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Der Roman einer betrogenen Generation.
Dieter Noll, als "Remarque des 2. Weltkriegs" gefeiert, schildert den Weg junger Männer seiner Generation. Hungrig nach Abenteuern und männlicher Bewährung, ziehen sie begeistert in den Krieg. Nach erniedrigendem Drill, endlosen Nächten der Erschöpfung und Angst am Flakgeschütz erleben sie im Inferno der Rückzugsschlachten ihre völlige Desillusionierung und den moralischen Zusammenbruch.
Frühjahr 1943. „Es gibt kein Abenteuer, nur den Krieg“, erklärt Werner Holt und hofft wie die anderen Gymnasiasten, dass man sie endlich zur Flak einzieht, dass der Krieg wirklich erst richtig losgeht, damit sie ihr Leben einsetzen können wie der Räuber Karl Moor und sie sich keine Gedanken mehr machen müssen um verpatzte Lateinarbeiten. Die Sechzehnjährigen müssen nicht lange warten, bis sie auf dem Kasernenhof stehen. Das Abenteuer hat begonnen, das Abenteuer Krieg mit Gefahr, Frauen und Bewährung. Doch als sie gegen Partisanen eingesetzt werden, sind die Fronten schon lange nicht mehr klar, und als sie im Panzer hocken, um russische Panzerspitzen aufzuhalten, tobt um sie das Chaos der letzten Kriegstage, und plötzlich muß man seine Waffe gegen die eigenen Leute richten, um nicht in den Untergang hineingezogen zu werden ...
Weltweit wurde dieser Klassiker der Anti-Kriegsliteratur millionenfach verkauft.
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Seitenzahl: 820
Dieter Noll
Die Abenteuer des Werner Holt
Roman einer Jugend
Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt
ISBN E-Pub 978-3-8412-0429-5
ISBN PDF 978-3-8412-2429-3
ISBN Printausgabe 978-3-7466-1043-6
Aufbau Digital Januar 2012,
veröffentlicht im Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin, September 1994
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 1960 bei Aufbau; Aufbau ist
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Ausklang
1
Der Wecker rasselte. Werner Holt schreckte aus dem Schlaf, sprang aus dem Bett und stand ein wenig taumelig im Zimmer. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern matt und benommen. Sein Kopf schmerzte. In einer Stunde begann der Schulunterricht.
Durch die weitgeöffneten Fenster flutete Sonnenlicht. Der Mai des Jahres 1943 endete mit heißen, trockenen Tagen, mit prachtvollem Badewetter. Der Fluß, der bei der kleinen Stadt reißend durch die Berge brach, lockte mit seinen grünen Ufern weit mehr als das ziegelrote Schulhaus und seine muffigen Räume.
Mathematik, Geschichte, Botanik und Zoologie, dachte Holt, und dann zwei Stunden bei Maaß, Studienrat Maaß, Latein und Englisch. Die Übersetzung aus dem Livius muß ich bei Wiese abschreiben, in der großen Pause. Wenn ich bei Zickel drankomm, meck-meck, dann gibt’s ein Fiasko … Allmählich wich der dumpfe Schmerz, der hinter der Stirn saß. Er erinnerte sich jetzt, erregend und beängstigend geträumt zu haben, von der Marie Krüger und ihrem zigeunerhaft bunten Rock, und dann von einer Schlägerei mit Wolzow.
Ich bin krank, dachte er, als ihn bei der dritten Kniebeuge vor dem offenen Fenster ein Schwindelgefühl ergriff, ich geh nicht in die Schule, mir ist elend, ich bleib im Bett. Nein! Das ist unmöglich. Wenn ich heut fehle, dann hab ich verspielt, dann heißt es, ich hab Angst vor Wolzow. Bei diesem Gedanken wurde ihm noch elender. Es hatte gestern mit Wolzow Krach gegeben, es hatte vorgestern, es hatte jeden Tag Krach gegeben; und heute war die Prügelei fällig. Er fürchtete niemanden in der Klasse, aber gegen Wolzow hatte er keine Chance: und damit war er erledigt. Denn ein unbesiegter Held war, von Homer bis heute, so gewaltig wie sein Mundwerk, aber ein besiegtes Großmaul war nur noch lächerlich.
Es ist ein Jammer, dachte Holt, als er sich unlustig und frierend mit kaltem Wasser wusch und dabei in den Spiegel starrte; es ist ein großer Jammer: Wolzow und ich, wir würden die ganze Schule beherrschen, wenn wir Freunde wären, denn die älteren Jahrgänge sind beim Militär, wir sind die oberste Klasse.
Er trocknete sich ab. Er befühlte Wangen und Oberlippe: der Bart ließ sich Zeit, das war Holts Kummer. Er rasierte sich nur aus Prestigegründen. Mit sechzehneinhalb noch fast ohne Bart … eine Schande! Kein Wunder, daß er sich mit so einer glatten Haut nicht an die Marie Krüger herantraute, wenn sie dann und wann wie eine Katze in der Badeanstalt herumstrich. Immerhin: als er ihr kürzlich begegnet war, da – er besann sich genau – hatte sie ihn mit einem verwirrenden Blick angeschaut … Außerdem: kratzte es am Kinn nicht doch schon ganz ordentlich?
Einsfünfundsiebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer, schmal, doch muskulös, aber neben Wolzow, der einsachtundachtzig maß und fast neunzig Kilo wog, eben doch beinahe knabenhaft. Dunkeläugig, dunkelhaarig sah er sich im Spiegel, und das Haar war sehr widerborstig und ringelte sich gern in die Höhe. Er kämmte sich, er kleidete sich an. Der Kopfschmerz war vergangen, nur ein dumpfer Druck wollte nicht von der Stirn weichen. Auch machte das Schlingen Beschwerden, und der Mund war trocken.
Wolzow galt seit eh und je als der größte Flegel der Schule, zweimal Consilium, das drittemal nur durch Intervention seines Generalsonkels dem Hinauswurf entgangen. – Und ich Idiot komm neu in die Klasse und lauf ihm den Rang ab, statt seine Freundschaft zu suchen! Das wär ein Freund, Gilbert Wolzow, ein Freund wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller!
Er war fertig, er stopfte ein paar Bücher in die Aktentasche, dann lief er die Treppen hinab.
Das Haus gehörte den Schwestern Eulalia und Veronika Dengelmann, eigentlich deren Mutter, einer fünfundachtzigjährigen Greisin, die wegen Altersschwachsinn entmündigt worden war. Die beiden Schwestern, zweiundfünfzig und sechsundvierzig Jahre alt, unterhielten eine Pension, »Kost und Logis für alleinstehende Herren«. Holt wurde verwöhnt, da seine Mutter großzügig zahlte; er war zeitlebens verwöhnt worden. Seit zwei Monaten lebte er in der Pension und tyrannisierte die Schwestern.
Er trat in das Wohnzimmer im Erdgeschoß und rief nach dem Kaffee. Veronika Dengelmann, die jüngere der Schwestern, das Gesicht dick mit Fett eingerieben und die Haare voller Lockenwickel, setzte die Tasse und den Teller mit Broten vor ihn hin. »Guten Morgen.«
Holt antwortete nicht. Er dachte: Ich bin krank. Gleich wird sie wieder anfangen: Beeilen Sie sich … Das Schlucken schmerzte, die Kehle war wund. Fräulein Dengelmann sagte: »Beeilen Sie sich! Es fällt wieder auf uns zurück, wenn Sie zu spät kommen …«
Holt schob den Teller mit den Broten von sich. Durch die Tür trat Eulalia, in einen verwaschenen Schlafrock gewickelt. Sie hat ein Gesicht wie ein Schaf, dachte er, und Veronika sieht aus wie der Vollmond.
»Sehen Sie zu, daß Sie fortkommen«, sagte nun auch Eulalia, »es ist gleich sieben …« Er warf ihr einen bösen Blick zu. Wenn Wolzow mich verdroschen hat, dachte er, muß ich etwas so Verrücktes anstellen, daß mein Ansehen wiederhergestellt wird. Bei Maaß, beim Ordinarius! Ich habe alle Lehrer hereingelegt, Zickel, meckmeck, Schöner, Gruber, alle … Mag Zemtzki sticheln: Bei Maaß traust du dich nicht … Bei Maaß traut sich keiner, nicht mal Wolzow. Aber ich bin gerissen, ich fange auch Maaß, und das wird mich zum Helden des Tages machen. Ich werde bei Maaß die Sprache verlieren, und wenn er mich bestrafen will, zieh ich ein ärztliches Attest aus der Tasche, daß ich seit gestern taubstumm bin; aber woher nehm ich das Attest? Oder ich werde bei einer Antwort den Mund nicht mehr schließen und bloß noch lallen können, Maulsperre, Kieferklemme, da wird die Klasse toben vor Freude, und wenn Maaß vor Wut einem Schlaganfall nah ist, gibt mir jemand die vereinbarte Ohrfeige, und dann ist alles wieder in Ordnung; da soll er mir erst mal was beweisen! Das ist eine gute Idee! Oder … ob man ihn mit seinen wahnsinnigen Schachtelsätzen reinlegen kann?
Er saß unbeweglich am Tisch. Ein herrlicher Tag! Ich möchte ein Segelboot haben! Man könnte … Sein Blick fiel durch das Fenster auf die gebeugte Gestalt der alten Dengelmann; die Greisin tappte durch die Beete und riß die jungen Kohlrabipflanzen aus dem Boden, eine nach der anderen … »Fast jeden Tag kommen Sie zu spät zur Schule«, schimpfte Veronika Dengelmann, »gestern traf ich Herrn Benedict …« Benedict? Das war der Turnlehrer, und er war harmlos … Und jetzt reißt die Alte tatsächlich auch noch die Salatpflanzen aus! »Passen Sie auf Ihren Grünkram auf«, sagte Holt, »die Alte ist im Garten!« – »Ogottogott!« Türen schlugen. Im Garten erhob sich Gezeter.
Holt verließ das Haus. Langsam ging er die Bahngeleise entlang; er ließ sich Zeit, er kam sowieso zu spät zum Unterricht, und Ausreden gab es genug. Meistens mußten die geschlossenen Bahnschranken herhalten.
»Holt!« rief es hinter ihm. »Warte!«
Das ist Rutscher, der verdirbt mir den Schulweg. Fritz Rutscher war der Sohn eines vor zwei Jahren verstorbenen Studienrates. »Schon sieben durch«, keuchte er, »… müssen uns beeilen!« Er war vom schnellen Lauf so außer Atem, daß er das Stottern vergaß.
»Hast du Angst?« sagte Holt mürrisch. »Zu zwein«, stammelte Rutscher, ein semmelblonder Junge, »zu zwein findt man bessere Ausreden!« Sie überquerten die Bahngeleise. Nun führte die Bismarckallee, breit und von Linden gesäumt, hinab in die kleine Stadt. Links und rechts standen Villen.
Hier wohnen Barnims, dachte Holt. Er blickte neugierig auf ein großes, geklinkertes Haus. Oberst Barnim hatte zwei Töchter. Gerda, fünfzehnjährig, besuchte die Mädchen-Oberschule; Holt traf sie manchmal auf dem Schulweg, ein mageres, sommersprossiges Mädchen. Sie soll noch eine Schwester haben, Uta Barnim, die ist neunzehn, Abitur mit Auszeichnung, und voriges Jahr war sie Gebietsmeisterin im Tennis; ich hab sie noch nie gesehen, aber alle sagen, sie ist das schönste Mädchen in der Stadt. Und hier wohnt der Peter Wiese, gleich nebenan. Der ist natürlich längst in der Schule, der Wiese-Peter, ein richtiger Miesepeter, der Primus, der alles weiß und lateinische Reden halten kann, aber nie einen Jux mitmacht. Er spielt wunderbar Klavier.
Schon oft war Holt, unter irgendeinem Vorwand, im Hause des Amtsrichters Wiese erschienen und hatte schließlich gesagt: »Spiel doch mal was, du …« Dann setzte sich der kränkliche und schwache Peter an den Flügel. Holt konnte stundenlang zuhören, unbeweglich in einem Sessel.
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