperlich zu sein: Es ist von aufgespießten Köpfen und abgeschnittenen Zungen die Rede, von Menschenfresserei und Opferritualen. Sie machen keine Gefangenen, und wenn doch, dann als Curry. Bastian hatte es sich leichter vorgestellt, seinen verschollenen Vater aus dem Dschungel zu retten. Tagelanges Spurenlesen hatte ihn zwar auf dessen Fährte gebracht, dabei aber mitten ins Revier der Eingeborenen geführt. Als wären die Raubtiere und Giftschlangen – ausgerechnet Schlangen! – nicht genug gewesen, musste er plötzlich auch mit raffinierten Fallen und Guerillaangriffen rechnen. Am Morgen hatte er dann endlich ein Lebenszeichen entdeckt: eine Armbanduhr, unversehrt auf Moos gebettet und gleich neben einem Gewimmel frischer, unbesohlter Fußspuren. Als Bastian ihnen folgte, stieß er nicht nur auf ein tief im Urwald verborgenes Dorf, sondern auch auf seinen gefesselten Vater und eine ganze Heerschar Eingeborener, die sich den Fang des Tages offenbar nicht nehmen lassen wollen. Nun diskutieren sie aufgeregt und deuten mit ihren Speeren abwechselnd auf Bastian und seinen Vater. Die Situation droht jede Sekunde zu eskalieren. Seine Hand zwischen Colt und Peitsche – je nachdem, was er im Notfall braucht! –, zieht Bastian die Hutkrempe ins Gesicht. Aus seinen Augen sollen sie nicht schlau werden! Sein Vater ist da deutlich weniger abenteuererprobt. Er versucht zwar, ruhig zu bleiben, doch sobald Bastian seinen Blick einfängt, verzerrt sich sein Gesicht sofort zur angsterfüllten Maske. Bastian sieht sich unauffällig nach Fluchtmöglichkeiten um. Weil die Eingeborenen in der Überzahl sind, würde er es nur ungern auf einen Kampf ankommen lassen. Mit der Peitsche könnte er vielleicht eine verholzte Liane erwischen. Dann ein beherzter Sprung ins Dickicht, und Bastian wäre in seinem Element – im Dschungel kann einem erfahrenen Archäologen niemand das Wasser reichen!
Jetzt kommt auch der Anführer aus seiner Hütte. Bastian fallen gleich seine Zähne auf, so riesig, dass die Lippen sie kaum umschließen können. Sein Gesicht ist ein überfahrenes Tier, sein Mund eine klaffende Wunde. Dennoch scheint er die Situation entschärfen zu wollen. Er fasst dem Wortführer der Jäger an die Schulter und redet auf ihn ein, angesichts ihrer hektischen Stammessprache vergeblich um eine ruhige Stimme bemüht. Er wirft Bastian ein Lächeln zu, aber ihm gelingt bloß eine bizarre Grimasse aus Zahnfleisch und Schmelz. Bastian traut ihm nicht. Man hatte ihn vor den Tricks der Eingeborenen gewarnt: In der einen Sekunde wiegen sie ihre Feinde in Sicherheit, in der nächsten verfüttern sie sie an Alligatoren. Offenbar ist die Mehrheit der Eingeborenen mit seiner Intervention nicht einverstanden. Die Hände an ihre nackten Hüften gestemmt, bilden sie einen Halbkreis um den Häuptling und demonstrieren Stärke. Ihre Worte werden lauter und schärfer, jedes ein Messerhieb in Bastians flauen Magen. Ihm wird klar, dass er handeln muss, ehe die Lage außer Kontrolle gerät. Er gibt seinem Vater mit einem Zeichen zu verstehen, die gefesselten Hände über seinen Kopf zu heben. Dann geht alles ganz schnell: Mit einem gezielten Schuss aus dem Revolver zerfetzt Bastian das Seil zwischen seinen Handgelenken, und sie stürmen gemeinsam in den Dschungel. Die Eingeborenen nehmen augenblicklich die Verfolgung auf. Schneller als sie sind nur ihre Speere, die Bastian und seinem Vater um die Ohren fliegen. In letzter Sekunde schaffen sie es, sich mit der Peitsche über einen Kanal zu schwingen und ans andere Ufer zu retten. Bastians Landung ist jedoch alles andere als sanft. Er streift mit seiner Schulter eine Palme und stürzt mit dem Knie voran zu Boden. Der Schmerz schießt ihm sofort ins Gelenk, stellt sich allerdings schnell als unbedeutend im Vergleich zum umgestoßenen Blumenkübel auf dem Wohnzimmerteppich heraus.
Fluchend warf Bastian Spielzeugpistole und Gürtel beiseite. Seine Mutter würde ausrasten, wenn sie die Erde auf dem Teppich sah. Er richtete die Pflanze mit Mühe wieder auf und schlich sich in die Abstellkammer, um den Staubsauger zu holen. In der Küche dröhnte noch immer der Dunstabzug; Bastian konnte nur hoffen, dass er die Schallwellen aus dem Wohnzimmer mit aufsaugen und ins Freie schleudern würde, weit genug weg, um nicht den Weg in die Ohren seiner Mutter zu finden. Wenn er keinen Ärger wollte, musste er sich beeilen. Sein Vater konnte jeden Augenblick nach Hause kommen. Gleich nach dem Saugen stellte Bastian alle Blumen, die er zur Abenteuerkulisse umfunktioniert hatte, an ihren Platz zurück. Keine leichte Aufgabe, so penibel, wie seine Mutter war: Wehe, er wagte es, einen Gegenstand in der Vitrine zu verrücken, sein Glas ohne Untersetzer auf den Tisch zu stellen oder die Schonbezüge vom Sofa zu ziehen! Unordentlich durfte es bei ihr bloß an einem Ort zugehen: der Küche. Bastian hatte sie einmal sagen gehört, für sie sei Kochen nach einem stressigen Tag die perfekte Zerstreuung. Er konnte sich vorstellen, was sie damit gemeint hatte. Wenn seine Mutter kochte, dauerte es keine zehn Minuten, bis sie den Inhalt aller Schubladen und Schränke scheinbar willkürlich in der Küche verstreut hatte. Sie nannte das kreatives Chaos, und das war ein Plädoyer, auf das er sich ebenfalls berufen würde, sollte sie seinem Unfall im Wohnzimmer auf die Schliche kommen. Als Bastian nach dem Aufräumen zu ihr in die Küche ging, war es darin so laut, dass sie ihn gar nicht bemerkte. Fast alle Geräte liefen gleichzeitig; kein Wunder also, dass die Dunstabzugshaube angesichts der beschlagenen Fenster erkennbar an ihre Grenzen stieß. Zur Feier des Tages gab sich seine Mutter diesmal besonders Mühe. Dass sein Vater von seiner Geschäftsreise aus Thailand zurückkam, versetzte auch Bastian schon seit Tagen in Aufregung. Als Familie waren sie bislang höchstens nach Spanien oder Italien, meistens aber bloß nach Norderney gereist. Thailand dagegen war ein exklusives Reiseziel für Erwachsene, das Bastian genauso ausschloss wie Kinofilme ab zwölf oder die Achterbahnfahrt ab einem Meter vierzig. Umso neugieriger war er auf das, was sein Vater über das Land zu erzählen hatte – immerhin war dort bereits ein James Bond-Film gedreht worden! Dass sich der Geheimagent nie auf Norderney blicken ließ, hatte vermutlich seinen Grund.
Zwar wurde Bastian erst in wenigen Wochen neun, hatte dank seines Vaters aber fast alle Blockbuster der letzten Jahre auf Video gesehen. Seine Mutter brachte nur wenig Verständnis für ihre gemeinsame Leidenschaft auf. Als Lehrerin für Deutsch und Englisch versuchte sie, ihn stattdessen für Literatur zu begeistern und legte ihm ständig neue Bücher ans Herz: Klassiker von Robert Louis Stevenson oder Charles Dickens, die er zwar pflichtbewusst las und manchmal sogar unterhaltsam fand, allerdings jederzeit gegen das nächstbeste Actionvideo getauscht hätte.
Für die Kochkunst seiner Mutter interessierte er sich dagegen schon eher. Bastian war immer wieder aufs Neue beeindruckt, wie gelassen sie in ihrem Chaos arbeiten konnte. Auch jetzt schien sie wieder mindestens dreizehn Dinge auf einmal zu machen. Sie briet zeitgleich Filetsteaks und Gemüse an, schnitt in einem Moment einen Brotlaib in Scheiben und raspelte im nächsten eine Möhre klein. Kaum hatte sie das Fleisch in Alufolie gewickelt und in den Ofen gelegt, stand sie schon wieder am Herd und bereitete die Sauce zu. Sie bewegte sich schnell, aber niemals hektisch, hatte die Küche im Griff wie ein Dirigent sein Orchester. Als mit einem zischenden Crescendo die Kartoffeln überkochten, ließ sie sich jedoch unerwartet aus der Ruhe bringen. Sie gab hastig kaltes Wasser hinzu und verbrannte sich am überschwappenden Kochwasser. Dann eilte sie zum Waschbecken, drehte den Hahn allerdings so stark auf, dass das Wasser von ihrer Hand bis in den Brotkorb spritzte. Bastian rechnete mit einem lautstarken Fluch, stattdessen blieb seine Mutter aber regungslos vor dem Waschbecken stehen und schwieg. Sie ließ den Strahl endlos weiterlaufen, ohne sich die Hand zu kühlen, und zeigte auch, als der Topf erneut überkochte, keine Reaktion. Das Wasser auf der Herdplatte brutzelte und schlug Blasen, doch sie machte ganz einfach nichts.
»Ich kann dir helfen, wenn du willst!«, rief Bastian.