Die Abtei der hundert Täuschungen - Marcello Simoni - E-Book

Die Abtei der hundert Täuschungen E-Book

Marcello Simoni

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Beschreibung

Das furiose Finale der Abtei-Trilogie. Winter 1349. In den Wäldern nahe Ferrara treibt eine mysteriöse Gruppe maskierter Männer ihr Unwesen. Während Gerüchte über satanistische Rituale und die Apokalypse aufkommen, wittern andere eine dunkle Verschwörung. Maynard de Rocheblanche soll mit Unterstützung der Heiligen Inquisition Licht in die schaurige Geschichte bringen. Doch seine Untersuchungen gestalten sich schwierig, da die Prelati mehr Interesse an seinem eigenen Geheimnis als an der Auflösungdes Falls haben. Denn Maynard ist der Hüter des größten Mysteriums der Christenheit: Nur er kennt das Geheimnis des sagenumwobenen Lapis exilii.

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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Im Anhang befindet sich ein Glossar.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »L’abbazia dei cento inganni« bei Newton Compton editori, Rom.

© 2018 Marcello Simoni

© der deutschsprachigen Ausgabe: Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage: Valentino Sani/Arcangel Images, robodread/Depositphotos.com, shutterstock.com/gmstockstudio, shutterstock.com/Morphart Creation

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-378-3

Mittelalter-Thriller

Originalausgabe

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Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht.

(Lukas 10, 23)

PROLOG

Wälder um Ferrara

7. Januar 1349

Der Wolfsjäger schlich langsam zwischen Weiden- und Eichenstämmen über den Schnee. Der Mond stand noch hoch, die Morgendämmerung zeigte sich als schwacher Silberstreif zwischen dem Himmel und den weiß verschneiten Wipfeln. Der Mann hielt seine Fackel hoch in die Luft, ließ die Flussdämme hinter sich, während er, die Augen fest auf den Boden geheftet, auf der Suche nach Spuren in nördliche Richtung weiterzog.

Er betrieb dieses Geschäft von Kindesbeinen an, zunächst zusammen mit seinem Vater und später dann allein. Der Wolfsjäger hasste die Menschen, noch mehr allerdings Hunde, nichtswürdige Tiere, die unterwürfig ihrem Herrn dienten. Es gab nur einen Ort, an dem er sich zu Hause fühlte, den Wald, denn nur dort erregten sein wilder, struppiger Bart und sein grimmiges Wesen weder Verachtung noch Spott.

Ein fernes Heulen ließ ihn innehalten und nach dem Dolch greifen, den er unter dem Fellumhang trug. Doch er holte ihn nicht heraus. Obwohl dieser Laut so schaurig klang wie das Gelächter des Teufels, wusste er, dass er die Stille weitaus mehr zu fürchten hatte. Denn aus ihr krochen die schlimmsten räuberischen Kreaturen.

Sollen sie doch kommen, dachte er. Er durchstreifte ein Gebiet, in dem überall Fangeisen und Fallen verteilt waren. Nur er allein kannte die Stellen, an denen sie sich befanden. Falls sich irgendein wildes Tier zeigte, wüsste er schon, wohin er es locken müsste, damit es seine Pfoten an die richtige Stelle setzte. Seit mehr als einer Woche war ihm jedoch kein Wolf mehr in die Fallen gegangen. Diese vermaledeiten Viecher wurden mit jeder Nacht schlauer, trotz der Kälte, die sie hungrig machte und die sie immer weiter in die Nähe von menschlichen Ansiedlungen trieb.

Während das Heulen sich im Wind verlor, begann der Jäger, seine Fangeisen der Reihe nach zu kontrollieren, legte, wo nötig, neue Köder aus Schlachtabfällen aus. Die verlockendsten Bissen steckte er auf lange Ruten, die am Stamm einer Rosskastanie befestigt waren, und ging dann zu der leichten Senke, in der er am Vortag mit Gift getränkte Überreste einer Ziege platziert hatte. Er war gezwungen, diese Köder weitab von den Waldwegen auszulegen, wo nur wilde Tiere sie entdecken würden, denn das herba luparia würde nicht nur diese töten, sondern jeden, der in Zeiten der allgemeinen Hungersnot selbst einen halb verwesten Kadaver noch verlockend fände.

Daher nahm er nicht an, dass irgendein Mensch das Gerippe fortgeschleppt haben könnte, als er bemerkte, dass es nicht mehr am ursprünglichen Platz lag. Er fand es zwanzig Schritt weit entfernt unter einem Wacholderbusch. Den Spuren nach zu schließen hatte ein Wolf es dorthin gezerrt und halb aufgefressen, ehe er weitergezogen war und nun irgendwo am Gift verendete. Der Jäger folgte den Abdrücken im Schnee in der Hoffnung, ein Weibchen zu finden. Für diese wurde nämlich besser gezahlt. Besonders, wenn sie trächtig waren. Er untersuchte einen Blutfleck vor seinen Füßen und folgte der Spur, den gezückten Dolch nach unten gerichtet, bereit zuzustoßen. Vielleicht lebte das Tier ja noch und würde sich wehren, auch wenn es im Sterben lag.

Die scharlachroten Tropfen führten ihn zu einer Stelle, an der das Gestrüpp dichter wurde, bis zu den Wurzeln eines großen Baumes. Dort lag der Wolf. Ein mageres Exemplar, das Fell von der Krätze zerfressen und das Maul voller Blut.

Mit einem enttäuschten Seufzer steckte der Jäger den Dolch wieder ein. Ein so stark beschädigtes Fell konnte er nicht gebrauchen. Er beugte sich dennoch über das tote Tier, um das Geschlecht festzustellen, als plötzlich im Dickicht aufflackernde Lichter seine Aufmerksamkeit erregten.

Er kauerte sich hinter den Stamm und sah einige Gestalten, wie sie zwischen den Bäumen hervortraten. Kutten, Umhänge und lange Kapuzen, Laternen, um die Dämmerung zu erhellen. Es waren höchstens fünfzehn, von denen auf den ersten Blick keine bewaffnet zu sein schien. Und doch, je näher er sie kommen sah, desto stärker wuchs seine Angst. Ehe man ihn bemerkte, löschte er seine Fackel und beobachtete von seinem Versteck aus weiter das Geschehen.

Wie ein Zug von Gespenstern bewegte sich die Prozession über den verschneiten Boden bis zu einer Stelle, an der die Zweige der Sträucher sich zu einer Art Bogen verflochten und ein Portal in die Finsternis formten. Doch all das ängstigte den Jäger nicht allzu sehr.

Auf einmal jedoch musste er einen Schrei unterdrücken. Er brach Hals über Kopf auf, um sich hinter die ihm so verhassten Stadtmauern zu flüchten, als er sah, was den Kopf des Zuges bildete.

Eine Frau auf dem Rücken einer Bestie.

Eines Tiers, das es, wenn überhaupt, nur an einem Ort geben durfte: in der tiefsten Hölle.

ERSTER TEIL

DER BOGEN AUS LICHT

1

Abtei Santa Maria di Pomposa

10. Januar 1349

Gualtiero betrachtete die Wölbung der Apsis, dann die Fresken auf der Wand darunter. Heilige, Engel und Selige waren um den Christus Pantokrator versammelt, fügten sich perfekt in die Abmessungen des Bogens, der so zu einem Portal in die Ewigkeit wurde. Im Laufe der letzten Jahre hatte er sich schon oft vorgestellt, wie er selbst dieses Thema darstellen würde, und hatte dabei in Gedanken ständig die Abfolge der Bilder, der Farben und sogar die Nuancen der Schatten verändert, auf der Suche nach Vollkommenheit. Schließlich hatte Gualtiero sich damit abfinden müssen, dass sein Traum von einem anderen verwirklicht wurde.

Daher richtete er seine Augen mit einer gewissen Verbitterung auf den bärtigen Mann, der über ihm auf einem Gerüst stand und mit einem Fehhaarpinsel letzte Hand an sein Werk legte. Gerade arbeitete er an den Flügeln des Erzengels Michael, den er während der Seelenwägung abgebildet hatte. Gualtiero war fasziniert. Er hatte in den wenigen Tagen bei Mastro Vitale de Equis mehr gelernt als von seinem Vater während ihres ganzen Lebens auf Wanderschaft, und nun wusste er genau, was für eine Art Maler er werden wollte.

Da es Vitale an Hilfskräften mangelte, hatte dieser ihn als Gehilfen angenommen, allerdings unter der Maßgabe, dass er mit ihm nicht das Geld teilen musste, das der Abt für das Fresko ausgelobt hatte. Meist hatte Gualtieros Aufgabe zwar nur darin bestanden, die Farbpigmente vorzubereiten, den Putz aufzubringen und schwere Gegenstände umzustellen, aber er hatte trotzdem großen Nutzen aus dieser Zeit gezogen und sich abgeschaut, wie der magister pintor den Gesichtern Anmut und den Figuren Plastizität verlieh. Fragen zu stellen hatte er vermieden, da er wusste, wie sehr Künstler sich scheuten, ihre Geheimnisse preiszugeben. Außerdem hatte Gualtiero gehört, dass Mastro de Equis rasch den Pinsel mit dem Dolch vertauschen konnte, den zu führen er angeblich bei der Bürgerwehr des Viertels Porta Stiera in Bologna gelernt hatte.

»Seht Ihr Fehler?«, fragte der Maler plötzlich und kletterte vom Gerüst herab.

Gualtiero hatte das Gefühl, er erwartete jetzt ein Lob von ihm. Lächelnd breitete er die Arme aus. »Ich sehe keinen«, sagte er und widmete sich wieder dem unteren Teil des Freskos, das das Leben des heiligen Eustachius, des Schutzpatrons gegen die Pest, abbildete.

Nach anfänglichem Zögern hatte Abt Andrea beschlossen, Eustachius mehr Kampfgeist zu verleihen, um mit diesem Bildnis dem Schrecken des Schwarzen Todes, der in den Landen der Emilia und der Romagna immer noch Opfer forderte, etwas entgegenzusetzen. Dennoch war es seltsam, an einem Ort des Gebets einen Heiligen auf einem Pferd zu sehen. Aufrecht im Sattel sitzend, dem Hirsch gegenüber, der ein Kruzifix in seinem Geweih trägt, zeigt Eustachius sich kriegerisch, der Falke auf seinem linken Arm verstärkt diesen Eindruck noch. Vitale musste zugeben, dass sein Bild einer Miniatur ähnelte, die Gualtiero vor einigen Monaten geschaffen hatte, was diesen mit Stolz erfüllte.

»Und was werdet Ihr nun tun, Meister?«

Ehe er antwortete, ließ de Equis seinen Blick über die langen Wände des Kirchenschiffs schweifen, die von alten und inzwischen verblassten Fresken bedeckt waren. Sie hätten restauriert werden müssen, aber die Abtei verfügte nicht über ausreichende Mittel, um ihn damit zu beauftragen, geschweige denn dafür, ein Werk ex novo anfertigen zu lassen. »Ich werde nach Bologna zurückkehren«, erklärte Vitale und strich sich mit den farbverschmierten Fingern über das Kinn. »Ich muss mich um meine Werkstatt kümmern und habe Aufträge zu erfüllen.«

»Ich frage mich, ob Ihr nicht zufällig –«

Vitale unterbrach Gualtiero mit einer Handbewegung. »Glaubt Ihr wirklich, ich wüsste nicht, was Ihr sagen wollt? Diese Frage treibt Euch seit unserer ersten Begegnung um.« Er betrachtete ihn mit aufrichtigem Bedauern. »Ihr scheint begabt, aber ich habe bereits einen Lehrling. Besser gesagt, einige. Ganz abgesehen davon seid Ihr für diese Aufgabe zu alt.«

»Aber ich habe bereits Erfahrung«, entgegnete Gualtiero, dessen Gesicht sich gerötet hatte. »Mein Vater war ein Mastro pittore. Ehe er starb, hat er mir alles beigebracht, was er wusste.«

»Ihr müsstet dennoch wieder von vorn beginnen. Ich habe meine eigenen Methoden und verlange, dass diese befolgt werden.«

Gualtiero ballte die Fäuste. Schließlich hatte er nicht nachgefragt, weil er sich zu viel anmaßte, sondern weil er dringend einen Beruf finden musste, um für sich und seine Liebste den Lebensunterhalt zu verdienen. Und ganz gleich, wie sehr er sich auch das Hirn zermarterte, er sah keine andere Lösung, als das eigene Talent zu nutzen. »Ihr habt recht, ich bin schon fast zwanzig«, gab er zu. »Dennoch würde ich die niedersten Aufgaben übernehmen, nur um Euch zufriedenzustellen.«

De Equis zögerte, aber ehe er noch etwas sagen konnte, ließ ihn ein Geräusch sich dem Eingang der Kirche zuwenden. Die Tür öffnete sich mit einem lang gezogenen Knarren, und eine in einen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt trat ein.

Der Mann schloss hastig die Tür, um den pfeifenden Wind draußen zu halten, und kam durch das Kirchenschiff auf sie zu. Dabei schüttelte er den Schnee von der Garnache, die er über seiner schwarzen Kutte trug. Ein Hund folgte ihm hinkend.

»Ehrwürdiger Abt«, begrüßte ihn Vitale mit einer Verbeugung.

Pater Andrea beachtete ihn nicht weiter, sondern schob stumm die Kapuze nach hinten, um das Fresko der Apsis besser bewundern zu können. Er war immer häufiger in der Kirche erschienen, und jeder Besuch hatte ihn zufriedener zurückgelassen. Doch so glücklich wie in diesem Augenblick hatte der Abt noch nie gewirkt. Er nickte beifällig und ließ den Blick über die tiefgründige Miene Christi und seine selig lächelnden Anhänger schweifen. Dann betrachtete er die vier Evangelisten weiter unten, die an ihren Schreibpulten sitzend dargestellt waren, und schließlich den Zyklus über den heiligen Eustachius. Als Letztes musterte er den Mönch, der zwischen dem Pantokrator und der engelshaften Madonna kniete. Dieser war fast schon am Rand des Freskos angeordnet, und er war auch der Einzige ohne Aureole, was ihm zusammen mit seiner Tonsur und dem bartlosen Gesicht eine entwaffnende Schlichtheit verlieh. »Wenn ich mich so unter all diesen Heiligen abgebildet sehe«, sagte Abt Andrea, »fühle ich mich etwas unwohl dabei, möchte ich doch keinesfalls, dass meine Mönche mir übermäßigen Hochmut vorwerfen könnten.«

»Falsch wäre es nur, wenn Ihr auf diesem Bild fehltet«, entgegnete Vitale. »Schließlich seid Ihr der Auftraggeber dieses Werks.«

»Das wäre ich, wenn die Goldflorin, mit denen ich Euch bezahle, aus meiner eigenen Tasche stammten«, wehrte Andrea ab.

»Das ist mir bewusst. Ein französischer Ritter, habe ich gehört …«

Abt Andrea lächelte nur und ging nicht auf das Thema ein, dann zeigte er auf das Fresko. »Ihr habt meinen Beifall, Mastro de Equis. Das ganze Kirchenschiff erstrahlt in neuem Glanz.«

»Ihr schmeichelt mir, ehrwürdiger Vater. Außerdem gilt: Color est lux.«

»Gut gesprochen, da wir uns in einem Benediktinerkloster befinden«, sagte Andrea spöttisch. »In einem Zisterzienserkloster würden wir der vanitas bezichtigt.« Er wartete ab, bis ihm der Maler zustimmte, dann wandte er sich Gualtiero zu. Als er dessen verzweifelte Miene bemerkte, runzelte Andrea die Stirn. »Kommt mein Besuch gerade ungelegen?«

»Keineswegs«, sagte de Equis. »Obwohl Euer Miniaturist –«

»Ich bin kein Miniaturist mehr«, stellte Gualtiero richtig und brach damit sein Schweigen.

»Ihr könntet es jederzeit wieder sein.« Abt Andrea klang hoffnungsfroh. »Eure Illuminationen auf Pergament sind ebensolche Meisterwerke wie die Fresken der Apsis von Mastro Vitale.«

Gualtiero war durchaus empfänglich für Lob, aber diese Worte kamen ihm übertrieben schmeichelhaft vor. »Ich danke Euch«, sagte er und neigte leicht den Kopf, »doch Ihr dürft es mir nicht übel nehmen, wenn ich es vorziehe, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.«

Andrea zuckte zusammen. »Eures … Vaters?«, rief er erschrocken.

Gualtiero schaute ihn zunächst erstaunt, dann voller Verachtung an. »Ja, meines Vaters!« Obwohl er die Identität seiner wahren Eltern nur einem einzigen Menschen enthüllt hatte, einem Freund, dem er vertraute, war er doch nicht so naiv anzunehmen, dass niemand sonst dieses gefährliche Geheimnis kannte. Doch hätte er dabei niemals an den Abt von Pomposa gedacht. »Der Mann, der sich um mich gekümmert hat, seit ich in Windeln lag: Mastro Sigismondo de’ Bruni, der ungerechtfertigt gehenkt wurde. Habt Ihr ihn vielleicht bereits vergessen?«

»Wie ich Euch gerade erklärte«, ging Vitale dazwischen, der nicht begriff, was da gerade vorging, »ich kann ihn nicht zu meinem Lehrling machen, weil –«

»Ja, und?«, fuhr Gualtiero nun auf und entlud seinen Zorn an ihm. »Dann empfehlt mich eben einem Meister, der es mit Euch aufnehmen kann!«

Mit nervösem Lachen wich de Equis zurück. »Etwas zu beharrlich, unser de’ Bruni!«

»Etwas zu verblendet, wolltet Ihr wohl sagen.« Abt Andrea schien seine unglückliche Bemerkung inzwischen vergessen zu haben. Mit grimmiger Miene umrundete er Gualtiero und musterte ihn so genau, als wollte er seine Gedanken lesen. »Obwohl er diverse Gründe angeführt hat, hat er bislang nicht erklärt, weshalb er wirklich einen Beruf ergreifen möchte.«

Gualtiero verschränkte die Arme vor der Brust. »Bei allem Respekt, das ist meine Sache.«

»Dies stellt niemand in Abrede, mein Sohn«, fuhr Andrea fort. »Und dennoch möchte ich nicht, dass Ihr, nur weil Ihr ein Weib nehmen wollt, Eure Zukunft wegwerft.«

Als er hörte, wie mit solcher Oberflächlichkeit über ihn geurteilt wurde, hätte Gualtiero beinahe die Kontrolle über sich verloren. Nur um unangenehme Folgen zu vermeiden, verbarg er seine Wut und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Ihr wisst wohl, wie sehr ich Euch schätze, abbas. Dennoch ist die Zeit vorbei, in der Ihr für mich entscheiden konntet.«

»Wenn ich mir das in der Vergangenheit erlaubt habe, dann nur, um Euch vor den Fallstricken der Welt zu bewahren und vor den noch schlimmeren Folgen, die sich aus Eurem aufbrausenden Wesen ergeben. Und jetzt … jetzt … diese Besessenheit für ein Weib!«

»Sagt so etwas nicht! Hofft Ihr etwa immer noch, aus mir einen Mönch zu machen?«

Pater Andrea wandte den Blick ab. »Das war nicht der Grund, aus dem ich mit Euch sprechen wollte. Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen, und ich hoffe, Ihr habt so viel Verstand, Ihn zumindest zu erwägen …«

Ehe er noch etwas hinzufügen konnte, war draußen vor der Kirche ein helles Wiehern zu vernehmen. Die drei Männer verstummten schlagartig und lauschten den Geräuschen. Anscheinend war eine Gruppe Wanderer in der Abtei angekommen.

Erbost über die Unterbrechung eilte Andrea mit energischen Schritten über den Mosaikboden zum Eingang und riss das Portal auf. Vor ihm lag der schneebedeckte Hof, in dem sich die Bogengänge des Kreuzgangs gegen den grauen Himmel abhoben. Wenige Schritte von ihm entfernt rissen zwei Reiter an den Zügeln ihrer Pferde, um deren Temperament zu bändigen.

»Was führt Euch hierher, Messeri?«, rief der Abt laut und versuchte, das Heulen des Windes zu übertönen.

»Der Bischof«, erwiderte einer von ihnen. »Er schickt uns, um nach einem Ritter zu fragen, Maynard de Rocheblanche.«

»Rocheblanche?«

»Befindet er sich noch innerhalb dieser Mauern?«, fragte der Reiter.

»Ja, aber …« Abt Andrea sah sich unangenehm berührt um. »Jetzt ist er nicht da … Er jagt in den Wäldern.«

Der Mann, der als Erster gesprochen hatte, stieß einen Fluch aus. »Schickt sofort jemanden aus, ihn zu suchen. Wir können nicht warten.«

»Ich werde gehen!«

Überrascht sah Andrea sich nach Gualtiero um.

Dieser war bereits auf dem Weg nach draußen. »Ich weiß, wo ich Messer Maynard finden werde. Ich bitte um die Erlaubnis, mir ein Pferd der Abtei auszuleihen.«

Andrea war versucht, ihm dieses zu verweigern, aber die ungeduldigen Mienen der Boten zwangen ihn zuzustimmen. »Nehmt Rufus, er ist am schnellsten.« Er seufzte ergeben. »Aber gebt acht.«

Gualtiero hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg nach draußen.

Andrea blickte ihm nach, bis er ihn im reinen Weiß des Schnees nicht mehr erkennen konnte. Er fasste sich und wandte sich wieder den Boten des Bischofs zu. »Nun denn, was wollt Ihr von Rocheblanche?«

2

Rufus’ Hufe jagten fast geräuschlos über den schneebedeckten Pfad. Gualtiero duckte sich möglichst tief in den Sattel, hielt die Zügel fest umschlossen und kniff die Augen zusammen, um sie vor den weißen Eiskörnchen zu schützen, die ihm der Wind ins Gesicht blies. Er trug nur eine einfache Wolltunika, darüber einen Chaperon und lederne Beinlinge, er war jedoch so in Gedanken versunken, dass er die Kälte nicht spürte. Mit einem Wutschrei stieß er seinem Pferd die Fersen in die Seiten, um es anzutreiben. Was erlaubte sich dieser alte Mönch? Wie konnte er es wagen, über Gefühle zu sprechen, die er selbst nicht kannte! Noch ein Wort, und er hätte den Abt angeschrien, obwohl dieser ihm in den schwierigen Momenten der letzten Zeit beigestanden hatte. Der Verlust seiner Eltern war für ihn nur der Auftakt zu etlichen Schicksalsschlägen gewesen, die ihn mit jenem schweigenden Gott hadern ließen, einem Gott, der so anders war, als er auf den Fresken der Kirchen dargestellt wurde. Daher sollte der ehrwürdige Andrea ihm besser keine Predigten halten!

In schwindelerregendem Galopp jagte Gualtiero über den verschneiten Weg zwischen den kahlen Baumgerippen hindurch und stellte sich dabei vor, dass er gegen jeden Fallstrick, jedes Leid und gegen all jene anstürmte, die sein Leben auf den Kopf gestellt hatten. Als durchscheinende Gesichter zogen sie an ihm vorbei. Einige waren die tatsächlich lebender Menschen, andere manifestierten sich als grauenerregende Ungeheuer. »Hol sie doch alle der Teufel!«, fluchte er.

Gualtiero riss an den Zügeln seines Pferdes, um nicht in einem Dornengestrüpp zu landen, und bog scharf nach links auf einen immer enger werdenden Pfad ab. Von hier an wurde der Schnee tiefer, sodass er nicht mehr galoppieren konnte. Doch dies kümmerte ihn nicht, da er bereits an der Stelle angelangt war, die Maynard de Rocheblanche für gewöhnlich aufsuchte. So viele Male hatte er ihn von dem verlassenen Gräberfeld im Wald reden hören, auf dem er, wie er erzählte, den Hauch der Vergangenheit spüren konnte. Als Gualtiero den alten Friedhof erreicht hatte, verstand er, was Maynard damit meinte. Und während er im Schritt über die mit alten Gräbern übersäte Lichtung ritt, kam er sich wie ein Eindringling vor. Dort stand knapp ein Dutzend alter Grabsteine, deren Inschriften durch den Zahn der Zeit unleserlich geworden waren. Pater Andrea zufolge waren sie für Langobarden errichtet worden, tapfere Krieger, die in einer lange zurückliegenden Schlacht gefallen waren.

An einer Stelle, wo die Bäume wieder dichter standen, fand er Maynards Rappen an einem Stamm angebunden. Gualtiero saß ab, strich Rufus sanft über den Rücken und kauerte sich neben die erloschenen Reste eines kleinen Feuers. Rocheblanche musste vor Sonnenaufgang eingetroffen und dann zu Fuß ins Unterholz vorgedrungen sein. Es war unmöglich, zu sagen, wann er wiederkehren würde oder wo er sich gerade befand.

Gualtiero hatte nichts dagegen, zu warten. Schließlich musste er eine schwierige Entscheidung treffen und brauchte Zeit zum Nachdenken. Er setzte sich auf den Boden, fegte den Schnee von den verkohlten Zweigen und brachte die Flammen mit seinem Feuerstein wieder zum Lodern. Was die bischöflichen Boten von Maynard wollten, wusste er nicht. In der Vergangenheit hatten sich die Beziehungen zwischen dem französischen Ritter und seiner Exzellenz Guido di Baisio zunächst als widersprüchlich, nach dem Eingreifen des Marchese von Ferrara sogar als gefährlich erwiesen. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken.

Ihm ging die unwillkürliche Reaktion Pater Andreas nicht aus dem Kopf. Eures Vaters? Einen Augenblick lang hatte Gualtiero geglaubt, Angst in dessen Augen wahrzunehmen. Konnte er wirklich Bescheid wissen? Wenn die Wahrheit bekannt würde, dann wäre er in großer Gefahr …

Plötzlich brach ein schwarz gekleideter Mann zwischen den Büschen hervor. Groß, mit stattlichen Schultern, den Jagdbogen und eine lederne Tasche umgehängt. Er erhob die Hand zum Gruß, während er sich dem Feuer näherte. Schließlich holte er unter seinem Umhang ein Netz mit seiner Jagdbeute, die aus kleineren Wildtieren bestand, hervor und stellte es auf den Boden. »Mein Freund«, sagte er mit sonorer Stimme, »was bedrückt unseren ehrwürdigen Abt Andrea?«

Gualtiero erwiderte den Gruß. »Wer sagte denn, dass ihn etwas bedrückt?«

Maynard de Rocheblanche deutete auf den prächtigen Fuchs. »Sonst hätte er Euch wohl kaum erlaubt, auf Rufus hierher zu reiten.«

»Die Sache betrifft aber nicht Abt Andrea, sondern Euch«, erklärte Gualtiero. »Ihr werdet in der Abtei erwartet.«

»Von wem?«

»Von zwei Boten des Bischofs.«

Maynard runzelte die Stirn. »Haben sie gesagt, worum es geht?«

»Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Ich habe mich gleich auf den Weg gemacht, um nach Euch zu suchen.«

»Zwei Boten, sagtet Ihr … Bewaffnet?«

»Nicht mehr als gewöhnliche missi.«

Maynard setzte sich neben ihn und wärmte seine Hände am Feuer. »Lassen wir sie warten.«

»Ihr werdet sie nur verärgern.«

»Sich ein wenig zu erhitzen wird ihnen bei dieser Kälte ganz guttun.« Maynard sah Gualtiero durchdringend an. »Und nun erklärt mir, warum Ihr selbst hergekommen seid, anstatt einen Bediensteten zu schicken. Habt Ihr nicht am Fresko gearbeitet?«

»Das Fresko ist vollendet«, sagte Gualtiero finster. »Und Mastro Vitale de Equis hat mich als Lehrling abgelehnt.«

»Ich bin sicher, es gibt andere Werkstätten, die Eures Talents würdig sind.«

»Aber keine kann sich mit seiner vergleichen, Messere. Wenn Ihr sehen könntet, wie er malt! Wie er den Gesichtern Ausdruck verleiht.«

»Wollt Ihr vielleicht, dass ich ihn mit meinem Dolch kitzele?«, fragte Maynard mit einem spöttischen Lächeln.

»Macht Euch nicht über mich lustig.« Gualtiero sprang auf. »Ihr kennt meine Beweggründe nur zu gut.«

Maynard beobachtete den jungen Mann, der immer verzweifelter auf und ab lief. »Als ich Euch die Hand meines Schützlings versprach, hätte ich nie gedacht, Euch damit unter Druck zu setzen. Verzweifelt nicht, Ihr seid geschickt und hinreichend klug. Ihr müsstet nur Geduld haben.«

Als Gualtiero an einem Grabstein vorüberkam, strich er flüchtig mit der Hand darüber. »Ich fürchte, so einfach ist das nicht.«

Maynard starrte in die Flammen. Er wurde ernst. »Also gut. Wollt Ihr mir nun endlich den wahren Grund für Euren Besuch nennen?«

Gualtiero fragte sich, ob es klug wäre, ihm ehrlich zu antworten. Im ersten Moment war er einfach losgezogen, ohne einen Plan zu haben. Aber nun bezweifelte er, dass Maynard ihm überhaupt würde helfen können. Er wusste, er hatte dessen Neugier zu sehr geweckt, um sich nun einfach in Schweigen zu hüllen. Nach kurzem Zögern nickte er. »Ich habe etwas herausgefunden, das mich bedroht.«

»Worum handelt es sich?«

»Es betrifft meine Herkunft.«

Maynard nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Er öffnete seine verschränkten Hände, als wollte er einen Gedanken freigeben. »Ich habe viel über Euch nachgedacht«, gestand er. »Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass Eure Mutter zur Familie d’Este gehörte und einen einfachen Maler geheiratet hatte, nur um Euch zu schützen. Eine noble Geste, die äußerste Bewunderung verdient.«

Gualtiero entnahm diesen Worten ein Verständnis, wie es nur ein guter Freund oder Bruder aufbringen konnte, das ihn beinahe rührte. Maynard und er hatten zusammen vielen Gefahren getrotzt und ebenso viele Geheimnisse geteilt, aber bis zu diesem Moment hatte Gualtiero sich eigentlich nie als gleichrangig betrachtet. Doch dann überkam ihn mit Macht die Erinnerung an seine Mutter und brachte ihm wieder jenen Moment zurück, als er sie schließlich, von der Pest gezeichnet, in Avignon wiedergefunden hatte. Er musste die Tränen zurückdrängen. »Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste vor ihrer Umgebung verbergen, dass ich der Sohn von Passerino de’ Bonacossi bin, dem Herrn über Mantua, der von den Gonzaga ermordet wurde. Wenn dessen Feinde –«

»Habt Ihr Drohungen erhalten?« Maynard schien besorgt.

»Nein, Messere. Aber heute Morgen hatte ich kurz den Eindruck, dass Pater Andrea mein Geheimnis kennt.«

»Falls Ihr vermutet, dass ich ihm etwas gesagt haben könnte …«

»Nein, gewiss nicht«, stellte Gualtiero schnell klar. »Als meine Mutter im Sterben lag, hat sie einen Prälaten erwähnt, der sie verraten hatte. Und heute ließ Abt Andreas durchdringender Blick den Verdacht in mir aufkommen, ob dieser Mann sein Wissen über sie an einen anderen weitergegeben haben könnte.«

Maynard ließ keine Gefühlsregung erkennen. Er zog einen Dolch hervor, um damit einige Streifen Trockenfleisch abzuschneiden, die er mit Gualtiero teilte. »Habt Ihr Beweise für Eure Annahme?«

»Nur so ein Gefühl. Aber ich schwöre bei Gott, ich musste bloß ›mein Vater‹ sagen, und schon zuckte der Abt zusammen.«

»Also, wenn ich Euch richtig verstanden habe, unterstellt Ihr, dass er dieses ›mein Vater‹ auf Passerino de’ Bonacossi bezogen hat und nicht auf Sigismondo de’ Bruni.«

»Genau.«

»Und nun seid Ihr gekommen, damit ich Eure Befürchtungen bestätige.«

Gualtiero biss in den Fleischstreifen und nickte.

Maynard seufzte. Ich kann leider keine Wunder wirken, schien er damit sagen zu wollen. Und doch musterten seine Augen die Klinge des Dolches, als könnte er dort eine Antwort finden. »Was wisst Ihr über den Prälaten, der Eure Mutter verraten hat?«

»Es war der Bischof von Ferrara.«

»Guido di Baisio?«

»Dessen Vorgänger. Monsignore Guido da Cappello, der die Anklagen wegen Häresie gegen das Haus d’Este unterstützte.«

Bei diesen Worten bedeutete Maynard, er wisse nun genug. Er stand auf, hob den Beutel mit der Jagdbeute vom Boden auf und befestigte ihn am Sattelknauf seines Rappen. Gualtiero hatte seine Haltung eines Kriegers stets bewundert, aber nun brannte er vor Ungeduld, seine Meinung zu hören. Er sah ihm zu, wie er einen Fuß in den Steigbügel stellte und sich mit einer Drehung in den Sattel schwang, und fürchtete schon, dass er ohne ein weiteres Wort aufbrechen würde.

Schließlich nickte Maynard. »Tatsächlich kann man fast mit Sicherheit annehmen, dass der alte Bischof dem neuen das Geheimnis eurer Mutter weitererzählt hat. Wenn wir außerdem berücksichtigen, wie freundschaftlich die Beziehungen zwischen Abt Andrea und seiner Exzellenz Guido di Baisio in letzter Zeit waren …«

»Also gebt Ihr mir recht!«, rief Gualtiero erleichtert.

»Dazu ist es noch zu früh. Das ängstliche Zusammenzucken eines Mönches genügt noch nicht, um so eine These zu untermauern. Da muss man noch weiter forschen, Beweise suchen.« Er lächelte bitter. »Aber wenn sich am Ende Eure Befürchtungen bewahrheiten sollten …«

»Darüber habe ich bereits nachgedacht.« Gualtiero stieg auf sein Pferd. »Ich werde von hier fliehen und Isabeau verlassen müssen.« Er verbarg seine bekümmerte Miene unter der Kapuze. »Ich will nicht, dass sie meinetwegen in Gefahr gerät.«

»Nicht nur Isabeau schwebt in Gefahr.« Maynard klang besorgt, und er senkte unvermittelt die Stimme. »Auch Euer größtes Geheimnis ist bedroht. Oder besser gesagt, unser Geheimnis.«

»Ihr meint … oh! Falls man mich gefangen nimmt und mich zum Reden bringt …«

»Kommt, noch ist es nicht an der Zeit zu verzweifeln.« Maynard spornte seinen Rappen an. »Jetzt folgt mir! Wir werden herausfinden, was die Boten des Bischofs zu sagen haben.«

3

Als sie die Abtei erreichten, waren die beiden Boten bereits wieder fort.

»Sie hatten es eilig, nach Ferrara zurückzukehren«, erklärte Pater Andrea, als er Maynard de Rocheblanche in seinem Arbeitszimmer im Innern des palatium abbatis empfing.

Maynard setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Die Unterredung mit Gualtiero spukte ihm noch im Kopf herum, und er war noch schweigsamer als gewöhnlich. Er hätte den jungen Mann am liebsten nicht weiter beunruhigt, obwohl er wusste, dass die Dinge eine weitaus schlimmere Entwicklung nehmen könnten, als jener erwartete. Als sie in der Abtei angekommen waren, hatte er ihn gleich in die Stallungen geschickt, ohne ihm gegenüber die Bande der Loyalität zwischen dem Bischof und Monsignore Bertrand du Pouget zu erwähnen. Maynard konnte den Moment kaum erwarten, da er sich mit diesem gefährlichen Kardinal messen sollte, und doch fürchtete er sich vor allem, was seinem Erscheinen in Ferrara folgen würde. Sollte du Pouget sich in das ausgewogene Ränkespiel zwischen den örtlichen Potentaten einmischen, würde bald jedes Geheimnis zu einem Spielstein, der auf seinem Schachbrett der Täuschungen die Partie entscheiden konnte.

Als er die Pergamentrolle bemerkte, die Pater Andrea ihm hinhielt, wurde Maynard jäh aus seinen Gedanken gerissen. Er nahm die Rolle und untersuchte zunächst das bischöfliche Siegel, mit dem sie verschlossen war.

»Ehe sie gingen, haben die Boten darauf gedrängt, dass ich Euch das hier übergebe«, sagte Andrea.

Maynard betrachtete die Rolle misstrauisch. »Haben sie Euch etwas über den Inhalt verraten?«

»Sie haben nur etwas angedeutet. Monsignore Guido di Baisio verspricht darin anscheinend, Euch wieder in die Gunst des Marchese und an den Hof zu bringen, wenn Ihr ihm einen bestimmten Gefallen erweist.«

»Das bezweifle ich stark. Wenn er die Gelegenheit dazu hätte, würde Marchese Obizzo d’Este mich eigenhändig umbringen.« Unschlüssig drehte er die Pergamentrolle in den Händen hin und her, doch seine Lust, diese zu öffnen, hielt sich in Grenzen. »Sonst nichts?«, fragte er nach.

»Nichts, was ich hätte erkennen können. Sobald ich versichert hatte, dass ich Euch die Botschaft persönlich übergeben würde, sind die beiden Männer sehr rasch aufgebrochen. Es wirkte, als hätten sie vor etwas Angst.«

»Angst«, wiederholte Maynard und schauderte unwillkürlich. Dieses Wort widerte ihn an, ebenso wie die Art und Weise, wie durch sie jeder wichtige Moment seines Lebens bestimmt wurde. Und die Macht, mit der die Angst das Menschengeschlecht im Griff hatte. Er erhob sich von seinem Stuhl, um dem Abt anzuzeigen, dass er gern das Thema wechseln wollte. »Man hat mir gesagt, dass das Fresko vollendet ist.«

Andrea blieb mit verschränkten Händen sitzen, verwirrt von Maynards Verhalten. »Nur dank Eurer Großzügigkeit, Messere.«

Maynard überhörte die Schmeichelei geflissentlich. »Ich würde es gern sehen. Jetzt.«

»Und die Botschaft des Bischofs?«

»Kann warten.«

Sie liefen durch das Schiff der Klosterkirche zur Apsis. Maynard betrachtete im Vorübergehen eine Schar Mönche, die das Werk von Mastro de Equis ebenfalls bewundern wollte, bevor er sich dem Fresko zuwandte. Er war von der Vielzahl an Bildern angetan, jedes mit charakteristischen Details und von einer ganz eigenen Eleganz, die sich über eine recht begrenzte Fläche erstreckten. Schlagartig begriff er, warum Gualtiero sich so sehr wünschte, ein Maler wie de Equis zu werden.

»Meine Goldflorin sind gut angelegt.«

»Das ganze Kloster ist Euch dankbar«, erwiderte Pater Andrea, der genau auf Maynards Reaktion achtete.

»Und ich bin Euch dankbar für Eure Gastfreundschaft und den Schutz, den ich hier erhalten habe.« Maynard legte dem Abt eine Hand auf die Schulter und führte ihn unter den Bogen eines Seitenschiffs, um das Fresko aus größerer Entfernung zu genießen. »Ich kann kaum ermessen, welches Opfer es für Euch gewesen ist, einem Fremden Asyl zu gewähren, der mit dem Herrn dieser Lande im Streit lag.«

Der Abt schüttelte verärgert den Kopf. »Obizzo d’Este ist Vikar des Papstes und Marchese von Ferrara, aber er kann sicher nicht innerhalb der Mauern von Pomposa den Ton angeben.«

Nun seid nicht naiv, war Maynard versucht zu sagen. Doch eigentlich wollte er auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. »Nichtsdestotrotz habt Ihr den Mut bewiesen, seine Autorität in Frage zu stellen. Und nicht nur seine.«

»Wenn Ihr Euch auf den Bischof bezieht …«, sagte Andrea zögerlich.

»Ich weiß, dass Ihr im Moment ein gutes Verhältnis zu ihm habt.«

»Nichts, worauf man stolz sein kann. Seine Exzellenz schätzt mich nur, weil ich ihm zu Zeiten der Pest Zuflucht gewährt habe.«

»Dann erklärt mir doch bitte Eure ständigen Besuche in Ferrara. Einmal pro Woche, soweit ich weiß.«

Irritiert von Maynards gehässigem Tonfall, wich der Abt einen Schritt zurück. »Spioniert Ihr mir etwa nach, Rocheblanche?«

Wären sie beide in ein Gefecht verwickelt gewesen, hätte Maynard nun angesichts dieses Rückzugs zum Todesstoß angesetzt. Er lächelte. »Ich beschränke mich darauf, zu beobachten. Ist das vielleicht eine Sünde?«

»Ihr habt nichts von Guido di Baisio zu befürchten«, erwiderte Andrea empört. »Selbst wenn in dieser Botschaft …« Er zeigte auf die Rolle in Maynards Händen. Gleich darauf biss er sich auf die Zunge.

»Also kennt Ihr ihren Inhalt doch.«

»Mir ist nur bekannt, dass Seine Exzellenz Euch helfen möchte.«

»Aus welchem Grund?«

»Das müsst Ihr ihn selbst fragen, Herr im Himmel!«, stieß Andrea hervor und erhob seine Faust. Stimmengemurmel im Hintergrund erinnerte beide daran, dass sich in der Kirche auch noch andere Mönche befanden. Sie mäßigten ihren Ton und zogen sich weiter in den Schatten zurück.

»Wollt Ihr mir nicht den Grund für Euer großes Misstrauen nennen?«, fuhr Andrea fort. »Ihr habt es auch mir zu verdanken, dass Ihr das Geheimnis des Codex Millenarius und der Reliquien, die Ihr sucht, wahren konntet. Meint Ihr etwa, ich hätte das vergessen? Nein, Messere! Ich habe lediglich Eure Zurückhaltung respektiert, auch als Ihr den jungen Gualtiero miteinbezogen habt. Ich habe Euch nie gefragt, warum Ihr ihn vor Monaten nach Frankreich geschickt habt, obwohl Ihr wusstet, dass Ihr damit sein Leben aufs Spiel setzt.«

»Gualtiero ist erwachsen, er hat seine Wahl selbst getroffen«, erwiderte Maynard. »Denkt lieber an Euch. Ich habe das Gefühl, dass Ihr Euch mit dieser Rechtfertigung für etwas entschuldigt, das ich noch nicht weiß.«

Pater Andrea sah ihn wütend an. »Eine elegante Art, mir zu sagen, dass ich ein Lügner bin.«

»Ich erkenne keine Lüge in Euch, sondern die Besessenheit, das Leben eines jeden zu kontrollieren, der Euch nahesteht. Und obwohl dies ein Vorrecht ist, das viele Priester genießen, erwarte ich weiterhin mehr von Euch.«

Nach diesen heftigen Worten wandte Maynard sich ab und erbrach das Siegel, mit dem die Botschaft verschlossen war. Ihn trieb eher der Zorn dazu denn die Neugier. Doch diesen Zorn musste er im Zaum halten, um einigermaßen in Ruhe und Sicherheit leben zu können. Außerdem vermutete er, dass der Abt, falls er etwas über Gualtieros Herkunft wusste, dies niemals von sich aus zugeben würde. Hier war vorsichtiges Vorgehen gefragt, vor allem auch Geduld. Er entrollte das Pergament, strich es mit den Fingern glatt und las die wenigen Worte, die darauf geschrieben standen. »Aber … was soll das bedeuten?«

»Eine unerwartete Nachricht?«, fragte der Abt neugierig.

Maynard ließ die Botschaft unter seinem Umhang verschwinden. »Das kann ich nicht sagen«, erwiderte er. »Dort stehen nur ein Datum und ein Treffpunkt.«

»Wie meint Ihr das?«

»Morgen Nacht, in Ferrara. Kloster San Domenico.«

4

Ferrara, Kontrade San Niccolò

11. Januar

»Eure Waffen, Messere.«

»Ich trage nur einen Dolch bei mir.«

Die Wache achtete nicht auf seine Worte und durchsuchte Maynard de Rocheblanche gründlich, inspizierte sogar das Innere seiner Stiefel und die verborgenen Taschen auf der Innenseite seines Umhangs. Maynard betrachtete währenddessen die Spur aus Schneematsch und Schlamm, die die Via della Rotta entlangkroch, um sich dann in der Dunkelheit der Nacht zu verlieren. Er hatte keinen Grund, etwas zu befürchten, sagte er sich immer wieder, dennoch suchte sein Blick ununterbrochen nach jedem möglichen Fluchtweg. Nur ein Narr hätte leichten Herzens den Fuß in ein Kloster der Predigermönche gesetzt, besonders wenn dieses Kloster einen Sitz der Heiligen Inquisition beherbergte. Doch das spielte jetzt kaum eine Rolle, denn bald würde Maynard sich in die labyrinthischen Gänge von San Domenico begeben – unbewaffnet und aus freiem Willen. Nur auf eine einfache Botschaft vertrauend.

Ein letzter Blick galt dem Campanile der Kirche Santa Giustiniana – wie gern wäre er jetzt in diese Richtung verschwunden! –, da erhielt er die Erlaubnis, das Kloster zu betreten.

»Ihr werdet erwartet, Messere.« Ein junger Mönch begleitete ihn im Schein einer Fackel durch das Hauptschiff, dann setzten sie ihren Weg durch eine Reihe Wandelgänge mit Gewölbedecken fort. Maynard widerstand der Versuchung, den Mann nach den Gründen für seine Einbestellung zu fragen, und schritt erhobenen Hauptes vorwärts. So, als wollte er den immer dichter werdenden Schatten trotzen, die sich wie ein stummes Schwurgericht über ihn zu beugen schienen. Er wäre sicher nicht der Erste, dachte er, der auf diese Weise nachts einfach spurlos verschwand.

Der Mönch bog einige Male ab, sodass Maynard die Orientierung verlor, bis er vor einer Tür stehen blieb, die so niedrig war, dass er zum Hindurchgehen den Kopf einziehen musste. Er war kaum durch die Tür getreten, da hörte er, wie sie hinter ihm mit einem dumpfen Laut zufiel.

Mit einer Hand strich Maynard über die leere Scheide des Dolches, während er den Raum betrachtete, den er gerade betreten hatte. Er war recht dunkel und fensterlos. Das einzige Licht spendeten einige wenige Kerzen, die am Fuß eines ungewöhnlichen Kruzifixes an der Wand aufgestellt waren. Darunter saßen zwei Männer an einem länglichen Tisch. Maynard erkannte den älteren der beiden sogleich. »Eure Exzellenz«, begrüßte er ihn und verbeugte sich.

Mit einer Handbewegung forderte Guido di Baisio ihn auf, näher zu treten.

Erst jetzt bemerkte Maynard die Anwesenheit zweier Bewaffneter, die in den Ecken des Raumes standen. Reglos verharrten sie in ihren Kettenhemden und schienen nur auf irgendeinen Vorwand zu warten, ihre Schwerter zu ziehen. Doch Maynard zweifelte keinen Augenblick daran, dass die größte Gefahr von der Person ausging, die neben dem Bischof saß. Ein Dominikanermönch, dem weißen Skapulier und der schwarzen Capa nach zu urteilen, mit einem gelblichen, eingefallenen Gesicht und einem schmächtigen Körper, von dem man nur die schmalen Finger sah. Aber diese Augen! Darinnen loderte ein brennendes Feuer. Ihr Glühen hätte das wildeste Raubtier in die Flucht geschlagen. Maynard blickte tief hinein und nahm dort einen Hass wahr, der wohl dem größten Teil der Menschheit galt.

Guido räusperte sich. »Ich war nicht sicher, Messere, ob Ihr hier erscheinen würdet.«

»Ich habe länger darüber nachgedacht, und schließlich habe ich mich erinnert, dass ich Euch Dankbarkeit schulde. Es wäre also unhöflich gewesen, abzulehnen.«

»Edel bis ins Herz.«

»Ich hoffe, nicht im selben Maße töricht.«

»Wenn Ihr hier eine Bedrohung fürchtet, keine Sorge«, beruhigte di Baisio ihn. »Es gibt eine, doch sie gilt nicht Euch.« Er blickte zu dem Dominikanermönch, als wollte er ihn auffordern, nun weitere Erklärungen zu geben.

Erwartungsvoll verschränkte Maynard die Arme vor der Brust. »Welche Bedrohung meint Ihr?«

Guido di Baisio wartete auf ein kurzes zustimmendes Zeichen des Mönches, schließlich seufzte er und sagte: »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der einzige Zeuge war nicht gerade auskunftsfreudig.«

»Ein Zeuge?«

»Ein Wolfsjäger«, erklärte der Bischof. »Mit Namen Silvano, gebürtig im burgus Focomorto. Er hat behauptet, er habe vor wenigen Tagen in einem Wald nahe Ferrara eine Prozession von … gentes malificae gesehen.«

Maynard trat vor, sodass er beinahe den Rand des Tisches berührte. »Erklärt Euch näher, Exzellenz.«

Guido verzog den Mund zu einer Grimasse. In den letzten Monaten war er sichtlich gealtert: Sein Gesicht trug noch deutliche Spuren, nicht so sehr von den Entbehrungen, sondern mehr von dem Grauen der großen Pest, dem er entronnen war. Einem unbedarften Menschen wäre es sicher seltsam vorgekommen, ihm bei einem nächtlichen Treffen zu begegnen, welches ihm sichtliches Ungemach zu bereiten schien. Nicht jedoch jemandem, der seine Neigung zu Komplotten kannte. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben«, erklärte er, »hat der Jäger weniger deutliche Worte gewählt. Er hat etwas von einem mit Kapuzenumhängen vermummten, schwarz gekleideten Volk gefaselt, von Fackeln und Laternen. Im Gefolge einer unaussprechlichen Kreatur.«

»Ich habe es in meinem Leben schon mit zu vielen unaussprechlichen Dingen zu tun bekommen. Doch wenn ich Euch recht verstanden habe, meint ihr eine übernatürliche Erscheinung.«

»So ist es in der Tat.«

»Seid Ihr sicher? Euer Jäger könnte auch auf eine Gruppe battuti oder Flagellanten gestoßen sein. Seit dem Ende der Pest sieht man sie recht häufig, sie ziehen durch die Dörfer und das umliegende Land.«

Der Bischof schüttelte den Kopf. »Es handelt sich um einen Zug der Diana.« Die Verachtung, die in seinen Worten mitschwang, war nicht zu überhören. »Habt ihr je davon gehört, Messere? Hexenweiber ziehen gemeinsam mit den ihnen hörigen Dienern durch die Wälder, um die heidnische Göttin anzubeten. Die nichts anderes ist als der Satan selbst.«

Auf Maynards Lippen schlich sich ein zweifelndes Lächeln. »Wenn ihr Mönche ihn nicht ständig auf den Lippen führen würdet, würde der Teufel selbst zweifeln, ob es ihn überhaupt gibt.«

»Haltet Eure Zunge im Zaum, Unverschämter!« Der Dominikanermönch konnte sich nun nicht mehr zurückhalten und mischte sich so laut in ihr Gespräch, dass die beiden Schergen in ihren Ecken auffuhren. Seine schrille Stimme wirkte noch einschüchternder als sein Blick. »Wie könnt Ihr es wagen, die heiligen Dogmen und die Aussagen eines Mannes der Kirche zu verhöhnen? Schon für diese Lästerung sollte ich Eure Zunge an einen Holzpflock nageln lassen!«

Leicht ungehalten ging Guido di Baisio zwischen die beiden Streithähne: »Ihr habt die Ehre, Rocheblanche, vor Pater Lamberto da Cingoli zu stehen, einem der bedeutendsten und gefürchtetsten Mönche der Lombardia inferior.«

»Inquisitor von Ferrara?«, fragte Maynard.

»Nicht mehr. Gegenwärtig ist er Prior des Klosters von Bologna. Doch die jüngsten Ereignisse haben seine Anwesenheit hier dringend erforderlich gemacht.«

Maynard musterte den Dominikanermönch mit einer Mischung aus Neugier und Verärgerung. »Und meine Anwesenheit, was hat sie mit alldem zu tun?«, platzte er heraus.

»Eins nach dem anderen, Messere.« Di Baisios Stimme wurde jetzt leiser, als bereitete er sich vor, ein Geheimnis zu enthüllen. »Der Zug der Diana ist nur das letzte einiger dunkler Geschehnisse, die Ferrara heimsuchten. Kürzlich wurden Zeichen innerhalb der Mauern bemerkt. Beunruhigende Zeichen.«

»Seltsam, dass davon nichts auf den Straßen zu hören war.«

»Nur weil wir alle Gerüchte darüber im Keim erstickt haben.« Di Baisios Blick verfinsterte sich. »Ihr sollt wissen, dass in den letzten Tagen Frösche an Türen und Fensterläden gefunden wurden. Tote Frösche, die man dort angenagelt hatte … und Pergamentseiten.«

»Wären da nicht die Pergamente, würde ich an einen Kinderscherz glauben. Waren Botschaften darauf?«, fragte Maynard.

»Immer die gleiche: ›Pro bono malum‹.«

Da er das wachsende Unbehagen von Guido di Baisio spürte, nahm Maynard an, dass es etwas gab, das die Lage noch verschlimmerte. Er war sich wohl bewusst, dass die eben beschriebene Tat unter einigen Umständen schon ausreichte, um jemanden auf den Scheiterhaufen zu bringen. Pro bono malum, wiederholte er stumm für sich. Das klang fast wie ein volkstümliches Sprichwort, obwohl es in diesem mehrdeutigen Latein alles und nichts bedeuten konnte. »Haltet Ihr es für einen …«

»Für einen Fluch«, meldete sich Bruder Lamberto da Cingoli erneut zu Wort. Sein Gesicht wirkte wie aus Wachs geformt. »Ein Fluch, der von einem Vers aus der Offenbarung inspiriert wurde: ›Und ich sah aus dem Rachen des Drachen und aus dem Rachen des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister kommen, gleich Fröschen.‹1« Er verschränkte die Finger unter dem Kinn und wirkte beinahe zufrieden. »Seid Ihr mit dieser Stelle vertraut, Messere? Sie beschreibt die Dreieinigkeit Satans, die dazu bestimmt ist, die Welt heimzusuchen, bevor die Posaunen des Jüngsten Gerichtes erschallen.«

»Ich habe davon gehört« erwiderte Maynard. »Aber wie könnt Ihr sicher sein, dass eine Verbindung besteht?«

»Ganz einfach«, erklärte di Baisio. »Wegen dem, was der Wolfsjäger an der Spitze des Zuges der Diana gesehen hat.«

»Und zwar?«

»Er schwört, er habe eine Frau auf dem Rücken eines Tiers reiten gesehen, aber es war kein gewöhnliches Tier. Es hatte die Hörner eines Lamms, und seine Haut war mit Schuppen bedeckt. Begreift Ihr? Es ist sie! Die dritte dämonische Kreatur, die in dem Abschnitt der Offenbarung beschrieben wird. Der lästerliche Ziegenbock, der falsche Prophet, der gekommen ist, um alle in die Hölle hinabzuziehen!«

Maynard kannte sich hinlänglich mit Höllen aus, um nun nicht vor Angst zu zittern. Aber er wusste auch genug von übernatürlichen Erscheinungen und Visionen, und obwohl er sich hinter einer scheinbar skeptischen Haltung verschanzte, nahm er solche Worte gewiss nicht auf die leichte Schulter. Er wäre selbst durchaus bereit gewesen zu beschwören, dass er im Traum drei Reiter mit Aureolen gesehen hatte, die gekommen waren, das Ende der Welt zu verkünden. Dies war auf dem Schlachtfeld von Crécy geschehen, inmitten eines Sees aus Blut und Schlamm, und von da an hatte sich sein Leben in einem Maße verändert, wie er es sich nie hätte vorstellen können. »Immer angenommen, dass es dieses Tier wirklich gibt«, sagte er, »was würde mein Eingreifen rechtfertigen?«

»Das werdet Ihr sogleich erfahren«, antwortete Guido di Baisio. »Wenn Ihr geschworen habt, Schweigen darüber zu bewahren, an welchem Ort die Frösche mitsamt den Pergamenten gefunden wurden.«

Maynard senkte den Kopf und legte eine Hand auf die Brust. »Ihr habt mein Wort, ehrwürdige Väter.«

Bruder Lamberto nickte zufrieden. »Nun gut«, erklärte er, »die Frösche waren drei an der Zahl. Zwei hat man an den Türflügeln des Palazzo della Signoria gefunden. Und den letzten vor dem Schlafgemach von Marchese Obizzo III. d’Este.«

1Offenbarung 16,13.

5

Ferrara, Kloster Sant’Antonio Abate

Der vierte Schneeball flog gegen die Gitter des Dormitoriums und zerfiel dort im Dunkel der Nacht. In Erwartung einer Antwort aus dem Inneren des Gebäudes kauerte sich Gualtiero an einem gut versteckten Platz hinter einer Hecke des Klostergartens zusammen und starrte die vom Mond leicht erhellten Holzstreben an, durch die die Nonnen die Welt betrachteten. Er hielt es für unmöglich, dass man sich an diese Lebensweise gewöhnen konnte, abgeschieden von der Welt und abhängig von den Entscheidungen anderer. Für einen kurzen Zeitraum hatte er so ein Leben am eigenen Leibe erfahren, als er im Skriptorium von Pomposa gearbeitet hatte. Diese langweiligen, immer gleichen Tage, deren Abläufe die Regeln des Klosters diktierten. Wenn er es dort ausgehalten hatte, dann nur aufgrund seines Wunschs, seine Mutter wiederzufinden. Und wegen der Bilder seiner Phantasie, die er Miniatur für Miniatur auf dem Pergament der Kodizes verwirklicht hatte.

Dennoch zweifelte er nun wieder an seinen Entscheidungen. Seine Weigerung, Mönch zu werden, hatte ihn von Pater Andreas Vergünstigungen ausgeschlossen, darunter auch die Unterkunft in der Abtei von Pomposa. Maynard de Rocheblanche hatte leicht reden, wenn er ihm sagte, er solle Geduld haben! Was wusste der Ritter schon von den Nöten einfacher Leute? Auch die Vorstellung, sich mitten im Zentrum eines gefährlichen Komplottes zu befinden, weckte in ihm die Angst vor einem unsicheren Schicksal.

Gualtiero hüllte sich enger in seine Esclavine, um sich vor der eisigen Kälte zu schützen, sammelte ein wenig Schnee auf, formte daraus mit den Händen einen Ball und warf auch diesen wieder gegen ein Gitter des Dormitoriums. Es war zwecklos, sich etwas vorzumachen. Er hatte seine Entscheidung schon getroffen, aber beim Gedanken, ihr diese mitzuteilen, krampfte sich sein Magen zusammen.

Er wollte schon gehen, als er durch die Zwischenräume eines Gitters hindurch das Flackern einer Kerze bemerkte. Gualtiero spähte über die Hecke und beobachtete, wie dieses Licht von einem Fenster zum nächsten wanderte bis zu dem Biforium, durch das Isabeau gewöhnlich aus dem Kloster hinausschlüpfte.

Er musste nicht lange warten, da sah er auch schon, wie sie sich vorbeugte und auf den Ast eines Baumes kletterte, der kräftig genug war, um sie zu tragen. Das Nonnengewand hinderte sie nicht, sich geschmeidig wie eine Katze zu bewegen. Oder besser gesagt, wie ein Gaukler, denn das war ihr Vater gewesen. Gualtiero erfreute sich an dem Anblick ihrer akrobatischen Bewegungen, wenn er auch jedes Mal fürchtete, sie könnte ausgleiten. Schnell verließ er deshalb sein Versteck und eilte ihr zu Hilfe.

Kaum lag sie in seinen Armen, befreite sie sich schon wieder mit einem feinen Lächeln. »Wolltest du etwa all meine Mitschwestern aufwecken?«, fragte sie ein wenig anzüglich. »Ich hatte dich schon beim ersten Treffer gehört.«

»Das konnte ich doch nicht wissen«, verteidigte sich Gualtiero.

Isabeau rieb sich fröstelnd die Schultern und blickte auf die Schneeschicht, die die gesamte kleine Insel von Sant’Antonio bedeckte. In der Dunkelheit bekam ihr Gesichtsausdruck etwas Raubkatzenhaftes, wirkte beinahe bedrohlich.

»Gehen wir dorthinein, wo wir vor der Kälte geschützt sind«, schlug Gualtiero vor und lief auf ein windschiefes Steinhäuschen in der Nähe der Stallungen zu.

Isabeau hielt ihn zurück. »Die Äbtissin ahnt etwas, gehen wir lieber woandershin. Ich kenne da ein Plätzchen …«

Gualtiero streichelte zärtlich ihr Gesicht, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kann nicht lange bleiben.«

»Wie meinst du das?«

»Ich bin nur gekommen, um dir etwas zu sagen.«

»Jetzt machst du mir Angst.«

»Dafür gibt es keinen Grund. Du bist nicht in Gefahr. Ich jedoch …«

»Du? Was ist denn mit dir?«

Gualtiero wich ihren fragenden Augen aus und zeigte auf eine etwas abseits gelegene Stelle am Rand des Kreuzganges. Nachdem sie diese erreicht hatten, ließ er sich mit dem Rücken gegen eine Säule sinken. »Ich muss gehen. Und zwar allein.«

Isabeau erschrak und packte ihn am Gewand. »Und was ist mit all deinen Versprechungen?«

»Gott weiß, wie sehr ich mir das ersehne.« Gualtiero zog sie an sich. »Doch ich kann nicht. Nicht jetzt, mit dieser neuen Sorge …«

Isabeau drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und wartete, dass er den Satz beendete. Beunruhigt durch sein plötzliches Schweigen, sah sie ihm in die Augen. »Was für eine Sorge?«

Gualtiero seufzte. Er hatte lange überlegt, wie er es ihr beibringen sollte, aber jetzt musste er dieses Gespräch in aller Eile führen, und das machte es noch schwieriger. Einen Moment lang rang er um die richtigen Worte. »Ich fürchte, dass jemand die Wahrheit über meine Herkunft herausgefunden hat, jemand ganz in unserer Nähe, und dass er dies irgendwann benutzen könnte, um mir Geheimnisse abzupressen.«

»Geheimnisse, die du mit Maynard teilst?«

»Ja, auch diese.«

»Also geht es um den Lapis exilii.«

Er nickte. Das letzte Mal hatte er diesen Namen Maynard gegenüber ausgesprochen, als er ihm offenbarte, was er im weit entfernten Kloster von Mont-Fleur entdeckt hatte. Wäre dieses Geheimnis einem Mächtigen zu Ohren gekommen, so wären Verbrechen und Intrigen wie ein böser Fluch darauf gefolgt. »Diese Leute könnten auch dir etwas antun, wenn sie nur wüssten –«

Isabeau brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und wich brüsk zurück, als hätte er sie beleidigt. Sie stand reglos da in der Dunkelheit mit verschränkten Armen, unterdrückte den aufkommenden Zorn und sah ihn empört an. »Ich habe nie verlangt, etwas darüber zu erfahren, was du in Frankreich entdeckt hast, darüber, wer deine Mutter wirklich war oder was du mit Maynard beredet hast«, rief sie aus. »Und zwar, weil ich dich liebe, nicht deinen Namen oder das, was du anstrebst! Ich will nur bei dir sein, und nichts wird sich diesem Wunsch in den Weg stellen.«

»Und wenn dir etwas zustieße?«, erwiderte Gualtiero, während er gegen die Versuchung ankämpfte, ihr einfach nachzugeben. »Nein! Das werde ich nicht zulassen! Das könnte ich niemals ertragen.«

»Hältst du mich etwa für so schwach?«, fragte Isabeau spöttisch. »Ich kann mit Gefahren umgehen! Du weißt genau, wie ich mich damals zur Wehr setzte, als Maynard mich fand und mir zu Hilfe eilte.«

»Die Gefahren, von denen ich spreche, sind andere«, versuchte er ihr zu erklären. Leise redete er weiter, in der Hoffnung, auch sie würde ihren Ton mäßigen. »Die kann man nicht mit simplem Mut oder mit dem Schwert bekämpfen. Du musst Geduld haben, abwarten, dass ich sie alleine durchstehe, und dann –«

Doch Isabeau hatte nicht die Absicht, auf ihn zu hören. »Ich halte es hier drinnen nicht aus!«, schrie sie. »Ich ersticke im Kloster, verstehst du? Ich habe schon genug gelitten, als du fort warst und als ich fürchten musste, dich nie wiederzusehen. Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für mich bedeutet hat? Verlange das nicht noch einmal von mir. Ich bitte dich!«

Gualtiero sah auf und bemerkte hinter den Gittern des Klosters einige Schatten, die sich bewegten. Die Nonnen beobachteten sie, gierten nach allem, was sie aus dem Leben anderer Menschen erhaschen konnten, und wenn es Leid war, nur um die Leere ihres eigenen Daseins zu füllen. Plötzlich hörte er eine Frauenstimme Isabeaus Namen rufen. Da begriff er, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Er packte das Mädchen an den Schultern, küsste sie erst auf die Stirn und dann auf den Mund. »Ich muss es tun, Isabeau. Weil ich dich liebe!«

»Lügner!«

»Du weißt, dass ich nicht lüge!« Er drückte ihr ein zerknittertes Blatt Papier in die Hände und legte seine ganze Zärtlichkeit in seinen Blick, als er sie nun ansah. »Ich flehe dich an, versteh das. Ich flehe dich an, vertraue mir!«

Das Mädchen stieß ihn erst wütend zurück, dann näherte sie sich erneut und gab ihm noch einen Kuss.

»Isabeau!«, rief die Stimme wieder, beinahe zornig.

»Geh jetzt«, flüsterte Gualtiero. »Geh hinein, oder sie werden dich bestrafen.«

»Zum Teufel mit ihren Strafen!« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Sag mir wenigstens, wohin du willst. Sag es mir, wenn du mich wirklich liebst.«

Gualtiero schüttelte den Kopf. »Wenn ich das täte, würdest du nach mir suchen.« Er winkte ihr ein letztes Mal, schmerzerfüllt, dann wandte er ihr den Rücken zu.

»Ich werde auf jeden Fall nach dir suchen!« Isabeau sah ihm nach, als er auf die Holzbrücke zuging, die die Insel mit dem Festland verband. Sie war rot im Gesicht, zitterte vor Wut und ballte die Fäuste. Auf einmal zerriss sie die unsichtbaren Fesseln, die sie an ihrem Platz hielten, und rannte los, um ihm zu folgen, doch da packte sie jemand am Arm und hielt sie zurück. Die Äbtissin persönlich war hinaus in die Nacht gekommen, um sie ins Kloster zurückzubringen.

»Lasst mich los!« Isabeau bäumte sich auf und sank dann auf Händen und Knien in den Schnee. Sie starrte weiter der Gestalt nach, die sich immer weiter entfernte. »Hast du mich gehört?«, schrie sie. »Ich werde fliehen, das schwöre ich dir, und nach dir suchen!«

Er drehte sich nicht einmal um.

Bevor man sie wegzog, bemerkte Isabeau, dass sie das Blatt verloren hatte, das Gualtiero ihr gegeben hatte. Sie entwand sich der Äbtissin, um es aufzuheben, und als sie sah, was sich darauf befand, wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt.

Es war eine Kohlezeichnung, das Gesicht eines Mädchens. Ein Mädchen, das etwas jünger war als sie selbst, aber dieselben Gesichtszüge hatte. Schöner vielleicht und wilder, als Isabeau sich je eingeschätzt hätte. Und doch sah Gualtiero sie so. Nein, er hatte sie so gesehen. Bei ihrer ersten Begegnung.

Nicht weit vom Kloster entfernt, im dunklen Herzen der Kontrade San Niccolò, stand Maynard vor Lamberto da Cingoli und blickte ihm in die Augen, die wie besessen glühten. Ihm war noch nicht klar, ob er oder Bischof Guido dieses Treffen anberaumt hatte und zu welchem Zweck. Nur eines wusste er mit Bestimmtheit: Er durfte ihnen nicht trauen. Noch bevor er den Umgang mit dem Schwert gelernt hatte, hatte Maynard erkannt, wie geschickt Männer der Kirche darin waren, ihre wahren Interessen hinter vorgeschobenen Ereignissen zu verbergen.

»Hat Marchese Obizzo also Drohungen erhalten?«, fragte Maynard, um Klarheit zu erlangen.

Pater Lamberto machte eine vage Handbewegung. »Man fürchtet um ihn, aber auch um seinen männlichen Erben.«

»Messer Aldobrandino?«

Lamberto nickte. »Seine Exzellenz behauptet, Ihr wäret sein Waffenmeister gewesen.«

»Nur für einen kurzen Zeitraum«, gab Maynard zurück, ohne ins Detail zu gehen. Er wollte vermeiden, dass man seine Zuneigung zu dem jungen Herrn heraushörte und diese Tatsache dann benutzte, um ihn gegen seinen Willen zu etwas zu überreden. Er hatte es bedauert, den Unterricht im Schwertkampf, den er Aldobrandino erteilt hatte, aufgeben zu müssen. Vor allem, da sein Wesen ein edleres war als das seines Vaters und Maynard sich eingebildet hatte, es fördern zu können. Doch zu viele unglückselige Ereignisse trennten ihn von diesen Erinnerungen. Das letzte Mal hatte er den Jungen aus der Ferne während des Palios zu Mariä Himmelfahrt gesehen, wo er auf ihn sehr niedergedrückt gewirkt hatte, aus Trauer um seine verstorbene Mutter.

Die beiden Kirchenmänner nutzten Maynards plötzliches Schweigen, um sich mit Blicken zu verständigen. Guido wirkte erschöpfter als Lamberto und geneigter, die ganze Sache abzukürzen. Er beugte sich vor und verschränkte seine mit Ringen geschmückten Hände auf dem Tisch. »Nun gut, Messere«, sagte er. Er wollte zum Ende kommen. »Ihr begreift also den Ernst der Lage …«

Maynard hatte noch nicht vor, schon zu einem Entschluss zu kommen. Er runzelte die Stirn und trat einen Schritt vor. Er wollte mehr erfahren, um seine eigene Situation einschätzen zu können. »Was genau verlangt Ihr von mir?«

»Ihr sollt ermitteln«, antwortete Bruder Lamberto.

Maynard schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Indem ich einer Spur von Fröschen und Fabeltieren folge?«

»Jetzt werdet nicht so verächtlich. Es gibt Beweise.«

»Ach ja? Dann schickt doch Eure Schergen los!«

»Dazu braucht es das Herz eines Löwen, Messere.« Guido di Baisio versuchte, die Gemüter zu besänftigen. »Einen aufmerksamen Mann, der sich vor nichts fürchtet.«

»Einen Mann, den Ihr steuern könnt, wolltet Ihr sagen«, erwiderte Maynard spöttisch.

»Ja, auch das.« Lamberto da Cingoli schlug mit seinen gelblichen Fingern so heftig auf die Tischplatte, dass die beiden in den Ecken postierten Soldaten aufschreckten. »Ihr seid beim Hof von Ferrara in Ungnade gefallen, und wir bieten Euch im Austausch für einen Gefallen die Gelegenheit, das Vertrauen des Marchese wiederzugewinnen. Erscheint Euch das etwa wie ein unbilliges Angebot?«

Maynard zuckte mit den Schultern. »Das werde ich Euch mitteilen, wenn ich mir ein klareres Bild von der Angelegenheit gemacht habe.«

Guido di Baisio lächelte zufrieden. »Dann nehmt Ihr also an!«

»Bleibt mir denn eine Wahl?«

»Offen gesagt, nein.« Bischof Guido erhob sich sichtlich erleichtert aus seinem Stuhl. »Ihr werdet mit Bruder Lamberto zusammenarbeiten und ihn über jede Information in Kenntnis setzen, die Ihr herausfinden könnt. Falls Ihr einen Helfer braucht, wird Euch ein Geistlicher seines Vertrauens zur Seite gestellt.« Nun zeigte er auf die Tür. »Ihr werdet müde sein, Messere. Es ist schon sehr spät, und draußen ist es zu kalt, als dass Ihr nach Pomposa zurückkehren könntet. Ihr werdet als Gast des Klosters von San Domenico in dessen Gästehaus übernachten.«

6

In einen Umhang gehüllt verließ Lamberto da Cingoli das Kloster, ohne seine Mitbrüder darüber zu unterrichten, wohin er wollte und aus welchem Grund. Auf den ersten Blick schien er sich in der kalten Nacht nicht unwohl zu fühlen, obwohl er mit einfachen Sandalen aus Espartogras über den Schnee lief, doch in seinem Inneren beschäftigte ihn eine tiefe Sorge. Er sah sich einige Male um, dann ging er schneller weiter, bis er das benachbarte Viertel Boccacanale erreichte. Dort bog er in eine Gasse ein, geleitet vom Schein einer Fackel, die neben einem Eingang angebracht war. Er fluchte, als eine Ratte, von seinen Schritten aufgeschreckt, davonlief, und blieb vor der Tür stehen. Sie bestand aus Holz, war mit Metallbeschlägen versehen und genauso stabil wie der Steinbogen, der sie umrahmte. Lamberto betrachtete sie zögernd einen Augenblick, bevor er seine schmale Hand ausstreckte und klopfte.

Das Aufklappen des Türspions ließ ihn beinahe zusammenfahren. Ein Mann trat an das kleine Gitter, schloss die Klappe wieder und öffnete die Tür. »Seine Gnaden erwartet Euch«, sagte er nur. Man hörte ihm an, dass er Franzose war.

Lamberto lief schweigend vorwärts und verbarg seine Unruhe hinter einer undurchschaubaren Miene, die er sich in Jahren der Prozesse und Scheiterhaufen angeeignet hatte. Nicht mangelndes Selbstbewusstsein war der Grund für seine Nervosität, sondern die Vorstellung, einem Mann zu begegnen, der noch gefährlicher war als er selbst.

Nachdem er den Eingangsbereich hinter sich gelassen hatte, betrat er einen Raum, der lediglich von einem Kaminfeuer erhellt wurde, das dämonisch züngelnde Schatten an die Wände warf. Vor den Flammen sah man die dunkle Silhouette eines Mannes, der in einem Lehnstuhl saß. Bruder Lamberto blieb nah bei der Tür stehen und ließ sich vom Feuer aufwärmen, während er darauf wartete, dass man das Wort an ihn richtete. Aus den schwarzen Umrissen ragte seitlich eine Hand hervor, die auf der Armlehne ruhte, sodass man am Zeigefinger einen Ring mit einem Löwenwappen erkennen konnte.

»Eure Eminenz«, flüsterte der Mönch mit einer derartigen Unterwürfigkeit, dass er sich seiner selbst schämte.

Der Schattenumriss bewegte sich und zeigte nun ein vom Feuer rötlich gefärbtes Gesicht. »Pater, endlich!«

»Ich habe gerade Maynard de Rocheblanche verabschiedet.«

Bei diesem Namen beugte sich der Mann über die Lehne, und nun erkannte man seine Gesichtszüge genau. Er war alt, schien aber noch bei Kräften, und die scharfen Falten, die wie mit der Axt eingeschnitten wirkten, verrieten, dass er stark mit einer inneren Wut zu kämpfen hatte. »Rocheblanche.« Er sog Luft zwischen den Zähnen ein. »Dann ist er also gekommen.«