Die Abtei der hundert Verbrechen - Marcello Simoni - E-Book

Die Abtei der hundert Verbrechen E-Book

Marcello Simoni

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Beschreibung

Der zweite Teil der Trilogie um den sagenhaften "Lapis exilii" von Premio-Bancarella-Preisträger Marcello Simoni: mittelalterlich-üppig, mitreißend, geheimnissvoll. Italien im Jahr 1347: Ritter Maynard de Rocheblanche versucht, den grausamen Mord an dem Mönch Facio di Malaspina aufzuklären. Musste der Mönch sterben, weil er zu viel über den sagenumwobenen Stein der Verdammung, wusste, von dem es heißt, das Heil der gesamten Welt hänge von ihm ab? Während Maynard am Hof von Ferrara ermittelt, bricht die Pest über Europa herein. Und plötzlich steht das Schicksal der gesamten Menschheit auf dem Spiel...

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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Im Anhang befindet sich ein Glossar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »L’abbazia dei cento delitti« bei Newton Compton editori, Rom.

© Marcello Simoni

© der deutschsprachigen Ausgabe: Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus Valentino Sani/Arcangel Images;

robodread/Depositphotos.com; shutterstock.com/Davydenko Yuliia

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Druck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, Nördlingen

Printed in Germany 2017

ISBN 978-3-9604-1273-1

Mittelalter-Thriller

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Tag der Rache, Tag der Sünden,Wird das Weltall sich entzünden.

»Dies irae« (nach Rüdiger Bartelmus)

PROLOG

Ferrara

13. März 1347

Der Mann, dem man die Beine mit Ketten gefesselt hatte, wurde von zwei Schergen am Strick durch die Porta San Paolo in die Stadt geführt. Entkräftet, die Kleider in Fetzen, schlang er die Arme eng um die Brust, um sich gegen die Kälte des späten Winters zu schützen. Er wirkte schmächtig und schien nicht an harte Arbeit gewöhnt zu sein, aber das Funkeln seiner Augen ließ auf einen fanatischen Geist schließen. Ein einziges Mal nur zeigte er einen Moment der Schwäche, als er den Blick zum Himmel hob und unter einem Heer dunkler Wolken einen Turm über sich aufragen sah. »Miserere mei!«, rief er und fiel auf die Knie. An den Zinnen jenes Turms hängte man gewöhnlich die Gotteslästerer und Betrüger auf, um sie dann in die Fluten des Padus zu werfen.

Ein kräftiger Ruck am Strick setzte seinem Verzweiflungsausbruch ein Ende und zwang ihn, auf der Via Grande weiterzugehen. Kein leichtes Unterfangen. Der Regen der vergangenen Nacht hatte die Straßen in einen Sumpf aus Kot und Schlamm verwandelt, darüber hing der aus den Scursurii ausströmende Gestank, der von diesen äußeren Abwassergräben hineingetragen wurde. Doch ein noch weit ekelhafterer Geruch ging von den Kadavern aus, die auf Piken entlang der Straße aufgespießt waren, Überreste von Angehörigen ghibellinischer Familien, die die Schergen der Päpste von Avignon aufgespürt hatten.

Das Volk wartete am Ende der Straße an der Piazza auf ihn. Eine Masse aschgrauer, eng aneinandergedrängter Gestalten, deren Garnachen, Umhänge und Mäntel allesamt zerlumpt waren. Dem Mann in Ketten kam es so vor, als würde er auf eine Horde Ratten treffen, die in ihrem Hunger und ihrer Unwissenheit nicht einmal Gott erkennen würden, falls niemand sie auf ihn hinweisen würde.

Diese Gesichter machten ihm Angst. Wütende Verachtung stand darin, wilde Grausamkeit, als wären alle von seiner Schuld überzeugt.

Der Mann bewegte sich unter ihrem Raunen und höhnischen Gelächter gesenkten Kopfes vorwärts, während ihn einige Knaben mit Steinen bewarfen. Er hätte nie gedacht, dass er jemals einer solchen Schmach ausgesetzt sein würde. Doch er zwang sich, selbst die Beleidigungen dieser kleinen Missgeburten zu ertragen, um die Menge nicht gegen sich aufzubringen oder gar die Schergen, die ihn führten.

Unter dem Steinhagel schritt er voran bis zum Ort seines Martyriums.

Die Richtstätte ragte nicht weit von der Kathedrale San Giorgio aus dem Menschenmeer auf, ihr gegenüber sah man vier Männer auf erhöhten Stühlen sitzen. Ganz rechts Seine Eminenz Bischof Guido da Cappello, der mit seinen weißen Haaren und dem mächtigen Bauch einen deutlichen Gegensatz zu den drei Edelleuten neben ihm bildete. Sie wirkten kampfgestählt und trugen so prächtige Rüstungen, dass es beinahe an Übertriebenheit grenzte. Der Gefangene musterte sie einen nach dem anderen, voller Groll, dass die Söhne des verstorbenen Marchese Aldobrandino II. d’Este sich in der Gesellschaft eines vom Papst eingesetzten Prälaten so augenscheinlich wohlzufühlen schienen. Gerade erst waren sie einem Prozess wegen Ketzerei entronnen, und jetzt schon gaben sie sich schamlos als Verteidiger der Kirche aus.

Noch schändlicher erschien es ihm allerdings, wie gleichgültig sie sich einem ihrer Diener gegenüber zeigten, der hier am Pranger stand. So belohnten sie also seine Treue, diese drei Brüder, die noch gestern erklärte Feinde der französischen Papisten gewesen waren. Er biss sich auf die Zunge, bevor er dieses Unrecht noch laut herausschrie. Nach all dem Unglück, das er durchlitten hatte, wollte er sein Leben nicht wegen seines Stolzes wegwerfen. Nicht, bis er erfahren hatte, welches Schicksal ihn erwartete.

Als hätte er seine Gedanken erraten, sah der Bischof ihn hasserfüllt an. »Wir sind hier zusammengekommen«, rief er laut, »um einen Verbrecher zu bestrafen!« Während er abwartete, dass sich das Gemurmel der Menge wieder legte, zeigte er verächtlich auf den Gefangenen. »Einen nequissimus monachus, der den Titel Abt missbraucht hat, um das Kloster der Insula Pomposiae zu bestehlen.«

Der Bischof lauschte kurz, welche Wirkung seine Worte auf das gemeine Volk hatten, dabei schnellte seine Zunge vor, um die Lippen zu benetzen. Dann fuhr er mit noch größerem Pathos fort: »Doch bevor wir ihn seiner gerechten Strafe zuführen, müssen wir uns fragen, ob ein so schweres Verbrechen wirklich durch die Habgier eines einzigen Mönchs, eines schwarzen Schafes unter tausend, geschehen kann. Und ich antworte: Nein, meine Kinder. Es war unsere Schuld, unser aller Schuld! Denn wie in den Leviten geschrieben steht, warnt Gott davor, dass Er zur Bestrafung desjenigen, der Seine Gebote nicht befolgt, wilde Bestien unter die Menschen schicken wird, die Tod und Verheerung bringen. Und hier … hier seht ihr eine dieser schändlichen Bestien, die gekommen sind, um unsere Klöster zu bestehlen!«

Ein unruhiges Raunen ging durch die Menge. Aus Furcht, dass die Stimmung in Gewalt umschlagen könnte, stand einer der Herren d’Este auf, um das Volk zu beruhigen. Doch Bischof Guido, noch genauso hart und streng wie zu seiner Zeit als Dominikanermönch und Inquisitor, fuhr mit der donnernden Schmährede fort: »Wenn jemand den Wunsch nach Gnade hegt, so soll er wissen, dass niemand ihm Gehör schenken wird. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um den ungehorsamen Söhnen zu verzeihen. Das arme Ferrara hat schon zu viele Schicksalsschläge erlebt! Im Namen Gottes, wenn wir endlich unserem Unglück Einhalt gebieten wollen, müssen wir jetzt die trockenen Schösslinge tränken!«

»Tod dem Verräter!«, erhob sich eine wütende Stimme, zu der sich sogleich andere gesellten, bis der ganze Platz von einem ohrenbetäubenden Geschrei erfüllt war.

Der Mann in Ketten fürchtete schon, dass die wütende Menge die Reihen der Soldaten durchbrechen und sich auf ihn stürzen würde, um ihn in Stücke zu reißen, doch die allgemeine Erregung legte sich, als der Bischof die Hand hob. Er fasste Mut.

»Edle Herren und Euer Väterlichkeit«, wandte er sich zögernd an die vier Würdenträger, »ich bitte, dass ich mich vor dem Rat der zwölf Savi verteidigen darf.« Hoffnungsvoll blickte er auf den nahen Palazzo della Ragione, in dem für gewöhnlich die weltliche Gerichtsbarkeit tagte.

»Die Richter der Stadt mischen sich nicht in unsere Angelegenheiten«, beschied ihm der Bischof. »Denn Ihr habt in spiritualibus gesündigt, Pater Facio di Malaspina.«

Als er seinen Namen hörte, lachte der Mann in Ketten leise auf. Seine wahre kriecherische Natur, die er bisher geschickt verborgen hatte, kam zum Vorschein. »Wenn Ihr denn so entschieden habt, bitte ich Eure Exzellenz wenigstens, mich anzuhören. Ehrwürdigster, Ihr wisst einiges nicht … Dinge, die Euer heiliges Amt und die Zeichen Eurer väterlichen Macht sogar übertreffen …«

»Wie könnt Ihr es wagen!« Mit einer herrischen Geste befahl der Bischof eine Handvoll Soldaten zur Richtstätte. »An Eurer hochmütigen Zunge werden die Zangen des Henkers ihr tödliches Handwerk beginnen.«

Angesichts dieser Drohung warf sich Facio zu Boden. »Wartet!«, flehte er und klammerte sich an die einzige Möglichkeit, die ihm noch blieb. Er schaute zu den drei Marchesi d’Este hinüber. »Wenigstens Ihr, edle Herren … Ihr wisst, wovon ich Kenntnis habe! Ich habe es Euch gegenüber vor Monaten erwähnt, erinnert Ihr Euch? Wenn ich jetzt hier stürbe, ginge all mein Wissen verloren …«

»Um Himmels willen«, sagte der Bischof verächtlich, »bewahrt wenigstens im Augenblick Eures Todes Würde.«

»Wartet bitte, Exzellenz.«

Der Bischof fuhr herum und starrte den Ältesten der Edelleute verärgert an.

Die Stirn von Rinaldo d’Este war gerunzelt, als hätte ein plötzlich aufgetauchter Zweifel seine Gleichmut gestört. »Auf ein Wort mit dem Gefangenen«, sagte er.

»Aber Euer Gnaden …«, wandte der Bischof ein.

»Ich bestehe darauf.«

Zur allgemeinen Verblüffung stand der Marchese auf, verließ seinen Sitz und beugte sich über den Mann in Ketten. Er musterte ihn einen endlos scheinenden Moment lang, dann flüsterte er ihm etwas ins Ohr.

Darauf folgte ein kurzes Gespräch, das vom neugierigen Murmeln des Volkes begleitet wurde. Selbst der Bischof lehnte sich vor, um etwas davon zu erlauschen. Doch das Einzige, was alle hören konnten, war der abschließende Satz aus Pater Facios Mund: »Der Preis dafür ist meine Rettung.«

Nur ein Mann stand nahe genug, um mehr zu erfahren. Er war kein Bürger von Ferrara, sondern erst vor Kurzem in die Stadt gekommen, um der Kurie als Büttel zu dienen. Und obwohl das Gespräch zwischen dem Mönch und dem Marchese nur von kurzer Dauer gewesen war, blieb es ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt. Nie mehr sollte er vergessen, wie Facio di Malaspina der Hinrichtung entkam. Obwohl der Bischof zugegen war und der Heilige Stuhl sich empörte. Obwohl das ganze Volk, das sich dort unter dem bleigrauen Märzhimmel versammelt hatte, danach gierte, sein Blut auf die Pflastersteine des Platzes fließen zu sehen.

Zwei Worte hatten genügt, um die Hinrichtung zu verhindern. Lediglich zwei Worte.

Lapis exilii.

ERSTER TEIL

DAS ERBE DES BLUTES

1

Ferrara, Kontrade Gusmaria

25. April

Er saß in einer Ecke des Raumes am einzigen Tisch. Die langen Arme hingen schlaff herab, der Kopf war nach vorn geneigt, das Kinn ruhte auf der Tischfläche. Aus dem Mund hing die Zunge heraus, viel weiter als natürlich. Sie war gewaltsam herausgezerrt und dann mit einem Dolch an der Holzplatte festgenagelt worden.

Maynard de Rocheblanche verfluchte stumm die Unwägbarkeiten des Schicksals und näherte sich dem Toten, um ihn im Licht seiner Fackel zu untersuchen. Nicht der makabre Anblick verstörte ihn, ihn reute vielmehr, dass er zu spät gekommen war. Der Mönch, der nun in sich zusammengesunken an dem Tisch lag, hatte ein schreckliches Geheimnis bewahrt. Nun konnte er ihm nichts mehr enthüllen, außer dass er qualvoll gestorben war.

Maynard bekreuzigte sich und berührte kurz die Dolchklinge, die er unter seinem Mönchsgewand verbarg. Wenn er etwas begreifen wollte, musste er weiter auf der Hut sein.

Auf dem Tisch hatte er zunächst nur das frische Blut gesehen, das als rotes Rinnsal auf den Boden tropfte. Doch bei näherem Hinsehen entdeckte er Worte, die ins Holz eingeschnitten worden waren. Wohl mit demselben Dolch, mit dem man Facios Lügenzunge durchbohrt hatte, als wollte man sich über denjenigen lustig machen, der nun in den Flammen der Hölle schmorte. Oder über den, der gerade seinen Blick auf die Inschrift richtete:

MONACHVS SVPERBVS

Worte, die in die Irre führen konnten, ahnte er. Hier ging es weniger um die fragwürdige Ehrbarkeit des Verstorbenen als um die Umstände seines Todes. Vermutlich handelte es sich dabei keineswegs um eine Bestrafung aus moralischer Empörung. Facio war mit voller Absicht in diese verlassene Taverne gelockt und dort vor seinem Tod gefoltert worden. Wer auch immer das getan hatte, wollte etwas von ihm erfahren.

Das plötzliche Geräusch von Schritten ließ Maynard herumfahren. Wachsam richtete er den Blick auf den Eingang, wo er eine halb verborgene Gestalt ausmachte.

»Wer da?«, fragte er.

Doch anstatt zu antworten, wich der Beobachter zurück und ergriff die Flucht.

Maynard setzte ihm nach und folgte ihm wie ein Spürhund durch die Dunkelheit. Mit wenigen Schritten war er draußen, in einem Labyrinth von Gassen, das sich nach Norden zog. Er bedauerte kurz, dass er nicht zu Pferde gekommen war, aber dann sagte er sich, dass man das Straßengewirr von Ferrara leichter zu Fuß durchquerte, zumal in einer schwarzen Kutte, die ihn unauffällig wirken ließ. Verstohlen wie ein Dieb. Bei diesem Gedanken schämte er sich beinahe, schließlich war er es nicht gewohnt, anderen aufzulauern. Er war ein Ritter aus Reims und dazu erzogen, seinem Feind nach den Regeln der Ehre zu begegnen. Nein, das war er früher gewesen. Dieser Ritter existierte nicht mehr. Er war in der Picardie gestorben, in der Schlacht von Crécy. Vielleicht sogar noch früher, beim Anblick seiner Schwester Eudeline, nachdem der Vater sie geschändet hatte.

Das genügte, damit der Zorn ihn übermannte und der Jagdinstinkt in ihm die Führung übernahm.

Der Mann, der vor ihm flüchtete, war schnell und drohte in dem Labyrinth der Gassen zwischen den Kirchen Santa Croce, San Niccolò und Ognissanti zu verschwinden. Maynard versuchte, ihm auf den Fersen zu bleiben, bevor er sich in irgendeinen geheimen Schlupfwinkel zurückzog. Ferrara kannte er kaum. Wenn er den Mann aus den Augen verlor, würde er ihn wohl niemals wiederfinden.

Doch plötzlich konnte er ihn nicht mehr entdecken. Maynard ging zurück zu der Stelle, an der er ihn zuletzt gesehen hatte, hob die Fackel und flehte zum Herrn, er möge die undurchdringlichen Wolken wegschieben, die den Mond verhüllten. Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre … Er sah sich um und holte keuchend Luft. Seine Lungen rasselten, ihn beschwerten tausend Gedanken. Enttäuschung, der Überdruss eines Mannes, der es leid war, sich ständig in Sackgassen zu verirren.

Was ist aus mir geworden?, fragte er sich und blickte forschend in die Nacht, als wäre sie das Dunkel seiner eigenen Seele. Nach all den Jahren voller Schlachten und Opfer hatte sich sein Leben als ein Tarotspiel erwiesen, in dem sich das Gesicht jedes Menschen, der ihm je teuer gewesen war, grotesk verzerrt hatte und das aus ihm selbst einen streunenden Hund gemacht hatte, dazu verdammt, Chimären nachzujagen. Nichts schien auf seinem Leidensweg unversehrt geblieben zu sein, überdauert hatten einzig der Hass auf seinen Vater und das Wissen, dass die Welt niemals mehr wie früher sein würde. Nicht einmal durch Buße und Reue.

Es gab nur eine Hoffnung, dem eigenen armseligen Schicksal einen Sinn zu verleihen, doch auch sie würde sich in Rauch auflösen, wenn er nicht bald wusste, wohin es gehen sollte …

Er versuchte herauszufinden, welche Richtung der Mann, den er verfolgte, eingeschlagen haben mochte, doch in der Dunkelheit sah er nur eine von wenigen Fackeln erleuchtete Gasse, in der sich nichts rührte. Erst dann bemerkte er einen Gang zu seiner Rechten. Er versuchte sein Glück und lief hinein.

Und da war der Flüchtige, kaum zehn Schritte vor ihm. Er setzte sich in Bewegung, doch nicht mehr so schnell wie vorhin. Maynard konnte zum ersten Mal seine hohe, schlanke Gestalt ausmachen. Die Gewissheit, den Mörder des Mönchs doch noch einzuholen, schenkte ihm neue Kraft, und so kam er dicht genug heran, um ihn bei seinen Kleidern zu packen.

Der Mann fiel zu Boden, rollte zur Seite ab, ließ seine Hand zum Gürtel gleiten und zückte ein Stilett. Maynard wehrte einen Hieb ab, dann packte er ihn am Kragen und stieß ihn mit dem Rücken an die Wand.

»Warum habt Ihr ihn getötet?«, stieß er hervor.

»Ich habe niemanden getötet«, erwiderte der Mann, keuchend vor Zorn und Angst.

Maynard ging mit der Fackel näher heran, und plötzlich wusste er, dass er dieses fuchsschlaue Gesicht kannte. Wenn auch nur vom Sehen. »Dennoch seid Ihr geflohen«, sagte er und machte keine Anstalten, den Mann loszulassen.

»Ihr habt mir keine Wahl gelassen.« Der Mann verzog das Gesicht. »Als ich die Taverne betrat, habe ich Euch dort über die Leiche gebeugt gesehen und geglaubt –«

»Lügen! Ich habe Euch heute dabei beobachtet, wie Ihr Euch mit ihm an jenem Ort verabredet habt, wo ich ihn dann tot aufgefunden habe. Ich habe gehört, wie Ihr ihn überredet, ja beinahe dazu gezwungen habt … Und jetzt, welch ein Zufall, taucht Ihr hier am Ort des Verbrechens auf.«

Auf dem Gesicht des Mannes blitzte Neugier auf. »Wer seid Ihr, dass Ihr so viel über mich wisst?«

»Nicht Euch gilt mein Interesse«, antwortete Maynard barsch, »sondern dem Unglücklichen, den Ihr so grausam getötet habt.«

»Ihr wisst ja nicht, was Ihr sagt, Messere«, sagte der Mann. Obwohl er sich nicht befreien konnte, besaß er die Kühnheit, Maynard eine Grimasse zu schneiden. »So wahr ein Gott im Himmel ist, ich habe Pater Facio di Malaspina nicht umgebracht.«

Als Maynard den Namen des Mönches hörte, der ihm so viele Schwierigkeiten bereitet hatte, wurde er noch begieriger, mehr zu erfahren. »Aber Ihr habt etwas von ihm gewollt. Redet schon, sagt erst einmal, wer Ihr seid.«

»Wenn Ihr das herausfindet, werdet Ihr es bereuen, Eure Nase in Sachen gesteckt zu haben, die Euch nichts angehen.«

Dies war eine offene Drohung. Maynard, der Feiglinge und Hochmütige gleichermaßen verachtete, näherte die Spitze der Fackel dem Gesicht des arroganten Kerls. »Euren Namen!«

Der Mann versuchte zunächst, sich zu wehren, doch dann schrie er vor Schmerz auf. »Superanzio Orsini …«, presste er hervor und versuchte, der Flamme auszuweichen. »Vizdom des Bischofs …«

Maynard hatte ihn immer noch fest im Griff und machte keine Anstalten, die Fackel zurückzunehmen. »Wollt Ihr mir damit sagen, der ehrwürdige Guido di Baisio hat Mörder unter seinen Leuten?«

»Ich bin kein Mörder.« Superanzios Gesicht war zu einer Leidensmaske verzerrt. Es roch nach verbranntem Fleisch. »Als Ihr mich entdeckt habt … kam ich gerade zu dem Treffen …« Seine Stimme wurde schriller. »Hört auf, ich flehe Euch an! Hört auf!«

Maynard hielt ihn jedoch weiter in eisernem Griff. Das Gesicht des Mannes, den er verhörte, schien sich immer mehr in das seines verhassten Vaters zu verwandeln. Er glaubte, eine Frau weinen zu hören, und mit einem Mal war er nur noch von dem Wunsch beseelt, diesen Mann zu vernichten, ihn für immer von der Erde zu tilgen.

»Was den Bischof angeht …«, wimmerte Superanzio Orsini und riss Maynard damit aus seinem Trugbild. »Ich bin nicht … in seinem Namen hier.«

Verblüfft nahm Maynard die Fackel weg. »In wessen Auftrag denn?«

»In niemandes …« Superanzio war schweißnass, seine rechte Wange durch eine Verbrennung verunstaltet. Er holte tief Luft und kämpfte gegen die Krämpfe an, die seinen ganzen Körper schüttelten. »Nur ich kenne das Geheimnis … Nur ich hörte es an jenem Tag an der Richtstätte …«

Maynard drängte die Erinnerungen an seinen Vater zurück und zwang sich, klar zu denken. Obwohl es ihm schwerfiel, die geflüsterten Worte zu verstehen, hatte er in den vergangenen Tagen genügend Nachforschungen angestellt, um ihren Sinn zu begreifen. »Ihr sprecht vom Lapis exilii?«

Superanzio riss erstaunt die Augen auf. »Ihr also auch … Wisst Ihr, was das ist?«

Maynard schüttelte den Kopf. »Ich suche zwei Reliquien, die eng mit diesem geheimnisvollen Gegenstand verbunden sind. Zwei Reliquien von unschätzbarem Wert. Pater Facio hat sie vor vielen Jahren gestohlen. Könnt Ihr mir etwas darüber sagen?«

Superanzio verneinte zunächst, doch als er sah, wie sich die Flamme wieder seinem Gesicht näherte, änderte er hastig seine Meinung. »Facio di Malaspina hat mir etwas erzählt …«, gestand er. »Es handelt sich um einen Kelch und eine Lanzenspitze … Er sagte, er habe darüber in einem Buch gelesen … in einem sehr alten Buch …«

»Welchem Buch?«

Superanzios Mund öffnete sich nur langsam, es schien, als fürchte er sich, darüber zu sprechen. Doch urplötzlich änderte sich sein Verhalten, was sich Maynard zunächst nicht erklären konnte. Dann öffnete sich Superanzios Mund zu einem schrillen Schrei: »Waacheeen!«

Maynard drehte sich um und sah in der Ferne zwei Schatten.

»Waacheen!«, schrie Superanzio weiter, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse aus Hohn und Angst. »Ruft den Vorsteher der Kontrade!«

Maynard musterte ihn ein letztes Mal, während er den eilends näher kommenden Schritten lauschte. Zweifellos waren das Stadtwachen. Noch ein Moment und er würde kämpfen müssen. Aber aus welchem Grund? Dann ginge er nur das Risiko ein, erkannt zu werden.

Nach kurzem Zögern warf er die Fackel zu Boden und floh in die Dunkelheit.

2

Maynard fand Bastien des Baux, seinen Gefährten und ehemaligen Waffenmeister, in der übelsten Taverne im Borgo San Leonardo, nur ein paar Schritte vom Haus der Barmherzigkeit entfernt. Dort saß er mit einem Krug Wein und ein paar Würfelspielern. Am meisten erstaunte Maynard, unter diesem Volk zwei Kanoniker von Sant’Antonio, dem Kloster auf der anderen Straßenseite, zu erkennen.

»Mein Freund, was tut Ihr hier?«, fragte Maynard, während er auf ihn zuging.

Bastien glättete sich den silbernen Schopf und versuchte, würdevoll zu wirken. »Sieht man das nicht?«, fragte er lachend. »Ich verliere einen Haufen Silberstücke.« Als er den Blick Maynards auf den beiden Kanonikern verweilen sah, breitete er begütigend die Arme aus. »Ihr wisst doch genau, Rocheblanche, wie sehr ich es hasse, an einem Tisch zu sitzen, wo niemand Französisch spricht. Diese beiden heiligen Männer haben angeboten, mich zu begleiten, um mir bei der Verständigung zu helfen und mich vor der Versuchung zu bewahren!« Er hob den Krug. »Wirt! Bringt noch Wein für die Kanoniker aus Vienne!«

Doch Maynard war nicht in der Stimmung für Scherze. Er hatte immer noch die Leiche von Facio di Malaspina und das verschlagene Gesicht des Vizdoms vor Augen. »Ich meinte damit, was Ihr hier macht«, beharrte er. »Ich habe Euch im Castel Tedaldo und im Palazzo della Signoria gesucht, da ich Euch bei den Feierlichkeiten für den heiligen Georg glaubte. Stattdessen …«

Bastien zuckte mit den Schultern. »Nach dem Pferderennen des Palio haben die Festlichkeiten für mich ihren Reiz verloren«, erklärte er und beobachtete den letzten Würfelwurf. »Offen gesagt war ich es leid, ständig vor all diesen Eminenzen in Seide und Spitzengewändern buckeln zu müssen.«

»Und Euer Herr?«

»Der edle Humbert de Viennois hat sich in die Gemächer des Marchese d’Este zurückgezogen und seine Eskorte auf der Straße stehen gelassen. Wie Hunde.«

Maynard bemerkte die Bitterkeit in diesen Worten und beschloss, nachsichtiger mit seinem Freund zu sein. Bastien hatte den Respekt vor den großen Heerführern und jedem anderen verloren, der die Ideale von Gerechtigkeit beschwor, um ahnungslose Soldaten wie Vieh auf die Schlachtbank zu schicken. Genau wie er selbst hatte er einen hohen Preis für diese ernüchterte Erkenntnis bezahlt.

»Ich muss mit Euch reden«, flüsterte Maynard ihm nun zu.

Augenblicklich wurde Bastien ernst. Er zeigte auf einen unbesetzten Tisch in einem Nebenraum, warf eine Münze auf den Tisch mit den Würfelspielern und verabschiedete sich von ihnen. Dann winkte er Maynard, ihm zu folgen.

»Ist etwas geschehen? Ihr wirkt verstört«, bemerkte er, kaum dass sie allein waren.

Maynard verzog das Gesicht und setzte sich hin, erst dann sagte er: »Vor einigen Tagen habe ich Euch von einem Mann erzählt, nach dem ich Ausschau halte, erinnert Ihr Euch?«

Bastien strich sich über den ungepflegten Bart, bis seine Finger auf der tiefen Narbe über seinem linken Jochbein zur Ruhe kamen. »Ein geheimnisvoller Mönch«, antwortete er. »Ihr sagtet mir, er habe sich an den Hof des Marchese Obizzo III. d’Este geflüchtet.«

»Sein Name ist Facio di Malaspina.«

»Nun und?«

»Er ist heute Nacht zu Tode gekommen.«

Bastien musterte ihn misstrauisch. »Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt …« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.

»Nicht ich«, sagte Maynard. »Jemand ist mir zuvorgekommen.«

»Habt Ihr eine Vorstellung, wer das gewesen sein könnte?«

»Nein.« Bevor er fortfuhr, bedeutete Maynard dem Wirt, der an ihren Tisch kommen wollte, dass sie seine Dienste nicht benötigten. »Allerdings bin ich am Ort des Verbrechens auf einen Mann des Bischofs gestoßen, Vizdom Orsini. Ich habe seine Verfolgung aufgenommen, um mehr zu erfahren, und –«

Bastien schlug mit der Faust auf den Tisch. »Seid Ihr wahnsinnig geworden?«, rief er aus, doch er beruhigte sich sofort und fuhr danach leiser fort. »Sagt mir jetzt nicht, Ihr habt einen Diener der Kurie belästigt. Nicht hier, in einer Stadt, die so treu zu Avignon steht –«

»Glaubt Ihr etwa, ich hatte eine Wahl?«, unterbrach Maynard ihn erbost.

Doch so schnell ließ Bastien sich nicht den Mund verbieten. »Wenn Ihr nach Absolution sucht, müsst Ihr mich über die ganze Angelegenheit unterrichten. Ich bin Eure Geheimnisse leid, Rocheblanche. Darf ich vielleicht endlich erfahren, was Ihr hier in Ferrara sucht?«

Maynard schwieg einen Augenblick und überlegte, ob er zumindest einen Teil des Geheimnisses enthüllen sollte, dessen Hüter er so unerwartet geworden war. Er betrachtete Bastien des Baux als wertvollen Verbündeten, er wusste genau, dass dieser vertrauenswürdige Mann ihn nie verraten würde. Dennoch durfte niemand erfahren, was sich in dem abgelegenen Kloster Mont-Fleur verbarg. Maynard beschloss, sich vage auszudrücken.

»Ich suche zwei heilige Gegenstände«, sagte er leise. »Zwei Reliquien, weil ich einem alten Abt geschworen habe, sie in das Kloster zurückzubringen, aus dem sie gestohlen wurden.«

»Schwüre sind nichts für Ehrenmänner«, sagte Bastien seufzend. »Sie bringen einen bloß dazu, wahnsinnige Dinge zu unternehmen.« Er hatte seine kräftigen Kriegerhände zu Fäusten geballt und machte ein finsteres Gesicht. Doch in seinem Blick glomm ein Funke Begeisterung auf, vielleicht weil er im Grunde seines Herzens immer noch den nie erfüllten Wunsch nach ruhmreichen Heldentaten trug. »Habt Ihr wenigstens herausgefunden, wo sich diese Gegenstände befinden?«, fragte er.

»Das wusste niemand außer Pater Facio. Jetzt werde ich andere Wege finden, Nachforschungen anstellen müssen …«

»Hier in dieser Stadt?«

Maynard nickte.

»Aber der Vizdom hat Euer Gesicht gesehen«, wandte Bastien ein und wirkte nun besorgt. »Hat er Euch erkannt?«

»Das bezweifle ich.«

»Er könnte trotzdem nach Euch suchen. Habt Ihr ihn bedrängt?«

Jetzt war es an Maynard, zu seufzen. »Mehr, als ich sollte.«

»Dann müsst Ihr ein gutes Versteck finden. Vergesst nicht, dass Ihr in diesen Mauern derzeit nichts als ein gewöhnlicher Pilger seid und Euch noch dazu als Mönch ausgebt. Wenn die Schergen davon erführen …«

»Deshalb bin ich zu Euch gekommen. Ich hoffte, im Namen unserer alten Freundschaft …«

Bei diesen Worten sah Bastien ihn beinahe belustigt an. »Der stolze Maynard de Rocheblanche bittet um Hilfe? Das ist ja etwas ganz Neues!«, rief er aus und genoss Maynards Verlegenheit sichtlich. »Ihr habt Euch verändert, mein Freund, wobei ich noch nicht weiß, ob zum Besseren oder zum Schlechteren. Jedenfalls müssen Eure Schwierigkeiten schon sehr drängend sein, wenn Ihr Euch so vor mir demütigt.«

Bastien wartete vergebens, dass Maynard etwas sagte. So brach er schließlich selbst das Schweigen und raunte verschwörerisch: »Ihr habt recht daran getan, Euch an mich zu wenden, glaubt mir. Denn zufällig kenne ich die Lösung für Eure Probleme.«

Superanzio Orsini tauchte den Lappen in den Malvensud und musterte sein Spiegelbild. Im Schein der Kerze zeigte ihm die metallene Oberfläche ein zu einer Wutgrimasse verzogenes Gesicht, das an der Wange durch eine Verbrennung verunstaltet war. Er würde für sein ganzes Leben gezeichnet sein, und jedes Mal wenn jemand sein Antlitz mustern würde, würde er sich an den Fremden erinnern, der so unvermittelt aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Der ihn über jedes Maß gedemütigt und wie einen elenden Lumpenkerl behandelt hatte.

Das sollte ihn teuer zu stehen kommen. Er würde ihn finden und ihn diese Demütigung tausendfach bereuen lassen.

Doch Superanzio trieb nicht nur Rachedurst um, sondern auch die Neugier, wer der Fremde war und wie sehr er in die Suche nach dem Lapis exilii verwickelt war. Dass der Mann jenen genannt hatte, hatte Superanzio erschüttert. Bis jetzt hatte nur Facio di Malaspina über ihn Bescheid gewusst. Der Vizdom konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er miterlebt hatte, wie der Mönch der Hinrichtung entging, weil er dieses erstaunliche Geheimnis erwähnte. Ein Geheimnis, von dem Rinaldo d’Este zeit seines Lebens wie besessen war, obwohl es seinen Augen wie denen der ganzen Christenheit verborgen blieb.

Superanzio presste das Tuch auf die Wange und genoss die vorübergehende Erleichterung.

Er hatte keine Vorstellung davon, welche Vorteile ihm dieser Schatz bringen könnte, doch ihm würde es schon genügen, wenn er sich so von der Tyrannei der Kurie befreite. Superanzio war es leid, sich all den Geboten von Anstand und Genügsamkeit zu unterwerfen. Sich jedem Mitglied des Klerus gegenüber bescheiden und unterwürfig verhalten zu müssen. Als er jung gewesen war, hatte ihm sein Verhalten dazu verholfen, das unsichere Los eines enterbten Sohnes hinter sich zu lassen. Nun war er einer der einflussreichsten Männer von Ferrara geworden. Wenn er sich endlich nach Belieben als Herr geben und sich jeden seiner Wünsche erfüllen könnte, würde ihn dies für alle früheren Opfer entschädigen. Doch dies war nicht möglich, ohne die heimlichen Blicke der Inquisition auf sich zu lenken. Die Heilige Mutter Kirche ertrug es nur schlecht, wenn sich einer ihrer Söhne von ihrem Busen entfernte, und in Zeiten wie diesen würde sie kaum zögern, ihn unter dem Vorwand, er paktiere mit den Ghibellinen, anzuklagen und ihn seines ganzen Besitzes zu berauben. Es sei denn, er könnte im Gegenzug eine ungeheure Kostbarkeit anbieten.

Nun, da Pater Facio in der Hölle brannte, brauchte er einen Helfer. Vielleicht konnte dies der Fremde aus der Dunkelheit sein.

»Du musst ihn finden und zu mir bringen«, sagte er laut.

»Wie Ihr wünscht, Herr«, antwortete eine Stimme hinter ihm. Sie gehörte Petricciolo, einem Gauner, der im Sold des Vizdoms Informationen von Orten heranschaffte, an die die Ohren eines einfachen Dieners nicht hinreichten.

»Lass aber nicht deine Schläger auf ihn los.« Superanzio nahm mit schmerzerfülltem Gesicht das getränkte Tuch von der Wange. »Unser Wild könnte aufgescheucht werden.«

»Es wird nicht einmal einen Grashalm sehen, der sich bewegt.« Der Mann trat nun aus dem Halbdunkel hervor, und Superanzio fielen einmal mehr seine brutalen Gesichtszüge auf, die durch eine Hasenscharte noch betont wurden. »Aber Herr, Ihr müsst mir eine Spur geben, der ich folgen kann. Was erinnert Ihr von dem Schuft, der Euch das angetan hat?«

Nichts, wollte Superanzio im ersten Moment antworten. Von der Begegnung waren ihm nur das helle Licht der Fackel und das furchtbare Zischen seiner Haut in Erinnerung geblieben. Allein der Gedanke daran trieb ihm schon wieder die Röte ins Gesicht, und am liebsten hätte er seinen Zorn an jemand ausgelassen.

»Er trug eine Kutte, aber er war kein Mönch«, sagte er dann, während er das Tuch in das Becken vor ihm warf. »Er wirkte wie jemand, der an Waffen gewöhnt ist, jedoch nicht wie ein einfacher Soldat. Und an seiner Sprache war etwas seltsam.« Orsini hielt inne und versuchte sich an den gebieterischen Klang der Stimme zu erinnern. »Er sprach …«

»Wie, Herr?«, fragte der Scherge nach.

Superanzio wandte sich zu ihm um, auf seinem Gesicht erschien ein schlaues Lächeln. »Mit französischem Akzent.«

»Das ist gut. Es halten sich nur wenige Franzosen in der Stadt auf.«

Bei diesen Worten verwandelte sich das Lächeln des Vizdoms zu einem grausamen Grinsen, das er jedoch sofort bereute. »Petricciolo, warte …«, fügte er hinzu und legte die Hand an die schmerzende Wange. »Besorg mir Opium, bevor du gehst.«

3

Bastien wirkte ein wenig prahlerisch, als er sich vorbeugte und die Ellbogen auf dem Tisch abstützte. »Heute Morgen, Rocheblanche, habe ich ein wirklich seltsames Angebot erhalten. Und zwar von Marchese Obizzo III., nachdem er erfahren hatte, wer ich bin und woher ich komme.« Er wartete, bis ihn Maynard mit einem Nicken ermutigte fortzufahren, dann sagte er: »Ihr wisst bestimmt, dass Seine Gnaden der einzige überlebende Sohn des edlen Aldobrandino II. d’Este ist und dass er, obwohl er mit Zustimmung des Papstes über Ferrara herrscht, um sein Erbe fürchtet. Er möchte seinen Sohn darauf vorbereiten, ihm nachzufolgen, aber seine Lehrer und Magister reichen dazu nicht aus. Ihm mangelt es noch an einem guten Waffenmeister.«

»Die Wahl hätte auf keinen Besseren fallen können«, beglückwünschte ihn Maynard. »Aber wenn wir jetzt zu unserem Thema zurückkehren könnten –«

»Ich habe das Angebot abgelehnt«, unterbrach ihn Bastien. »Ich bin zu alt für derlei. Nach dem unseligen Kreuzzug und dem Tod meiner lieben Marie möchte ich mein Leben nur noch damit verbringen, mich in meinem Unglück zu suhlen. Wisst Ihr, ich bin wie die Erinnerungen an den Ruhm. Sie mildern sich mit der Zeit ab, bis wir schließlich lernen, sie zu lieben.«

»Ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen«, sagte Maynard nun gereizter, »aber wenn wir jetzt auf meine Bitte zurückkommen könnten …«

»Ich könnte Euch an meiner Stelle empfehlen«, rückte Bastien endlich mit seinen Überlegungen heraus. »Ihr seid erfahren genug, um dem Sohn des Marchese alles beizubringen, was ich Euch gelehrt habe – vielleicht sogar noch etwas mehr. Ich kenne Euren Wert.«

Maynard fehlten die Worte. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten ihm doch sehr zugesetzt, und so war es ihm nicht möglich, Bastien für dieses überraschende Angebot den schuldigen Dank auszudrücken. »Obizzo hat doch so viele Krieger zur Verfügung«, sagte er stattdessen leise, »warum sollte er einen Fremden wie mich auswählen?«

»Bescheidenheit steht Euch nicht gut an«, ermahnte Bastien ihn beinahe beleidigt. »Seine Gnaden weiß genau, dass er, selbst wenn er jedes Lehen zwischen den Alpen und dem Sizilischen Meer durchkämmen würde, keinen dort fände, der würdig ist, den Titel Chevalier zu tragen. Ihr seid ein Paladin Frankreichs, ein miles seiner Majestät König Philipp! In Euren Adern fließt das Blut der Franken, die vor dem Jahrtausend auf ihren Kriegsrössern bis an den Rhein geritten kamen und den Kampf zu Pferde meisterlich beherrschten. Was sollen denn diese italienischen Händler schon von den hohen Werten des ordo equestris wissen! Wie sollten sie denn lehren, im vollen Galopp Lanze, Schwert und Schild einzusetzen!«

Doch selbst diese leidenschaftlich kühnen Worte konnten Maynards gebrochenes Selbstvertrauen nicht aufrichten. Die Schande seines Vaters, die Qualen seiner Schwester Eudeline und die schmähliche Niederlage bei Crécy hatten in ihm den Stolz, ein Ritter zu sein, erstickt. »Ich habe Euch um ein Versteck gebeten«, erklärte er nur, »und Ihr bietet mir stattdessen eine Aufgabe, bei deren Ausführung ich mich in aller Öffentlichkeit zeigen müsste.«

»Ihr würdet Euch im Lichte der Sonne verbergen«, beharrte Bastien. »Oder wollt Ihr etwa leugnen, dass besonders die augenscheinlichsten Dinge unbemerkt bleiben?«

Maynard sah ihn an. »Wenn dem so ist, bezahlt man immer teuer dafür.«

»Ihr müsst dafür einzig wieder das cingulum militiae umgürten.«

Bastien strahlte eine solche Entschlossenheit aus, dass Maynard sich überzeugen ließ. Eigentlich hatte er seine Ermittlungen auf andere Art fortsetzen wollen, aber er erkannte, dass ihm keine Wahl blieb. Der Plan von Bastien des Baux würde es ihm gestatten, sich am Hof einzurichten und Informationen über Pater Facio einzuholen, ohne sich übermäßigen Gefahren auszusetzen. Außerdem würde er keinen Verdacht erregen.

Früher habe ich diesem Mann auch voll und ganz vertraut, dachte er und musterte seinen alten Waffenmeister. »Ein cingulum, sagt Ihr?«, fragte er schließlich lachend und zeigte die ausgefransten Ränder seiner Ärmel. »Zurzeit besitze ich nicht mehr als diese alte Kutte.«

»Ich nehme doch an, dass Ihr über genügend Geld verfügt, um zu einem Stoffhändler zu gehen«, gab Bastien ebenso spöttisch zurück. »Ich habe einige ausgezeichnete Läden an der Westseite der Piazza gesehen, auf der Rückseite des Palazzo della Signoria.«

»Ich muss zugeben, Euer Vorschlag hat seine Vorteile«, erwiderte Maynard, wirkte jedoch ein wenig zweifelnd. »Da gibt es nur eine Schwierigkeit – ich habe keinerlei Erfahrung mit frechen und respektlosen Adelssprösslingen.«

Bastien winkte ab. »Mit dem jungen Maler, der Euch hierher gefolgt ist, scheint Ihr doch gut auszukommen.«

»Gualtiero!« Der Name traf Maynard wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Voller Reue und Sorge erinnerte er sich an den jungen Maler. »Gott möge mir vergeben, ich hatte den Jungen beinahe vergessen!« Er sprang auf, warf Bastien einen hastigen Gruß zu und wollte aufbrechen.

»Wartet, mein Freund«, hielt der ihn zurück. »Ihr könnt nicht einfach so gehen.«

»Ihr begreift nicht.« Maynard riss sich los, während er daran denken musste, welches Unrecht die Familie des braven jungen Mannes in so kurzer Zeit hatte erleiden müssen. »Heute wurde sein Vater gehängt. Ich muss zu ihm!«

»Das ist doch nicht Eure Sache.«

»Oh doch. Auch meinetwegen erlebt Gualtiero gerade die Hölle auf Erden.«

Seufzend gab Bastien auf. »Dann geht schon, verliert nicht noch mehr Zeit«, verabschiedete er seinen Freund. »Und was mein Angebot betrifft …«

Maynard, der sich schon zum Ausgang gewandt hatte, nickte. »Wenn Ihr erlaubt, möchte ich darüber nachdenken.«

»Auf keinen Fall!«, schnaubte Bastien. »Gleich morgen unterbreite ich dem Marchese meinen Vorschlag. Wenn er Euch nimmt, solltet Ihr besser schon ein neues Gewand haben.«

4

Ferrara, Galgenwiese

25. April

Für eine endlos lang erscheinende Zeit irrte er in einem quälenden Dunkel des Vergessens umher, bis er schließlich aus seiner Betäubung erwachte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es so dunkel gewesen war, als er die Besinnung verloren hatte, aber er war froh, dass nun Nacht war. Dass er nichts sehen konnte und musste, machte es ihm leichter, die Last der Erinnerungen zu tragen, ganz so, als sei alles nur ein Traum gewesen. Er blieb zusammengekrümmt am Boden liegen wie ein Wesen, das gerade erst auf die Welt gekommen war, lauschte reglos dem Raunen des Windes in den Grashalmen und liebäugelte mit dem Gedanken, sich in diesem Geräusch gänzlich aufzulösen. Für immer. Doch seine Sinne schärften sich wieder, und er hörte nun das Rauschen des Flusses, roch den Schlamm unter sich und nahm langsam die Gestalten in seiner Umgebung wahr. Er sah sie im Schein von kleinen Lichtern, die er anfangs für Sterne hielt, doch dann erkannte er, dass es sich um die Fackeln auf den Stadtmauern jenseits der Uferbefestigung handelte.

Nur wenige waren auf der Galgenwiese zurückgeblieben. Es waren vor allem Soldaten, außerdem Familienangehörige der Toten, die mit unterdrücktem Schluchzen ihre Lieben beweinten, während die Mönche der Congregatio mortis Gebete an einen Gott richteten, der sich in der Ferne verbarg, zu fern, um sie zu hören.

Gualtiero kniete sich hin und sah hinauf zu den Gehängten. Er konnte sie in der Dunkelheit nur ausmachen, weil sie hin- und herschwangen, aber dies genügte, dass ein schneidender Schmerz seine Brust zerriss und sich in einem Verzweiflungsschrei Luft machte.

Unter diesen Toten befand sich sein Vater. Er war in Schande und zu Unrecht gestorben, und vor seinem Tod hatte er Worte geflüstert, die keinen Sinn zu ergeben schienen.

Eine Hand berührte Gualtiero im Nacken und holte ihn so einen Augenblick lang aus seinem Leid. Beinahe überrascht überließ er sich der Berührung dieser Finger und suchte Trost im Gesicht des Mädchens, das sich über ihn beugte. Er wusste nicht, was sie dazu bewogen hatte, ihm an diesen Ort des Todes zu folgen, aber er war ihr ungemein dankbar dafür. Sie war sein Rettungsanker gewesen, das Einzige, woran er sich klammern konnte, um sich nicht in diesem Abgrund zu verlieren. Er öffnete den Mund, um ihr das zu sagen, aber es kamen nur erstickte Laute heraus.

Isabeau drückte ihn an sich und bettete seinen Kopf sanft in ihren Schoß. Sie hatte etwas Wildes, Ungezähmtes an sich, etwas, das sich nicht fassen ließ, das zusammen mit ihren verschiedenfarbigen Augen verstörend wirken konnte, wäre da nicht dieses engelsgleiche Gesicht gewesen.

Gualtiero verlor sich in ihrem Duft, der Wärme ihres Körpers, er fühlte sich bei ihr beschützt vor allem Bösen und blieb so liegen, bis er endlich die Kraft fand, aufzustehen. Er wollte bei der kommenden Begegnung keine Schwäche zeigen, sonst würde er sich sein Leben lang dafür schämen, dass er sich in diesem Moment an die Röcke einer Frau geklammert hatte. Deshalb verließ er sie nun und ging zum Leichnam seines Vaters.

Die Dunkelheit wirkte jetzt nicht mehr so undurchdringlich. Unbarmherzig gab sie den Blick frei auf ein verzerrtes, maskenhaftes Gesicht, in dem kaum jemand den starrköpfigen Künstler wiedererkannt hätte, der sein Leben lang hart geschuftet hatte, um als unabhängiger Mastro pittore seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Seele von Sigismondo de’ Bruni wohnte nicht mehr in dieser obszön wirkenden Puppe. Sie war aus dem Körper entflohen, bevor Raben und Würmer sein Fleisch schänden konnten.

Gualtiero fühlte sich beinahe erleichtert. Jetzt war sein Vater frei und schwebte umher wie jener flüchtige Hauch, von dem Philosophen und Theologen sprachen. Er bekreuzigte sich und flehte zur Madonna, sie möge für seine unruhige, aber rechtschaffene Seele bitten, auf dass die Waage des Erzengels Michael sie des Paradieses würdig finden würde. Dann wandte er seine Gedanken wieder Sigismondo zu, vermied es jedoch, den Blick auf dessen leblosen Körper zu richten. Die Erinnerung an den Vater fiel schwer. Etwas schnürte ihm die Kehle zu und erstickte sein klares Denken, ließ in seinem Kopf nur Wut, Angst und Rachedurst zurück.

Doch im Namen der Liebe zu diesem bärbeißigen Mann, mit dem er mehr gestritten als glückliche Momente erlebt hatte, gelang es Gualtiero, sich zu beherrschen. Sein Vater hatte sein Leben bestimmt, hatte seine Leidenschaften in die richtigen Bahnen gelenkt und ihm erlaubt, den Ehrgeiz zu entwickeln, ein bedeutender Maler zu werden. »Und eines Tages werde ich es sein«, schwor er ihm zu Ehren. Doch ein tausendfach größerer Wunsch brach sich nun Bahn. »Zuerst aber lass mich meine Mutter wiederfinden.« Er schluchzte. »Gib, dass wenigstens sie sich retten konnte und zu mir zurückkehrt.«

Er überwand seinen Widerwillen, beugte sich vor und berührte einen Fuß seines Vaters. Eine letzte Abschiedsgeste.

Als er sich umwandte, stand neben Isabeau ein in eine schwarze Kutte gekleideter Mann, die jedoch nicht seine breiten Schultern und seine stolze Haltung verbergen konnte.

Gualtiero trocknete die Tränen und entbot ihm einen stummen Gruß.

Maynard senkte den Kopf, um ihm sein Beileid zu bekunden. Doch etwas Dringlicheres trieb ihn um. »Ich bin gekommen, um Euch wegzubringen.« Er blickte das Mädchen vorwurfsvoll an. »Alle beide.«

»Ich werde die Stadt nicht verlassen.« Trotz der Trauer, die ihn quälte, war Gualtiero von eiserner Entschlossenheit. »Ich bin Euch für alles dankbar, aber ich werde nicht noch einmal zulassen, dass Ihr über mein Leben entscheidet.«

Maynard musterte den jungen Mann an seiner Seite, wie er mit geballten Fäusten über die Holzbrücke zurück zur Stadt schritt, und ihn überkam Bewunderung. Hatte er den jungen Gualtiero de’ Bruni bisher als freundlichen Menschen und Träumer betrachtet, so erkannte er jetzt mit Wohlgefallen eine stärkere Willenskraft in ihm, als er vermutet hatte. Eine Willenskraft, die jedoch nicht auf Erfahrung basierte. Leid und Unrecht auf der Welt würden ihn möglicherweise brechen und zu einer leichten Beute für allerlei Einflüsterungen werden lassen, während er unter der Anleitung eines guten Mentors zu einem Mann von außerordentlichen Eigenschaften heranwachsen konnte.

»Ihr werdet in die Abtei von Pomposa zurückkehren«, befahl er ihm angesichts dieser Überlegungen. »Unter den Schutz von Abt Andrea.«

Gualtiero schüttelte den Kopf. »Ich bleibe in Ferrara. Um meine Mutter zu suchen.«

»Ihr wisst genau, dass Eure Mutter nicht mehr hier ist.« Maynard folgte dem jungen Mann mit Isabeau unter den Bogen des Stadttors, während er die sich träge bewegenden Wachen im Auge behielt. »Sie wurde nach Avignon gebracht. Und bei Gott, Ihr verfügt weder über die Fähigkeiten noch die Mittel, um sie wiederzufinden.«

Gualtiero warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Haltet Ihr mich etwa für dumm?«

»Ja«, erwiderte Maynard auf die Gefahr hin, ihn zu kränken. »Ihr kennt die Welt und ihre Fallstricke nicht. Wenn Ihr Euch auf die Reise nach Avignon begebt, werdet Ihr keine Woche überleben.«

Gualtiero machte nur eine verächtliche Geste. Dennoch blieb er stehen und dachte nach. »Vielleicht habt Ihr recht, aber ich lerne schnell. Ich werde mich eben angleichen und, um sie zu finden, jeder Gefahr entgegentreten.«

»Ja, das werdet Ihr. Aber zur richtigen Zeit.«

»Diese Zeit ist jetzt! Wenn ich noch länger warte, wird es zu spät sein.«

»Denkt doch nach, mein Freund. Hätte man sie töten wollen, wäre sie nicht so weit weggebracht worden. Eure Mutter ist eine Frau mit vielen Geheimnissen, vergesst das nicht. Bevor Ihr handelt, solltet Ihr wissen, was sie vor Euch verbarg.«

Maynard hatte seine Worte mit Bedacht gewählt und mit sanfter Stimme gesprochen, aber er erregte nur Gualtieros Zorn.

»Ich werde selbst entscheiden, was ich tue!«, rief er.

»Nein, Ihr werdet mir gehorchen«, beharrte Maynard. »Ihr kehrt in die Abtei von Pomposa zurück, bis ich herausgefunden habe –«

»Ihr könnt mir nichts befehlen!«

»Seid Ihr da so sicher?« Maynard gab Isabeau ein Zeichen, zurückzubleiben, und versperrte Gualtiero den Weg. Inzwischen befanden sie sich innerhalb der Stadtmauern auf einer mit Fackeln beleuchteten Straße, die sich zwischen San Giovanni Vecchio und dem Servitenkloster hindurchschlängelte.

Gualtiero stellte sich ihm furchtlos. »Tretet beiseite, Herr!«

Maynard musterte den wütenden jungen Mann, und obwohl er wusste, dass aus ihm nur der Schmerz sprach, blieb er reglos mit verschränkten Armen stehen. »Dann zwingt mich doch dazu«, forderte er ihn heraus. »Zeigt, dass Ihr ein Mann seid.«

Er hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, als Gualtiero sich mit all dem wütenden Groll in seinem Herzen auf ihn stürzte. Maynard verlagerte ungerührt das Gewicht auf den rechten Fuß und versetzte Gualtiero einen Schlag in den Magen, dass dieser der Länge nach hinschlug.

»Wollt Ihr Euch etwa so allen Gefahren stellen?«, ermahnte er ihn. »Wollt Ihr so Eure Mutter retten?«

Gualtiero lag zusammengekrümmt im Schlamm und rang nach Luft. Dann erhob er sich mit einem Verzweiflungsschrei auf die Knie und ging erneut zum Angriff über. Maynard trat nur zur Seite, packte ihn am Gürtel und schickte ihn wieder zu Boden.

»Bleibt liegen, mein Sohn«, riet er ihm. »Und lernt aus dieser Lektion.« Doch als er sich über Gualtiero beugte, sah er, wie der nach vorn schnellte und ihn am Rumpf packte.

Bevor er ihn zurückstoßen konnte, bemerkte Maynard, dass Gualtieros Gesicht tränenüberströmt war, und er ließ zu, dass er ihn mit aller Kraft umschlang. »Nur zu, mein Freund«, ermutigte er ihn. »Kommt, lasst Eurem Schmerz freien Lauf.«

Gualtiero presste den Kopf an Maynards Brust und erstickte so einen Schrei.

Maynard ließ sich von seinem Kummer mitreißen, und sie verharrten in dieser Umarmung. »Nehmt meine Hilfe an«, flüsterte er sanft, als würde er ein widerspenstiges Pferd zähmen. »Lasst mich Euch erklären, wie Ihr Eure Mutter retten könnt und auch Euch.«

Das Schluchzen, das er als einzige Antwort erhielt, machte ihm Hoffnung, dass der Sturm nun vorüber war.

5

Am folgenden Morgen begleitete Maynard die beiden jungen Leute bis zur Kontrade della Misericordia, einem südlich gelegenen Viertel, das durch den Padus von der übrigen Stadt getrennt war. Es wurde auch Ferrariola genannt nach dem langobardischen castrum, aus dem sich Ferrara nördlich des Flusses entwickelt hatte.

Während sie die Stadtmauern und die Schiffsbrücke hinter sich ließen, strahlte die bereits hoch am Himmel stehende Sonne mit ihrem goldenen Schein auf die Kathedrale San Giorgio extra moenia und den Marktplatz und lud zu einem Bummel zwischen den Ständen und Wagen der Verkäufer ein. Das laute Geschrei der Händler vermochte Maynards Alpträume der Nacht jedoch nicht zu zerstreuen. Seine Gedanken wanderten ständig vom Mord an Pater Facio zu dem Unglück, mit dem Gualtieros Familie geschlagen war.

Es tat ihm leid, dass er den jungen Mann so hart behandelt hatte, obwohl er wusste, dass es nur zu seinem Besten geschehen war. Er kannte solche aufbrausenden Gefühle genau, die einem das Herz vergiften konnten. Er selbst war ihnen erlegen und musste mit einer nie erlöschenden Wut leben, als würde sein Vater jeden Tag aufs Neue seine arme Schwester Eudeline schänden.

Maynards Blick ging zu Gualtiero. Als er ihn derart niedergedrückt vor sich herlaufen sah, litt er mit ihm. Bis vor einigen Jahren hätte er nie gedacht, dass seine Seele so mitfühlend sein könnte. Er hatte nur nach Ruhm und Blut gehungert, war dem Traumbild nachgelaufen, ein Held zu werden wie die Männer in den Chansons de geste. Demütigungen und Leid hatten ihn begreifen lassen, wie eitel diese Wünsche gewesen waren. Ruhm war doch nur eine Illusion und das Blutvergießen auf den Schlachtfeldern ein Kainsmal. Es blieb bloß die Berufung zum servitium. Nur dieses würde dem am Tag seines Ritterschlags geleisteten Schwur einen Sinn verleihen. Der Dienst an den Tugendhaften und Unterdrückten.

Während Maynard seinen Weg zwischen den Ständen der Fischhändler und Korbflechter suchte, konnte er eine weitere Sorge nicht vergessen. Keine allzu große Angelegenheit, aber immerhin so ärgerlich, dass er sie so schnell wie möglich hinter sich lassen wollte. Doch vorher musste er die Anlegestelle am Rand des Viertels erreichen, von wo aus Lastschiffe mit flachem, kiellosem Rumpf die Passagiere zur Küste brachten. Einige würden gewiss am Portus abbatis in Pomposa anlegen, und auf einem davon konnten Gualtiero und Isabeau an ihren Bestimmungsort gelangen. Sobald er herausgefunden hatte, welche das waren, widmete er sich wieder seinem Problem. Es ging um Isabeau. Unter einem Vorwand schickte er Gualtiero weg, um mit ihr unter vier Augen zu sprechen.

»Nehmt, Gualtiero.« Er hielt ihm ein paar Münzen hin und deutete auf die Pfarrkirche San Giorgio, die das Viertel überragte. »Als Fürbitte für die Seele Eures Vaters.«

Der junge Mann löste sich aus seiner tiefen Trauer, bedankte sich stumm bei ihm und ließ ihn mit Isabeau allein.

Die Pfarrkirche hatte einst großen Glanz in ihren Mauern geborgen. Das bemerkte Gualtiero sofort, als er durch die Tür getreten war und ihm Tücher und heilige Paramente ins Auge fielen, deren Purpur und Gold inzwischen verblasst waren. Von der früheren Pracht waren jetzt nur noch von Staub und Spinnennetzen verhüllte Oberflächen geblieben, die Gualtiero in seiner Trauer noch trister vorkamen. Sein geübter Blick glitt über ein verblasstes Fresko, welches das Leben des seligen Georg darstellte. Der Heilige aus Kappadokien war dort nicht zu Pferde abgebildet, sondern während seines Martyriums, auf ein gezahntes Rad gebunden. Seine leidende Pose, so ganz anders als die stolze Haltung, in der er sonst dargestellt wurde, bewegte Gualtiero tief, und er erinnerte sich wieder daran, warum er hier war.

Er ging zum Opferstock und ließ die Münzen hineinfallen, die ihm Maynard gegeben hatte, dabei sprach er ein Gebet. Er kam sich etwas seltsam dabei vor, da er Kirchen gemeinhin als Arbeitsplatz ansah. Auch seine ersten Schritte hatte er in einer Kirche getan, während sein Vater dort einen Bogen ausmalte, und seitdem war er ihm stets gefolgt, durch alle Länder vom Apennin bis zum Meer, von einer Basilika oder Pfarrkirche zur anderen, und war so ganz allmählich in den Beruf des Malers hineingewachsen, bis er so geschickt darin wurde, dass er ihm helfen durfte, wenn er ihn nicht gar überflügelt hatte. Gerade sein großes Können hatte ihn und seinen Vater dann voneinander entfernt und in ihnen Hochmut und Neid aufkommen lassen. Nun jedoch war dieser Groll aus seinem Herzen gewichen. Und er glaubte fest daran, dass auch Sigismondo, wo immer er sich jetzt befand, ihm gegenüber keinen Zorn mehr empfand. Nein, sein Blick ruhte sicher gütig auf ihm und beschützte ihn, wie er es im Leben nie getan hatte. Das spürte Gualtiero ganz deutlich. Anders hätte er sich weder die Seelenstärke erklären können, mit der er der Hinrichtung beigewohnt hatte, noch die Entschlossenheit, die ihn jetzt drängte, nach seiner Mutter zu suchen.

Es schien ihm nicht angebracht, bei Maynard auf seinem Begehren zu beharren. Er begriff die Beweggründe für dessen Handeln, und er fühlte sich durch seine Freundschaft geehrt. Dennoch würde er nicht auf sein Einverständnis warten. Obwohl er nicht wusste, warum seine Mutter verhaftet und unter strengster Geheimhaltung nach Avignon gebracht worden war, würde er sie nicht der Gnade und Barmherzigkeit böser Menschen überlassen.

Aber er musste erst überlegen, wie er vorgehen sollte – da stimmte er Maynard zu –, sobald er jedoch genügend Geld beisammenhätte, würde er aufbrechen. Und er wusste auch schon, an wen er sich wenden sollte.

Während Gualtiero weiter leise das Requiem sprach, meinte er wahrzunehmen, dass sich seine Umgebung veränderte. Ihm war, als erbebten der Bogen der Apsis, die Wände und die Tonnengewölbe und würden die Form von großen Flügeln annehmen, die sich über ihm ausbreiteten. Gualtiero schloss die Lider, und um ihn herum verschwand alles. Hier in dieser abgeschirmten Welt leuchtete sein Schmerz lebhaft, ja beinahe grell auf, aber er konnte ihn zum ersten Mal in sich aufnehmen, ohne von Verzweiflung überwältigt zu werden.

Requiem aeternam dona eis, Domine.

Während er von diesem Kelch des Leidens kostete, begriff er zum ersten Mal, was es hieß, eine Kirche zu betreten, um dort bei Gott Trost zu suchen.

»Ich hatte dich unter dem Schutz der Mönche in Pomposa zurückgelassen. Warum bist du dem jungen Mann gefolgt?«

Isabeau senkte den Kopf und zog sich in Schweigen zurück, was Maynard verärgerte.

»Hat er es von dir verlangt?«, fragte er streng.

Sie verneinte stumm.

Er musste an sich halten, ihr keine Ohrfeige zu versetzen. Aber er bezähmte sich, weil ihn der Gedanke, ein Mädchen zu schlagen, anwiderte. Bevor sie einander vor einiger Zeit auf der Via Francigena begegnet waren, hatte Isabeau frei, ohne Regeln und Einschränkungen gelebt, die ihren Entscheidungen Grenzen gesetzt hätten. Dies und die Tatsache, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen hatte, hatten das Mädchen scheu und misstrauisch gemacht und sie vor der Zeit erwachsen werden lassen.

»Wie dem auch sei«, sagte Maynard so gebieterisch wie möglich, »ich verlange, dass du so etwas nie wieder tust. Ich habe geschworen, dass ich mich um dich kümmere und –«

»Ihr habt mich angelogen.«

Er musterte Isabeau, deren Züge sich verhärtet hatten. »Was meinst du damit?«, fragte er sie, als hätte er einen Tadel verdient.

»Ihr habt mich in dieser Abtei zurückgelassen«, warf sie ihm vor. »Ich hatte Angst, Ihr würdet nie mehr wiederkommen.«

Maynard wandte den Blick von ihr ab. »Erinnerst du dich, was ich über die Mission gesagt habe, die ich erfüllen muss?«

Isabeau sah ihn mit ihren seltsamen Augen an, eines grün und das andere blau. »Ihr sagtet nur, wenn Ihr sie zu Ende gebracht hättet, würdet Ihr –«

»Ja, genau das habe ich gesagt.« Er strich ihr über das Gesicht. »Ich habe gesagt, dass ich nach Frankreich zurückkehren und dass ich dich mitnehmen werde. Das habe ich versprochen, Isabeau, und ein guter Ritter hält immer sein Wort. Aber damit ich das kann, muss ich noch in Ferrara bleiben und meine Mission erfüllen.«

»Dann erlaubt mir, Euch dabei zu helfen.«

»Du hilfst mir, indem du an einem sicheren Ort bleibst. In der Abtei von Pomposa, zusammen mit Gualtiero.« Maynard wartete, dass Isabeau zustimmend nickte, dann lächelte er. Es gab noch etwas, das er ihr einschärfen wollte. »Und denk daran«, ermahnte er sie, »in den Augen der fratres musst du weiterhin meine Schwester sein.« Er erklärte ihr nicht, warum, um sie nicht zu betrüben. Abt Andrea hatte sich nur bereit erklärt, sie unter seine Fittiche zu nehmen, weil er sie für ein Mädchen von adliger Abkunft hielt, eine de Rocheblanche. Maynard wollte sich nicht ausmalen, wie der Abt reagieren würde, wenn er wüsste, dass sie die verwaiste Tochter eines armseligen Gauklers war. »Bei deiner Rückkehr erzählst du den Mönchen, du seist fortgelaufen, weil du mich unbedingt treffen wolltest. Mehr nicht.«

Isabeaus Gesicht verfinsterte sich. »Heißt das, Ihr werdet mich nicht zur Insula Pomposiae begleiten?«

»Es geht nicht, das habe ich dir bereits gesagt. Dringende Angelegenheiten erwarten mich hier.« Als er nun einen langen Kahn entdeckte, der am Ufer festgemacht war, wusste er, dass er das Geeignete für seine Zwecke gefunden hatte. »Und jetzt sei so freundlich und hol Gualtiero her, während ich mit diesen Süßwassermatrosen den Preis aushandele.«

6

Abtei Santa Maria di Pomposa, Palatium abbatis

26. April

Im Halbdunkel seines Arbeitszimmers musterte Abt Andrea das Siegel des Briefes, der ihm eben gebracht worden war, und fragte sich, warum der Bischof von Ferrara so lange gezögert hatte, ihm zu schreiben. Wahrscheinlich ging es um eine heikle Angelegenheit. Anders hätte er sich auch das Verhalten von Marchese Obizzo nicht erklären können, der sich im Gegensatz zum Bischof nicht einmal dazu herabgelassen hatte, auf seine Fragen zu antworten.

Doch diese Fragen waren berechtigt. Dass diese Herren so erbittert gegen zwei einfache Leute aus dem Volk vorgegangen waren, verwirrte ihn. Immer wieder musste er an die Begebenheit denken, als der Vizdom nach Pomposa gekommen war und befohlen hatte, die Eltern von Gualtiero de’ Bruni zu verhaften. Bisher wusste er nur, dass Sapia, die Frau des Malers, Superanzio Orsini zu diesem Befehl bewogen hatte. Sigismondo hatte sich nur des Vergehens schuldig gemacht, sie zu verteidigen, und hatte dafür bitter bezahlt.

Er dagegen hatte tatenlos zugesehen.

Was wäre gewesen, wenn die Schergen einen meiner Mönche angegriffen hätten?, fragte er sich. Hätte ich sie dann ebenfalls gewähren lassen?

Er ließ den Blick über die Bücherregale schweifen, die die Wände seines Arbeitszimmers bedeckten, um dann wieder zum Brief des Bischofs zurückzukehren. Dies alles widerte ihn an. Sigismondo und Sapia schmachteten seit Wochen im Kerker, und er hatte nichts anderes erreicht als diesen armseligen Brief! Wie konnte er Guido di Baisio und Obizzo d’Este tadeln, wenn er selbst so überaus empörend gehandelt hatte?

In Wahrheit fühlte er sich verloren und unfähig, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Den einzigen Funken Klarheit in dieser Sache brachte ihm das, was ihn Severino da Padova, sein alter Mentor, gelehrt hatte, als er ihn auf das Leben eines Mönchs vorbereitet hatte. In jeder Sphäre der Schöpfung gab es Hierarchien, hatte er ihm damals erklärt. Durch sie entstand eine gottgewollte Ordnung zwischen den gesellschaftlichen Ständen genauso wie zwischen den Himmelskörpern, und im Namen dieser Ordnung musste man manchmal Opfer bringen, die dem Anschein nach ungerecht waren.

Abt Andrea sah in diesen Worten eine furchtbare, aber unanfechtbare Logik. Eine Logik, die er wie jeder, der eine gewisse Macht ausübte, akzeptierte und befolgte.

Doch für Gualtiero de’ Bruni war er von seinen Grundsätzen abgewichen. Er hatte ihn Superanzios Klauen entrissen und in das Skriptorium von Pomposa aufgenommen, um aus ihm einen Miniaturenmaler zu machen.

Die Tat war jedoch auch auf seinen eigenen Vorteil ausgerichtet, warf er sich vor, obwohl er sah, dass er in guter Absicht gehandelt hatte. Dank der Gabe dieses jungen Mannes würde er die Abtei von ihren Schulden befreien können, ganz zu schweigen davon, dass Gualtiero von einem einfachen Kunsthandwerker in einen höheren Stand wechseln würde. Für den Augenblick hatte Andrea ihm noch nicht enthüllen wollen, was er für ihn plante. Er hatte zugelassen, dass der junge Mann nach Ferrara aufbrach, um sich nach dem Schicksal seiner Eltern zu erkundigen, weil er hoffte, dass diese Erfahrung ihm die Welt so zeigen würde, wie sie war: brutal. Nur dadurch würde er begreifen, dass Pomposa der einzige Ort war, an dem er sich selbst verwirklichen konnte.

Mit neu erwachter Hoffnung wandte sich Abt Andrea wieder dem Brief zu. Er öffnete eine Lade des Pults, holte ein Schreibermesser heraus und erbrach damit das Wachssiegel, begierig, das Schicksal von Sigismondo und Sapia zu erfahren.

Was er las, raubte ihm den Atem.

Unmöglich, dachte er, und sein Blick blieb an dem Schreckenswort hängen, das sich im Text wiederholte.

Haeresis.

»Unmöglich«, wiederholte er laut. Er konnte nicht glauben, dass die Familie de’ Bruni aus Ketzern bestand. Das waren bescheidene Leute, die die Madonna und den heiligen Franziskus verehrten … Sigismondo hatte ihm sogar gestanden, dass er sein künstlerisches Können verfeinert hatte, indem er Kirchen und andere Sakralbauten ausmalte … Wie konnte er da ein Ketzer sein?

Doch der Bischof von Ferrara war unmissverständlich gewesen. Ketzer, hatte er geschrieben, ohne dabei die Katharer, Lollarden, Apostoliker oder die Brüder und Schwestern des Freien Geistes zu erwähnen … Anstatt die teuflische Doktrin beim Namen zu nennen, der die de’ Bruni anhingen, ließ der Bischof durchblicken, er solle die Angelegenheit nicht vertiefen. Stellt keine weiteren Fragen, schien er ihm zwischen den Zeilen zu raten.

Abt Andrea hatte es schon mit solchen Warnungen zu tun bekommen und erkannte deshalb die verhüllte Drohung, die aus dem Kurienlatein von Guido di Baisio sprach.

Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn weit von sich, während es in seinem Kopf arbeitete. Was sollte er nur dem Jungen erzählen? Er durfte ihn auf keinen Fall anlügen oder ihn daran hindern, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Allerdings auf eigene Gefahr …

Einen Augenblick lang hoffte er, dass sein Freund Maynard etwas herausfinden könnte, doch dann schalt er sich einen Narren. Maynard de Rocheblanche war aus Frankreich gekommen, um eine ganz andere Mission zu erfüllen, außerdem kannte er sich im Umfeld des Bischofs und des Marchese nicht gut genug aus, um sich in den verschlungenen Pfaden einer derartigen Intrige zurechtzufinden.

Andererseits hatte Andrea keineswegs vor, das Ganze widerspruchslos zu akzeptieren. Wenn er Gualtiero enttäuschte, würde er ihn verlieren, zudem konnte er den Gedanken nur schlecht ertragen, die Übergriffe des Bischofs demütig hinzunehmen. Aber alles in allem, welche andere Möglichkeit blieb ihm denn? Die Schulden des Klosters drohten ihn zu erdrücken, und was seinen Glauben anging …

Auf einmal schien ihm sein Arbeitszimmer zu eng. Heftig atmend blickte er sich um, er wäre am liebsten geflohen und hätte alles hinter sich gelassen. Intrigen, Pläne, Verantwortung … Sich selbst verfluchend verließ er das Schreibpult und hastete zur Tür.

Als er aus dem Bogengang des Palatiums hinaustrat, wurde er von der Sonne geblendet, die hoch über dem Hof stand. Er ging vorwärts, den Blick auf das Gras gesenkt, ohne die Mönche und Diener zu grüßen, denen er begegnete. Wut, Reue und Missbehagen erfüllten ihn so sehr, dass er das Gefühl hatte, er würde durch einen schwarzen Strudel irren.