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R. wächst in den 1950er Jahren auf. Die Welt, die der erst kürzlich beendete Krieg hinterlassen hat, ist eine voller Schatten, jedoch auch voller Glücksmomente und spannender Erfahrungen für den aufgeweckten Mainzer Jungen. Er lebt mit seinen Eltern in einem Bahnhofshaus und fährt täglich gemeinsam mit vielen anderen mit dem Zug zur Schule, wo plötzlich auch sein Interesse für Mädchen erwacht. Seine Freizeit verbringt er jedoch lieber mit seinen Freunden auf dem Trümmerfeld, wo das Spielen mit viel Phantasie stets zu einem Abenteuer wird. Waghalsige Abenteuer bereiten ihm ebenso Freude wie das Mitfiebern bei der Fußball-WM vor einem Fernsehgerät. Auch in der Schule wird R. nie langweilig – seine Mitschüler und Lehrer sorgen mitunter für skurrile und erschreckende Erlebnisse …
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Seitenzahl: 66
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-969-8
ISBN e-book: 978-3-99146-970-4
Lektorat: Elisa Anndaberg
Umschlagabbildungen: Reinhard Lehnen, Ramesh Chinnasamy | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Reinhard Lehnen
www.novumverlag.com
Vorwort
Die 9 autobiografisch geprägten Erzählungen sollen Kindern und Jugendlichen die Lebenswirklichkeit und das Lebensgefühl in Deutschland der 1950er Jahre näherbringen.
Themen sind Armut, Zerstörung der Städte, kalte Winter, Fußball-Weltmeisterschaft 1954, Russland-Heimkehrer, Verhältnis der Geschlechter, Erziehungsmethoden usw.
Schön wäre es, wenn die Großeltern, die diese Zeit selbst erlebt haben, den Enkeln vorlesen – oder umgekehrt.
1951
Trümmer
R. schaut aus dem Fenster der Wohnküche. Sie ist Teil einer Wohnung im 3. Stock eines Hauses mit insgesamt 8 Mietwohnungen. Eigentlich ist es nur eine halbe Wohnung, denn von den 4 Zimmern sind zwei von anderen Menschen bewohnt. R., sein Vater und seine Mutter können nur die Wohnküche und ein Schlafzimmer nutzen. Den Flur müssen sie sich teilen mit den anderen Bewohnern.
Diese gab es im ersten Jahr nach dem Einzug zunächst nicht, bis der Vermieter den Zugang und die Vermietung an Dritte sogar mit Hilfe eines leibhaftigen Polizisten in eindrucksvoller Uniform durchsetzte.
Es ist Anfang Mai und schon frühsommerlich warm. So warm, dass R. nicht seine kratzige Lederhose mit langen Strümpfen anziehen muss, sondern eine kurze Stoffhose. Sie ist von der Oma selbst genäht. Oma kann alles nähen. Eigentlich ist sie Hutmacherin, aber jetzt verkauft sie Kurzwaren in einem großen Kaufhaus in einer anderen großen Stadt. Es ist eine junge Oma, denn sie wurde schon in jungen Jahren Mutter. R.s Mama war auch erst 20 Jahre alt, als er auf die Welt kam.
Die Mutter sagt zu R.: „Du hast noch nicht deinen Lebertran genommen.“ R. hasst Lebertran. Aber die Erwachsenen betonen unaufhörlich, dass er in diesen Zeiten das Zeug nehmen müsse, wenn er groß und stark werden wolle. Einen Esslöffel voll muss er jeden Vormittag schlucken. Weil Fleisch so teuer ist, dass man es nur selten essen kann, müssen die Kinder tierische Produkte in anderer Form zu sich nehmen. Es ist schrecklich. Es wird auch nicht besser, wenn R. an die großen Wale denkt, von denen das angeblich stammt. Ihr so freundliches Abbild ist auf jeder Flasche mit dem gelblich-grauen Saft.
R. sieht aus dem Fenster und weiß noch nicht so recht, was er heute treiben soll. Seit Ostern ist er in der Schule und Erstklässler. Heute Vormittag hat er aber keine Schule, weil jetzt eine andere Klasse das Klassenzimmer nutzt. Die meisten Schulen in seiner Stadt sind immer noch von den Bomben des Krieges zerstört, sodass die wenigen intakten Schulen abwechselnd vor- und nachmittags belegt werden. R. findet das gar nicht schlecht. So kann er zweimal in der Woche ausschlafen. Er schläft im Zimmer seiner Eltern und wird deshalb oft wach, wenn seine Eltern später ins Bett gehen. Er wird auch aus dem Schlaf gerissen, wenn sein Vater von der Wechselschicht und Nachtdienst am frühen Morgen kommt. Er kommt dann ganz früh Hause, sodass es im Winter noch dunkel ist. Dann wird R. wach oder träumt schlecht. Sein Vater arbeitet bei der Bundesbahn. Vielleicht hieß sie damals noch Reichsbahn, wie sie in der ehemaligen DDR noch bis zur Wiedervereinigung bezeichnet wurde. Der Vater kennt alle Züge mit genauer Fahrzeit, die in ihrer Stadt losfahren oder ankommen. Er braucht eigentlich keine Uhr. Ein Blick aus dem Fenster der Wohnküche auf einen am Horizont fahrenden Zug und er weiß genau, welche Uhrzeit es ist.
R. steht immer noch am Fenster und kann sich nicht entscheiden, was er machen soll. Unmittelbar an das Grundstück ihres Wohnhauses schließt ein großes Trümmerfeld an. Hier stehen die Reste der ehemaligen Häuser, die im Krieg von Bomben getroffen wurden und bisher weder abgebrochen noch wiederaufgebaut wurden. Für R. ist das eigentlich ein großer Spielplatz. Hier kommen alle Kinder aus dem Viertel hin, um zu spielen. Man kann wunderbar Hütten bauen mit den überall herumliegenden Steinen. Inzwischen wachsen dort – der Krieg ist ja schon sechs Jahre vorüber – auch kleine Büsche, aus deren Ästen man ein Dach zusammenstellen kann. Ideal ist, wenn R. noch irgendwo ein altes Laken oder ein Blech findet. Dann gibt es fast ein richtiges Haus. Allerdings ist das Spielen auf den Trümmergrundstücken nicht ganz ungefährlich. Insbesondere wenn es vorher geregnet hat, lösen sich mit dem Mörtel auch ganze Steine von den Ruinen und fallen herunter. Die Mutter möchte deshalb nicht, dass er dort spielt mit seinen Kumpels. Aber sie kann ihn ja nicht sehen. Höchstens hören, wenn er auf der Straße spielt.
R. meint zu seiner Mutter: „Ich gehe dann mal runter auf die Straße, mal sehen, wer da ist zum Spielen.“ Die Mutter nickt nur, denn sie ist mit dem Abwasch an der kleinen Küchenspüle beschäftigt und hat das alte Radio laut gestellt. R. sucht den WC-Schlüssel. Das Toilette für jeweils 2 Wohnungen ist auf „halber Treppe“, das heißt im Zwischengeschoss zwischen den eigentlichen Wohn-Ebenen. Damit nur die beiden Wohnparteien auf einem Stockwerk die Toilette benutzen, wird sie abgeschlossen.
Das war früher, insbesondere vor dem Krieg, in ärmeren Gegenden so üblich. R.s Großeltern hatten aber schon ein eigenes WC in der Wohnung.
Mit einem „Tschüss, Mama!“ und einem nicht gerade geräuschlosen Zuziehen der Wohnungstür macht sich R. auf den Weg nach unten ins Erdgeschoss. Vor dem Haus trifft er den Mieter aus dem Parterre. Herr Z. hat eine graue uniformähnliche Bekleidung und eine graue dazu passende Mütze auf. Er ist Chauffeur bei den „Franzosen“. In dieser Zeit sind westlich des Rheines noch die französischen Besatzungstruppen und passen auf den neuen deutschen Staat und seine Bürger auf. Herr Z. fährt einen schwarzen Opel Kapitän. Für R. ein Traum von einem Auto. Einmal durfte er mitfahren. Wenn er groß ist, will er auch mal so einen chicken Wagen. Sonst wünscht er sich nur noch den großen blauen Wasserball aus der Drogerie, der dort über dem Eingang – in jeder Hinsicht unerreichbar – hängt. Das Gehalt des Vaters langt gerademal zum Lebensnotwendigen. Ein Wasserball ist da purer Luxus. „Wat mat Dau?“, fragt Herr Z. in dem besonderen Dialekt dieser Gegend. Er klingt irgendwie rheinisch, wie es in der nahen Karnevalshochburg gesprochen wird, ist aber mit einer Mundart der nahen Eifel vermischt. Der rheinische Sing-Sang wird so von einem schwermütigen, harten Ton überlagert, der aus der nahen, rauen Eifel mit ihren tiefen Maaren und kalten Wintern stammt. Maare nennt man die aus Vulkankratern entstandenen Seen dort. R. zuckt nur mit den Achseln. Herr Z. salutiert lächelnd mit dem Zeigefinger an seiner Dienstmütze, sagt „Mat es juut!“ und vertieft sich wieder in seine Beschäftigung, auf dem sauberen Auto irgendwie doch noch ein Staubkörnchen oder eine Schliere auf den Scheiben zu finden.
Da erscheint sein Kumpel A. R. weiß nicht so recht, ob A. sein Freund ist oder sein Anführer. A. ist schon in der 2. Klasse und einen halben Kopf größer. Mit seinen roten, kurz geschnittenen Haaren und seiner weißen Haut hätte man ihn für Pumuckl halten können, wenn er nicht so furchtbar stark für R. gewesen wäre. R. mied deshalb jede Auseinandersetzung mit A. und macht das, was dieser will. A. wohnt in der Seitenstraße in einem Hinterhaus, das eigentlich mehr ein Schuppen war. In den ersten Stock zu dem einen Zimmer führt eine knarrende Holztreppe, über die der Vater von A. hinaufhumpeln muss mit seinen zwei Krücken. Herr A. war, wie alle Männer dieser Zeit, Soldat im Krieg gewesen und hatte dabei ein Bein durch einen Splitter einer Granate verloren. Wegen des fehlenden Beines war er für „die Russen“ als Arbeitskraft wertlos. Deshalb wurde Herr A. schon recht bald aus der Kriegsgefangenschaft in Russland entlassen. Aber jetzt gibt es „zu Hause“ auch keine Arbeit für ihn. Es ist ihm langweilig und