Die Abenteuer des Apollo 4: Die Gruft des Tyrannen - Rick Riordan - E-Book

Die Abenteuer des Apollo 4: Die Gruft des Tyrannen E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Gefährliche Gräber und ein machtgieriges Triumvirat Noch immer darf Apollo nicht zum Olymp zurückkehren, denn das Triumvirat will alle alten Orakel beherrschen und das Land unter den drei römischen Kaisern aufteilen. Nur Apollo aka Lester und seine Freunde Meg und Grover können ihnen die Stirn bieten. Ihre Reise führt sie tief unter die Erde, in die Gruft des römischen Königs Lucius Tarquinius Superbus. Er hat sich mit den bösen Kaisern verbündet und hetzt eine Armee aus Untoten auf die drei Freunde. Jetzt müssen sie alles geben, um das böse Triumvirat zu stoppen.  Die etwas andere Heldenreise: Zeit für Apollo, den egozentrischsten Gott aller Zeiten! Einmal Mist im Olymp gebaut und schon landet Gott Apollo auf direktem Wege in einer Gasse in New York. Ohne seine göttlichen Kräfte und im Körper eines Teenagers muss er sich der modernen Welt stellen. Dabei stolpert er von einem Abenteuer ins nächste und lernt, dass das Leben als Sterblicher nicht ganz so glamourös ist, wie er dachte – aber vielleicht viel bedeutungsvoller.  "Die Abenteuer des Apollo" ist ein Spin-off von Riordans vorherigen Reihen "Percy Jackson" und "Helden des Olymp". In der fünfteiligen Fantasy-Buchserie überführt Rick Riordan alte Sagen und Legenden in moderne Geschichten und begeistert Leser*innen überall auf der Welt für seine Hauptfigur Apollo, dem seine maßlose Arroganz und Selbstverliebtheit immer wieder im Weg steht.  ***Ein selbstverliebter Held, epische Abenteuer und viel Humor – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie*** 

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Rick Riordan: Die Abenteuer des Apollo. Die Gruft des Tyrannen

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

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  Leseprobe

 

Zur Erinnerung an Diane Martinez,die viele Leben zum Besseren verändert hat

 

Die dunkle Prophezeiung

Die Worte, von Erinnerung gewirkt, sie brennen

Eh sich der neue Mond am Teufelsberg erhebt

Der edle Wechselbalg muss seine Gegner nennen

Bis Tibers Flut vor Leichen schier erbebt.

Die Sonne muss auf ihrem Weg nach Süden gehen

Durch dunklen Irrweg zu des Todes grimmem Land

Um dort des weißen Rosses Herrn zu sehen

Den Kreuzwort-Atem dann entreißt sie seiner Hand.

Zum westlichen Palaste gehen muss der Lester

Demeters Tochter findet ihren alten Keim

Behufter Führer kennt der Wege besten

Die Stiefel seines Feindes führn dich heim.

Wenn drei bekannt sind und der Tiber erst erreicht,

sodann beginnt Apollos wilder Jive.

1

Hier ist kein Essen

Meg fraß das Weingummi auf

Hau ab jetzt vom Sarg

Ich bin ja sehr dafür, Leichname zurückzugeben.

Das entspricht einfach den Grundregeln der Höflichkeit, oder etwa nicht? Wenn ein Krieger stirbt, solltet ihr tun, was in eurer Macht steht, um seinen Leuten den Leichnam zurückzugeben, damit er ordnungsgemäß bestattet werden kann. Vielleicht bin ich da altmodisch. Ich bin schließlich über viertausend Jahre alt. Aber ich finde es ungezogen, Leichname nicht richtig zu entsorgen.

Achilles im Trojanischen Krieg, zum Beispiel. Absolut schweinös. Er schleifte den Leichnam des trojanischen Helden Hektor vier Tage lang hinter seinem Streitwagen um die Stadtmauern. Am Ende konnte ich Zeus überreden, dass er den Dreckskerl dazu brachte, den Leichnam Hektors Eltern zu übergeben, damit die für ihren Sohn eine anständige Totenfeier machen konnten. Ich meine, also echt. Habt ein bisschen Respekt für die Leute, die ihr abschlachtet.

Oder der Leichnam von Oliver Cromwell. Ich bin ja kein Fan von dem Mann, aber ich muss doch bitten. Zuerst begraben die Engländer ihn in allen Ehren. Jahre später beschließen sie, dass sie ihn hassen, deshalb buddeln sie ihn aus und lassen seinen Leichnam »hinrichten«. Dann fällt sein Kopf von der Pike, auf die er jahrzehntelang aufgespießt war, und wird fast drei Jahrhunderte lang wie ein ekelhaftes Schneekugel-Souvenir von einem Sammler zum anderen weitergereicht. Bis ich 1960 einigen einflussreichen Leuten ins Ohr flüsterte: Das reicht jetzt aber mal. Ich bin der Gott Apollo und ich befehle euch, das Teil da zu begraben. Ihr widert mich an.

Bei Jason Grace, meinem gefallenen Freund und Halbbruder, wollte ich nichts dem Zufall überlassen. Ich wollte seinen Sarg persönlich nach Camp Jupiter begleiten und ihn dort in allen Ehren bestatten.

Das erwies sich als ziemlich gute Idee. Schließlich überfielen uns unter anderem ein paar Ghule.

Der Sonnenuntergang verwandelte die Bucht von San Francisco in einen Kessel aus geschmolzenem Kupfer, als unser Privatflugzeug auf dem Flughafen von Oakland landete. Der Flug war ein Abschiedsgeschenk von unserer Freundin Piper McLean und ihrem Vater, dem Filmstar (alle sollten mindestens einen Freund oder eine Freundin mit einem Filmstar in der Verwandtschaft haben).

Neben der Landebahn erwartete uns eine weitere Überraschung, die offenbar die McLeans bestellt hatten: ein glänzender schwarzer Leichenwagen.

Meg McCaffrey und ich vertraten uns auf der Rollbahn die Beine, während das Bodenpersonal mit düsteren Mienen Jasons Sarg aus dem Laderaum der Cessna holte. Das polierte Mahagoni schien im Abendlicht zu glühen. Die Messingbeschläge funkelten rot. Ich hasste diese Schönheit. Der Tod sollte nicht schön sein.

Der Sarg wurde in den Leichenwagen geladen, dann wurde unser Gepäck auf der Rückbank verstaut. Wir hatten nicht viel: Megs Rucksack (ein Freundschaftsgeschenk von Macros Militär-Manie), meinen Bogen, den Köcher und meine Ukulele sowie ein Camp-Modell und zwei Skizzenblöcke, die wir von Jason geerbt hatten.

Ich unterschrieb einige Formulare, nahm die Beileidsäußerungen des Bodenpersonals entgegen und schüttelte dann die Hand eines sympathischen Bestatters, der mir die Schlüssel des Leichenwagens überreichte und sich entfernte.

Ich starrte die Schlüssel an, dann Meg McCaffrey, die einem Schwedischen Fisch den Kopf abnagte. Das Flugzeug war mit einem halben Dutzend Dosen dieser Weingummisüßigkeit beladen gewesen. Das hatte sich erledigt. Meg hatte dieses fischige Ökosystem im Alleingang an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.

»Ich soll fahren?«, fragte ich. »Ist das ein Mietleichenwagen?«

Meg zuckte mit den Schultern. Während des Flugs hatte sie sich auf dem Sofa der Cessna ausgestreckt, deshalb lag ihre dunkle Pagenfrisur platt an der Seite ihres Kopfes an. Eine Spitze ihrer mit Strass besetzten Schmetterlingsbrille ragte aus den Haaren hervor wie die Flosse eines Disco Sharks.

Auch ihre restliche Aufmachung war wenig salonfähig: ausgetretene hohe Turnschuhe, fadenscheinige gelbe Leggings und ihr geliebtes grünes Kleid, das Percy Jacksons Mutter ihr geschenkt hatte. »Geliebt« hieß in diesem Fall, dass das Kleid so viele Schlachten erlebt hatte und so oft gewaschen und geflickt worden war, dass es nicht mehr wie ein Kleidungsstück aussah, sondern eher wie ein Luftballon, dem die Luft ausgegangen war. Um Megs Taille lag ihr persönliches Erkennungszeichen: ihr Gärtnergürtel mit den vielen Taschen, denn ohne den gehen die Kinder der Demeter niemals aus dem Haus.

»Ich habe keinen Führerschein«, sagte Meg, als brauchte ich eine Erinnerung daran, dass mein Leben derzeit unter der Kontrolle einer Zwölfjährigen stand. »Ich mach es mir auf dem Beifahrersitz gemütlich.«

»Gemütlich machen« klang etwas unpassend bei einem Leichenwagen, aber Meg lief auf die Beifahrerseite und stieg ein. Ich setzte mich hinter das Lenkrad. Bald hatten wir das Flughafengelände verlassen und fuhren in unserem gemieteten Trauerfahrzeug auf dem Freeway in Richtung Norden.

Ach, die Bucht von San Francisco … Ich hatte dort glückliche Zeiten verlebt. Diese riesige, missgestaltete geografische Mulde war vollgestopft mit interessanten Menschen und Orten. Ich liebte die grüngoldenen Hügel, die vom Nebel verhüllte Küste, das leuchtende Flechtwerk aus Brücken und das irre Zickzack der Wohnviertel, die sich aneinanderpressen wie U-Bahn-Passagiere zur Hauptverkehrszeit.

In den 1950er-Jahren hatte ich mit Dizzy Gillespie im Fillmore gespielt. In den 60ern, während des »Summer of Love«, hatte ich im Golden Gate Park eine Session mit den Grateful Dead improvisiert (reizende Typen, aber waren diese fünfzehnminütigen Solos wirklich nötig?). In den 1980ern hing ich in Oakland mit Stan Burrell ab – übrigens auch bekannt als MC Hammer –, als er zum Pionier des Pop Rap wurde. Ich kann mich nicht rühmen, für Stans Musik verantwortlich zu sein, aber ich habe ihm gute Tipps für seine Outfits gegeben. Diese Fallschirmspringerhosen aus Goldlamé? Meine Idee. Gern geschehen, Fashionistas!

Der größte Teil der Bay Area um San Francisco weckte in mir gute Erinnerungen. Aber beim Fahren musste ich unwillkürlich nach Nordwesten blicken – nach Marin County und zum dunklen Gipfel des Mount Tamalpais. Wir Götter kennen diesen Berg als Othrys, Sitz der Titanen. Obwohl unsere uralten Feinde besiegt waren und ihr Palast zerstört worden war, konnte ich noch immer die böse Ausstrahlung dieses Ortes spüren – es war, als ob ein Magnet versuchte, das Eisen aus meinem jetzt sterblichen Blut zu ziehen.

Ich gab mir alle Mühe, dieses Gefühl abzuschütteln. Wir hatten wirklich andere Probleme. Außerdem waren wir unterwegs nach Camp Jupiter – befreundetes Territorium auf dieser Seite der Bucht. Ich hatte Meg als Unterstützung. Was sollte schon schiefgehen?

Der Nimitz-Freeway schlängelte sich vorbei an Lagerhallen und Hafenanlagen, Einkaufszentren und Reihen von zerfallenen Bungalows. Auf unserer Rechten sahen wir die Innenstadt von Oakland, die kleinen Gruppen von Hochhäusern, die sich ihrem cooleren Nachbarn San Francisco am anderen Ufer der Bucht entgegenreckten, als ob sie verkünden wollten: Wir sind Oakland! Uns gibt es auch!

Meg ließ sich auf ihrem Sitz zurücksinken, legte ihre roten Turnschuhe auf das Armaturenbrett und öffnete das Fenster.

»Hier gefällt es mir«, erklärte sie.

»Wir sind gerade erst angekommen«, sagte ich. »Was gefällt dir denn? Die verlassenen Lagerhallen? Das Schild da von Bo’s Chicken ’n’ Waffles?«

»Die Natur.«

»Beton zählt als Natur?«

»Es gibt hier auch Bäume. Blühende Pflanzen. Feuchtigkeit in der Luft. Der Eukalyptus riecht gut. Das ist nicht wie …«

Sie brauchte ihren Satz nicht zu beenden. Unser Aufenthalt in Südkalifornien war geprägt gewesen von sengenden Temperaturen, extremer Dürre und wütenden Waldbränden – und das alles verdankten wir dem magischen brennenden Labyrinth, das unter der Herrschaft von Caligula und seiner von Hass besessenen Zauberinnenbestie Medea stand. Die Gegend hier hatte keines dieser Probleme. Für den Moment jedenfalls nicht.

Wir hatten Medea getötet. Wir hatten das brennende Labyrinth gelöscht. Wir hatten die Erythräische Sibylle befreit und den Sterblichen und leidenden Naturgeistern von Südkalifornien Linderung gebracht.

Aber Caligula war noch immer äußerst lebendig. Er und seine Mitkaiser im Triumvirat wollten weiterhin alle Möglichkeiten zur Weissagung an sich reißen, wollten die Weltherrschaft antreten und die Zukunft in ihrem eigenen sadistischen Sinne gestalten. In diesem Moment war Caligulas Flotte aus tückischen Luxusjachten auf dem Weg nach San Francisco, um Camp Jupiter zu überfallen. Ich konnte mir kaum ausmalen, mit welcher Art von höllischer Vernichtung der Kaiser Oakland und Bo’s Chicken ’n’ Waffles überziehen würde.

Selbst, wenn wir es auf irgendeine Weise schafften, das Triumvirat zu besiegen, würde Delphi, das größte Orakel, noch immer der Herrschaft meiner alten Nemesis Python unterworfen sein. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich ihn in meiner derzeitigen Gestalt als sechzehn Jahre alter Schwächling besiegen sollte.

Aber abgesehen davon war alles wunderbar. Der Eukalyptus roch gut.

Am nächsten Autobahnkreuz floss der Verkehr nicht mehr ganz so glatt. Offenbar war die Sitte, als Zeichen des Respekts Leichenwagen die Vorfahrt zu überlassen, bei kalifornischen Autofahrern nicht bekannt. Vielleicht rechneten sie sich aus, dass mindestens einer der Insassen schon tot war, weshalb wir es nicht so furchtbar eilig haben konnten.

Meg spielte an ihrem Fenster herum und hob und senkte die Glasscheibe. Riii. Riii. Riii.

»Du kennst den Weg zum Camp Jupiter?«, fragte sie.

»Natürlich.«

»Weil du das auch über Camp Half-Blood gesagt hast.«

»Da sind wir ja auch hingekommen. Ganz am Ende.«

»Erfroren und halb tot.«

»Schau mal, der Eingang zum Camp ist gleich da vorne.« Ich zeigte vage in Richtung der Oakland Hills. »Im Caldecott-Tunnel gibt es einen geheimen Durchgang oder so.«

»Oder so?«

»Na ja, ich bin noch nie mit dem Auto nach Camp Jupiter gefahren«, gab ich zu. »Meistens lasse ich mich in meinem prachtvollen Sonnenwagen vom Himmel herabsinken. Aber ich weiß, dass der Caldecott-Tunnel der Haupteingang ist. Da gibt es bestimmt ein Schild. Vielleicht auch eine Fahrspur Nur für Halbgötter.«

Meg sah mich über ihren Brillenrand hinweg an. »Du bist der blödeste Gott aller Zeiten.« Sie schloss ihr Fenster mit einem letzten Rriii-SCHLOMP – ein Geräusch, das mich unangenehm an ein Fallbeil erinnerte.

Wir bogen nach Westen auf den Highway 24 ab. Die Staus lösten sich auf, als die Hügel näher kamen. Die erhöhte Fahrbahn zog sich vorbei an Wohngegenden mit kurvenreichen Straßen und hohen Nadelbäumen, zwischen denen sich weiße Stuckhäuser an die Wände grasbewachsener Schluchten anklammerten.

Ein Straßenschild verhieß CALDECOTT-TUNNEL 2 Meilen. Das hätte mich eigentlich trösten müssen. Bald würden wir die Grenzen von Camp Jupiter hinter uns bringen und in ein schwer bewachtes, getarntes Tal gelangen, wo mich eine komplette römische Legion vor meinen Sorgen beschützen könnte, jedenfalls bis auf Weiteres.

Warum also benahmen sich die Haare in meinem Nacken wie zitternde Seewürmer?

Irgendetwas stimmte nicht. Mir dämmerte, dass die bangen Ahnungen, die mich seit unserer Landung quälten, nicht durch die ferne Bedrohung durch Caligula oder den alten Titanenstützpunkt auf dem Mount Tamalpais ausgelöst worden waren, sondern durch etwas Konkreteres … etwas Bösartiges, das näher kam.

Ich warf einen Blick in den Rückspiegel. Durch die dünnen Gardinen des Heckfensters sah ich nur Autos. Aber dann entdeckte ich in der polierten Oberfläche von Jasons Sargdeckel das Huschen eines Spiegelbildes, das von einer dunklen Gestalt draußen stammte – als ob soeben ein menschengroßes Wesen am Leichenwagen vorübergeflogen wäre.

»Äh, Meg?« Ich versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Siehst du hinter uns etwas Ungewöhnliches?«

»Wieso denn ungewöhnlich?«

TUMP!

Der Leichenwagen geriet ins Schlingern, als ob wir von einem Lastwagen voller Metallschrott gestreift worden wären. Über mir zeigten sich in der gepolsterten Decke zwei fußförmige Eindrücke.

»Da ist etwas auf dem Dach gelandet«, folgerte Meg.

»Danke, Sherlock McCaffrey. Kannst du es entfernen?«

»Ich? Wie denn?«

Das war eine nervtötend berechtigte Frage. Meg konnte die Ringe an ihren Mittelfingern in grausame Goldschwerter verwandeln, aber wenn sie diese Schwerter in einem geschlossenen Raum herbeirief, wie dem Inneren eines Leichenwagens, würde sie a) nicht genug Platz haben, um sie zu benutzen, und b) möglicherweise mich und / oder sich selbst damit erledigen.

KRACK. KRACK. Die Fußabdrücke vertieften sich, als das Ding sein Gewicht ausbalancierte wie ein Surfer auf einem Brett. Es musste wahnsinnig schwer sein, wenn es so tief in einem Metalldach versank.

Ein Wimmern stieg in meiner Kehle auf. Meine Hände am Lenkrad zitterten. Ich wünschte mir Bogen und Köcher vom Rücksitz herbei, aber ich würde sie nicht benutzen können. SWGAS, Schusswaffengebrauch am Steuer, das geht gar nicht, Leute!

»Vielleicht könntest du das Fenster aufmachen«, sagte ich zu Meg. »Beug dich raus und sag dem Ding, dass es abhauen soll.«

»Äh, nein.« (Götter, sie war so was von starrköpfig.) »Versuch doch mal, es abzuschütteln.«

Ehe ich ihr erklären konnte, dass das mit 100 Sachen auf einem Highway gar keine gute Idee wäre, hörte ich ein Geräusch wie das Öffnen einer Bierdose – dieses pneumatische Zischen von Luft durch Metall. Eine Kralle durchbohrte das Dach – eine verdreckte weiße Kralle von der Größe eines Bohrers. Dann noch eine. Und eine weitere. Und noch eine, bis das gepolsterte Dach mit zehn weißen Krallen gespickt war – wie die von zwei sehr großen Händen.

»Meg?«, wimmerte ich. »Könntest du …«

Ich weiß nicht, wie ich den Satz beendet hätte. Mich beschützen? Das Ding umbringen? Hinten nachsehen, ob ich noch eine saubere Unterhose habe?

Ich wurde aufs Unhöflichste unterbrochen, weil die Kreatur jetzt unser Dach aufriss, als wären wir ein Geburtstagsgeschenk.

Durch das gezackte Loch starrte mich ein runzliger, gespenstischer Humanoide an, dessen blauschwarze Haut glitzerte wie der Panzer einer Stubenfliege. Seine Augen waren trübe weiße Kugeln und von seinen gebleckten Zähnen troff der Geifer. Um seinen Körper flatterte ein Lendenschurz aus speckigen schwarzen Federn. Er stank ärger als jeder Abfallcontainer – und ihr könnt mir glauben, ich bin schon in einige gefallen.

»FRESSEN!«, heulte die Kreatur.

»Bring es um!«, brüllte ich Meg an.

»Dreh ab!«, gab sie zurück.

Eine der vielen gemeinen Folgen der Tatsache, dass ich in meinen jämmerlichen sterblichen Körper eingesperrt war: Ich war Meg McCaffreys Diener. Ich musste ihren direkten Befehlen gehorchen. Als sie also schrie »Dreh ab«, riss ich das Lenkrad nach rechts. Der Leichenwagen reagierte aufs Schönste. Er schoss über drei Fahrspuren, bretterte durch die Leitplanke und stürzte in den Canyon unter uns.

2

Ey, Typ, das ist doof

Der Typ frisst meinen Typen

Das ist doch mein Typ

Fliegende Autos finde ich gut. Es ist mir aber lieber, wenn der Wagen wirklich fliegen kann.

Als der Leichenwagen kurz der Schwerkraft trotzte, konnte ich für den Bruchteil einer Sekunde die Landschaft unter uns bewundern – einen lieblichen kleinen See mit Eukalyptusbäumen und Wanderwegen am Ufer und einem Strand auf der gegenüberliegenden Seite, wo eine Gruppe von abendlichen Picknickern es sich auf Wolldecken gemütlich gemacht hatte.

Ach wie schön, dachte ein kleiner Teil meines Gehirns. Da landen wir vielleicht wenigstens im Wasser.

Dann fielen wir – nicht auf den See zu, sondern auf die Bäume.

Ein Geräusch wie Luciano Pavarottis hohes C in Don Giovanni entschlüpfte meiner Kehle. Meine Hände umklammerten ganz von selbst das Lenkrad.

Als wir in die Eukalyptusbäume stürzten, verschwand der Ghul von unserem Dach – fast, als ob die Äste ihn ganz bewusst weggewischt hätten. Andere Äste schienen sich um den Leichenwagen zu schlingen, unseren Sturz zu verlangsamen, uns von einem nach Hustenbonbons riechenden Ast zum anderen weiterzureichen, bis wir mit einem dumpfen Geräusch mit allen vier Rädern auf dem Boden aufkamen. Die Airbags bliesen sich auf und pressten meinen Kopf gegen die Nackenstütze – zu spät, um irgendwie nützlich zu sein.

Gelbe Amöben tanzten vor meinen Augen. Blutgeschmack brannte mir im Hals. Ich suchte nach dem Türgriff, quetschte mich zwischen Airbag und Sitz hinaus und taumelte in ein Bett aus kühlem weichen Gras.

»Blerg«, sagte ich.

Ich hörte Meg irgendwo in meiner Nähe würgen. Das bedeutete immerhin, dass sie noch lebte. Einige Meter links von mir leckten Wellen am Seeufer. Direkt über mir, im Wipfel des höchsten Eukalyptusbaumes, fauchte und zappelte unser blauschwarzer Freund, der Ghul, in einem Käfig aus Zweigen.

Mühsam setzte ich mich auf. Meine Nase tat weh und meine Nebenhöhlen fühlten sich so an, als wären sie mit Menthol vollgestopft. »Meg?«

Stolpernd kam sie hinter dem Leichenwagen zum Vorschein. Um ihre Augen formten sich blau angelaufene Ringe, die sie wohl dem Beifahrer-Airbag zu verdanken hatte. Ihre Brille war heil, hing ihr aber schief auf der Nase. »Ziemlich beschissenes Lenkmanöver.«

»Oh, Götter!«, protestierte ich. »Das war dein eigener Befehl!«

Dann stutzte ich. »Warte. Warum sind wir überhaupt am Leben? Warst du das mit den Ästen?«

»Blitzmerker.« Sie machte eine schnelle Handbewegung und ihre Goldschwerter erschienen wie aus dem Nichts. Meg benutzte sie wie Skistöcke, um sich darauf abzustützen. »Lange können sie das Monster nicht mehr halten. Mach dich bereit.«

»Was?«, quiekte ich. »Warte. Ich bin kein bisschen bereit!«

Ich zog mich an der Fahrertür hoch.

Auf der anderen Seite des Sees waren die Picknicker von ihren Decken aufgesprungen. Anscheinend fanden sie einen vom Himmel fallenden Leichenwagen durchaus bemerkenswert.

Ich sah etwas verschwommen, aber irgendwas an der Gruppe kam mir seltsam vor. Trug eine von ihnen eine Rüstung? Und hatte ein anderer Ziegenbeine?

Selbst wenn sie uns freundlich gesinnt waren, sie waren zu weit entfernt, um uns irgendwie helfen zu können.

Ich humpelte zum Leichenwagen und riss die hintere Tür auf. Jasons Sarg stand sicher und geborgen auf der Ladefläche. Ich schnappte mir Bogen und Köcher. Meine Ukulele war irgendwo unter den aufgeblasenen Airbags verschwunden. Ich würde ohne sie klarkommen müssen.

Über mir heulte die Kreatur und schlug in ihrem Käfig aus Zweigen wild um sich.

Meg stolperte. Ihre Stirn war von Schweißperlen bedeckt.

Dann hatte der Ghul sich aus dem Käfig befreit und ließ sich fallen; er landete nur wenige Meter von mir entfernt. Ich hatte kurz die Hoffnung, dass er sich dabei die Beine gebrochen hätte, aber so viel Glück hatten wir nicht. Er machte einige Schritte, wobei seine Füße nasse Krater ins Gras schlugen, dann richtete er sich auf und bleckte seine spitzen weißen Zähne, die aussahen wie auf dem Kopf stehende Zaunspitzen.

»TÖTEN UND FRESSEN!«, schrie er.

Was für eine wunderschöne Singstimme. Dieser Ghul hätte bei jeder norwegischen Death-Metal-Band den Frontmann machen können.

»Warte!« Meine Stimme klang schrill. »Ich – ich kenne dich!« Ich richtete den Finger auf ihn, als ob das meine Erinnerung in Gang bringen könnte. Der Bogen, den ich in der anderen Hand hielt, bebte. Die Pfeile klapperten im Köcher. »W-warte, gleich weiß ich’s wieder!«

Der Ghul zögerte. Ich war immer schon überzeugt davon, dass fühlende Wesen gern wiedererkannt werden. Ob wir Götter, Menschen oder sabbernde Ghule in Lendenschurzen aus Geierfedern sind – wir freuen uns einfach, wenn andere wissen, wer wir sind, wenn sie unsere Namen nennen, wenn sie unsere Existenz zur Kenntnis nehmen.

Natürlich versuchte ich nur, Zeit zu schinden. Ich hoffte, Meg würde wieder zu Atem kommen, sich auf die Kreatur stürzen und sie in stinkende Ghul-Pappardelle zerlegen. Im Moment schien sie ihre Schwerter aber nur als Krücken einsetzen zu können. Bestimmt war es ermüdend, riesige Bäume herumzukommandieren, aber ehrlich, hätte sie nicht mit ihrem Schwächeanfall warten können, bis sie Geierwindel umgelegt hatte?

Moment. Geierwindel? Ich sah mir den Ghul genauer an: seine seltsam gefleckte blauschwarze Haut, seine milchigen Augen, seinen übergroßen Mund und seine winzigen Nasenschlitze. Er stank wie fauliges Fleisch. Er trug die Federn eines Aasfressers …

»Ich kenne dich wirklich«, sagte ich, denn jetzt kam mir die Erkenntnis. »Du bist ein Eurynomos.«

Versucht mal, »Du bist ein Eurynomos« zu sagen, wenn eure Zunge bleischwer ist, euer Körper vor Angst bebt und euch vor wenigen Minuten der Airbag eines Leichenwagens eine gesemmelt hat.

Der Ghul verzog den Mund. Silbrige Speichelfäden lösten sich von seinen Lippen. »JA! FRESSEN KENNT MEINEN NAMEN!«

»A-aber du bist ein Leichenfresser!«, protestierte ich. »Du müsstest in der Unterwelt sein und für Hades arbeiten!«

Der Ghul legte den Kopf schräg, wie in dem Versuch, sich an die Wörter Unterwelt und Hades zu erinnern. Sie schienen ihm nicht so gut zu gefallen wie TÖTEN und FRESSEN.

»HADES GIBT MIR ALTE TOTE!«, brüllte er. »DER HERR GIBT MIR FRISCHE!«

»Der Herr?«

»DER HERR!«

Ich wünschte wirklich, Geierwindel würde nicht so schrecklich brüllen. Er hatte keine sichtbaren Ohren, vielleicht war seine Geräuschkontrolle nicht so toll. Oder er wollte seinen widerlichen Speichel so weiträumig verteilen wie möglich.

»Wenn du Caligula meinst«, sagte ich vorsichtig, »dann hat er dir sicher jede Menge Versprechungen gemacht, aber ich kann dir sagen, Caligula ist nicht …«

»HA! BLÖDMANN! CALIGULA IST NICHT DER HERR!«

»Nicht der Herr?«

»NICHT DER HERR!«

»MEG!«, brüllte ich. Uäh. Jetzt fing ich auch schon damit an.

»Ja?«, keuchte Meg. Sie sah wütend und kriegerisch aus, wie sie da auf ihren Schwertkrücken angehumpelt kam. »Warte. Bin gleich da.«

Es war klar, dass sie bei diesem Kampf nicht die Führung übernehmen würde. Wenn ich Geierwindel in ihre Nähe ließe, würde er sie umbringen, und diese Vorstellung fand ich zu 95 Prozent inakzeptabel.

»Eurynomos«, sagte ich. »Wer immer dein Herr sein mag, heute wirst du niemanden töten und fressen.«

Ich schüttelte einen Pfeil aus meinem Köcher, legte ihn an die Bogensehne und zielte, wie ich es schon tausendmal getan hatte. Aber diesmal war es nicht ganz so beeindruckend, da meine Hände zitterten und meine Knie unter mir nachzugeben drohten.

Warum zittern Sterbliche eigentlich, wenn sie Angst haben? Das kommt mir total kontraproduktiv vor. Wenn ich die Menschen erschaffen hätte, hätte ich ihnen für ihre Augenblicke des Entsetzens stahlharte Entschlossenheit und übermenschliche Kraft gegeben.

Der Ghul fauchte und spritzte mit Spucke um sich.

»BALD WERDEN SICH DIE HEERE DES HERRN WIEDER ERHEBEN!«, brüllte er. »WIR WERDEN DIE AUFGABE ERFÜLLEN! ICH WERDE DEM FRESSEN DAS FLEISCH BIS AUF DIE KNOCHEN ABZIEHEN UND DAS FRESSEN WIRD ZU UNS KOMMEN!«

Das Fressen wird zu uns kommen? Mein Magen erlebte einen plötzlichen Druckverlust. Mir fiel ein, warum Hades diese Eurynomoi so geliebt hatte. Schon der leichteste Kratzer ihrer Krallen löste bei Menschen eine Art Schwindsucht aus. Und wenn diese Sterblichen dann starben, erstanden sie als das, was die Griechen Wrykólakas nannten, wieder auf – oder, in Fernsehsprech, als Zombies.

Und das war noch nicht das Schlimmste. Wenn es einem Eurynomos gelang, das Fleisch eines Leichnams bis auf die Knochen zu verschlingen, dann lebte das Skelett als die brutalste, härteste Art von untotem Krieger weiter. Viele von ihnen dienten als Elitegarde des Hades, und das war ein Job, auf den ich mich wirklich nicht bewerben wollte.

»Meg!« Ich hielt meinen Pfeil noch immer auf die Brust des Ghuls gerichtet. »Zurück. Lass dich von diesem Ding nicht kratzen!«

»Aber …«

»Bitte!«, flehte ich. »Glaub mir! Dieses eine Mal!«

Geierwindel knurrte: »FRESSEN REDET ZU VIEL! HUNGER!«

Er ging auf mich los.

Ich schoss.

Der Pfeil traf sein Ziel – mitten auf der Brust des Ghuls –, prallte dann aber ab wie ein Gummihammer von einer Metallplatte. Wenigstens hatte die Spitze aus Himmlischer Bronze wehgetan. Der Ghul wimmerte und erstarrte, während auf seiner Brust eine dampfende, pochende Wunde erschien. Aber das Monster war noch immer ungeheuer lebendig. Vielleicht würde ich wirklichen Schaden anrichten, wenn ich zwanzig oder dreißig Pfeile auf genau dieselbe Stelle abgeben könnte.

Mit zitternden Händen legte ich einen weiteren Pfeil an. »D-das war nur eine Warnung«, log ich. »Der nächste ist tödlich.«

Geierwindel stieß ein kehliges Gurgeln aus. Ich hoffte, dass es ein verspätetes Todesröcheln war. Dann begriff ich, dass er nur gelacht hatte. »SOLL ICH ERST WAS ANDERES FRESSEN? DICH ALS NACHTISCH AUFBEWAHREN?«

Er fuhr seine Krallen aus und zeigte auf den Leichenwagen.

Ich begriff nicht, weigerte mich zu begreifen. Wollte er die Airbags verzehren? Die Polster?

Meg verstand schneller als ich. Sie schrie vor Wut auf.

Die Kreatur war ein Totenzehrer. Wir fuhren einen Leichenwagen.

»NEIN!«, brüllte Meg. »Lass ihn in Ruhe!«

Sie stolperte vorwärts und hob ihre Schwerter, aber in diesem Zustand konnte sie es mit dem Ghul nicht aufnehmen. Ich schob sie zur Seite, stellte mich zwischen sie und die Kreatur und gab einen Pfeil nach dem anderen ab.

Sie wurden von der blauschwarzen Haut der Kreatur zurückgeworfen und hinterließen lediglich dampfende, irritierend untödliche Wunden. Geierwindel stolperte auf mich zu, fauchte vor Schmerz und sein Körper zitterte bei jedem Treffer.

Er war noch anderthalb Meter von mir entfernt.

Dann einen halben Meter, die Krallen ausgefahren, um mein Gesicht zu zerfleischen.

Irgendwo hinter mir schrie eine weibliche Stimme: »HE!«

Das Geräusch lenkte Geierwindel gerade lange genug ab, damit ich mutig auf meinen Allerwertesten fallen konnte. Ich ging vor den Ghulkrallen in Deckung.

Geierwindel blinzelte, verwirrt von dem neuen Publikum. Ungefähr drei Meter von uns entfernt versuchte eine bunt gewürfelte Mischung von Faunen und Dryaden, insgesamt vielleicht ein Dutzend, sich allesamt hinter einer einzigen schlaksigen, rosahaarigen jungen Frau in römischer Legionärsrüstung zu verstecken.

Das Mädchen machte sich an irgendeiner Art von Schusswaffe zu schaffen. Ach du meine Güte. Eine Manuballista. Eine schwere römische Armbrust. Diese Dinger waren grauenhaft langsam, von durchschlagender Wirkung und für ihre Unzuverlässigkeit bekannt. Der Bolzen schien zu klemmen. Die Legionärin riss am Griff und ihre Hände zitterten so schlimm wie meine.

Im Gras auf meiner Linken stöhnte Meg und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. »Du hast mich geschubst!«, beschwerte sie sich, womit sie zweifellos sagen wollte: Danke, Apollo, dass du mir das Leben gerettet hast.

Das Mädchen mit den rosa Haaren hob die Manuballista. Mit ihren langen, staksigen Beinen erinnerte sie mich an ein Giraffenbaby. »W-weg von den beiden«, befahl sie dem Ghul.

Geierwindel antwortete mit seinem typischen Fauchen und Sabbern. »MEHR FRESSEN! IHR KOMMT ALLE ZU DEN TOTEN DES KÖNIGS!«

»Meine Fresse!« Einer der Faune kratzte sich nervös unter seinem T-Shirt mit dem Aufdruck »Volksrepublik Berkeley« den Bauch. »Das ist nicht cool.«

»Nicht cool«, echoten mehrere von seinen Freunden.

»DU KANNST MICH NICHT AUFHALTEN, RÖMERIN!«, fauchte der Ghul. »ICH HABE SCHON DAS FLEISCH DEINER KAMERADEN GEKOSTET! BEIM BLUTMOND WIRST DU DICH ZU IHNEN GESELLEN …«

TWUNK!

Ein Armbrustbolzen aus Kaiserlichem Gold steckte in dem Krater auf Geierwindels Brust. Die milchigen Augen des Ghuls weiteten sich vor Überraschung. Die römische Legionärin sah ebenso verdutzt aus.

»Meine Fresse, du hast ihn getroffen«, sagte einer der Faune, als ob sein Feingefühl dadurch verletzt wäre.

Der Ghul zerfiel zu Staub und Geierfedern. Der Bolzen fiel klirrend zu Boden.

Meg humpelte zu mir. »Siehst du? So wird so was umgebracht.«

»Ach, halt die Klappe«, murmelte ich.

Wir sahen uns unsere Retterin näher an.

Das rosahaarige Mädchen betrachtete stirnrunzelnd den Staubhaufen und ihr Kinn zitterte, als ob sie mit den Tränen kämpfte. Sie murmelte: »Wie ich diese Dinger hasse!«

»D-du kennst die schon?«, fragte ich.

Sie machte ein Gesicht, als wäre diese Frage eine Beleidigung.

Ein Faun versetzte ihr einen Rippenstoß. »Lavinia, meine Fresse, frag mal, was das für Leute sind.«

»Äh, richtig.« Lavinia räusperte sich. »Wer seid ihr?«

Ich kam mühsam auf die Füße und versuchte, ein wenig Haltung zurückzugewinnen. »Ich bin Apollo. Das ist Meg. Danke, dass du uns gerettet hast.«

Lavinia starrte mich an. »Apollo, wie in …«

»Das ist eine lange Geschichte. Wir wollen den Leichnam unseres Freundes Jason Grace zur Totenfeier nach Camp Jupiter bringen. Kannst du uns helfen?«

Lavinia klappte das Kinn herunter. »Jason Grace … ist tot?«

Ehe ich antworten konnte, ertönte irgendwo auf der anderen Seite des Highways ein entsetzliches Wutgeheul.

»Äh, Leute«, sagte ein Faun. »Jagen diese ghulischen Dinger nicht normalerweise in Paaren?«

Lavinia schluckte. »Ja. Wir bringen euch lieber jetzt ins Camp. Dann können wir darüber reden«, sie zeigte unsicher auf den Leichenwagen, »wer tot ist und warum.«

3

Kaugummi kauen

Und mit einem Sarg rennen

Geht nicht. Euer Pech

Wie viele Naturgeister sind nötig, um einen Sarg zu tragen?

Die Antwort bleibt im Dunkeln, denn alle Dryaden und Faune verschwanden sofort in den Bäumen, als ihnen aufging, dass hier von Arbeit die Rede war. Der letzte Faun hätte uns ebenfalls im Stich gelassen, aber Lavinia packte sein Handgelenk.

»Oh nein, das tust du nicht, Don.«

Hinter seinen runden, in allen Regenbogenfarben getönten Brillengläsern zeigten die Augen von Don dem Faun pure Panik. Sein Ziegenbart zuckte – ein Tic, der in mir Sehnsucht nach Grover dem Satyrn erweckte.

(Faune und Satyrn sind mehr oder weniger das Gleiche, falls ihr das wissen wolltet. Faune sind einfach die römische Version, und sie können nicht so gut … äh … sie können eigentlich gar nichts.)

»He, ich würde ja gern helfen«, sagte Don, »mir ist nur gerade ein Termin eingefallen …«

»Faune haben keine Termine«, sagte Lavinia.

»Ich habe mein Auto in der zweiten Reihe geparkt …«

»Du hast kein Auto.«

»Ich muss meinen Hund füttern …«

»Hör auf!«, fauchte Lavinia. »Du schuldest mir einen Gefallen!«

»Okay, okay.« Don riss sich los und rieb mit beleidigter Miene sein Handgelenk. »Hör mal, nur weil ich gesagt habe, dass Gifteiche vielleicht zum Picknick kommt, ist das noch lange kein, du weißt schon, kein Versprechen.«

Lavinias Gesicht färbte sich terrakottarot. »Das habe ich nicht gemeint! Ich habe dich in solchen Situationen schon ungefähr tausendmal gedeckt. Und jetzt musst du mir hierbei helfen!«

Sie zeigte vage auf mich, den Leichenwagen, die Welt im Allgemeinen. Ich fragte mich, ob Lavinia neu im Camp Jupiter war. Sie schien sich in ihrer Legionärinnenrüstung gar nicht wohlzufühlen. Immer wieder zuckte sie mit den Schultern, krümmte die Knie, zupfte an dem silbernen Davidstern, der als Anhänger um ihren langen schlanken Hals hing. Ihre sanften braunen Augen und das rosa Haarbüschel verstärkten meinen ersten Eindruck von ihr noch – sie wirkte wie ein Giraffenbaby, das zum ersten Mal von seiner Mutter wegwackelte und jetzt die Savanne musterte und dabei zu denken schien: Was mache ich hier bloß?

Meg stolperte neben mich. Sie hielt sich an meinem Köcher fest und hätte mich dabei mit dem Riemen fast erwürgt. »Wer ist Gifteiche?«

»Meg«, tadelte ich. »Das geht dich nichts an. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Gifteiche ist eine Dryade, für die Lavinia sich interessiert, so, wie du dich in Palm Springs für Joshua interessiert hast.«

Meg blaffte: »Ich habe mich nicht …«

Lavinia rief gleichzeitig: »Ich interessiere mich nicht …«

Beide Mädchen verstummten und musterten einander stirnrunzelnd.

»Aber«, sagte Meg, »ist Gifteiche nicht … äh … giftig?«

Lavinia hob die Hände zum Himmel, als wolle sie sagen nicht schon wieder diese Frage. »Gifteiche ist wunderbar! Was nicht heißt, dass ich mit ihr zusammen bin …«

Don schnaubte: »Ja, ja. Alles klar.«

Lavinias Blicke schossen Armbrustbolzen auf den Faun ab. »Aber ich würde es mir überlegen – wenn die Chemie stimmt oder so. Weshalb ich mich von meiner Wache zu diesem Picknick geschlichen habe, als Don mir versichert hat …«

»Schon gut, schon gut!« Don lachte nervös. »Sollten wir diese Leute nicht ins Camp bringen? Was ist mit dem Leichenwagen? Fährt der noch?«

Ich nehme alles zurück zu dem Thema, dass Faune Nichtskönner sind. Das Thema wechseln konnte Don wirklich gut.

Bei genauerem Hinsehen ging mir auf, wie schwer der Leichenwagen beschädigt war. Abgesehen von etlichen nach Eukalyptus riechenden Beulen und Kratzern war das Vorderende voll durch die Leitplanke gekracht. Es sah aus wie das Akkordeon von Flaco Jiménez, nachdem ich es mit einem Baseballschläger bearbeitet hatte. (Tut mir leid, Flaco, aber du hast so gut gespielt, dass ich neidisch wurde, und da musste das Akkordeon sterben.)

»Wir können den Sarg tragen«, schlug Lavinia vor. »Zu viert.«

Ein weiterer wütender Schrei zerriss die Abendluft. Er klang jetzt näher – er kam irgendwo von der Nordseite des Highways.

»Das schaffen wir nie im Leben«, sagte ich. »Wir können nicht den ganzen Weg zum Caldecott-Tunnel hochklettern.«

»Es gibt einen anderen Weg«, sagte Lavinia. »Geheimgang zum Camp. Viel näher.«

»Näher find ich gut«, sagte Meg.

»Es ist nur so«, sagte Lavinia, »ich muss jetzt eigentlich gerade Streife gehen. Meine Wache ist aber bald zu Ende. Ich bin nicht sicher, wie lange meine Partnerin mich noch decken kann. Wenn wir ins Camp kommen, lasst mich erzählen, wo und wie wir uns begegnet sind.«

Don machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn irgendwer herausfindet, dass Lavinia wieder blaugemacht hat …«

»Wieder?«, fragte ich.

»Halt die Klappe, Don«, sagte Lavinia.

Einerseits kamen Lavinias Probleme mir im Vergleich zu unseren belanglos vor, nämlich, zu sterben und von einem Ghul gefressen zu werden. Andererseits wusste ich, dass die Strafen bei den römischen Legionen hart sein konnten. Oft waren dabei Peitschen, Ketten und wütende lebende Tiere mit im Spiel, so wie bei einem Ozzy-Osbourne-Konzert um 1980.

»Du musst diese Gifteiche wirklich gernhaben«, stellte ich fest.

Lavinia grunzte. Sie hob ihren Manuballista-Bolzen auf und drohte mir damit. »Ich helfe euch, ihr helft mir. Das ist der Deal.«

Meg nahm mir quasi das Wort aus dem Mund: »Abgemacht. Wie schnell können wir mit einem Sarg laufen?«

Nicht sehr schnell, wie sich herausstellte.

Nachdem wir unsere restlichen Sachen aus dem Leichenwagen geholt hatten, übernahmen Meg und ich das hintere Ende von Jasons Sarg. Lavinia und Don packten vorn an. Wir liefen in ungeschicktem Sargträgertrab am Ufer entlang und ich schaute nervös zu den Baumwipfeln hoch, in der Hoffnung, dass keine weiteren Ghule vom Himmel regnen würden.

Lavinia versicherte, dass sich der geheime Eingang direkt am gegenüberliegenden Ufer befand. Das Problem war, dass er sich eben am gegenüberliegenden Ufer befand, und da wir nicht auf dem Wasser sargtragen konnten, mussten wir Jasons Sarg ungefähr eine Viertelmeile am Ufer entlangschleppen.

»Ach, sei still«, sagte Lavinia, als ich mich beklagte. »Wir sind auch vom Strand hergerannt, um euch zu helfen. Das Mindeste, was ihr tun könnt, ist, mit uns zurückzulaufen.«

»Schon«, sagte ich. »Aber dieser Sarg ist echt schwer.«

»Das seh ich auch so«, sagte Don zustimmend.

Lavinia schnaubte. »Ihr solltet mal versuchen, in voller Legionärsausrüstung zwanzig Meilen zu marschieren.«

»Nein, danke«, murmelte ich.

Meg sagte nichts. Obwohl sie bleich aussah und schwer atmete, trug sie ihre Seite des Sarges, ohne zu klagen – vermutlich nur, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

Endlich erreichten wir den Picknickstrand. Ein Schild am Ende des Uferpfades verkündete:

TEMESCAL-SEE

BADEN AUF EIGENE GEFAHR

Typisch Sterbliche: Vor dem Ertrinken warnen, aber nicht vor fleischfressenden Ghulen!

Lavinia führte uns zu einem kleinen Steingebäude, das Toiletten und Umkleideräume enthielt. In der Rückwand, halb versteckt hinter Blaubeersträuchern, sah ich eine unscheinbare Metalltür, die Lavinia mit einem Tritt öffnete. Dahinter führte ein Betontunnel hinab in die Dunkelheit.

»Ich vermute, den Sterblichen ist das hier unbekannt«, riet ich.

Don kicherte. »Nö, die halten das für einen Generatorenraum oder so was. Auch die meisten Legionäre wissen nichts davon. Nur die coolen, wie Lavinia.«

»Du musst trotzdem weiter helfen, Don«, sagte Lavinia. »Lasst uns den Sarg mal für einen Moment abstellen.«

Ich sprach ein stummes Dankgebet. Meine Schultern schmerzten und mein Rücken war nass vor Schweiß. Ich musste daran denken, wie Hera mich gezwungen hatte, einen Thron aus massivem Gold kreuz und quer durch ihr olympisches Wohnzimmer zu schleppen, bis sie endlich die richtige Stelle gefunden hatte. Uäh, diese Göttin!

Lavinia zog ein Kaugummipäckchen aus der Tasche ihrer Jeans. Sie stopfte sich drei Stück in den Mund und hielt es dann mir und Meg hin.

»Nein, danke«, sagte ich.

»Gerne«, sagte Meg.

»Gerne!«, sagte Don.

Lavinia zog ihm die Packung weg. »Don, du weißt, dass du kein Kaugummi verträgst. Beim letzten Mal hast du tagelang das Klo umarmt.«

Don machte einen Schmollmund. »Aber es schmeckt so gut.«

Lavinia spähte in den Tunnel und ihre Kiefer bearbeiteten in wütendem Tempo das Kaugummi. »Es ist zu eng, um zu viert den Sarg zu tragen. Ich gehe voran. Don, du und Apollo«, sie runzelte die Stirn, als ob sie noch immer nicht glauben könnte, dass ich wirklich so hieß, »nehmt jeder ein Ende.«

»Nur wir zwei?«, fragte ich entsetzt.

»Meine Rede!«, sagte Don zustimmend.

»Tragt ihn einfach wie ein Sofa«, sagt Lavinia, als ob mir das irgendwie weiterhalf. »Und du – wie heißt du doch noch gleich? Peg?«

»Meg«, sagte Meg.

»Hast du irgendwas, was du nicht unbedingt brauchst?«, fragte Lavinia. »Wie … wie dieses Modell, das du da unter dem Arm hast – ist das für ein Schulprojekt?«

Meg war offenbar unbeschreiblich müde, denn sie wurde nicht wütend und haute Lavinia auch keine rein oder ließ ihr Geranien aus den Ohren wachsen. Sie drehte sich nur zur Seite und beschützte Jasons Schaubild mit ihrem Leib. »Nein. Das hier ist wichtig.«

»Okay.« Lavinia kratzte sich an einer Augenbraue, die wie ihre Haare zuckergussrosa war. »Dann bleib einfach hinter uns, zur Deckung. Diese Tür kann nicht abgeschlossen werden, was bedeutet …«

Wie aufs Stichwort ertönte vom Seeufer das bisher lauteste Geheul, voller Wut, als ob der Ghul den Staub und die Geierwindel seines gefallenen Gefährten entdeckt hätte.

»Gehen wir«, sagte Lavinia.

Ich fing an, meinen Eindruck von unserer rosahaarigen Freundin zu revidieren. Für ein wackliges Giraffenbaby konnte sie ganz schön energisch sein.

Wir stiegen im Gänsemarsch in den Tunnel hinab; ich trug das hintere Ende des Sargs und Don das vordere.

Lavinias Kaugummi parfümierte die abgestandene Luft, deshalb roch der Tunnel nun wie schimmelige Zuckerwatte. Immer, wenn Lavinia und Meg eine Blase platzen ließen, zuckte ich zusammen. Bald taten meine Finger weh, weil der Sarg so schwer war.

»Ist es noch weit?«, fragte ich.

»Wir sind doch gerade erst losgegangen«, sagte Lavinia.

»Also … nicht mehr weit?«

»Vielleicht eine Viertelmeile.«

Ich versuchte, ein Grunzen mannhafter Ausdauer zustande zu bringen. Heraus kam eher eine Art Schniefen.

»Leute«, sagte Meg hinter mir, »wir müssen schneller gehen.«

»Hast du etwas gesehen?«, fragte Don.

»Noch nicht«, sagte Meg. »Nur so ein Gefühl.«

Gefühle. Die hasste ich.

Unsere Waffen waren die einzigen Lichtquellen. Die goldenen Beschläge der Manuballista, die über Lavinias Rücken hing, zeichneten einen gespenstischen Glorienschein um ihre rosa Haare. Das Leuchten von Megs Schwertern warf unsere verlängerten Schatten an die Wände, sodass wir das Gefühl hatten, durch eine gespenstische Menschenmenge zu wandern. Immer, wenn Don sich umschaute, schienen seine regenbogenfarbenen Brillengläser in der Dunkelheit zu schwimmen wie Öl auf Wasser.

Meine Hände und Unterarme brannten vor Anstrengung, aber Don schien keinerlei Probleme zu haben. Ich war entschlossen, nicht früher um Gnade zu winseln als der Faun.

Der Tunnel wurde breiter und flachte aus. Ich beschloss, das als gutes Zeichen zu nehmen, obwohl weder Lavinia noch Meg anboten, beim Sargtragen zu helfen.

Endlich konnten meine Hände nicht mehr. »Halt.«

Don und ich schafften es gerade so eben, Jasons Sarg abzusetzen, bevor wir ihn fallen ließen. Tiefrote Striemen überzogen meine Finger. Auf meinen Handflächen bildeten sich Blasen. Ich hatte das Gefühl, mir gerade mit Pat Metheny ein neunstündiges Jazzgitarrenduell mit einer dreihundert Kilo schweren eisernen Fender Stratocaster geliefert zu haben.

»Au«, murmelte ich, denn ich war früher einmal der Gott der Dichtkunst und verfügte über eine großartige Ausdruckskraft.

»Wir können keine lange Pause machen«, warnte Lavinia. »Mein Wachdienst müsste mittlerweile zu Ende sein. Meine Kollegin fragt sich sicher, wo ich stecke.«

Ich hätte fast gelacht. Ich hatte über unseren vielen anderen Problemen total vergessen, dass Lavinia gerade ihren Dienst geschwänzt hatte. »Wird sie dich melden?«

Lavinia starrte in die Dunkelheit. »Nur, wenn es nicht anders geht. Sie ist meine Centuria, aber sie ist in Ordnung.«

»Deine Centuria hat dir erlaubt, dich wegzuschleichen?«, fragte ich ungläubig.

»Nicht direkt.« Lavinia spielte an ihrem Davidstern herum. »Sie hat einfach gerade in die andere Richtung geschaut. Sie versteht das.«

Don kicherte. »Du meinst, sich in jemanden zu verknallen?«

»Nein!«, sagte Lavinia. »Fünf Stunden ununterbrochen Wache stehen zu müssen. Ich kann das nicht! Schon gar nicht nach dem, was in letzter Zeit so passiert ist.«

Ich beobachtete, wie Lavinia sich an ihrem Halsband zu schaffen machte, wie sie wütend auf ihrem Kaugummi herumkaute, wie sie dauernd das Gewicht auf ihren staksigen Beinen verlagerte. Die meisten Halbgötter haben eine Art von ADHS-Problem. Sie sind auf dauernde Bewegung geeicht, darauf, von Schlacht zu Schlacht zu springen. Aber Lavinia war wirklich ein Paradebeispiel an Hyperaktivität.

»Was meinst du damit, was in letzter Zeit …«, begann ich, aber ehe ich meine Frage beenden konnte, erstarrte Don. Seine Nase und sein Ziegenbart zitterten. Ich war lange genug mit Grover Underwood im Labyrinth gewesen, um zu wissen, was das bedeutete.

»Was witterst du?«, fragte ich.

»Ich bin nicht sicher …« Er schnupperte. »Es ist in der Nähe. Und riecht nicht gut.«

»Oh.« Ich wurde rot. »Ich habe heute Morgen geduscht, aber wenn ich mich anstrenge, bricht dieser sterbliche Leib in Schweiß aus …«

»Das ist es nicht. Hört mal!«

Meg drehte sich in die Richtung, aus der wir gekommen waren, hob ihre Schwerter und wartete. Lavinia zog sich die Manuballista von der Schulter und spähte in die Schatten vor uns.

Endlich hörte ich durch meinen heftigen Herzschlag das Klirren von Metall und das Hallen von Schritten auf Stein. Jemand rannte auf uns zu.

»Da kommen sie«, sagte Meg.

»Nein, warte«, sagte Lavinia. »Das ist sie.«

Ich hatte das Gefühl, dass Meg und Lavinia nicht über dasselbe redeten, aber mir gefielen beide Möglichkeiten nicht.

»Wer ist sie?«, fragte ich.

»Wer sind sie?«, quiekte Don.

Lavinia hob die Hand und rief: »Ich bin hier!«

»Pssst«, sagte Meg und blickte noch immer in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Lavinia, was machst du da?«

Und in diesem Moment kam aus der Richtung des Camps eine junge Frau in unseren Lichtkreis gelaufen.

Sie war ungefähr in Lavinias Alter, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, und sie hatte dunkle Haut und bernsteinfarbene Augen. Braune Locken fielen ihr auf die Schultern. Über ihrer Jeans und dem rosa T-Shirt trug sie einen funkelnden Brustpanzer und Beinschienen. Am Panzer war das Abzeichen eines Centurio befestigt und an ihrer Seite hing eine Spatha – ein Kavallerieschwert. Jetzt fiel es mir ein … Ich kannte sie von der Mannschaft der Argo II.

»Hazel Levesque«, sagte ich. »Den Göttern sei Dank.«

Hazel fragte sich zweifellos, wer ich war, woher ich sie kannte und warum ich so dämlich grinste. Sie warf einen Blick auf Don, dann auf Meg, dann auf den Sarg. »Lavinia, was ist hier los?«

»Leute«, schaltete Meg sich ein. »Wir haben Gesellschaft.«

Und damit meinte sie nicht Hazel. Hinter uns, am Rand des Lichtkreises von Megs Schwertern, stand eine dunkle Gestalt mit blauschwarzer Haut, von deren Zähnen Geifer tropfte. Dann tauchte aus der Dunkelheit dahinter ein weiterer Ghul auf.

Was hatten wir doch für Glück. Das eurynomonische Sonderangebot: Einen umbringen, zwei gratis kriegen.

4

Ukulelelied?

Einfach »nein« reicht völlig aus

Lasst meinen Darm drin

»Oh«, sagte Don. »Das war also der Geruch.«

»Hast du nicht gesagt, dass sie in Paaren losziehen?«, fragte ich vorwurfsvoll.

»Oder zu dritt«, jammerte der Faun. »Manchmal auch zu dritt.«

Die Eurynomoi fauchten. Sie kauerten haarscharf außer Reichweite von Megs Schwertern. Hinter mir stellte Lavinia mit der Hand ihre Manuballista ein – klick, klick, klick –, aber das ging so langsam, dass sie vor nächsten Donnerstag wohl kaum schießen würde. Hazels Spatha machte ein kratzendes Geräusch, als sie aus der Scheide gezogen wurde. Auch eine Spatha war keine tolle Waffe für einen Kampf auf engem Raum.

Meg schien nicht so ganz zu wissen, ob sie angreifen, stehen bleiben oder vor Erschöpfung umfallen sollte. Und die Götter mögen ihren Starrsinn segnen, sie hatte noch immer Jasons Modell unter dem Arm, was ihr im Kampf keine Hilfe sein würde.

Ich tastete nach einer Waffe und erwischte meine Ukulele. Warum nicht? Die war auch nur minimal lächerlicher als Spatha oder Manuballista.

Meine Nase war zwar vom Airbag des Leichenwagens übel zugerichtet, aber mein Geruchssinn war leider unversehrt. Die Kombination von Ghulgestank und Kaugummigeruch ließ meine Nasenlöcher brennen und meine Augen tränen.

»FRESSEN!«, sagte der erste Ghul.

»FRESSEN!«, meinte der andere zustimmend.

Sie schienen entzückt zu sein, als wären wir ein Lieblingsessen, das sie seit ewigen Zeiten nicht mehr serviert bekommen hatten.

Dann sagte Hazel mit ruhiger, fester Stimme: »Leute, wir haben schon in der Schlacht gegen diese Dinger gekämpft. Lasst euch nicht von ihnen kratzen.«

Sie sagte das Wort »Schlacht«, als könne sie damit nur ein einziges grauenhaftes Geschehnis meinen. Ich dachte daran, was Leo Valdez uns in Los Angeles erzählt hatte – dass Camp Jupiter schwer beschädigt worden war und beim letzten Kampf viele gute Leute verloren hatte. Langsam ging mir auf, wie schrecklich das alles gewesen sein musste.

»Nicht kratzen lassen«, sagte ich zustimmend. »Meg, halte sie auf Distanz. Ich versuche es mit einem Lied.«

Meine Idee war einfach: Ein schläfriges Stück anstimmen, die Kreaturen einlullen und sie dann auf lässige, zivilisierte Weise umbringen.

Ich hatte den eurynomonischen Ukulelenhass unterschätzt. Sowie ich meine Absicht kundtat, heulten sie auf und griffen an.

Ich stolperte rückwärts und setzte mich auf Jasons Sarg. Don kreischte auf und ging in die Hocke. Lavinia machte sich noch immer an ihrer Manuballista zu schaffen. Hazel schrie: »Macht ein Loch«, was für den Moment für mich keinen Sinn ergab.

Meg legte los, hieb einem Ghul den Arm ab, schlug nach den Beinen des anderen, aber ihre Bewegungen waren träge, und sie konnte nur ein Schwert effektiv einsetzen, weil sie das Modell unter dem anderen Arm hatte. Wenn die Ghule ein Interesse daran gehabt hätten, sie zu töten, wäre sie erledigt gewesen. Stattdessen drängten sie sich an ihr vorbei, um mich aufzuhalten, ehe ich einen Akkord anschlagen konnte.

Die ganze Welt ist voller Musikkritiker.

»FRESSEN!«, schrie der einarmige Ghul und schlug mit seinen verbliebenen fünf Krallen nach mir.

Ich versuchte, meinen Bauch einzuziehen. Wirklich!

Aber ach, verfluchter Schmerbauch. Wenn ich meine göttliche Gestalt gehabt hätte, hätten mich die Krallen des Ghuls verfehlt. Mein Unterleib aus gehämmerter Bronze hätte über den Versuch des Monsters, mich zu erreichen, nur verächtlich gelacht. Leider ließ Lesters Körper mich ein weiteres Mal im Stich.

Der Eurynomos zog seine Hand über meinen Bauch, direkt unterhalb der Ukulele. Die Spitze seines Mittelfingers fand Fleisch – wenn auch nur gerade so eben. Die Kralle zerschnitt mein Hemd und streifte meine Haut wie eine stumpfe Rasierklinge.

Ich taumelte seitwärts von Jasons Sarg und heißes Blut lief in meinen Hosenbund.

Hazel Levesque schrie trotzig auf. Sie sprang über den Sarg und rammte dem Eurynomos ihre Spatha voll ins Schlüsselbein, was den ersten Eurynomos-am-Stiel aller Zeiten ergab.

Der Eurynomos schrie auf und taumelte rückwärts, wobei er Hazel die Spatha entriss. Die Wunde dampfte an der Stelle, wo das Kaiserliche Gold eingedrungen war. Dann – ich kann das nicht schonender ausdrücken – zerbarst der Ghul zu dampfenden, zerbröselnden Ascheflocken. Die Spatha fiel klappernd auf den Steinboden.

Der zweite Ghul starrte Meg an, wie man das eben macht, wenn einem eine nervige Zwölfjährige soeben die Oberschenkel aufgeschlitzt hat. Aber als sein Kamerad aufschrie, wirbelte er zu uns herum. Das gab Meg eine neue Gelegenheit zum Angriff, aber statt zuzuschlagen, drängte sie sich an dem Monster vorbei und stürzte zu mir, während ihre Schwerter wieder zu Ringen wurden.

»Alles in Ordnung bei dir?«, wollte sie wissen. »OH NEIN! Du blutest. Du hast doch gesagt, wir dürften uns nicht kratzen lassen. Du hast dich kratzen lassen!«

Ich wusste nicht so recht, ob ich von ihrer Besorgnis gerührt oder von ihrem Tonfall verärgert sein sollte. »Ich hab das nicht mit Absicht gemacht, Meg.«

»Leute!«, schrie Lavinia.

Der Ghul trat vor und bezog Position zwischen Hazel und ihrer Spatha. Don hockte weiterhin auf dem Boden. Lavinias Manuballista war noch immer nur zur Hälfte gespannt. Meg und ich waren neben Jasons Sarg gefangen.

Damit war die unbewaffnete Hazel das Einzige, was den Eurynomos noch von einem Festmahl mit fünf Gängen trennte.

»Ihr könnt nicht gewinnen«, fauchte das Monster.

Seine Stimme änderte sich. Die Stimmlage wurde tiefer, die Klangfülle größer. »Ihr werdet euch euren Kameraden in meinem Grab beigesellen.«

Mit meinem dröhnenden Schädel und meinem schmerzenden Bauch fiel es mir schwer, seinen Worten zu folgen, aber Hazel hatte offenbar verstanden.

»Wer bist du?«, fragte sie. »Warum hörst du nicht auf, dich hinter deinen Kreaturen zu verstecken, und zeigst dich?«

Der Eurynomos blinzelte. Seine Augen wechselten von milchigem Weiß zu loderndem Lila. »Hazel Levesque. Gerade dir müsste doch die brüchige Grenze zwischen Leben und Tod vertraut sein. Aber fürchte dich nicht! Ich werde dir einen ganz besonderen Platz an meiner Seite reservieren, zusammen mit deinem geliebten Frank. Ihr werdet wunderbare Skelette abgeben.«

Hazel ballte die Fäuste. Als sie sich zu uns umblickte, war ihre Miene fast so einschüchternd wie die des Ghuls. »Zurück«, sagte sie warnend. »So weit ihr könnt.«

Meg zog mich mehr oder weniger bis zum Vorderende des Sarges. Mein Bauch fühlte sich an, als ob ein weiß glühender Reißverschluss hineingenäht worden sei. Lavinia packte Don am Kragen und zerrte ihn an eine weniger gefährdete Stelle.

Der Ghul kicherte. »Wie willst du mich besiegen, Hazel? Damit?« Er versetzte der Spatha einen Tritt und sie flog durch den dunklen Gang. »Ich habe weitere Untote herbeigerufen. Sie werden bald hier sein.«

Trotz meiner Schmerzen versuchte ich verzweifelt, aufzustehen. Ich konnte Hazel nicht alleinlassen. Aber Lavinia legte mir die Hand auf die Schulter.

»Warte«, murmelte sie. »Hazel schafft das.«

Das kam mir lächerlich optimistisch vor, aber zu meiner Schande blieb ich, wo ich war. Heißes Blut sickerte in meine Unterwäsche. Ich hoffte jedenfalls, dass es Blut war.

Der Eurynomos wischte sich mit einem Krallenfinger Spucke vom Mund. »Wenn du nicht vorhast, wegzurennen und diesen hübschen Sarg seinem Schicksal zu überlassen, kannst du dich auch gleich ergeben. Wir sind stark im Untergrund, Tochter des Pluto. Zu stark für dich.«

»Ach ja?« Hazels Stimme klang fest, fast wie bei einem netten Gespräch. »Stark im Untergrund. Gut zu wissen.«

Der Tunnel bebte. Risse tauchten in den Wänden auf, gezackte Spalten zogen sich durch den Fels. Unter den Füßen des Ghuls schoss eine scharfkantige Säule aus weißem Quarz empor, nagelte das Monster an die Decke und reduzierte es zu einer Wolke aus Geierfederkonfetti.

Hazel sah uns an, als ob nichts Besonderes passiert wäre. »Don, Lavinia, bringt dieses …« Sie sah mit besorgter Miene den Sarg an. »Bringt den weg von hier. Du«, sie zeigte auf Meg, »hilf bitte deinem Freund. Wir haben Heilkundige im Camp, die sich um diesen Ghulkratzer kümmern können.«

»Moment!«, sagte ich. »W-was war das da eben? Diese Stimme …«

»Das hab ich bei einem Ghul schon mal erlebt«, sagte Hazel düster. »Ich erklär das später. Ihr haut jetzt mal ab, ich komme gleich hinterher.«

Ich setzte zum Widerspruch an, aber Hazel stoppte mich mit einem Kopfschütteln. »Ich hol nur eben mein Schwert und überzeuge mich davon, dass uns keine weiteren von diesen Dingern folgen.«

Schutt rieselte aus neuen Rissen in der Decke. Vielleicht war Abhauen gar keine schlechte Idee.

Ich stützte mich auf Meg und schaffte es, weiter durch den Tunnel zu stolpern. Lavinia und Don zogen Jasons Sarg. Ich hatte so schreckliche Schmerzen, ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, Lavinia anzubrüllen, sie sollten den Sarg gefälligst tragen wie ein Sofa.

Wir hatten vielleicht fünfzehn Meter geschafft, als der Tunnel hinter uns noch heftiger grollte als zuvor. Ich schaute gerade rechtzeitig zurück, um von einer wachsenden Wolke aus Steinschutt im Gesicht getroffen zu werden.

»Hazel?«, rief Lavinia in den wirbelnden Staub.

Einen Herzschlag darauf erschien Hazel Levesque, von Kopf bis Fuß von glitzerndem Quarzpuder überzogen. Ihr Schwert leuchtete in ihrer Hand.

»Mir gehts gut«, verkündete sie. »Hier wird sich niemand mehr durchschleichen. Und jetzt«, sie zeigte auf den Sarg, »könnte mir mal jemand verraten, wer da drin liegt.«

Ich wollte das auf gar keinen Fall.

Nicht, nachdem ich gesehen hatte, wie Hazel ihre Feinde aufspießte.

Aber … ich war es Jason schuldig. Hazel war seine Freundin gewesen.

Ich machte mich ganz stark, öffnete den Mund und wurde in letzter Sekunde von Hazel selbst gerettet.

»Es ist Jason«, sagte sie, als ob diese Information ihr ins Ohr geflüstert worden wäre. »Oh Götter!«

Sie rannte zu dem Sarg, fiel auf die Knie und warf die Arme über den Deckel. Sie stieß ein einziges verzweifeltes Schluchzen aus, dann kniete sie stumm und zitternd da, den Kopf gesenkt. Haarsträhnen strichen durch den Quarzstaub auf der polierten Holzoberfläche und hinterließen dort Schlangenlinien wie die Aufzeichnungen eines Seismografen.

Ohne aufzuschauen, murmelte sie: »Ich hatte Albträume. Ein Boot. Ein Mann auf einem Pferd. Ein … ein Speer. Wie ist es passiert?«

Ich gab mir alle Mühe, es zu erklären. Ich erzählte ihr von meinem Sturz in die Welt der Sterblichen, meinen Abenteuern mit Meg, unserem Kampf auf Caligulas Jacht und wie Jason gestorben war, um uns zu retten. Beim Erzählen kamen der Schmerz und das Entsetzen zurück. Ich erinnerte mich an den scharfen Ozongeruch der Winde, die um Meg und Jason gewirbelt waren. Daran, wie die Handfesseln in meine Gelenke geschnitten hatten. Caligulas erbarmungslose, zufriedene Prahlerei: Ihr kommt hier nicht lebend raus!

Es war alles so schrecklich, dass ich für den Moment sogar die furchtbare Wunde in meinem Bauch vergaß.

Lavinia starrte zu Boden. Meg gab sich alle Mühe, mit einem der Kleider aus ihrem Rucksack meine Blutung zu stoppen. Don sah zur Decke hoch, wo ein neuer Riss zickzackförmig über unsere Köpfe lief.

»Ich unterbreche euch ja nur ungern«, sagte der Faun. »Aber vielleicht sollten wir draußen weiterreden?«

Hazel presste die Finger auf den Sargdeckel. »Ich bin so wütend auf dich. Wie konntest du Piper das antun. Wie konntest du uns das antun! Uns nicht für sie da sein zu lassen! Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie nicht mit mir sprach. Sondern mit Jason.

Ihr Mund zitterte. Langsam richtete sie sich auf, als ob sie Quarzsäulen in ihrem Inneren heraufbeschwor, um ihr Skelettsystem zu stützen.

»Lasst mich eine Seite tragen«, sagte sie. »Bringen wir ihn nach Hause.«

Wir trotteten schweigend weiter, die jämmerlichsten Sargträger aller Zeiten. Alle waren wir mit Staub und Monsterasche bedeckt. Am Vorderende des Sargs zappelte Lavinia in ihrer Rüstung und warf ab und zu einen Blick hinüber zu Hazel, die starr vor sich hin schaute. Sie schien die einzelne Geierfeder, die zitternd an ihrem Hemdsärmel hing, nicht einmal zu bemerken.

Meg und Don trugen das hintere Sargende. Megs Augen waren seit dem Autounfall heftig angeschwollen und sie sah aus wie ein großer, schlecht angezogener Waschbär. Don zuckte immer wieder zusammen und legte den Kopf schräg, wie um zu hören, was seine Schulter ihm erzählte.

Ich stolperte hinter ihnen her und presste dabei Megs Ersatzkleid auf meine Wunde. Die Blutung schien aufgehört zu haben, aber der Kratzer brannte immer noch. Ich hoffte, dass Hazel recht damit hatte, dass ihre Heilkundigen mir helfen könnten. Ich fand die Vorstellung, zum Statisten in The Walking Dead zu werden, gar nicht verlockend.

Hazels Ruhe machte mich nervös. Ich hätte es fast vorgezogen, wenn sie losgeschrien und mich mit Gegenständen beworfen hätte. Ihre Verzweiflung war wie die kalte Schwere eines Berges. Man könnte neben dem Berg stehen und die Augen schließen, und ohne ihn zu sehen oder zu hören, wüsste man doch, dass er da ist – unsagbar schwer und mächtig, eine so uralte geologische Macht, dass sich sogar Götter daneben fühlten wie Mücken. Ich hatte Angst davor, was passieren würde, wenn Hazels Gefühle in vulkanische Aktivität umschlugen.

Endlich traten wir ins Freie. Wir standen auf einer Felsnase ungefähr auf halber Höhe eines Hanges und unter uns breitete sich das Tal von Neu-Rom aus. Im Zwielicht nahmen die Hügel eine violette Farbe an. Die kühle Brise roch nach Holzrauch und Flieder.

»Wow«, sagte Meg und vertiefte sich in den Anblick.

Wie in meiner Erinnerung schlängelte sich der Kleine Tiber durchs Tal und zeichnete einen glitzernden Schnörkel, der dort, wo der Nabel des Tals sitzen würde, in einem blauen See endete. Auf dem Nordufer ragte Neu-Rom auf, eine kleinere Version der ursprünglichen kaiserlichen Stadt.

Nach Leos Bericht über die zurückliegende Schlacht hatte ich erwartet, dass die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wäre. Aus dieser Entfernung aber, im schwindenden Licht, sah alles normal aus – die leuchtenden weißen Gebäude mit den roten Dachziegeln, das Gewölbe des Senatsgebäudes, der Circus Maximus und das Colosseum.

Auf dem Südufer des Sees lag der Tempelhügel mit seiner chaotischen Ansammlung von Schreinen und Denkmälern. Auf dem Gipfel stand der beeindruckende egoverherrlichende Tempel des Jupiter Optimus Maximus, meines Vaters, und überschattete alles andere. Dads römische Erscheinungsform als Jupiter war noch unerträglicher als seine ursprüngliche griechische Persönlichkeit als Zeus, wenn das überhaupt möglich war. (Und ja, wir Götter haben multiple Persönlichkeiten, weil ihr Sterblichen euch einfach nicht entscheiden könnt, wie wir sind. Das ist ganz schön anstrengend.)

Früher habe ich den Anblick des Tempelhügels immer gehasst, weil mein Heiligtum nicht das größte war. Natürlich hätte es das größte sein müssen. Jetzt hasste ich seinen Anblick aus einem anderen Grund. Ich musste immerzu an das Modell denken, das Meg bei sich hatte, und an die Skizzenblöcke in ihrem Rucksack – Jasons Pläne für den Tempelhügel. Im Vergleich zu Jasons Modell mit seinen handgeschriebenen Zetteln und auf die Leichtbauplatte geklebten Monopoly-Häuschen kam mir der echte Tempelhügel vor wie eine unwürdige Ehrengabe an die Götter. Er konnte niemals so viel Bedeutung haben wie Jasons Gutherzigkeit, sein brennendes Verlangen, wirklich jede Gottheit zu ehren und keine auszulassen.

Ich zwang mich dazu, wegzuschauen.

Unmittelbar unter mir, etwa eine halbe Meile von unserem Felssims entfernt, befand sich Camp Jupiter. Mit seinen stachelbesetzten Mauern, Wachttürmen, Laufgräben und den ordentlichen Reihen von Baracken entlang der beiden Hauptstraßen hätte es jedes römische Armeelager sein können, überall im alten Imperium, zu jeder Zeit während jahrhundertelanger römischer Herrschaft. Die Römer waren total konsequent, wenn sie Festungen bauten, egal ob sie eine Nacht oder ein Jahrzehnt an einem Ort verbringen wollten – kannte man ein Lager, kannte man alle. Man konnte in der tiefsten Nacht aufwachen, im Stockdunkel umhertappen und genau wissen, wo sich alles befand. Natürlich hatte ich meine Zeit, wenn ich römische Lager besuchte, zumeist im Zelt des Kommandanten verbracht, mich auf einer Liege gerekelt und Trauben gegessen, wie damals bei Commodus … Oh Götter, warum quälte ich mich mit solchen Gedanken?

»Okay.« Hazels Stimme riss mich aus meinen Träumereien. »Wenn wir ins Camp kommen, dann sagen wir Folgendes: Lavinia, du bist auf meinen Befehl hin zum Temescal-See gegangen, denn du hast gesehen, wie der Leichenwagen durch die Leitplanke gebrettert ist. Ich bin auf Posten geblieben, bis meine Ablösung eintraf, dann bin ich losgestürzt, um dir zu helfen, falls du in Gefahr bist. Wir haben gegen die Ghule gekämpft, unsere Freunde hier gerettet und so weiter. Alles klar?«

»Also, was das angeht …«, schaltete sich Don ein, »… ich bin sicher, ihr kommt jetzt allein zurecht, oder? Weil ihr doch vielleicht Ärger kriegt oder so. Ich bin dann mal weg …«

Lavinia warf ihm einen strengen Blick zu.

»Ich kann aber auch bleiben«, sagte er eilig. »Ich helf ja gern.«

Hazel packte den Sarggriff fester. »Nicht vergessen, wir sind eine Ehrengarde. Egal, wie mitgenommen wir aussehen, wir bringen einen gefallenen Kameraden nach Hause. Verstanden?«

»Ja, Centuria«, sagte Lavinia gehorsam. »Und, Hazel? Danke.«

Hazel wand sich, als ob sie ihr weiches Herz bereute. »Wenn wir bei der Principia sind …« Ihr Blick blieb an mir haften. »Dann kann vielleicht unser göttlicher Gast den Prätoren erklären, was mit Jason Grace passiert ist.«

5

Jetzt sing ich das Lied

»Ich bin halt ein Versager«.

Hallo und viel Spaß

Die Wachtposten der Legion erspähten uns schon aus der Ferne, was man von Wachtposten einer Legion ja auch erwarten kann.

Als unser kleiner Trupp am Haupteingang des Lagers ankam, hatte sich bereits eine Gruppe von Neugierigen versammelt. Halbgötter säumten die Straße und sahen schweigend zu, wie wir Jasons Sarg durch das Camp trugen. Niemand stellte uns eine Frage. Niemand versuchte, uns aufzuhalten. Die Blicke lasteten schwer auf uns.

Hazel führte uns geradewegs durch die Via Praetoria.

Einige Legionäre standen auf der Veranda vor ihrer Baracke – ihre halb polierte Rüstung war für den Moment vergessen, Gitarren wurden zur Seite gestellt, Kartenpartien blieben unvollendet. Leuchtende lilafarbene Laren, die Hausgötter der Legion, wimmelten herum, wanderten durch Wände oder durch Leute und zeigten dabei wenig Respekt für Intimsphäre. Riesige Adler kreisten über uns und musterten uns, als wären wir köstliche Nagetiere.

Mir fiel auf, wie spärlich die Menge war. Das Camp wirkte … nicht gerade verlassen, aber irgendwie nur halb voll. Einige junge Helden gingen auf Krücken. Andere hatten den Arm in Gips. Vielleicht waren viele einfach in ihren Quartieren, lagen in der Krankenstube oder befanden sich auf einem längeren Marsch, aber mir gefielen die gehetzten, traurigen Mienen der Legionäre, die uns ansahen, überhaupt nicht.

Ich dachte an die hämischen Worte des Eurynomos am Temescal-See: ICH HABE SCHON DAS FLEISCH DEINER KAMERADEN GEKOSTET! BEIM BLUTMOND WIRST DU DICH ZU IHNEN GESELLEN.

Ich war nicht sicher, was ein Blutmond war. Lunare Angelegenheiten fielen eigentlich ins Fach meiner Schwester. Aber für mich hörte sich das gar nicht gut an. Ich hatte die Nase voll von Blut. Und die Legionäre sahen so aus, als ginge ihnen das auch so.