Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe - E-Book

Dichtung und Wahrheit E-Book

Johann Wolfgang von Goethe

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Beschreibung

"Dichtung und Wahrheit" ist eine Autobiographie von Johann Wolfgang von Goethe, die die Zeit der Kindheit und Jugend des Dichters bis kurz vor seiner Abreise nach Weimar als junger Erwachsener im Jahre 1775 beschreibt. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, von denen die ersten drei zwischen 1811 und 1814 geschrieben und veröffentlicht wurden, während der vierte Teil hauptsächlich in den Jahren 1830 und 1831 geschrieben und 1833 veröffentlicht wurde. Das Werk umfasst die ersten 26 Lebensjahre des Autors. Goethe war der Meinung, dass "die wichtigste Periode eines Individuums die seiner Entwicklung ist". Erste Entwürfe zu "Dichtung und Wahrheit" diktierte Goethe, nachdem er seine Farbenlehre beendet hatte, im Sommer 1810 in Karlsbad. An der Autobiographie arbeitete er zunächst parallel zu seiner Arbeit an "Wilhelm Meisters Lehrjahre"; ab Januar 1811 wurde das Verfassen der Autobiographie zu seiner Haupttätigkeit. Goethe schrieb "Dichtung und Wahrheit" aus den Blickwinkeln des Wissenschaftlers, des Historikers und des Künstlers. Als Wissenschaftler wollte er sein Leben als sich stufenweise entwickelnd darstellen, "nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt." Als Historiker schilderte er die allgemeinen Verhältnisse der Zeit. Als Künstler fühlte er sich nicht an Fakten um ihrer selbst willen gebunden, sondern wählte diejenigen aus, die von Bedeutung waren, und formte sie so, dass sie Teil eines Kunstwerks werden konnten. Das Wort "Dichtung" ist bewusst doppeldeutig gewählt und weist darauf hin, dass der Autor systematisch jene Ereignisse ausgewählt hat, deren Erwähnung er für wünschenswert hielt. Null Papier Verlag

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Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit

Alle vier Teile

Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit

Alle vier Teile

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021 EV: Tempel-Verlag, Leipzig 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-86-9

null-papier.de/723

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

Ers­tes Buch

Zwei­tes Buch

Drit­tes Buch

Vier­tes Buch

Fünf­tes Buch

Zwei­ter Teil.

Sechs­tes Buch

Sie­ben­tes Buch

Ach­tes Buch

Neun­tes Buch

Zehn­tes Buch

Drit­ter Teil

Elf­tes Buch

Zwölf­tes Buch

Drei­zehn­tes Buch

Vier­zehn­tes Buch

Fünf­zehn­tes Buch

Nach­träg­li­ches Vor­wort

Vier­ter Teil

Vor­wort

Sech­zehn­tes Buch

Sieb­zehn­tes Buch

Acht­zehn­tes Buch

Neun­zehn­tes Buch

Zwan­zigs­tes Buch

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Ju­li­an der Ab­trün­ni­ge

Die Fahr­ten Bin­ja­mins des Drit­ten

Dom­bey und Sohn

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Eine Ge­schich­te von zwei Städ­ten

Der Irr­geist des Schlos­ses

Der Stern des Glücks

Der ver­lo­re­ne Sohn

Die Bä­ren von Ho­hen-Esp

Die Erl­kö­ni­gin

Früh­lings­stür­me

Die Schat­zin­sel

Gän­se­lie­sel

Ha­zard

Hofluft

Jung ge­freit

Katz’ und Maus

Der Lot­se oder: Aben­teu­er an Eng­lands Küs­te

und wei­te­re …

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Erster Teil

Ὁμὴδαρεὶςἄνθρωποςοὐπαιδεύεται

Als Vor­wort zu der ge­gen­wär­ti­gen Ar­beit, wel­che des­sel­ben viel­leicht mehr als eine an­de­re be­dür­fen möch­te, ste­he hier der Brief ei­nes Freun­des, durch den ein sol­ches, im­mer be­denk­li­ches Un­ter­neh­men ver­an­lasst wor­den.

Wir ha­ben, teu­rer Freund, nun­mehr die zwölf Tei­le Ih­rer dich­te­ri­schen Wer­ke bei­sam­men und fin­den, in­dem wir sie durch­le­sen, man­ches Be­kann­te, man­ches Un­be­kann­te; ja man­ches Ver­ges­se­ne wird durch die­se Samm­lung wie­der an­ge­frischt. Man kann sich nicht ent­hal­ten, die­se zwölf Bän­de, wel­che in ei­nem For­mat vor uns ste­hen, als ein Gan­zes zu be­trach­ten, und man möch­te sich dar­aus gern ein Bild des Au­tors und sei­nes Tal­ents ent­wer­fen. Nun ist nicht zu leug­nen, dass für die Leb­haf­tig­keit, wo­mit der­sel­be sei­ne schrift­stel­le­ri­sche Lauf­bahn be­gon­nen, für die lan­ge Zeit, die seit­dem ver­flos­sen, ein Dut­zend Bänd­chen zu we­nig schei­nen müs­sen. Eben­so kann man sich bei den ein­zel­nen Ar­bei­ten nicht ver­heh­len, dass meis­tens be­son­de­re Ver­an­las­sun­gen die­sel­ben her­vor­ge­bracht und so­wohl äu­ße­re be­stimm­te Ge­gen­stän­de als in­ne­re ent­schie­de­ne Bil­dungs­stu­fen dar­aus her­vor­schei­nen, nicht min­der auch ge­wis­se tem­po­rä­re mo­ra­li­sche und äs­the­ti­sche Ma­xi­men und Über­zeu­gun­gen dar­in ob­wal­ten. Im gan­zen aber blei­ben die­se Pro­duk­tio­nen im­mer un­zu­sam­men­hän­gend; ja oft soll­te man kaum glau­ben, dass sie von dem­sel­ben Schrift­stel­ler ent­sprun­gen sei­en.

Ihre Freun­de ha­ben in­des­sen die Nach­for­schung nicht auf­ge­ge­ben und su­chen, als nä­her be­kannt mit Ih­rer Le­bens- und Denk­wei­se, man­ches Rät­sel zu er­ra­ten, man­ches Pro­blem auf­zu­lö­sen; ja sie fin­den, da eine alte Nei­gung und ein ver­jähr­tes Ver­hält­nis ih­nen bei­steht, selbst in den vor­kom­men­den Schwie­rig­kei­ten ei­ni­gen Reiz. Doch wür­de uns hie und da eine Nach­hil­fe nicht un­an­ge­nehm sein, wel­che Sie un­sern freund­schaft­li­chen Ge­sin­nun­gen nicht wohl ver­sa­gen dür­fen.

Das ers­te also, warum wir Sie er­su­chen, ist, dass Sie uns Ihre, bei der neu­en Aus­ga­be nach ge­wis­sen in­nern Be­zie­hun­gen ge­ord­ne­ten Dicht­wer­ke in ei­ner chro­no­lo­gi­schen Fol­ge auf­füh­ren und so­wohl die Le­bens- und Ge­müts­zu­stän­de, die den Stoff dazu her­ge­ge­ben, als auch die Bei­spie­le, wel­che auf Sie ge­wirkt, nicht we­ni­ger die theo­re­ti­schen Grund­sät­ze, de­nen Sie ge­folgt, in ei­nem ge­wis­sen Zu­sam­men­hange ver­trau­en möch­ten. Wid­men Sie die­se Be­mü­hung ei­nem en­gern Krei­se, viel­leicht ent­springt dar­aus et­was, was auch ei­nem grö­ßern an­ge­nehm und nütz­lich wer­den kann. Der Schrift­stel­ler soll bis in sein höchs­tes Al­ter den Vor­teil nicht auf­ge­ben, sich mit de­nen, die eine Nei­gung zu ihm ge­fasst, auch in die Fer­ne zu un­ter­hal­ten; und wenn es nicht ei­nem je­den ver­lie­hen sein möch­te, in ge­wis­sen Jah­ren mit un­er­war­te­ten, mäch­tig wirk­sa­men Er­zeug­nis­sen von Neu­em auf­zu­tre­ten, so soll­te doch ge­ra­de zu der Zeit, wo die Er­kennt­nis voll­stän­di­ger, das Be­wusst­sein deut­li­cher wird, das Ge­schäft sehr un­ter­hal­tend und neu­be­le­bend sein, je­nes Her­vor­ge­brach­te wie­der als Stoff zu be­han­deln und zu ei­nem Letz­ten zu be­ar­bei­ten, wel­ches de­nen aber­mals zur Bil­dung ge­rei­che, die sich frü­her mit und an dem Künst­ler ge­bil­det ha­ben.

Die­ses so freund­lich ge­äu­ßer­te Ver­lan­gen er­weck­te bei mir un­mit­tel­bar die Lust, es zu be­fol­gen. Denn wenn wir in frü­he­rer Zeit lei­den­schaft­lich un­sern ei­ge­nen Weg ge­hen und, um nicht irre zu wer­den, die An­for­de­run­gen an­de­rer un­ge­dul­dig ab­leh­nen, so ist es uns in spä­tern Ta­gen höchst er­wünscht, wenn ir­gend eine Teil­nah­me uns auf­re­gen und zu ei­ner neu­en Tä­tig­keit lie­be­voll be­stim­men mag. Ich un­ter­zog mich da­her so­gleich der vor­läu­fi­gen Ar­beit, die grö­ße­ren und klei­ne­ren Dicht­wer­ke mei­ner zwölf Bän­de aus­zu­zeich­nen und den Jah­ren nach zu ord­nen. Ich such­te mir Zeit und Um­stän­de zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, un­ter wel­chen ich sie her­vor­ge­bracht. Al­lein das Ge­schäft ward bald be­schwer­li­cher, weil aus­führ­li­che An­zei­gen und Er­klä­run­gen nö­tig wur­den, um die Lücken zwi­schen dem be­reits Be­kannt­ge­mach­ten aus­zu­fül­len. Denn zu­vör­derst fehlt al­les, wor­an ich mich zu­erst ge­übt, es fehlt man­ches An­ge­fan­ge­ne und nicht Vol­len­de­te; ja so­gar ist die äu­ße­re Ge­stalt man­ches Vol­len­de­ten völ­lig ver­schwun­den, in­dem es in der Fol­ge gänz­lich um­ge­ar­bei­tet und in eine an­de­re Form ge­gos­sen wor­den. Au­ßer die­sem blieb mir auch noch zu ge­den­ken, wie ich mich in Wis­sen­schaf­ten und an­de­ren Küns­ten be­müht, und was ich in sol­chen fremd schei­nen­den Fä­chern, so­wohl ein­zeln als in Ver­bin­dung mit Freun­den, teils im Stil­len ge­übt, teils öf­fent­lich be­kannt ge­macht.

Al­les die­ses wünsch­te ich nach und nach zu Be­frie­di­gung mei­ner Wohl­wol­len­den ein­zu­schal­ten; al­lein die­se Be­mü­hun­gen und Be­trach­tun­gen führ­ten mich im­mer wei­ter. Denn in­dem ich je­ner sehr wohl­über­dach­ten For­de­rung zu ent­spre­chen wünsch­te und mich be­müh­te, die in­nern Re­gun­gen, die äu­ßern Ein­flüs­se, die theo­re­tisch und prak­tisch von mir be­tre­te­nen Stu­fen der Rei­he nach dar­zu­stel­len, so ward ich aus mei­nem en­gen Pri­vat­le­ben in die wei­te Welt ge­rückt: die Ge­stal­ten von hun­dert be­deu­ten­den Men­schen, wel­che nä­her oder ent­fern­ter auf mich ein­ge­wirkt, tra­ten her­vor, ja die un­ge­heu­ren Be­we­gun­gen des all­ge­mei­nen po­li­ti­schen Welt­laufs, die auf mich wie auf die gan­ze Mas­se der Gleich­zei­ti­gen den größ­ten Ein­fluss ge­habt, muss­ten vor­züg­lich be­ach­tet wer­den. Denn die­ses scheint die Haupt­auf­ga­be der Bio­gra­fie zu sein, den Men­schen in sei­nen Zeit­ver­hält­nis­sen dar­zu­stel­len und zu zei­gen, in­wie­fern ihm das Gan­ze wi­der­strebt, in­wie­fern es ihn be­güns­tigt, wie er sich eine Welt- und Men­schen­an­sicht dar­aus ge­bil­det und wie er sie, wenn er Künst­ler, Dich­ter, Schrift­stel­ler ist, wie­der nach au­ßen ab­ge­spie­gelt. Hier­zu wird aber ein kaum Er­reich­ba­res ge­for­dert, dass näm­lich das In­di­vi­du­um sich und sein Jahr­hun­dert ken­ne, sich, in­wie­fern es un­ter al­len Um­stän­den das­sel­be ge­blie­ben, das Jahr­hun­dert, als wel­ches so­wohl den Wil­li­gen als Un­wil­li­gen mit sich fort­reißt, be­stimmt und bil­det, der­ge­stalt dass man wohl sa­gen kann, ein je­der, nur zehn Jah­re frü­her oder spä­ter ge­bo­ren, dürf­te, was sei­ne ei­ge­ne Bil­dung und die Wir­kung nach au­ßen be­trifft, ein ganz an­de­rer ge­wor­den sein.

Auf die­sem Wege, aus der­glei­chen Be­trach­tun­gen und Ver­su­chen, aus sol­chen Erin­ne­run­gen und Über­le­gun­gen ent­sprang die ge­gen­wär­ti­ge Schil­de­rung, und aus die­sem Ge­sichts­punkt ih­res Ent­ste­hens wird sie am bes­ten ge­nos­sen, ge­nutzt und am bil­ligs­ten be­ur­teilt wer­den kön­nen. Was aber sonst noch, be­son­ders über die halb poe­ti­sche, halb his­to­ri­sche Be­hand­lung etwa zu sa­gen sein möch­te, dazu fin­det sich wohl im Lau­fe der Er­zäh­lung mehr­mals Ge­le­gen­heit.

Erstes Buch

Am 28s­ten Au­gust 1749, Mit­tags mit dem Glo­cken­schla­ge zwölf, kam ich in Frank­furt am Main auf die Welt. Die Kon­stel­la­ti­on war glück­lich: die Son­ne stand im Zei­chen der Jung­frau und kul­mi­nier­te für den Tag; Ju­pi­ter und Ve­nus blick­ten sie freund­lich an, Mer­kur nicht wi­der­wär­tig, Sa­turn und Mars ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig; nur der Mond, der so­eben voll ward, übte die Kraft sei­nes Ge­gen­scheins umso mehr, als zu­gleich sei­ne Pla­ne­ten­stun­de ein­ge­tre­ten war. Er wi­der­setz­te sich da­her mei­ner Ge­burt, die nicht eher er­fol­gen konn­te, als bis die­se Stun­de vor­über­ge­gan­gen.

Die­se gu­ten Aspek­ten, wel­che mir die Astro­lo­gen in der Fol­ge­zeit sehr hoch an­zu­rech­nen wuss­ten, mö­gen wohl Ur­sa­che an mei­ner Er­hal­tung ge­we­sen sein: denn durch Un­ge­schick­lich­keit der Heb­am­me kam ich für tot auf die Welt, und nur durch viel­fa­che Be­mü­hun­gen brach­te man es da­hin, dass ich das Licht er­blick­te. Die­ser Um­stand, wel­cher die Mei­ni­gen in große Not ver­setzt hat­te, ge­reich­te je­doch mei­nen Mit­bür­gern zum Vor­teil, in­dem mein Groß­va­ter, der Schult­heiß Jo­hann Wolf­gang Tex­tor, da­her An­lass nahm, dass ein Ge­burts­hel­fer an­ge­stellt und der Heb­am­men-Un­ter­richt ein­ge­führt oder er­neu­ert wur­de; wel­ches denn man­chem der Nach­ge­bor­nen mag zu gute ge­kom­men sein.

Wenn man sich er­in­nern will, was uns in der frühs­ten Zeit der Ju­gend be­geg­net ist, so kommt man oft in den Fall, das­je­ni­ge, was wir von an­de­ren ge­hört, mit dem zu ver­wech­seln, was wir wirk­lich aus eig­ner an­schau­en­der Er­fah­rung be­sit­zen. Ohne also hier­über eine ge­naue Un­ter­su­chung an­zu­stel­len, wel­che oh­ne­hin zu nichts füh­ren kann, bin ich mir be­wusst, dass wir in ei­nem al­ten Hau­se wohn­ten, wel­ches ei­gent­lich aus zwei durch­ge­bro­che­nen Häu­sern be­stand. Eine tur­mar­ti­ge Trep­pe führ­te zu un­zu­sam­men­han­gen­den Zim­mern, und die Un­gleich­heit der Stock­wer­ke war durch Stu­fen aus­ge­gli­chen. Für uns Kin­der, eine jün­ge­re Schwes­ter und mich, war die un­te­re weit­läuf­ti­ge Haus­flur der liebs­te Raum, wel­che ne­ben der Türe ein großes höl­zer­nes Git­ter­werk hat­te, wo­durch man un­mit­tel­bar mit der Stra­ße und der frei­en Luft in Ver­bin­dung kam. Ei­nen sol­chen Vo­gel­bau­er, mit dem vie­le Häu­ser ver­se­hen wa­ren, nann­te man ein Geräms. Die Frau­en sa­ßen dar­in, um zu nä­hen und zu stri­cken; die Kö­chin las ih­ren Salat; die Nach­ba­rin­nen be­spra­chen sich von da­her mit­ein­an­der, und die Stra­ßen ge­wan­nen da­durch in der gu­ten Jahrs­zeit ein süd­li­ches An­se­hen. Man fühl­te sich frei, in­dem man mit dem Öf­fent­li­chen ver­traut war. So ka­men auch durch die­se Gerämse die Kin­der mit den Nach­barn in Ver­bin­dung, und mich ge­wan­nen drei ge­gen­über woh­nen­de Brü­der von Och­sen­stein, hin­ter­las­se­ne Söh­ne des ver­stor­be­nen Schult­hei­ßen, gar lieb und be­schäf­tig­ten und neck­ten sich mit mir auf man­cher­lei Wei­se.

Die Mei­ni­gen er­zähl­ten gern al­ler­lei Eu­len­spie­ge­lei­en, zu de­nen mich jene sonst erns­ten und ein­sa­men Män­ner an­ge­reizt. Ich füh­re nur einen von die­sen Strei­chen an. Es war eben Topf­markt ge­we­sen, und man hat­te nicht al­lein die Kü­che für die nächs­te Zeit mit sol­chen Wa­ren ver­sorgt, son­dern auch uns Kin­dern der­glei­chen Ge­schirr im klei­nen zu spie­len­der Be­schäf­ti­gung ein­ge­kauft. An ei­nem schö­nen Nach­mit­tag, da al­les ru­hig im Hau­se war, trieb ich im Geräms mit mei­nen Schüs­seln und Töp­fen mein We­sen, und da wei­ter nichts da­bei her­aus­kom­men woll­te, warf ich ein Ge­schirr auf die Stra­ße und freu­te mich, dass es so lus­tig zer­brach. Die von Och­sen­stein, wel­che sa­hen, wie ich mich dar­an er­getz­te, dass ich so gar fröh­lich in die Händ­chen patsch­te, rie­fen: »Noch mehr!« Ich säum­te nicht, so­gleich einen Topf und, auf im­mer fort­wäh­ren­des Ru­fen: »Noch mehr!« nach und nach sämt­li­che Schüs­sel­chen, Tie­gel­chen, Känn­chen ge­gen das Pflas­ter zu schleu­dern. Mei­ne Nach­barn fuh­ren fort, ih­ren Bei­fall zu be­zei­gen, und ich war höch­lich froh, ih­nen Ver­gnü­gen zu ma­chen. Mein Vor­rat aber war auf­ge­zehrt, und sie rie­fen im­mer: »Noch mehr!« Ich eil­te da­her stracks in die Kü­che und hol­te die ir­de­nen Tel­ler, wel­che nun frei­lich im Zer­bre­chen noch ein lus­ti­ge­res Schau­spiel ga­ben; und so lief ich hin und wi­der, brach­te einen Tel­ler nach dem an­de­ren, wie ich sie auf dem Topf­brett der Rei­he nach er­rei­chen konn­te, in glei­ches Ver­der­ben. Nur spä­ter er­schi­en je­mand, zu hin­dern und zu weh­ren. Das Un­glück war ge­sche­hen, und man hat­te für so viel zer­broch­ne Töp­fer­wa­re we­nigs­tens eine lus­ti­ge Ge­schich­te, an der sich be­son­ders die schal­ki­schen Ur­he­ber bis an ihr Le­bens­en­de er­getz­ten.

Mei­nes Va­ters Mut­ter, bei der wir ei­gent­lich im Hau­se wohn­ten, leb­te in ei­nem großen Zim­mer hin­ten hin­aus, un­mit­tel­bar an der Haus­flur, und wir pfleg­ten un­se­re Spie­le bis an ih­ren Ses­sel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin aus­zu­deh­nen. Ich er­in­ne­re mich ih­rer gleich­sam als ei­nes Geis­tes, als ei­ner schö­nen, ha­gern, im­mer weiß und rein­lich ge­klei­de­ten Frau. Sanft, freund­lich, wohl­wol­lend ist sie mir im Ge­dächt­nis ge­blie­ben.

Wir hat­ten die Stra­ße, in wel­cher un­ser Haus lag, den Hirsch­gra­ben nen­nen hö­ren; da wir aber we­der Gra­ben noch Hir­sche sa­hen, so woll­ten wir die­sen Aus­druck er­klärt wis­sen. Man er­zähl­te so­dann, un­ser Haus ste­he auf ei­nem Raum, der sonst au­ßer­halb der Stadt ge­le­gen, und da, wo jetzt die Stra­ße sich be­fin­de, sei eh­mals ein Gra­ben ge­we­sen, in wel­chem eine An­zahl Hir­sche un­ter­hal­ten wor­den. Man habe die­se Tie­re hier be­wahrt und ge­nährt, weil nach ei­nem al­ten Her­kom­men der Se­nat alle Jah­re einen Hirsch öf­fent­lich ver­spei­set, den man denn für einen sol­chen Fest­tag hier im Gra­ben im­mer zur Hand ge­habt, wenn auch aus­wärts Fürs­ten und Rit­ter der Stadt ihre Jagd­be­fug­nis ver­küm­mer­ten und stör­ten, oder wohl gar Fein­de die Stadt ein­ge­schlos­sen oder be­la­gert hiel­ten. Dies ge­fiel uns sehr, und wir wünsch­ten, eine sol­che zah­me Wild­bahn wäre auch noch bei un­sern Zei­ten zu se­hen ge­we­sen.

Die Hin­ter­sei­te des Hau­ses hat­te, be­son­ders aus dem obe­ren Stock, eine sehr an­ge­neh­me Aus­sicht über eine bei­nah un­ab­seh­ba­re Flä­che von Nach­bars­gär­ten, die sich bis an die Stadt­mau­ern ver­brei­te­ten. Lei­der aber war, bei Ver­wand­lung der sonst hier be­find­li­chen Ge­mein­de­plät­ze in Haus­gär­ten, un­ser Haus und noch ei­ni­ge an­de­re, die ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu la­gen, sehr ver­kürzt wor­den, in­dem die Häu­ser vom Ross­markt her weit­läu­fi­ge Hin­ter­ge­bäu­de und große Gär­ten sich zu­eig­ne­ten, wir aber uns durch eine ziem­lich hohe Mau­er uns­res Ho­fes von die­sen so nah ge­le­ge­nen Pa­ra­die­sen aus­ge­schlos­sen sa­hen.

Im zwei­ten Stock be­fand sich ein Zim­mer, wel­ches man das Gar­ten­zim­mer nann­te, weil man sich da­selbst durch we­ni­ge Ge­wäch­se vor dem Fens­ter den Man­gel ei­nes Gar­tens zu er­set­zen ge­sucht hat­te. Dort war, wie ich her­an­wuchs, mein liebs­ter, zwar nicht trau­ri­ger, aber doch sehn­süch­ti­ger Auf­ent­halt. Über jene Gär­ten hin­aus, über Stadt­mau­ern und Wäl­le sah man in eine schö­ne frucht­ba­re Ebe­ne: es ist die, wel­che sich nach Höchst hin­zieht. Dort lern­te ich Som­mers­zeit ge­wöhn­lich mei­ne Lek­tio­nen, war­te­te die Ge­wit­ter ab und konn­te mich an der un­ter­ge­hen­den Son­ne, ge­gen wel­che die Fens­ter ge­ra­de ge­rich­tet wa­ren, nicht satt ge­nug se­hen. Da ich aber zu glei­cher Zeit die Nach­barn in ih­ren Gär­ten wan­deln und ihre Blu­men be­sor­gen, die Kin­der spie­len, die Ge­sell­schaf­ten sich er­ge­hen sah, die Ke­gel­ku­geln rol­len und die Ke­gel fal­len hör­te, so er­reg­te dies früh­zei­tig in mir ein Ge­fühl der Ein­sam­keit und ei­ner dar­aus ent­sprin­gen­den Sehn­sucht, das, dem von der Na­tur in mich ge­leg­ten Erns­ten und Ahn­dungs­vol­len ent­spre­chend, sei­nen Ein­fluss gar bald und in der Fol­ge noch deut­li­cher zeig­te.

Die alte, win­kel­haf­te, an vie­len Stel­len düs­te­re Be­schaf­fen­heit des Hau­ses war üb­ri­gens ge­eig­net, Schau­er und Furcht in kind­li­chen Ge­mü­tern zu er­we­cken. Un­glück­li­cher­wei­se hat­te man noch die Er­zie­hungs­ma­xi­me, den Kin­dern früh­zei­tig alle Furcht vor dem Ahn­dungs­vol­len und Un­sicht­ba­ren zu be­neh­men und sie an das Schau­der­haf­te zu ge­wöh­nen. Wir Kin­der soll­ten da­her al­lein schla­fen, und wenn uns die­ses un­mög­lich fiel und wir uns sacht aus den Bet­ten her­vor­mach­ten und die Ge­sell­schaft der Be­dien­ten und Mäg­de such­ten, so stell­te sich, in um­ge­wand­tem Schlaf­rock und also für uns ver­klei­det ge­nug, der Va­ter in den Weg und schreck­te uns in un­se­re Ru­he­stät­te zu­rück. Die dar­aus ent­sprin­gen­de üble Wir­kung denkt sich je­der­mann. Wie soll der­je­ni­ge die Furcht los­wer­den, den man zwi­schen ein dop­pel­tes Furcht­ba­re ein­klemmt? Mei­ne Mut­ter, stets hei­ter und froh und an­de­ren das Glei­che gön­nend, er­fand eine bes­se­re päd­ago­gi­sche Aus­kunft. Sie wuss­te ih­ren Zweck durch Be­loh­nun­gen zu er­rei­chen. Es war die Zeit der Pfir­schen, de­ren reich­li­chen Ge­nuss sie uns je­den Mor­gen ver­sprach, wenn wir nachts die Furcht über­wun­den hät­ten. Es ge­lang, und bei­de Tei­le wa­ren zu­frie­den.

In­ner­halb des Hau­ses zog mei­nen Blick am meis­ten eine Rei­he rö­mi­scher Pro­spek­te auf mich, mit wel­chen der Va­ter einen Vor­saal aus­ge­schmückt hat­te, ge­sto­chen von ei­ni­gen ge­schick­ten Vor­gän­gern des Pi­ra­ne­se, die sich auf Archi­tek­tur und Per­spek­ti­ve wohl ver­stan­den und de­ren Na­del sehr deut­lich und schätz­bar ist. Hier sah ich täg­lich die Pi­az­za del Po­po­lo, das Co­li­seo, den Pe­ters­platz, die Pe­ters­kir­che von au­ßen und in­nen, die En­gels­burg und so man­ches an­de­re. Die­se Ge­stal­ten drück­ten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr la­ko­ni­sche Va­ter hat­te wohl manch­mal die Ge­fäl­lig­keit, eine Be­schrei­bung des Ge­gen­stan­des ver­neh­men zu las­sen. Sei­ne Vor­lie­be für die ita­liä­ni­sche Spra­che und für al­les, was sich auf je­nes Land be­zieht, war sehr aus­ge­spro­chen. Eine klei­ne Mar­mor- und Na­tu­ra­li­en­samm­lung, die er von dort­her mit­ge­bracht, zeig­te er uns auch manch­mal vor, und einen großen Teil sei­ner Zeit ver­wen­de­te er auf sei­ne ita­liä­nisch ver­fass­te Rei­se­be­schrei­bung, de­ren Ab­schrift und Re­dak­ti­on er ei­gen­hän­dig, heft­wei­se, lang­sam und ge­nau aus­fer­tig­te. Ein al­ter hei­te­rer ita­liä­ni­scher Sprach­meis­ter, Gio­vi­naz­zi ge­nannt, war ihm dar­an be­hilf­lich. Auch sang der Alte nicht übel, und mei­ne Mut­ter muss­te sich be­que­men, ihn und sich selbst mit dem Kla­vie­re täg­lich zu ak­kom­pa­gnie­ren; da ich denn das So­li­ta­rio bos­co om­bro­so bald ken­nen lern­te und aus­wen­dig wuss­te, ehe ich es ver­stand.

Mein Va­ter war über­haupt lehr­haf­ter Na­tur, und bei sei­ner Ent­fer­nung von Ge­schäf­ten woll­te er gern das­je­ni­ge, was er wuss­te und ver­moch­te, auf an­de­re über­tra­gen. So hat­te er mei­ne Mut­ter in den ers­ten Jah­ren ih­rer Ver­hei­ra­tung zum flei­ßi­gen Schrei­ben an­ge­hal­ten, wie zum Kla­vier­spie­len und Sin­gen; wo­bei sie sich ge­nö­tigt sah, auch in der ita­liä­ni­schen Spra­che ei­ni­ge Kennt­nis und not­dürf­ti­ge Fer­tig­keit zu er­wer­ben.

Ge­wöhn­lich hiel­ten wir uns in al­len un­sern Frei­stun­den zur Groß­mut­ter, in de­ren ge­räu­mi­gem Wohn­zim­mer wir hin­läng­lich Platz zu un­sern Spie­len fan­den. Sie wuss­te uns mit al­ler­lei Klei­nig­kei­ten zu be­schäf­ti­gen und mit al­ler­lei gu­ten Bis­sen zu er­qui­cken. An ei­nem Weih­nachts­aben­de je­doch setz­te sie al­len ih­ren Wohl­ta­ten die Kro­ne auf, in­dem sie uns ein Pup­pen­spiel vor­stel­len ließ und so in dem al­ten Hau­se eine neue Welt er­schuf. Die­ses un­er­war­te­te Schau­spiel zog die jun­gen Ge­mü­ter mit Ge­walt an sich; be­son­ders auf den Kna­ben mach­te es einen sehr star­ken Ein­druck, der in eine große, lang­dau­ern­de Wir­kung nach­klang.

Die klei­ne Büh­ne mit ih­rem stum­men Per­so­nal, die man uns an­fangs nur vor­ge­zeigt hat­te, nach­her aber zu eig­ner Übung und dra­ma­ti­scher Be­le­bung übergab, muss­te uns Kin­dern umso viel wer­ter sein, als es das letz­te Ver­mächt­nis un­se­rer gu­ten Groß­mut­ter war, die bald dar­auf durch zu­neh­men­de Krank­heit un­sern Au­gen erst ent­zo­gen und dann für im­mer durch den Tod ent­ris­sen wur­de. Ihr Ab­schei­den war für die Fa­mi­lie von de­sto grö­ße­rer Be­deu­tung, als es eine völ­li­ge Ver­än­de­rung in dem Zu­stan­de der­sel­ben nach sich zog.

So­lan­ge die Groß­mut­ter leb­te, hat­te mein Va­ter sich ge­hü­tet, nur das Min­des­te im Hau­se zu ver­än­dern oder zu er­neu­ern; aber man wuss­te wohl, dass er sich zu ei­nem Haupt­bau vor­be­rei­te­te, der nun­mehr auch so­gleich vor­ge­nom­men wur­de. In Frank­furt, wie in meh­rern al­ten Städ­ten, hat­te man bei Auf­füh­rung höl­zer­ner Ge­bäu­de, um Platz zu ge­win­nen, sich er­laubt, nicht al­lein mit dem ers­ten, son­dern auch mit den fol­gen­den Sto­cken über­zu­bau­en; wo­durch denn frei­lich be­son­ders enge Stra­ßen et­was Düs­te­res und Ängst­li­ches be­ka­men. End­lich ging ein Ge­setz durch, dass, wer ein neu­es Haus von Grund auf baue, nur mit dem ers­ten Stock über das Fun­da­ment her­aus­rücken dür­fe, die üb­ri­gen aber senk­recht auf­füh­ren müs­se. Mein Va­ter, um den vor­sprin­gen­den Raum im zwei­ten Stock auch nicht auf­zu­ge­ben, we­nig be­küm­mert um äu­ße­res ar­chi­tek­to­ni­sches An­se­hen und nur um in­ne­re gute und be­que­me Ein­rich­tung be­sorgt, be­dien­te sich, wie schon meh­re­re vor ihm ge­tan, der Aus­flucht, die obe­ren Tei­le des Hau­ses zu un­ter­stüt­zen und von un­ten her­auf einen nach dem an­de­ren weg­zu­neh­men und das Neue gleich­sam ein­zu­schal­ten, so­dass, wenn zu­letzt ge­wis­ser­ma­ßen nichts von dem Al­ten üb­rig blieb, der ganz neue Bau noch im­mer für eine Re­pa­ra­tur gel­ten konn­te. Da nun also das Ein­rei­ßen und Auf­rich­ten all­mäh­lich ge­sch­ah, so hat­te mein Va­ter sich vor­ge­nom­men, nicht aus dem Hau­se zu wei­chen, um de­sto bes­ser die Auf­sicht zu füh­ren und die An­lei­tung ge­ben zu kön­nen: denn aufs Tech­ni­sche des Bau­es ver­stand er sich ganz gut; da­bei woll­te er aber auch sei­ne Fa­mi­lie nicht von sich las­sen. Die­se neue Epo­che war den Kin­dern sehr über­ra­schend und son­der­bar. Die Zim­mer, in de­nen man sie oft enge ge­nug ge­hal­ten und mit we­nig er­freu­li­chem Ler­nen und Ar­bei­ten ge­ängs­tigt, die Gän­ge, auf de­nen sie ge­spielt, die Wän­de, für de­ren Rein­lich­keit und Er­hal­tung man sonst so sehr ge­sorgt, al­les das vor der Ha­cke des Mau­rers, vor dem Bei­le des Zim­mer­manns fal­len zu se­hen, und zwar von un­ten her­auf, und in­des­sen oben auf un­ter­stütz­ten Bal­ken gleich­sam in der Luft zu schwe­ben und da­bei im­mer noch zu ei­ner ge­wis­sen Lek­ti­on, zu ei­ner be­stimm­ten Ar­beit an­ge­hal­ten zu wer­den – die­ses al­les brach­te eine Ver­wir­rung in den jun­gen Köp­fen her­vor, die sich so leicht nicht wie­der ins Glei­che set­zen ließ. Doch wur­de die Un­be­quem­lich­keit von der Ju­gend we­ni­ger emp­fun­den, weil ihr et­was mehr Spiel­raum als bis­her und man­che Ge­le­gen­heit, sich auf Bal­ken zu schau­keln und auf Bret­tern zu schwin­gen, ge­las­sen ward.

Hart­nä­ckig setz­te der Va­ter die ers­te Zeit sei­nen Plan durch; doch als zu­letzt auch das Dach teil­wei­se ab­ge­tra­gen wur­de und, un­ge­ach­tet al­les über­ge­spann­ten Wachs­tu­ches von ab­ge­nom­me­nen Ta­pe­ten, der Re­gen bis zu un­sern Bet­ten ge­lang­te, so ent­schloss er sich, ob­gleich un­gern, die Kin­der wohl­wol­len­den Freun­den, wel­che sich schon frü­her dazu er­bo­ten hat­ten, auf eine Zeit lang zu über­las­sen und sie in eine öf­fent­li­che Schu­le zu schi­cken.

Die­ser Über­gang hat­te man­ches Un­an­ge­neh­me: denn in­dem man die bis­her zu Hau­se ab­ge­son­dert, rein­lich, edel, ob­gleich streng ge­hal­te­nen Kin­der un­ter eine rohe Mas­se von jun­gen Ge­schöp­fen hin­un­ters­tieß, so hat­ten sie vom Ge­mei­nen, Schlech­ten, ja Nie­der­träch­ti­gen ganz un­er­war­tet al­les zu lei­den, weil sie al­ler Waf­fen und al­ler Fä­hig­keit er­man­gel­ten, sich da­ge­gen zu schüt­zen.

Um die­se Zeit war es ei­gent­lich, dass ich mei­ne Va­ter­stadt zu­erst ge­wahr wur­de: wie ich denn nach und nach im­mer frei­er und un­ge­hin­der­ter, teils al­lein, teils mit mun­tern Ge­spie­len, dar­in auf und ab wan­del­te. Um den Ein­druck, den die­se erns­ten und wür­di­gen Um­ge­bun­gen auf mich mach­ten, ei­ni­ger­ma­ßen mit­zu­tei­len, muss ich hier mit der Schil­de­rung mei­nes Ge­burts­or­tes vor­grei­fen, wie er sich in sei­nen ver­schie­de­nen Tei­len all­mäh­lich vor mir ent­wi­ckel­te. Am liebs­ten spa­zier­te ich auf der großen Main­brücke. Ihre Län­ge, ihre Fes­tig­keit, ihr gu­tes An­se­hen mach­te sie zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten Bau­werk; auch ist es aus frü­he­rer Zeit bei­na­he das ein­zi­ge Denk­mal je­ner Vor­sor­ge, wel­che die welt­li­che Ob­rig­keit ih­ren Bür­gern schul­dig ist. Der schö­ne Fluss auf- und ab­wärts zog mei­ne Bli­cke nach sich; und wenn auf dem Brücken­kreuz der gol­de­ne Hahn im Son­nen­schein glänz­te, so war es mir im­mer eine er­freu­li­che Emp­fin­dung. Ge­wöhn­lich ward als­dann durch Sach­sen­hau­sen spa­ziert und die Über­fahrt für einen Kreu­zer gar be­hag­lich ge­nos­sen. Da be­fand man sich nun wie­der dies­seits, da schlich man zum Wein­mark­te, be­wun­der­te den Mecha­nis­mus der Kra­ne, wenn Wa­ren aus­ge­la­den wur­den; be­son­ders aber un­ter­hielt uns die An­kunft der Markt­schif­fe, wo man so man­cher­lei und mit­un­ter so selt­sa­me Fi­gu­ren aus­stei­gen sah. Ging es nun in die Stadt her­ein, so ward je­der­zeit der Saal­hof, der we­nigs­tens an der Stel­le stand, wo die Burg Kai­ser Karls des Gro­ßen und sei­ner Nach­fol­ger ge­we­sen sein soll­te, ehr­furchts­voll ge­grüßt. Man ver­lor sich in die alte Ge­werb­stadt und be­son­ders Markt­ta­ges gern in dem Ge­wühl, das sich um die Bar­tho­lo­mäus­kir­che her­um ver­sam­mel­te. Hier hat­te sich, von den frü­he­s­ten Zei­ten an, die Men­ge der Ver­käu­fer und Krä­mer über ein­an­der ge­drängt, und we­gen ei­ner sol­chen Be­sitz­nah­me konn­te nicht leicht in den neu­ern Zei­ten eine ge­räu­mi­ge und hei­te­re An­stalt Platz fin­den. Die Bu­den des so­ge­nann­ten Pfar­rei­sens wa­ren uns Kin­dern sehr be­deu­tend, und wir tru­gen man­chen Bat­zen hin, um uns far­bi­ge, mit gol­de­nen Tie­ren be­druck­te Bo­gen an­zu­schaf­fen. Nur sel­ten aber moch­te man sich über den be­schränk­ten, voll­ge­pfropf­ten und un­rein­li­chen Markt­platz hin­drän­gen. So er­in­ne­re ich mich auch, dass ich im­mer mit Ent­set­zen vor den dar­an­sto­ßen­den en­gen und häss­li­chen Fleisch­bän­ken ge­flo­hen bin. Der Rö­mer­berg war ein de­sto an­ge­neh­me­rer Spa­zier­platz. Der Weg nach der neu­en Stadt, durch die neue Kräm, war im­mer auf­hei­ternd und er­getz­lich; nur ver­dross es uns, dass nicht ne­ben der Lieb­frau­en­kir­che eine Stra­ße nach der Zeil zu ging und wir im­mer den großen Um­weg durch die Ha­sen­gas­se oder die Ka­tha­ri­nen­pfor­te ma­chen muss­ten. Was aber die Auf­merk­sam­keit des Kin­des am meis­ten an sich zog, wa­ren die vie­len klei­nen Städ­te in der Stadt, die Fes­tun­gen in der Fes­tung, die um­mau­er­ten Klos­ter­be­zir­ke näm­lich, und die aus frü­hern Jahr­hun­der­ten noch üb­ri­gen mehr oder min­der burg­ar­ti­gen Räu­me: so der Nürn­ber­ger Hof, das Com­postell, das Braun­fels, das Stamm­haus de­rer von Stall­burg und meh­re­re in den spä­tern Zei­ten zu Woh­nun­gen und Ge­werbs­be­nut­zun­gen ein­ge­rich­te­te Fes­ten. Nichts ar­chi­tek­to­nisch Er­he­ben­des war da­mals in Frank­furt zu se­hen: al­les deu­te­te auf eine längst ver­gang­ne, für Stadt und Ge­gend sehr un­ru­hi­ge Zeit. Pfor­ten und Tür­me, wel­che die Grän­ze der al­ten Stadt be­zeich­ne­ten, dann wei­ter­hin aber­mals Pfor­ten, Tür­me, Mau­ern, Brücken, Wäl­le, Grä­ben, wo­mit die neue Stadt um­schlos­sen war, al­les sprach noch zu deut­lich aus, dass die Not­wen­dig­keit, in un­ru­hi­gen Zei­ten dem Ge­mein­we­sen Si­cher­heit zu ver­schaf­fen, die­se An­stal­ten her­vor­ge­bracht, dass die Plät­ze, die Stra­ßen, selbst die neu­en, brei­ter und schö­ner an­ge­leg­ten, alle nur dem Zu­fall und der Will­kür und kei­nem re­geln­den Geis­te ih­ren Ur­sprung zu dan­ken hat­ten. Eine ge­wis­se Nei­gung zum Al­ter­tüm­li­chen setz­te sich bei dem Kna­ben fest, wel­che be­son­ders durch alte Chro­ni­ken, Holz­schnit­te, wie z. B. den Gravschen von der Be­la­ge­rung von Frank­furt, ge­nährt und be­güns­tigt wur­de; wo­bei noch eine an­de­re Lust, bloß mensch­li­che Zu­stän­de in ih­rer Man­nig­fal­tig­keit und Na­tür­lich­keit, ohne wei­tern An­spruch auf In­ter­es­se oder Schön­heit zu er­fas­sen, sich her­vor­tat. So war es eine von un­sern liebs­ten Pro­me­na­den, die wir uns des Jahrs ein paar­mal zu ver­schaf­fen such­ten, in­wen­dig auf dem Gan­ge der Stadt­mau­er her­um­zu­spa­zie­ren. Gär­ten, Höfe, Hin­ter­ge­bäu­de zie­hen sich bis an den Zwin­ger her­an; man sieht meh­re­ren tau­send Men­schen in ihre häus­li­chen, klei­nen, ab­ge­schlos­se­nen, ver­bor­ge­nen Zu­stän­de. Von dem Putz- und Schau­gar­ten des Rei­chen an den Obst­gär­ten des für sei­nen Nut­zen be­sorg­ten Bür­gers, von da zu Fa­bri­ken, Bleich­plät­zen und ähn­li­chen An­stal­ten, ja bis zum Got­tesa­cker selbst – denn eine klei­ne Welt lag in­ner­halb des Be­zirks der Stadt – ging man zu dem man­nig­fal­tigs­ten, wun­der­lichs­ten, mit je­dem Schritt sich ver­än­dern­den Schau­spiel vor­bei, an dem uns­re kin­di­sche Neu­gier sich nicht ge­nug er­ge­hen konn­te. Denn für­wahr, der be­kann­te hin­ken­de Teu­fel, als er für sei­nen Freund die Dä­cher von Ma­drid in der Nacht ab­hob, hat kaum mehr für die­sen ge­leis­tet, als hier vor uns un­ter frei­em Him­mel, bei hel­lem Son­nen­schein, ge­tan war. Die Schlüs­sel, de­ren man sich auf die­sem Wege be­die­nen muss­te, um durch man­cher­lei Tür­me, Trep­pen und Pfört­chen durch­zu­kom­men, wa­ren in den Hän­den der Zeugher­ren, und wir ver­fehl­ten nicht, ih­ren Su­bal­ter­nen aufs bes­te zu schmei­cheln.

Be­deu­ten­der noch und in ei­nem an­de­ren Sin­ne frucht­ba­rer blieb für uns das Rat­haus, der Rö­mer ge­nannt. In sei­nen un­tern ge­wöl­b­ähn­li­chen Hal­len ver­lo­ren wir uns gar zu ger­ne. Wir ver­schaff­ten uns Ein­tritt in das große, höchst ein­fa­che Ses­si­ons­zim­mer des Ra­tes. Bis auf eine ge­wis­se Höhe ge­tä­felt, wa­ren üb­ri­gens die Wän­de so wie die Wöl­bung weiß, und das Gan­ze ohne Spur von Ma­le­rei oder ir­gend ei­nem Bild­werk. Nur an der mit­tels­ten Wand in der Höhe las man die kur­ze In­schrift:

Ei­nes Manns Rede Ist kei­nes Manns Rede: Man soll sie bil­lig hö­ren Bee­de.

Nach der al­ter­tüm­lichs­ten Art wa­ren für die Glie­der die­ser Ver­samm­lung Bän­ke rings­um­her an der Ver­tä­fe­lung an­ge­bracht und um eine Stu­fe von dem Bo­den er­höht. Da be­grif­fen wir leicht, warum die Rang­ord­nung uns­res Se­nats nach Bän­ken ein­ge­teilt sei. Von der Türe lin­ker Hand bis in die ge­gen­über­ste­hen­de Ecke, als auf der ers­ten Bank, sa­ßen die Schöf­fen, in der Ecke selbst der Schult­heiß, der ein­zi­ge, der ein klei­nes Tisch­chen vor sich hat­te; zu sei­ner Lin­ken bis ge­gen die Fens­ter­sei­te sa­ßen nun­mehr die Her­ren der zwei­ten Bank; an den Fens­tern her zog sich die drit­te Bank, wel­che die Hand­wer­ker ein­nah­men; in der Mit­te des Saals stand ein Tisch für den Pro­to­koll­füh­rer.

Wa­ren wir ein­mal im Rö­mer, so misch­ten wir uns auch wohl in das Ge­drän­ge vor den bur­ge­meis­ter­li­chen Au­di­en­zen. Aber grö­ße­ren Reiz hat­te al­les, was sich auf Wahl und Krö­nung der Kai­ser be­zog. Wir wuss­ten uns die Gunst der Schlie­ßer zu ver­schaf­fen, um die neue, heitre, in Fres­ko ge­mal­te, sonst durch ein Git­ter ver­schlos­se­ne Kai­ser­trep­pe hin­auf­stei­gen zu dür­fen. Das mit Pur­pur­ta­pe­ten und wun­der­lich ver­schnör­kel­ten Gold­leis­ten ver­zier­te Wahl­zim­mer flö­ßte uns Ehr­furcht ein. Die Tür­stücke, auf wel­chen klei­ne Kin­der oder Ge­ni­en, mit dem kai­ser­li­chen Or­nat be­klei­det, und be­las­tet mir den Reichs­in­si­gni­en, eine gar wun­der­li­che Fi­gur spie­len, be­trach­te­ten wir mit großer Auf­merk­sam­keit und hoff­ten wohl auch noch ein­mal eine Krö­nung mit Au­gen zu er­le­ben. Aus dem großen Kai­ser­saa­le konn­te man uns nur mit sehr vie­ler Mühe wie­der her­aus­brin­gen, wenn es uns ein­mal ge­glückt war, hin­ein­zu­schlüp­fen; und wir hiel­ten den­je­ni­gen für un­sern wahrs­ten Freund, der uns bei den Brust­bil­dern der sämt­li­chen Kai­ser, die in ei­ner ge­wis­sen Höhe um­her ge­malt wa­ren, et­was von ih­ren Ta­ten er­zäh­len moch­te.

Von Karl dem Gro­ßen ver­nah­men wir man­ches Mär­chen­haf­te; aber das His­to­risch-In­ter­essan­te für uns fing erst mit Ru­dolf von Habs­burg an, der durch sei­ne Mann­heit so großen Ver­wir­run­gen ein Ende ge­macht. Auch Karl der Vier­te zog uns­re Auf­merk­sam­keit an sich. Wir hat­ten schon von der gol­de­nen Bul­le und der pein­li­chen Hals­ge­richts­ord­nung ge­hört, auch dass er den Frank­fur­tern ihre An­häng­lich­keit an sei­nen ed­len Ge­gen­kai­ser, Gün­ther von Schwarz­burg, nicht ent­gel­ten ließ. Ma­xi­mi­lia­nen hör­ten wir als einen Men­schen- und Bür­ger­freund lo­ben, und dass von ihm pro­phe­zeit wor­den, er wer­de der letz­te Kai­ser aus ei­nem deut­schen Hau­se sein; wel­ches denn auch lei­der ein­ge­trof­fen, in­dem nach sei­nem Tode die Wahl nur zwi­schen dem Kö­nig von Spa­ni­en, Karl dem Fünf­ten, und dem Kö­nig von Frank­reich, Franz dem Ers­ten, ge­schwankt habe. Be­denk­lich füg­te man hin­zu, dass nun aber­mals eine sol­che Weis­sa­gung oder viel­mehr Vor­be­deu­tung um­ge­he: denn es sei au­gen­fäl­lig, dass nur noch Platz für das Bild ei­nes Kai­sers üb­rig blei­be; ein Um­stand, der, ob­gleich zu­fäl­lig schei­nend, die Pa­trio­tisch­ge­sinn­ten mit Be­sorg­nis er­fül­le.

Wenn wir nun so ein­mal un­sern Um­gang hiel­ten, ver­fehl­ten wir auch nicht, uns nach dem Dom zu be­ge­ben und da­selbst das Grab je­nes bra­ven, von Freund und Fein­den ge­schätz­ten Gün­ther zu be­su­chen. Der merk­wür­di­ge Stein, der es eh­mals be­deck­te, ist in dem Chor auf­ge­rich­tet. Die gleich da­ne­ben be­find­li­che Türe, wel­che ins Con­cla­ve führt, blieb uns lan­ge ver­schlos­sen, bis wir end­lich durch die obe­ren Be­hör­den auch den Ein­tritt in die­sen so be­deu­ten­den Ort zu er­lan­gen wuss­ten. Al­lein wir hät­ten bes­ser ge­tan, ihn durch un­se­re Ein­bil­dungs­kraft, wie bis­her, aus­zu­ma­len: denn wir fan­den die­sen in der deut­schen Ge­schich­te so merk­wür­di­gen Raum, wo die mäch­tigs­ten Fürs­ten sich zu ei­ner Hand­lung von sol­cher Wich­tig­keit zu ver­sam­meln pfleg­ten, kei­nes­wegs wür­dig aus­ge­ziert, son­dern noch oben­ein mit Bal­ken, Stan­gen, Gerüs­ten und an­de­rem sol­chen Ge­sperr, das man bei­sei­te set­zen woll­te, ver­un­stal­tet. De­sto mehr ward un­se­re Ein­bil­dungs­kraft an­ge­regt und das Herz uns er­ho­ben, als wir kurz nach­her die Er­laub­nis er­hiel­ten, beim Vor­zei­gen der gold­nen Bul­le an ei­ni­ge vor­neh­me Frem­den auf dem Rat­hau­se ge­gen­wär­tig zu sein.

Mit vie­ler Be­gier­de ver­nahm der Kna­be so­dann, was ihm die Sei­ni­gen so wie äl­te­re Ver­wand­te und Be­kann­te gern er­zähl­ten und wie­der­hol­ten: die Ge­schich­ten der zu­letzt kurz auf ein­an­der ge­folg­ten Krö­nun­gen. Denn es war kein Frank­fur­ter von ei­nem ge­wis­sen Al­ter, der nicht die­se bei­den Er­eig­nis­se, und was sie be­glei­te­te, für den Gip­fel sei­nes Le­bens ge­hal­ten hät­te. So präch­tig die Krö­nung Karls des Sie­ben­ten ge­we­sen war, bei wel­cher be­son­ders der fran­zö­si­sche Ge­sand­te, mit Kos­ten und Ge­schmack, herr­li­che Fes­te ge­ge­ben, so war doch die Fol­ge für den gu­ten Kai­ser de­sto trau­ri­ger, der sei­ne Re­si­denz Mün­chen nicht be­haup­ten konn­te und ge­wis­ser­ma­ßen die Gast­frei­heit sei­ner Reichs­städ­ter an­fle­hen muss­te.

War die Krö­nung Franz des Ers­ten nicht so auf­fal­lend präch­tig wie jene, so wur­de sie doch durch die Ge­gen­wart der Kai­se­rin Ma­ria The­re­sia ver­herr­licht, de­ren Schön­heit eben so einen großen Ein­druck auf die Män­ner scheint ge­macht zu ha­ben als die erns­te, wür­di­ge Ge­stalt und die blau­en Au­gen Karls des Sie­ben­ten auf die Frau­en. We­nigs­tens wett­ei­fer­ten bei­de Ge­schlech­ter, dem auf­hor­chen­den Kna­ben einen höchst vor­teil­haf­ten Be­griff von je­nen bei­den Per­so­nen bei­zu­brin­gen. Alle die­se Be­schrei­bun­gen und Er­zäh­lun­gen ge­sch­a­hen mit heitrem und be­ru­hig­tem Ge­müt: denn der Aach­ner Frie­de hat­te für den Au­gen­blick al­ler Feh­de ein Ende ge­macht, und wie von je­nen Fei­er­lich­kei­ten, so sprach man mit Be­hag­lich­keit von den vor­über­ge­gan­ge­nen Kriegs­zü­gen, von der Schlacht bei Det­tin­gen, und was die merk­wür­digs­ten Be­ge­ben­hei­ten der ver­flos­se­nen Jah­re mehr sein moch­ten; und al­les Be­deu­ten­de und Ge­fähr­li­che schi­en, wie es nach ei­nem ab­ge­schlos­se­nen Frie­den zu ge­hen pflegt, sich nur er­eig­net zu ha­ben, um glück­li­chen und sor­gen­frei­en Men­schen zur Un­ter­hal­tung zu die­nen.

Hat­te man in ei­ner sol­chen pa­trio­ti­schen Be­schrän­kung kaum ein hal­b­es Jahr hin­ge­bracht, so tra­ten schon die Mes­sen wie­der ein, wel­che in den sämt­li­chen Kin­der­köp­fen je­der­zeit eine un­glaub­li­che Gä­rung her­vor­brach­ten. Eine durch Er­bau­ung so vie­ler Bu­den in­ner­halb der Stadt in we­ni­ger Zeit ent­sprin­gen­de neue Stadt, das Wo­gen und Trei­ben, das Ab­la­den und Auspa­cken der Wa­ren er­reg­te, von den ers­ten Mo­men­ten des Be­wusst­seins an, eine un­be­zwing­lich tä­ti­ge Neu­gier­de und ein un­be­gränz­tes Ver­lan­gen nach kin­di­schem Be­sitz, das der Kna­be mit wach­sen­den Jah­ren, bald auf die­se, bald auf jene Wei­se, wie es die Kräf­te sei­nes klei­nen Beu­tels er­lau­ben woll­ten, zu be­frie­di­gen such­te. Zu­gleich aber bil­de­te sich die Vor­stel­lung von dem, was die Welt al­les her­vor­bringt, was sie be­darf, und was die Be­woh­ner ih­rer ver­schie­de­nen Tei­le ge­gen­ein­an­der aus­wech­seln.

Die­se großen, im Früh­jahr und Herbst ein­tre­ten­den Epo­chen wur­den durch selt­sa­me Fei­er­lich­kei­ten an­ge­kün­digt, wel­che um de­sto wür­di­ger schie­nen, als sie die alte Zeit, und was von dort­her noch auf uns ge­kom­men, leb­haft ver­ge­gen­wär­tig­ten. Am Ge­leits­tag war das gan­ze Volk auf den Bei­nen, dräng­te sich nach der Fahr­gas­se, nach der Brücke, bis über Sach­sen­hau­sen hin­aus; alle Fens­ter wa­ren be­setzt, ohne dass den Tag über was Be­son­de­res vor­ging; die Men­ge schi­en nur da zu sein, um sich zu drän­gen, und die Zuschau­er, um sich un­ter ein­an­der zu be­trach­ten: denn das, wor­auf es ei­gent­lich an­kam, er­eig­ne­te sich erst mit sin­ken­der Nacht und wur­de mehr ge­glaubt als mit Au­gen ge­se­hen.

In je­nen äl­tern un­ru­hi­gen Zei­ten näm­lich, wo ein je­der nach Be­lie­ben Un­recht tat oder nach Lust das Rech­te be­för­der­te, wur­den die auf die Mes­sen zie­hen­den Han­dels­leu­te von We­ge­la­ge­rern, ed­len und un­ed­len Ge­schlechts, will­kür­lich ge­plagt und ge­plackt, so­dass Fürs­ten und an­de­re mäch­ti­ge Stän­de die Ih­ri­gen mit ge­waff­ne­ter Hand bis nach Frank­furt ge­lei­ten lie­ßen. Hier woll­ten nun aber die Reichs­städ­ter sich selbst und ih­rem Ge­biet nichts ver­ge­ben; sie zo­gen den An­kömm­lin­gen ent­ge­gen: da gab es denn manch­mal Strei­tig­kei­ten, wie weit jene Ge­lei­ten­den her­an­kom­men, oder ob sie wohl gar ih­ren Ein­ritt in die Stadt neh­men könn­ten. Weil nun die­ses nicht al­lein bei Han­dels- und Mess­ge­schäf­ten statt­fand, son­dern auch, wenn hohe Per­so­nen in Kriegs- und Frie­dens­zei­ten, vor­züg­lich aber zu Wahl­ta­gen, sich her­an­be­ga­ben, und es auch öf­ters zu Tät­lich­kei­ten kam, so­bald ir­gend ein Ge­fol­ge, das man in der Stadt nicht dul­den woll­te, sich mit sei­nem Herrn her­ein­zu­drän­gen be­gehr­te, so wa­ren zeit­her dar­über man­che Ver­hand­lun­gen ge­pflo­gen, es wa­ren vie­le Re­zes­se des­halb, ob­gleich stets mit bei­der­sei­ti­gen Vor­be­hal­ten, ge­schlos­sen wor­den, und man gab die Hoff­nung nicht auf, den seit Jahr­hun­der­ten dau­ern­den Zwist end­lich ein­mal bei­zu­le­gen, als die gan­ze An­stalt, wes­halb er so lan­ge und oft sehr hef­tig ge­führt wor­den war, bei­nah für un­nütz, we­nigs­tens für über­flüs­sig an­ge­se­hen wer­den konn­te.

Un­ter­des­sen ritt die bür­ger­li­che Ka­val­le­rie in meh­re­ren Ab­tei­lun­gen, mit den Ober­häup­tern an ih­rer Spit­ze, an je­nen Ta­gen zu ver­schie­de­nen To­ren hin­aus, fand an ei­ner ge­wis­sen Stel­le ei­ni­ge Rei­ter oder Husa­ren der zum Ge­leit be­rech­tig­ten Reichs­stän­de, die nebst ih­ren An­füh­rern wohl emp­fan­gen und be­wir­tet wur­den; man zö­ger­te bis ge­gen Abend und ritt als­dann, kaum von der war­ten­den Men­ge ge­se­hen, zur Stadt her­ein; da denn man­cher bür­ger­li­che Rei­ter we­der sein Pferd noch sich selbst auf dem Pfer­de zu er­hal­ten ver­moch­te. Zu dem Brück­en­to­re ka­men die be­deu­tends­ten Züge her­ein, und des­we­gen war der An­drang dort­hin am stärks­ten. Ganz zu­letzt und mit sin­ken­der Nacht lang­te der auf glei­che Wei­se ge­lei­te­te Nürn­ber­ger Post­wa­gen an, und man trug sich mit der Rede, es müs­se je­der­zeit, dem Her­kom­men ge­mäß, eine alte Frau dar­in sit­zen; wes­halb denn die Stra­ßen­jun­gen bei An­kunft des Wa­gens in ein gel­len­des Ge­schrei aus­zu­bre­chen pfleg­ten, ob man gleich die im Wa­gen sit­zen­den Pas­sa­gie­re kei­nes­wegs mehr un­ter­schei­den konn­te. Un­glaub­lich und wirk­lich die Sin­ne ver­wir­rend war der Drang der Men­ge, die in die­sem Au­gen­blick durch das Brück­en­tor her­ein dem Wa­gen nach­stürz­te; des­we­gen auch die nächs­ten Häu­ser von den Zuschau­ern am meis­ten ge­sucht wur­den.

Eine an­de­re, noch viel selt­sa­me­re Fei­er­lich­keit, wel­che am hel­len Tage das Pub­li­kum auf­reg­te, war das Pfei­fer­ge­richt. Es er­in­ner­te die­se Ze­re­mo­nie an jene ers­ten Zei­ten, wo be­deu­ten­de Han­dels­städ­te sich von den Zöl­len, wel­che mit Han­del und Ge­werb in glei­chem Maße zu­nah­men, wo nicht zu be­frei­en, doch we­nigs­tens eine Mil­de­rung der­sel­ben zu er­lan­gen such­ten. Der Kai­ser, der ih­rer be­durf­te, er­teil­te eine sol­che Frei­heit da, wo es von ihm ab­hing, ge­wöhn­lich aber nur auf ein Jahr, und sie muss­te da­her jähr­lich er­neu­ert wer­den. Die­ses ge­sch­ah durch sym­bo­li­sche Ga­ben, wel­che dem kai­ser­li­chen Schult­hei­ßen, der auch wohl ge­le­gent­lich Ober­zöll­ner sein konn­te, vor Ein­tritt der Bar­tho­lo­mäi-Mes­se ge­bracht wur­den, und zwar des An­stands we­gen, wenn er mit den Schöf­fen zu Ge­richt saß. Als der Schult­heiß spä­ter­hin nicht mehr vom Kai­ser ge­setzt, son­dern von der Stadt selbst ge­wählt wur­de, be­hielt er doch die­se Vor­rech­te, und so­wohl die Zoll­frei­hei­ten der Städ­te als die Ze­re­mo­ni­en, wo­mit die Ab­ge­ord­ne­ten von Worms, Nürn­berg und Alt-Bam­berg die­se ur­al­te Ver­güns­ti­gung an­er­kann­ten, wa­ren bis auf un­se­re Zei­ten ge­kom­men. Den Tag vor Ma­riä Ge­burt ward ein öf­fent­li­cher Ge­richts­tag an­ge­kün­digt. In dem großen Kai­ser­saa­le, in ei­nem um­schränk­ten Rau­me, sa­ßen er­höht die Schöf­fen, und eine Stu­fe hö­her der Schult­heiß in ih­rer Mit­te; die von den Par­tei­en be­voll­mäch­tig­ten Pro­ku­ra­to­ren un­ten zur rech­ten Sei­te. Der Ak­tua­ri­us fängt an, die auf die­sen Tag ge­spar­ten wich­ti­gen Ur­tei­le laut vor­zu­le­sen; die Pro­ku­ra­to­ren bit­ten um Ab­schrift, ap­pel­lie­ren, oder was sie sonst zu tun nö­tig fin­den.

Auf ein­mal mel­det eine wun­der­li­che Mu­sik gleich­sam die An­kunft vo­ri­ger Jahr­hun­der­te. Es sind drei Pfei­fer, de­ren ei­ner eine alte Schal­mei, der an­de­re einen Bass, der drit­te einen Pom­mer oder Ho­boe bläst. Sie tra­gen blaue, mit Gold ver­bräm­te Män­tel, auf den Är­meln die No­ten be­fes­tigt, und ha­ben das Haupt be­deckt. So wa­ren sie aus ih­rem Gast­hau­se, die Ge­sand­ten und ihre Beglei­tung hin­ter­drein, Punkt zehn aus­ge­zo­gen, von Ein­hei­mi­schen und Frem­den an­ge­staunt, und so tre­ten sie in den Saal. Die Ge­richts­ver­hand­lun­gen hal­ten inne, Pfei­fer und Beglei­tung blei­ben vor den Schran­ken, der Ab­ge­sand­te tritt hin­ein und stellt sich dem Schult­hei­ßen ge­gen­über. Die sym­bo­li­schen Ga­ben, wel­che auf das ge­naus­te nach dem al­ten Her­kom­men ge­for­dert wur­den, be­stan­den ge­wöhn­lich in sol­chen Wa­ren, wo­mit die dar­brin­gen­de Stadt vor­züg­lich zu han­deln pfleg­te. Der Pfef­fer galt gleich­sam für alle Wa­ren, und so brach­te auch hier der Ab­ge­sand­te einen schön gedrech­sel­ten höl­zer­nen Po­kal mit Pfef­fer an­ge­füllt. Über dem­sel­ben la­gen ein paar Hand­schu­he, wun­der­sam ge­schlitzt, mit Sei­de be­steppt und be­quas­tet, als Zei­chen ei­ner ge­stat­te­ten und an­ge­nom­me­nen Ver­güns­ti­gung, des­sen sich auch wohl der Kai­ser selbst in ge­wis­sen Fäl­len be­dien­te. Da­ne­ben sah man ein wei­ßes Stäb­chen, wel­ches vor­mals bei ge­setz­li­chen und ge­richt­li­chen Hand­lun­gen nicht leicht feh­len durf­te. Es wa­ren noch ei­ni­ge klei­ne Sil­ber­mün­zen hin­zu­ge­fügt, und die Stadt Worms brach­te einen al­ten Filz­hut, den sie im­mer wie­der ein­lös­te, so­dass der­sel­be vie­le Jah­re ein Zeu­ge die­ser Ze­re­mo­ni­en ge­we­sen.

Nach­dem der Ge­sand­te sei­ne An­re­de ge­hal­ten, das Ge­schenk ab­ge­ge­ben, von dem Schult­hei­ßen die Ver­si­che­rung fort­dau­ern­der Be­güns­ti­gung emp­fan­gen, so ent­fern­te er sich aus dem ge­schlos­se­nen Krei­se, die Pfei­fer blie­sen, der Zug ging ab, wie er ge­kom­men war, das Ge­richt ver­folg­te sei­ne Ge­schäf­te, bis der zwei­te und end­lich der drit­te Ge­sand­te ein­ge­führt wur­den: denn sie ka­men erst ei­ni­ge Zeit nach ein­an­der, teils da­mit das Ver­gnü­gen des Pub­li­kums län­ger dau­re, teils auch weil es im­mer die­sel­ben al­ter­tüm­li­chen Vir­tuo­sen wa­ren, wel­che Nürn­berg für sich und sei­ne Mit­städ­te zu un­ter­hal­ten und je­des Jahr an Ort und Stel­le zu brin­gen über­nom­men hat­te.

Wir Kin­der wa­ren bei die­sem Fes­te be­son­ders in­ter­es­siert, weil es uns nicht we­nig schmei­chel­te, un­sern Groß­va­ter an ei­ner so eh­ren­vol­len Stel­le zu se­hen, und weil wir ge­wöhn­lich noch sel­bi­gen Tag ihn ganz be­schei­den zu be­su­chen pfleg­ten, um, wenn die Groß­mut­ter den Pfef­fer in ihre Ge­würz­la­den ge­schüt­tet hät­te, einen Be­cher und Stäb­chen, ein paar Hand­schuh oder einen al­ten Rä­der-Al­bus zu er­ha­schen. Man konn­te sich die­se sym­bo­li­schen, das Al­ter­tum gleich­sam her­vor­zau­bern­den Ze­re­mo­ni­en nicht er­klä­ren las­sen, ohne in ver­gan­ge­ne Jahr­hun­der­te wie­der zu­rück­ge­führt zu wer­den, ohne sich nach Sit­ten, Ge­bräu­chen und Ge­sin­nun­gen un­se­rer Alt­vor­dern zu er­kun­di­gen, die sich durch wie­der auf­er­stan­de­ne Pfei­fer und Ab­ge­ord­ne­te, ja durch hand­greif­li­che und für uns be­sitz­ba­re Ga­ben auf eine so wun­der­li­che Wei­se ver­ge­gen­wär­tig­ten.

Sol­chen alt­ehr­wür­di­gen Fei­er­lich­kei­ten folg­te in gu­ter Jahrs­zeit man­ches für uns Kin­der lus­t­rei­che­re Fest au­ßer­halb der Stadt un­ter frei­em Him­mel. An dem rech­ten Ufer des Mains un­ter­wärts, etwa eine hal­be Stun­de vom Tor, quillt ein Schwe­fel­brun­nen, sau­ber ein­ge­fasst und mit ur­al­ten Lin­den um­ge­ben. Nicht weit da­von steht der Hof zu den gu­ten Leu­ten, eh­mals ein um die­ser Quel­le wil­len er­bau­tes Ho­spi­tal. Auf den Ge­mein­wei­den um­her ver­sam­mel­te man zu ei­nem ge­wis­sen Tage des Jah­res die Rind­vieh­her­den aus der Nach­bar­schaft, und die Hir­ten samt ih­ren Mäd­chen fei­er­ten ein länd­li­ches Fest, mit Tanz und Ge­sang, mit man­cher­lei Lust und An­ge­zo­gen­heit. Auf der an­de­ren Sei­te der Stadt lag ein ähn­li­cher, nur grö­ße­rer Ge­mein­de­platz, gleich­falls durch einen Brun­nen und durch noch schö­ne­re Lin­den ge­ziert. Dor­thin trieb man zu Pfings­ten die Schaf­her­den, und zu glei­cher Zeit ließ man die ar­men, ver­bleich­ten Wai­sen­kin­der aus ih­ren Mau­ern ins Freie: denn man soll­te erst spä­ter auf den Ge­dan­ken ge­ra­ten, dass man sol­che ver­las­se­ne Krea­tu­ren, die sich einst durch die Welt durch­zu­hel­fen ge­nö­tigt sind, früh mit der Welt in Ver­bin­dung brin­gen, an­statt sie auf eine trau­ri­ge Wei­se zu he­gen, sie lie­ber gleich zum Die­nen und Dul­den ge­wöh­nen müs­se und alle Ur­sach habe, sie von Kin­des­bei­nen an so­wohl phy­sisch als mo­ra­lisch zu kräf­ti­gen. Die Am­men und Mäg­de, wel­che sich selbst im­mer gern einen Spa­zier­gang be­rei­ten, ver­fehl­ten nicht, von den frühs­ten Zei­ten, uns an der­glei­chen Orte zu tra­gen und zu füh­ren, so­dass die­se länd­li­chen Fes­te wohl mit zu den ers­ten Ein­drücken ge­hö­ren, de­ren ich mich er­in­nern kann.

Das Haus war in­des­sen fer­tig ge­wor­den, und zwar in ziem­lich kur­z­er Zeit, weil al­les wohl über­legt, vor­be­rei­tet und für die nö­ti­ge Geld­sum­me ge­sorgt war. Wir fan­den uns nun alle wie­der ver­sam­melt und fühl­ten uns be­hag­lich: denn ein wohl­aus­ge­dach­ter Plan, wenn er aus­ge­führt da­steht, lässt al­les ver­ges­sen, was die Mit­tel, um zu die­sem Zweck zu ge­lan­gen, Un­be­que­mes mö­gen ge­habt ha­ben. Das Haus war für eine Pri­vat­woh­nung ge­räu­mig ge­nug, durch­aus hell und hei­ter, die Trep­pe frei, die Vor­sä­le luf­tig, und jene Aus­sicht über die Gär­ten aus meh­re­ren Fens­tern be­quem zu ge­nie­ßen. Der in­ne­re Aus­bau, und was zur Vollen­dung und Zier­de ge­hört, ward nach und nach voll­bracht und diente zu­gleich zur Be­schäf­ti­gung und zur Un­ter­hal­tung.

Das ers­te, was man in Ord­nung brach­te, war die Bü­cher­samm­lung des Va­ters, von wel­cher die bes­ten, in Franz- oder Halb­franz­band ge­bun­de­nen Bü­cher die Wän­de sei­nes Ar­beits- und Stu­dier­zim­mers schmücken soll­ten. Er be­saß die schö­nen hol­län­di­schen Aus­ga­ben der la­tei­ni­schen Schrift­stel­ler, wel­che er der äu­ßern Über­ein­stim­mung we­gen sämt­lich in Quart an­zu­schaf­fen such­te; so­dann vie­les, was sich auf die rö­mi­schen An­ti­qui­tä­ten und die ele­gan­te­re Ju­rispru­denz be­zieht. Die vor­züg­lichs­ten ita­liä­ni­schen Dich­ter fehl­ten nicht, und für den Tas­so be­zeig­te er eine große Vor­lie­be. Die bes­ten neus­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen wa­ren auch vor­han­den, und er selbst mach­te sich ein Ver­gnü­gen dar­aus, den Keyß­ler und Ne­meiz zu be­rich­ti­gen und zu er­gän­zen. Nicht we­ni­ger hat­te er sich mit den nö­tigs­ten Hilfs­mit­teln um­ge­ben, mit Wör­ter­bü­chern aus ver­schie­de­nen Spra­chen, mit Re­al­le­xi­ken, dass man sich also nach Be­lie­ben Rats er­ho­len konn­te, so wie mit man­chem an­de­ren, was zum Nut­zen und Ver­gnü­gen ge­reicht.

Die an­de­re Hälf­te die­ser Bü­cher­samm­lung, in sau­bern Per­ga­ment­bän­den mit sehr schön ge­schrie­be­nen Ti­teln, ward in ei­nem be­son­dern Man­sard­zim­mer auf­ge­stellt. Das Nach­schaf­fen der neu­en Bü­cher, so wie das Bin­den und Ein­rei­hen der­sel­ben, be­trieb er mit großer Ge­las­sen­heit und Ord­nung. Da­bei hat­ten die ge­lehr­ten An­zei­gen, wel­che die­sem oder je­nem Werk be­son­de­re Vor­zü­ge bei­leg­ten, auf ihn großen Ein­fluss. Sei­ne Samm­lung ju­ris­ti­scher Dis­ser­ta­tio­nen ver­mehr­te sich jähr­lich um ei­ni­ge Bän­de.

Zu­nächst aber wur­den die Ge­mäl­de, die sonst in dem al­ten Hau­se zer­streut her­um­ge­han­gen, nun­mehr zu­sam­men an den Wän­den ei­nes freund­li­chen Zim­mers ne­ben der Stu­dier­stu­be, alle in schwar­zen, mit gol­de­nen Stäb­chen ver­zier­ten Rah­men, sym­me­trisch an­ge­bracht. Mein Va­ter hat­te den Grund­satz, den er öf­ters und so­gar lei­den­schaft­lich aus­sprach, dass man die le­ben­den Meis­ter be­schäf­ti­gen und we­ni­ger auf die ab­ge­schie­de­nen wen­den sol­le, bei de­ren Schät­zung sehr viel Vor­ur­teil mit un­ter­lau­fe. Er hat­te die Vor­stel­lung, dass es mit den Ge­mäl­den völ­lig wie mit den Rhein­wei­nen be­schaf­fen sei, die, wenn ih­nen gleich das Al­ter einen vor­züg­li­chen Wert bei­le­ge, den­noch in je­dem fol­gen­den Jah­re eben so vor­treff­lich als in den ver­gan­ge­nen könn­ten her­vor­ge­bracht wer­den. Nach Ver­lauf ei­ni­ger Zeit wer­de der neue Wein auch ein al­ter, eben so kost­bar und viel­leicht noch schmack­haf­ter. In die­ser Mei­nung be­stä­tig­te er sich vor­züg­lich durch die Be­mer­kung, dass meh­re­re alte Bil­der haupt­säch­lich da­durch für die Lieb­ha­ber einen großen Wert zu er­hal­ten schie­nen, weil sie dunk­ler und bräu­ner ge­wor­den, und der har­mo­ni­sche Ton ei­nes sol­chen Bil­des öf­ters ge­rühmt wur­de. Mein Va­ter ver­si­cher­te da­ge­gen, es sei ihm gar nicht ban­ge, dass die neu­en Bil­der künf­tig nicht auch schwarz wer­den soll­ten; dass sie aber ge­ra­de da­durch ge­wön­nen, woll­te er nicht zu­ge­ste­hen.

Nach die­sen Grund­sät­zen be­schäf­tig­te er meh­re­re Jah­re hin­durch die sämt­li­chen Frank­fur­ter Künst­ler: den Ma­ler Hirt, wel­cher Ei­chen- und Bu­chen­wäl­der und an­de­re so­ge­nann­te länd­li­che Ge­gen­den sehr wohl mit Vieh zu staf­fie­ren wuss­te; des­glei­chen Traut­mann, der sich den Rem­brandt zum Mus­ter ge­nom­men und es in ein­ge­schlos­se­nen Lich­tern und Wi­der­schei­nen, nicht we­ni­ger in ef­fekt­vol­len Feu­ers­brüns­ten weit ge­bracht hat­te, so­dass er eins­tens auf­ge­for­dert wur­de, einen Pend­ant zu ei­nem Rem­brand­ti­schen Bil­de zu ma­len; fer­ner Schütz, der auf dem Wege des Sacht­le­ben die Rhein­ge­gen­den flei­ßig be­ar­bei­te­te; nicht we­ni­ger Jun­ckern, der Blu­men- und Frucht­stücke, Still­le­ben und ru­hig be­schäf­tig­te Per­so­nen nach dem Vor­gang der Nie­der­län­der sehr rein­lich aus­führ­te. Nun aber ward durch die neue Ord­nung, durch einen be­que­mern Raum und noch mehr durch die Be­kannt­schaft ei­nes ge­schick­ten Künst­lers die Lieb­ha­be­rei wie­der an­ge­frischt und be­lebt. Die­ses war See­katz, ein Schü­ler von Brin­ck­mann, darm­städ­ti­scher Hof­ma­ler, des­sen Ta­lent und Cha­rak­ter sich in der Fol­ge vor uns um­ständ­li­cher ent­wi­ckeln wird.

Man schritt auf die­se Wei­se mit Vollen­dung der üb­ri­gen Zim­mer, nach ih­ren ver­schie­de­nen Be­stim­mun­gen, wei­ter. Rein­lich­keit und Ord­nung herrsch­ten im gan­zen; vor­züg­lich tru­gen große Spie­gel­schei­ben das Ih­ri­ge zu ei­ner voll­kom­me­nen Hel­lig­keit bei, die in dem al­ten Hau­se aus meh­rern Ur­sa­chen, zu­nächst aber auch we­gen meist runder Fens­ter­schei­ben ge­fehlt hat­te. Der Va­ter zeig­te sich hei­ter, weil ihm al­les gut ge­lun­gen war; und wäre der gute Hu­mor nicht manch­mal da­durch un­ter­bro­chen wor­den, dass nicht im­mer der Fleiß und die Ge­nau­ig­keit der Hand­wer­ker sei­nen For­de­run­gen ent­spra­chen, so hät­te man kein glück­li­che­res Le­ben den­ken kön­nen, zu­mal da man­ches Gute teils in der Fa­mi­lie selbst ent­sprang, teils ihr von au­ßen zu­floss.

Durch ein au­ßer­or­dent­li­ches Wel­ter­eig­nis wur­de je­doch die Ge­müts­ru­he des Kna­ben zum ers­ten Mal im tiefs­ten er­schüt­tert. Am 1. No­vem­ber 1755 er­eig­ne­te sich das Erd­be­ben von Lissa­bon und ver­brei­te­te über die in Frie­den und Ruhe schon ein­ge­wohn­te Welt einen un­ge­heu­ren Schre­cken. Eine große präch­ti­ge Re­si­denz, zu­gleich Han­dels- und Ha­fen­stadt, wird un­ge­warnt von dem furcht­bars­ten Un­glück be­trof­fen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schif­fe schla­gen zu­sam­men, die Häu­ser stür­zen ein, Kir­chen und Tür­me dar­über her, der kö­nig­li­che Palast zum Teil wird vom Mee­re ver­schlun­gen, die ge­bors­te­ne Erde scheint Flam­men zu spei­en, denn über­all mel­det sich Rauch und Brand in den Rui­nen. Sech­zig­tau­send Men­schen, einen Au­gen­blick zu­vor noch ru­hig und be­hag­lich, ge­hen mit­ein­an­der zu Grun­de, und der Glück­lichs­te dar­un­ter ist der zu nen­nen, dem kei­ne Emp­fin­dung, kei­ne Be­sin­nung über das Un­glück mehr ge­stat­tet ist. Die Flam­men wü­ten fort, und mit ih­nen wü­tet eine Schar sonst ver­bor­gner, oder durch die­ses Er­eig­nis in Frei­heit ge­setz­ter Ver­bre­cher. Die un­glück­li­chen Üb­rig­ge­blie­be­nen sind dem Rau­be, dem Mor­de, al­len Miss­hand­lun­gen bloß­ge­stellt; und so be­haup­tet von al­len Zei­ten die Na­tur ihre schran­ken­lo­se Will­kür.

Schnel­ler als die Nach­rich­ten hat­ten schon An­deu­tun­gen von die­sem Vor­fall sich durch große Land­stre­cken ver­brei­tet: an vie­len Or­ten wa­ren schwä­che­re Er­schüt­te­run­gen zu ver­spü­ren, an man­chen Quel­len, be­son­ders den heil­sa­men, ein un­ge­wöhn­li­ches In­ne­hal­ten zu be­mer­ken ge­we­sen; um de­sto grö­ßer war die Wir­kung der Nach­rich­ten selbst, wel­che erst im All­ge­mei­nen, dann aber mit schreck­li­chen Ein­zel­hei­ten sich rasch ver­brei­te­ten. Hier­auf lie­ßen es die Got­tes­fürch­ti­gen nicht an Be­trach­tun­gen, die Phi­lo­so­phen nicht an Trost­grün­den, an Straf­pre­dig­ten die Geist­lich­keit nicht feh­len. So vie­les zu­sam­men rich­te­te die Auf­merk­sam­keit der Welt eine Zeit lang auf die­sen Punkt, und die durch frem­des Un­glück auf­ge­reg­ten Ge­mü­ter wur­den durch Sor­gen für sich selbst und die Ih­ri­gen umso mehr ge­ängs­tigt, als über die weit­ver­brei­te­te Wir­kung die­ser Ex­plo­si­on von al­len Or­ten und En­den im­mer meh­re­re und um­ständ­li­che­re Nach­rich­ten ein­lie­fen, viel­leicht hat der Dä­mon des Schre­ckens zu kei­ner Zeit so schnell und so mäch­tig sei­ne Schau­er über die Erde ver­brei­tet.

Der Kna­be, der al­les die­ses wie­der­holt ver­neh­men muss­te, war nicht we­nig be­trof­fen. Gott, der Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, den ihm die Er­klä­rung des ers­ten Glau­bens­ar­ti­kels so wei­se und gnä­dig vor­stell­te, hat­te sich, in­dem er die Ge­rech­ten mit den Un­ge­rech­ten glei­chem Ver­der­ben preis­gab, kei­nes­wegs vä­ter­lich be­wie­sen. Ver­ge­bens such­te das jun­ge Ge­müt sich ge­gen die­se Ein­drücke her­zu­stel­len, wel­ches über­haupt umso we­ni­ger mög­lich war, als die Wei­sen und Schrift­ge­lehr­ten selbst sich über die Art, wie man ein sol­ches Phä­no­men an­zu­se­hen habe, nicht ver­ei­ni­gen konn­ten.

Der fol­gen­de Som­mer gab eine nä­he­re Ge­le­gen­heit, den zor­ni­gen Gott, von dem das Alte Te­sta­ment so viel über­lie­fert, un­mit­tel­bar ken­nen zu ler­nen. Un­ver­se­hens brach ein Ha­gel­wet­ter her­ein und schlug die neu­en Spie­gel­schei­ben der ge­gen Abend ge­le­ge­nen Hin­ter­sei­te des Hau­ses un­ter Don­ner und Blit­zen auf das ge­walt­sams­te zu­sam­men, be­schä­dig­te die neu­en Mö­beln, ver­derb­te ei­ni­ge schätz­ba­re Bü­cher und sonst wer­te Din­ge und war für die Kin­der umso fürch­ter­li­cher, als das ganz au­ßer sich ge­setz­te Haus­ge­sin­de sie in einen dunklen Gang mit fort­riss und dort auf den Kni­en lie­gend durch schreck­li­ches Ge­heul und Ge­schrei die er­zürn­te Gott­heit zu ver­söh­nen glaub­te; in­des­sen der Va­ter, ganz al­lein ge­fasst, die Fens­ter­flü­gel auf­riss und aus­hob, wo­durch er zwar man­che Schei­ben ret­te­te, aber auch dem auf den Ha­gel fol­gen­den Re­gen­guss einen de­sto off­nern Weg be­rei­te­te, so­dass man sich, nach end­li­cher Er­ho­lung, auf den Vor­sä­len und Trep­pen von flu­ten­dem und rin­nen­dem Was­ser um­ge­ben sah.

Sol­che Vor­fäl­le, wie stö­rend sie auch im gan­zen wa­ren, un­ter­bra­chen doch nur we­nig den Gang und die Fol­ge des Un­ter­richts, den der Va­ter selbst uns Kin­dern zu ge­ben sich ein­mal vor­ge­nom­men. Er hat­te sei­ne Ju­gend auf dem Ko­bur­ger Gym­na­si­um zu­ge­bracht, wel­ches un­ter den deut­schen Lehr­an­stal­ten eine der ers­ten Stel­len ein­nahm. Er hat­te da­selbst einen gu­ten Grund in den Spra­chen, und was man sonst zu ei­ner ge­lehr­ten Er­zie­hung rech­ne­te, ge­legt, nach­her in Leip­zig sich der Rechts­wis­sen­schaft be­flis­sen und zu­letzt in Gie­ßen pro­mo­viert. Sei­ne mit Ernst und Fleiß ver­fass­te Dis­ser­ta­ti­on: Elec­ta de adi­tio­ne here­di­ta­tis, wird noch von den Rechts­leh­rern mit Lob an­ge­führt.

Es ist ein from­mer Wunsch al­ler Vä­ter, das, was ih­nen selbst ab­ge­gan­gen, an den Söh­nen rea­li­siert zu se­hen, so un­ge­fähr, als wenn man zum zwei­ten Mal leb­te und die Er­fah­run­gen des ers­ten Le­bens­lau­fes nun erst recht nut­zen woll­te. Im Ge­fühl sei­ner Kennt­nis­se, in Ge­wiss­heit ei­ner treu­en Aus­dau­er und im Miss­trau­en ge­gen die da­ma­li­gen Leh­rer, nahm der Va­ter sich vor, sei­ne Kin­der selbst zu un­ter­rich­ten und nur so viel, als es nö­tig schi­en, ein­zel­ne Stun­den durch ei­gent­li­che Lehr­meis­ter zu be­set­zen. Ein päd­ago­gi­scher Di­let­tan­tis­mus fing sich über­haupt schon zu zei­gen an. Die Pe­dan­te­rie und Trüb­sin­nig­keit der an öf­fent­li­chen Schu­len an­ge­stell­ten Leh­rer moch­te wohl die ers­te Ver­an­las­sung dazu ge­ben. Man such­te nach et­was Bes­se­rem und ver­gaß, wie man­gel­haft al­ler Un­ter­richt sein muss, der nicht durch Leu­te vom Me­tier er­teilt wird.

Mei­nem Va­ter war sein eig­ner Le­bens­gang bis da­hin ziem­lich nach Wunsch ge­lun­gen; ich soll­te den­sel­ben Weg ge­hen, aber be­que­mer und wei­ter. Er schätz­te mei­ne an­ge­bor­nen Ga­ben umso mehr, als sie ihm man­gel­ten: denn er hat­te al­les nur durch un­säg­li­chen Fleiß, An­halt­sam­keit und Wie­der­ho­lung er­wor­ben. Er ver­si­cher­te mir öf­ters, frü­her und spä­ter, im Ernst und Scherz, dass er mit mei­nen An­la­gen sich ganz an­ders wür­de be­nom­men und nicht so lie­der­lich da­mit wür­de ge­wirt­schaf­tet ha­ben.

Durch schnel­les Er­grei­fen, Ver­ar­bei­ten und Fest­hal­ten ent­wuchs ich sehr bald dem Un­ter­richt, den mir mein Va­ter und die üb­ri­gen Lehr­meis­ter ge­ben konn­ten, ohne dass ich doch in ir­gen­det­was be­grün­det ge­we­sen wäre. Die Gram­ma­tik miss­fiel mir, weil ich sie nur als ein will­kür­li­ches Ge­setz an­sah; die Re­geln schie­nen mir lä­cher­lich, weil sie durch so vie­le Aus­nah­men auf­ge­ho­ben wur­den, die ich alle wie­der be­son­ders ler­nen soll­te. Und wäre nicht der ge­reim­te an­ge­hen­de La­tei­ner ge­we­sen, so hät­te es schlimm mit mir aus­ge­se­hen; doch die­sen trom­mel­te und sang ich mir gern vor. So hat­ten wir auch eine Geo­gra­fie in sol­chen Ge­dächt­nis­ver­sen, wo uns die ab­ge­schmack­tes­ten Rei­me das zu Be­hal­ten­de am bes­ten ein­präg­ten, z. B.:

Ober-Ys­sel; viel Mo­rast Macht das gute Land ver­hasst.

Die Sprach­for­men und -wen­dun­gen fass­te ich leicht; so auch ent­wi­ckel­te ich mir schnell, was in dem Be­griff ei­ner Sa­che lag. In rhe­to­ri­schen Din­gen, Chri­en und der­glei­chen tat es mir nie­mand zu­vor, ob ich schon we­gen Sprach­feh­ler oft hint­an­ste­hen muss­te. Sol­che Auf­sät­ze wa­ren es je­doch, die mei­nem Va­ter be­son­de­re Freu­de mach­ten, und we­gen de­ren er mich mit man­chem, für einen Kna­ben be­deu­ten­den Geld­ge­schenk be­lohn­te.

Mein Va­ter lehr­te die Schwes­ter in dem­sel­ben Zim­mer Ita­liä­nisch, wo ich den Cel­la­ri­us aus­wen­dig zu ler­nen hat­te. In­dem ich nun mit mei­nem Pen­sum bald fer­tig war und doch still sit­zen soll­te, horch­te ich über das Buch weg und fass­te das Ita­liä­ni­sche, das mir als eine lus­ti­ge Ab­wei­chung des La­tei­ni­schen auf­fiel, sehr be­hän­de.

An­de­re Früh­zei­tig­kei­ten in Ab­sicht auf Ge­dächt­nis und Kom­bi­na­ti­on hat­te ich mit je­nen Kin­dern ge­mein, die da­durch einen frü­hen Ruf er­langt ha­ben. Des­halb konn­te mein Va­ter kaum er­war­ten, bis ich auf Aka­de­mie ge­hen wür­de. Sehr bald er­klär­te er, dass ich in Leip­zig, für wel­ches er eine große Vor­lie­be be­hal­ten, gleich­falls Jura stu­die­ren, als­dann noch eine an­de­re Uni­ver­si­tät be­su­chen und pro­mo­vie­ren soll­te. Was die­se zwei­te be­traf, war es ihm gleich­gül­tig, wel­che ich wäh­len wür­de; nur ge­gen Göt­tin­gen hat­te er, ich weiß nicht warum, ei­ni­ge Ab­nei­gung, zu mei­nem Leid­we­sen: denn ich hat­te ge­ra­de auf die­se viel Zu­trau­en und große Hoff­nun­gen ge­setzt.

Fer­ner er­zähl­te er mir, dass ich nach Wetz­lar und Re­gens­burg, nicht we­ni­ger nach Wien und von da nach Ita­li­en ge­hen soll­te; ob er gleich wie­der­holt be­haup­te­te, man müs­se Pa­ris vor­aus se­hen, weil man aus Ita­li­en kom­mend sich an nichts mehr er­get­ze.

Die­ses Mär­chen mei­nes künf­ti­gen Ju­gend­gan­ges ließ ich mir gern wie­der­ho­len, be­son­ders da es in eine Er­zäh­lung von Ita­li­en und zu­letzt in eine Be­schrei­bung von Nea­pel aus­lief. Sein sons­ti­ger Ernst und sei­ne Tro­cken­heit schie­nen sich je­der­zeit auf­zu­lö­sen und zu be­le­ben, und so er­zeug­te sich in uns Kin­dern der lei­den­schaft­li­che Wunsch, auch die­ser Pa­ra­die­se teil­haft zu wer­den.

Pri­vat­stun­den, wel­che sich nach und nach ver­mehr­ten, teil­te ich mit Nach­bars­kin­dern. Die­ser ge­mein­sa­me Un­ter­richt för­der­te mich nicht; die Leh­rer gin­gen ih­ren Schlen­dri­an, und die Un­ar­ten, ja manch­mal die Bös­ar­tig­kei­ten mei­ner Ge­sel­len brach­ten Un­ruh, Ver­druss und Stö­rung in die kärg­li­chen Lehr­stun­den. Chre­sto­ma­thi­en, wo­durch die Be­leh­rung hei­ter und man­nig­fal­tig wird, wa­ren noch nicht bis zu uns ge­kom­men. Der für jun­ge Leu­te so star­re Cor­ne­li­us Nepos, das all­zu leich­te und durch Pre­dig­ten und Re­li­gi­ons­un­ter­richt so­gar tri­vi­al ge­w­ord­ne Neue Te­sta­ment, Cel­la­ri­us und Pa­sor konn­ten uns kein In­ter­es­se ge­ben; da­ge­gen hat­te sich eine ge­wis­se Reim- und Ver­se­wut, durch Le­sung der da­ma­li­gen deut­schen Dich­ter, un­ser be­mäch­tigt. Mich hat­te sie schon frü­her er­grif­fen, als ich es lus­tig fand, von der rhe­to­ri­schen Be­hand­lung der Auf­ga­ben zu der poe­ti­schen über­zu­ge­hen.

Wir Kna­ben hat­ten eine sonn­täg­li­che Zu­sam­men­kunft, wo je­der von ihm selbst ver­fer­tig­te Ver­se pro­du­zie­ren soll­te. Und hier be­geg­ne­te mir et­was Wun­der­ba­res, was mich sehr lan­ge in Un­ruh setz­te. Mei­ne Ge­dich­te, wie sie auch sein moch­ten, muss­te ich im­mer für die bes­sern hal­ten. Al­lein ich be­merk­te bald, dass mei­ne Mit­wer­ber, wel­che sehr lah­me Din­ge vor­brach­ten, in dem glei­chen Fal­le wa­ren und sich nicht we­ni­ger dünk­ten; ja was mir noch be­denk­li­cher schi­en, ein gu­ter, ob­gleich zu sol­chen Ar­bei­ten völ­lig un­fä­hi­ger Kna­be, dem ich üb­ri­gens ge­wo­gen war, der aber sei­ne Rei­me sich vom Hof­meis­ter ma­chen ließ, hielt die­se nicht al­lein für die al­ler­bes­ten, son­dern war völ­lig über­zeugt, er habe sie selbst ge­macht; wie er mir, in dem ver­trau­te­ren Ver­hält­nis, worin ich mir ihm stand, je­der­zeit auf­rich­tig be­haup­te­te. Da ich nun sol­chen Irr­tum und Wahn­sinn of­fen­bar vor mir sah, fiel es mir ei­nes Ta­ges aufs Herz, ob ich mich viel­leicht selbst in dem Fal­le be­fän­de, ob nicht jene Ge­dich­te wirk­lich bes­ser sei­en als die mei­ni­gen, und ob ich nicht mit Recht je­nen Kna­ben eben so toll als sie mir vor­kom­men möch­te? Die­ses be­un­ru­hig­te mich sehr und lan­ge Zeit: denn es war mir durch­aus un­mög­lich, ein äu­ße­res Kenn­zei­chen der Wahr­heit zu fin­den; ja ich stock­te so­gar in mei­nen Her­vor­brin­gun­gen, bis mich end­lich Leicht­sinn und Selbst­ge­fühl und zu­letzt eine Pro­be­ar­beit be­ru­hig­ten, die uns Leh­rer und El­tern, wel­che auf un­se­re Scher­ze auf­merk­sam ge­wor­den, aus dem Steg­reif auf­ga­ben, wo­bei ich gut be­stand und all­ge­mei­nes Lob da­von­trug.

Man hat­te zu der Zeit noch kei­ne Biblio­the­ken für Kin­der ver­an­stal­tet. Die Al­ten hat­ten selbst noch kind­li­che Ge­sin­nun­gen und fan­den es be­quem, ihre ei­ge­ne Bil­dung der Nach­kom­men­schaft mit­zu­tei­len. Au­ßer dem »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us kam uns kein Buch die­ser Art in die Hän­de; aber die große Fo­lio­bi­bel, mit Kup­fern von Me­ri­an, ward häu­fig von uns durch­blät­tert; Gott­frieds »Chro­nik«, mit Kup­fern des­sel­ben Meis­ters, be­lehr­te uns von den merk­wür­digs­ten Fäl­len der Welt­ge­schich­te; die »A­cer­ra phi­lo­lo­gi­ca« tat noch al­ler­lei Fa­beln, My­tho­lo­gi­en und Selt­sam­kei­ten hin­zu; und da ich gar bald die Ovi­di­schen »Ver­wand­lun­gen« ge­wahr wur­de und be­son­ders die ers­ten Bü­cher flei­ßig stu­dier­te, so war mein jun­ges Ge­hirn schnell ge­nug mit ei­ner Mas­se von Bil­dern und Be­ge­ben­hei­ten, von be­deu­ten­den und wun­der­ba­ren Ge­stal­ten und Er­eig­nis­sen an­ge­füllt, und ich konn­te nie­mals lan­ge Wei­le ha­ben, in­dem ich mich im­mer­fort be­schäf­tig­te, die­sen Er­werb zu ver­ar­bei­ten, zu wie­der­ho­len, wie­der her­vor­zu­brin­gen.

Ei­nen fröm­mern, sitt­li­chern Ef­fekt, als jene mit­un­ter ro­hen und ge­fähr­li­chen Al­ter­tüm­lich­kei­ten, mach­te Fe­ne­lons »Te­le­mach«, den ich erst nur in der Neu­kirchi­schen Über­set­zung ken­nen lern­te und der, auch so un­voll­kom­men über­lie­fert, eine gar süße und wohl­tä­ti­ge Wir­kung auf mein Ge­müt äu­ßer­te. Dass »Ro­bin­son Cru­soe« sich zei­tig an­ge­schlos­sen, liegt wohl in der Na­tur der Sa­che; dass »die In­sel Fel­sen­burg« nicht ge­fehlt habe, lässt sich den­ken. Lord An­sons »Rei­se um die Welt« ver­band das Wür­di­ge der Wahr­heit mit dem Fan­ta­sie­rei­chen des Mär­chens, und in­dem wir die­sen treff­li­chen See­mann mit den Ge­dan­ken be­glei­te­ten, wur­den wir weit in alle Welt hin­aus­ge­führt und ver­such­ten, ihm mit un­sern Fin­gern auf dem Glo­bus zu fol­gen. Nun soll­te mir auch noch eine reich­li­che­re Ern­te be­vor­stehn, in­dem ich an eine Mas­se Schrif­ten ge­riet, die zwar in ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Ge­stalt nicht vor­treff­lich ge­nannt wer­den kön­nen, de­ren In­halt je­doch uns man­ches Ver­dienst vo­ri­ger Zei­ten in ei­ner un­schul­di­gen Wei­se nä­her bringt.

Der Ver­lag oder viel­mehr die Fa­brik je­ner Bü­cher, wel­che in der fol­gen­den Zeit un­ter dem Ti­tel Volks­schrif­ten, Volks­bü­cher, be­kannt und so­gar be­rühmt ge­wor­den, war in Frank­furt selbst, und sie wur­den, we­gen des großen Ab­gangs, mit ste­hen­den Let­tern auf das schreck­lichs­te Lösch­pa­pier fast un­le­ser­lich ge­druckt. Wir Kin­der hat­ten also das Glück, die­se schätz­ba­ren Über­res­te der Mit­tel­zeit auf ei­nem Tisch­chen vor der Hau­stü­re ei­nes Bü­cher­tröd­lers täg­lich zu fin­den und sie uns für ein paar Kreu­zer zu­zu­eig­nen. Der »Eu­len­spie­gel«, »Die vier Hai­mons­kin­der«, »Die schö­ne Me­lu­si­ne«, »Der Kai­ser Ok­ta­vi­an«, »Die schö­ne Ma­ge­lo­ne«, »For­tu­na­tus«, mit der gan­zen Sipp­schaft bis auf den »Ewi­gen Ju­den«, al­les stand uns zu Diens­ten, so­bald uns ge­lüs­te­te, nach die­sen Wer­ken an­statt nach ir­gend ei­ner Nä­sche­rei zu grei­fen. Der größ­te Vor­teil da­bei war, dass, wenn wir ein sol­ches Heft zer­le­sen oder sonst be­schä­digt hat­ten, es bald wie­der an­ge­schafft und aufs neue ver­schlun­gen wer­den konn­te.

Wie eine Fa­mi­li­en­spa­zier­fahrt im Som­mer durch ein plötz­li­ches Ge­wit­ter auf eine höchst ver­drieß­li­che Wei­se ge­stört und ein fro­her Zu­stand in den wi­der­wär­tigs­ten ver­wan­delt wird, so fal­len auch die Kin­der­krank­hei­ten un­er­war­tet in die schöns­te Jahrs­zeit des Früh­le­bens. Mir er­ging es auch nicht an­ders. Ich hat­te mir eben den »For­tu­na­tus« mit sei­nem Sä­ckel und Wünsch­hüt­lein ge­kauft, als mich ein Miss­be­ha­gen und ein Fie­ber über­fiel, wo­durch die Po­cken sich an­kün­dig­ten. Die Ein­imp­fung der­sel­ben ward bei uns noch im­mer für sehr pro­ble­ma­tisch an­ge­se­hen, und ob sie gleich po­pu­lä­re Schrift­stel­ler schon fass­lich und ein­dring­lich emp­foh­len, so zau­der­ten doch die deut­schen Ärz­te mit ei­ner Ope­ra­ti­on, wel­che der Na­tur vor­zu­grei­fen schi­en. Spe­ku­lie­ren­de Eng­län­der ka­men da­her aufs fes­te Land und impf­ten, ge­gen ein an­sehn­li­ches Ho­no­rar, die Kin­der sol­cher Per­so­nen, die sie wohl­ha­bend und frei von Vor­ur­teil fan­den. Die Mehr­zahl je­doch war noch im­mer dem al­ten Un­heil aus­ge­setzt; die Krank­heit wü­te­te durch die Fa­mi­li­en, tö­te­te und ent­stell­te vie­le Kin­der, und we­ni­ge El­tern wag­ten es, nach ei­nem Mit­tel zu grei­fen, des­sen wahr­schein­li­che Hil­fe doch schon durch den Er­folg man­nig­fal­tig be­stä­tigt war. Das Übel be­traf nun auch un­ser Haus und über­fiel mich mit ganz be­son­de­rer Hef­tig­keit. Der gan­ze Kör­per war mit Blat­tern über­sä­et, das Ge­sicht zu­ge­deckt, und ich lag meh­re­re Tage blind und in großen Lei­den. Man such­te die mög­lichs­te Lin­de­rung und ver­sprach mir gol­de­ne Ber­ge, wenn ich mich ru­hig ver­hal­ten und das Übel nicht durch Rei­ben und Krat­zen ver­meh­ren woll­te. Ich ge­wann es über mich; in­des­sen hielt man uns, nach herr­schen­dem Vor­ur­teil, so warm als mög­lich und schärf­te da­durch nur das Übel. End­lich, nach trau­rig ver­flos­se­ner Zeit, fiel es mir wie eine Mas­ke vom Ge­sicht, ohne dass die Blat­tern eine sicht­ba­re Spur auf der Haut zu­rück­ge­las­sen; aber die Bil­dung war merk­lich ver­än­dert. Ich selbst war zu­frie­den, nur wie­der das Ta­ges­licht zu se­hen und nach und nach die fle­cki­ge Haut zu ver­lie­ren; aber an­de­re wa­ren un­barm­her­zig ge­nug, mich öf­ters an den vo­ri­gen Zu­stand zu er­in­nern; be­son­ders eine sehr leb­haf­te Tan­te, die frü­her Ab­göt­te­rei mit mir ge­trie­ben hat­te, konn­te mich, selbst noch in spä­tem Jah­ren, sel­ten an­se­hen, ohne aus­zu­ru­fen: »Pfui Teu­fel! Vet­ter, wie gars­tig ist Er ge­wor­den!« Dann er­zähl­te sie mir um­ständ­lich, wie sie sich sonst an mir er­geht, wel­ches Auf­se­hen sie er­regt, wenn sie mich um­her­ge­tra­gen; und so er­fuhr ich früh­zei­tig, dass uns die Men­schen für das Ver­gnü­gen, das wir ih­nen ge­währt ha­ben, sehr oft emp­find­lich bü­ßen las­sen.

We­der von Ma­sern noch Wind­blat­tern, und wie die Quäl­geis­ter der Ju­gend hei­ßen mö­gen, blieb ich ver­schont, und je­des Mal ver­si­cher­te man mir, es wäre ein Glück, dass die­ses Übel nun für im­mer vor­über sei; aber lei­der droh­te schon wie­der ein andres im Hin­ter­grund und rück­te her­an. Alle die­se Din­ge ver­mehr­ten mei­nen Hang zum Nach­den­ken, und da ich, um das Pein­li­che der Un­ge­duld von mir zu ent­fer­nen, mich schon öf­ter im Aus­dau­ern ge­übt hat­te, so schie­nen mir die Tu­gen­den, wel­che ich an den Stoi­kern hat­te rüh­men hö­ren, höchst nach­ah­mens­wert, umso mehr, als durch die christ­li­che Dul­dungs­leh­re ein Ähn­li­ches emp­foh­len wur­de.