Die Akte Rosenthal – Teil 2 - Hanni Münzer - E-Book
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Die Akte Rosenthal – Teil 2 E-Book

Hanni Münzer

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Beschreibung

Völlig unerwartet erhält Lukas von Stetten ein verlockendes Angebot aus dem Vatikan. Während er darüber nachdenkt, es anzunehmen, sorgt sich seine Frau Magali um ihre Ehe. Sie weiß, Lukas hat seine Jugendliebe Rabea nicht vergessen. Lukas’ Zwillingsschwester Lucie hingegen wird gleich von zwei Männern umworben, die ein undurchschaubares Spiel mit ihr zu treiben scheinen. Weder Lukas, Magali noch Lucie ahnen, dass sie längst ins Visier eines übermächtigen Gegners geraten sind, der in Rom die Strippen zieht ...

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Von Hanni Münzer liegen im Piper Verlag vor:   Die Honigtot-Saga: Band 1: Honigtot Band 2: Marlene   Die Seelenfischer-Reihe: Band 1: Die Seelenfischer Band 2: Die Akte Rosenthal – Teil 1 Band 3: Showdown – Die Akte Rosenthal – Teil 2 Band 4: Das Hexenkreuz – Die Vorgeschichte zu »Die Seelenfischer«   Ausführliche Informationen finden Sie auf: www.hannimünzer.de

ISBN 978-3-492-97474-5 Mai 2017 © Piper Verlag GmbH, München 2017 Erstausgabe 2013 Umschlaggestaltung: U1 berlin/Patrizia Di Stefano Umschlagabbildung: Chad Kleitsch/Getty Images (Blüte); Duncan Walker/ Getty Images (Rahmen); John Harper/Getty Images (Stadt) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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DIE AKTE ROSENTHAL - TEIL 2

Thriller

Band 3 der Seelenfischer-Reihe

»Geld ist der Mist des Teufels.«

Papst Franziskus

Hinweis der Autorin

 

Dies ist eine fiktive Geschichte und frei erfunden. Ich schwöre!

Alle Namen, handelnden Personen und Begebenheiten sind daher ein Urprodukt meiner Fantasie. Sie allein ist schuld.

Würde ich das Gegenteil behaupten, würde man mich verhaften.

Etwaige Personen- oder Namensähnlichkeiten bitte ich daher zu entschuldigen, diese lagen nicht in meiner Absicht.

Alles, was nicht erfunden ist, ist wahr.

Erstes Buch

Die Büchse der Pandora

 

 

 

»Schicksal ist nur ein anderes Wort dafür,

dass Gott nichts erklären muss.«

Rabea Rosenthal

Kapitel 1

I-00120 Vatikanstadt

»Carlotta van Kampen ist tot.«

»Halleluja! Was für eine wunderbare Nachricht.« Kaum ausgesprochen, nahm das freudige Gesicht des Mannes einen salbungsvollen Ausdruck an, als hätte ein Regisseur ihm eine neue Rolle zugeteilt. Er bekreuzigte sich, faltete die Hände und sprach ein kurzes Gebet. Dann streifte er auch diese Rolle ab. Lauernd fragte er: »Wie?«

»Sie wurde vor ungefähr einer Stunde in Barcelona erschossen.«

»Erschossen?« Der Mann fuhr von seinem Schreibtisch hoch. »Herrgott noch mal, was für ein Aufsehen! So geht das nicht. Was fällt unseren Leuten ein?«, blaffte er sein Gegenüber an.

»Nein, nein, Eminenz«, stieß sein Gegenüber hastig hervor, »ich versichere Euch, niemand von uns war in die Angelegenheit verwickelt. Es scheint eine ihrer eigenen Angestellten gewesen zu sein. Eine Brasilianerin. Mehr hat unser Kontakt in Spanien bisher noch nicht in Erfahrung bringen können.«

»Wunderbar!« Der Kardinal rieb sich die Hände. Glück musste man haben. Da hatte ihm doch glatt jemand anderes die Arbeit abgenommen. »Das dürfte uns die Sache künftig erleichtern.« Er hielt kurz inne, dann sagte er: »Unser Mann im Van-Kampen-Aufsichtsrat soll auf den Nachlassverwalter einwirken. Ich will endlich das Geschäft abschließen, und vor allem will ich die Dokumente zurück, die uns dieses Weib gestohlen hat.« Bis heute war es ihm ein Rätsel, wie die Holländerin es geschafft hatte, dem Kirchenstaat so viele Jahre erfolgreich die Stirn zu bieten. Die sorgfältig vorbereiteten Klagen, die er in den letzten Jahren gegen die van Kampen eingereicht hatte, waren bisher stets von den Gerichten abgewiesen worden. Niemals hätte er gedacht, dass die Frau über derart einflussreiche Verbündete verfügte. Sie reichten bis in höchste Regierungskreise. Leider saßen dort nicht wenige Kirchenhasser.

»Eminenz, ich fürchte, es ist ein zusätzliches Problem aufgetreten.«

Der Kardinal sah seinen Sekretär scharf an. Für ihn gab es keine Probleme. Nur Aufgaben, die es zu lösen galt.

Der Sekretär bemerkte seinen Lapsus und berichtigte sich, wobei er ins Stottern geriet. »Ich meine, also … da ist …«

»Herrgott, Enzo! Was soll denn das? Ich habe nicht ewig Zeit. Ich muss gleich zu einem Konsistorium mit dem Heiligen Vater.«

Pater Enzo gab sich einen Ruck. Diesmal sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Es gibt eine Erbin. Die Tochter der van Kampen. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.«

»Was? Lucia van Kampen ist wieder aufgetaucht? Aber sie galt seit neun Jahren als verschollen! Pater Filiberto hat mir schon vor Jahren glaubhaft versichert, dass sie tot sei.«

»Leider nein. Und da ist noch etwas. Sie ist mit Lukas von Stetten verheiratet. Er ist der Vater ihres Sohnes.«

»Der Schützling dieses Verräters Bentivoglio? Der Ex-Jesuit?« Der Kardinal griff nach dem Kreuz auf seiner Brust. Die scharfen Kanten schnitten in sein Fleisch und halfen ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er selbst hatte Pater von Stetten vor knapp zwei Jahren, nach dem Verschwinden von Carlotta van Kampen, als unwichtig eingestuft und angeordnet, ihn nicht weiter zu überwachen. Ein kapitaler Fehler – und nicht sein einziger in diesem Fall. Er hätte nicht auf Pater Filiberto hören sollen, als dieser vorschlug, keine weitere Zeit auf die Suche nach der Van-Kampen-Tochter zu verschwenden. Er zürnte sich selbst. Ab sofort würde er die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen! Dabei hatte er schon genug andere Sorgen. Der neu gewählte Papst sprühte geradezu vor utopischen Ideen. Ein lästiger und gefährlicher Mann. Erst kürzlich hatte er in einem Interview, das in sechzehn Jesuiten-Zeitungen erschienen war, behauptet, dass der Hof die Lepra des Papsttums sei! Natürlich wurde das weltweit publik. Der Kardinal empfand die Aussage als empörend, ja, geradezu blasphemisch. Nicht minder anstößig fand er den Ausspruch, dass Geld der Mist des Teufels sei.

Wer hatte denn all die Jahrhunderte die mühevolle Arbeit getan, die Gelder eingetrieben und dem Papst den Hof erhalten? Männer wie er! Und jetzt bezeichnete er ihn und seine Vorgänger als Lepra? Wo wäre das Papsttum heute, ohne die Kurie und die verantwortungsschweren Entscheidungen, die diese über die Jahrhunderte hatte treffen müssen? Nirgendwo – weil es nämlich kein Papsttum mehr gäbe! Was bildet sich dieser Mann ein! Fast zweitausend Jahre Papsttum einfach so vom Tisch wischen zu wollen wie lästige Krümel? Nein, er würde sich sein Lebenswerk von diesem Mann nicht zerstören lassen!Der Kirchenstaat, der Erhalt seiner Institutionen und Traditionen waren sein Leben.Er wusste genau, woher der Wind wehte: Der Papst war treuer Jesuit und nahm der Kurie noch immer das Verbot seines Ordens von 1773 übel!

»Von Stetten war vor Ort in Barcelona, als die van Kampen erschossen wurde. Mit seiner Frau«, holte Enzo den Kardinal aus seinem inneren Widerstreit zurück. »Und da ist noch etwas.« Enzo stockte und knetete seine Hände.

Der Kardinal sah seinen Sekretär auffordernd an, eine Zornesfalte wie ein großes V in die Stirn gegraben.

»Saul Kaschinski wurde in Spanien verhaftet.«

Der Kardinal explodierte endgültig und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Ja, bin ich denn nur noch von unfähigen Idioten umgeben! Wie konnte das passieren? Es hieß doch, er sei der Beste in seinem Fach.«

»Kaschinski wird nicht reden, außerdem hat er alle Anweisungen anonym erhalten. Nichts in der Kommunikation weist auf eine Verbindung zu Rom hin«, beeilte sich Enzo zu antworten. »Aber wir müssen eine Entscheidung treffen«, ergänzte der Sekretär vorsichtig. Er mied Augenkontakt und schielte stattdessen auf die Statue einer betenden Madonna, die hinter seinem Dienstherrn auf einem Sockel thronte.

Der Kardinal hatte verstanden. »Ihr meint wohl, ich muss eine Entscheidung treffen.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und überschlug seine Optionen wie ein Schachspieler. Entweder Kaschinski wurde so schnell wie möglich eliminiert, oder er sorgte dafür, dass der Mann Unterstützung erhielt. Rasch schob er die verschiedenen Konstellationen in seinem Kopf hin und her, erwog, auf welche Figuren er verzichten konnte, und fällte seine Entscheidung.

»Gut, veranlasst, dass Kaschinski heil aus der Sache herauskommt. Es zeigt ihm unsere Macht. Dann hol mir unseren Paulus hierher. Es wird Zeit, dass er wieder zum Saulus wird. Und ich will die Akte Lukas von Stetten auf meinen Tisch.«

»Ich habe sie bereits hier, Eminenz.« Enzo reichte ihm beflissen den Aktendeckel, den er unter den Arm geklemmt trug.

»Wenigstens habt Ihr einmal mitgedacht«, sagte der Kardinal gönnerhaft. Er schlug die Akte auf, überflog sie kurz und zeigte dann mit einem sorgfältig manikürten Finger auf einen Namen.

»Das ist die Schwachstelle. Hier sollten wir ansetzen. Zeit für Plan B.«

Zwei Stunden später pfefferte der Kardinal eine rote Projektmappe, auf der das Siegel des Papstes prangte, auf den Schreibtisch. Er fluchte, was das Zeug hielt, wobei sich Worte wie »Dilettant«, »Humbug« und »hirnverbrannt« noch als geradezu höflich ausnahmen. Sein Sekretär Enzo machte sich inzwischen so klein wie möglich und wartete, bis der Sturm vorübergezogen war.

»Enzooooo …!«

»Ich bin hier, Eminenz.« Enzo trat mit einem gold glänzenden Tablett näher und stellte ein Gläschen Grappa nebst zugehöriger Flasche vor seinem Superior ab. Eucharistie speciale für Seine Eminenz.

Der Kardinal stürzte das erste Glas im Stehen hinunter. »Unfassbar, jetzt will er eine Untersuchungskommission einberufen, die die Vatikanbank prüfen soll! Schon wieder! Kaum bin ich den einen losgeworden, fängt der nächste damit an. Wie soll man denn da noch in Ruhe arbeiten können?«

Enzo war klar, über wen sich Seine Eminenz echauffierte: über den amtierenden Papst und dessen Amtsvorgänger, den emeritierten Papst. Das zurückgetretene Kirchenoberhaupt hatte inzwischen die päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo verlassen und war in das ehemalige Nonnenkloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten gezogen. Die ihm verbliebene Erdenzeit konnte er dort nur deshalb in Kontemplation verbringen, weil er zugestimmt hatte, auch da zu bleiben. Der ehemals mächtigste Mann des Kirchenstaates, zumindest nach Einschätzung der Öffentlichkeit, würde seine alte Heimat niemals wiedersehen. Er saß in seinem italienischen Käfig fest. Nur der Tod würde ihn von Rom scheiden.

Enzo verharrte stumm und reglos. Er wartete auf weitere Anweisungen Seiner Eminenz. Sein Superior hatte sich inzwischen sichtlich beruhigt.

»Also gut«, sagte der Kardinal und ließ sich in seinen Louis-XVI.-Sessel hinter dem Schreibtisch fallen. Er faltete seine Hände mit großer Geste, als hätte er vor zu beten, aber Enzo kannte seinen Brotherrn und wusste, dass er über seine nächsten Maßnahmen nachdachte. Er diente dem Kardinalstaatssekretär Finzi-Contini seit acht Jahren und bewunderte ihn sehr, denn der hatte, selbst wenn die Widrigkeiten sich noch so hoch auftürmten, stets eine Lösung gefunden. Das Leben eines Kurienkardinals war in der Tat beschwerlich, und Enzo war stolz darauf, ihn bei seinem harten Tagwerk unterstützen zu dürfen.

»Passt auf, Enzo. Zunächst holt Ihr mir Erzbischof von Elsterich an den Apparat.«

Enzo nickte. Ihm leuchtete ein, dass Seine Eminenz mit dem Erzbischof über die Stiftung Kind und Brot konferieren musste.

»Dann möchte ich mich mit unserem deutschen Adeligen besprechen. Aber nicht telefonisch. Er soll hierherkommen, am besten noch heute Abend. Ja, das ist gut, laden wir ihn zum Essen ein. Sagt der Küche Bescheid, dass ich heute um 21:00 Uhr ein Menü mit Rinderfilet wünsche. Blutig. Der Deutsche liebt blutiges Fleisch.«

Enzo wusste das natürlich, es zu wissen, gehörte zu seinen Aufgaben. Mit dem Deutschen war Kardinal Dieter von Unterberg gemeint, kommissarischer Leiter des Istituto per le Opere di Religione, kurz IOR. Enzo beschäftigte sich gedanklich viel mit dem IOR. Die Institution war dem Heiligen Stuhl 1887 von der italienischen Monarchie für den Verlust des Staatsterritoriums des Kirchenstaates zugestanden worden. Bis 1942 war nur wenigen Eingeweihten die Existenz dieser Verwaltung überhaupt bekannt gewesen. Unter anderem erfolgte bis ins Jahr 1929, vor der Unterzeichnung der Lateranverträge, die Auszahlung der Papst-Apanage durch das IOR. Böse Zungen behaupteten, dass sich Mussolini mit den Lateranverträgen, die dem Vatikan politische und territoriale Souveränität zusicherten, die Zustimmung des Papstes für ein faschistisches Italien erkauft hatte. Angeblich versüßt mit einer Zahlung im heutigen Gegenwert von 1,5 Milliarden Euro – ein äußerst lukrativer Ablasshandel für das IOR.

Heute war das IOR der Allgemeinheit als Vatikanbank bekannt und allein dem Heiligen Vater unterstellt. Er war ihr einziger Aktionär, und sie war nicht der Kontrolle italienischer Aufsichtsbehörden unterworfen. Wohl deshalb war sie als solche ständiger Gegenstand der wüstesten Spekulationen und Behauptungen. So wurde kolportiert, dass die Vatikanbank in Geldwäschegeschäfte mit der Mafia verstrickt sei, Korruption und Steuerhinterziehung fördere, Morde in Auftrag gebe und terroristische Akte finanziere. Der Vatikan, in einem Atemzug genannt mit Terrorismus! Ungeheuerlich!

Währenddessen war der Kardinal in seinen Instruktionen fortgefahren. Jetzt wirkte er listig. »Ich habe dem Heiligen Vater den Vorschlag gemacht, noch eine weitere Kommission ins Leben zu rufen: eine unabhängige Ethik-Kommission, die sich der Untersuchung von Missbrauchsfällen und Verschwendungssucht innerhalb des Klerus annehmen soll. Erstaunlich, wie sich alle gleich – sobald auch nur das Wort Ethik fällt – in dessen Glanz sonnen. Seine Heiligkeit hat mir stante pede den Auftrag erteilt, eine Liste geeigneter Kandidaten zu erstellen. Es sollten mindestens sechs bis acht sein. Mach dich gleich daran, Enzo. Hier«, der Kardinal kritzelte einige Namen auf einen Notizblock, »diese drei hier müssen unbedingt dabei sein, beim Rest ist Euer Kopf gefragt. Ach ja, es sollen ausschließlich weltliche Kandidaten herangezogen werden, und schon gar kein Kurienangehöriger«, fügte er wie beiläufig hinzu. Dabei war das der Clou daran – sein Meisterstück. Den Einwand des Papstes hatte er mit einem einzigen Argument widerlegt: dass die Ethik-Kommission dadurch hundertprozentig unabhängig sein würde. Vor allem schloss dieser Schachzug aus, dass ihm jemand aus dem Klerus dreinreden könnte.

Enzo starrte indes verwirrt auf die Namen. Zwei davon waren ihm bekannt. Doch der dritte Name war es, der ihm völlig unverständlich erschien, ihn beinahe entsetzte. Einmal mehr konnte er dem Gedankengang des Kardinals nicht folgen. »Eine Frau, Eminenz?«, rutschte es schneller aus ihm heraus, als ihm lieb war.

»Aber natürlich, das ist ja der Sinn einer unabhängigen Kommission, Enzo. Gemischte Ansichten. Eine Kandidatin reicht auch nicht, ich stelle mir mindestens noch eine weitere vor.« Der Kardinal lächelte und wirkte mit einem Mal sehr zufrieden. Er war wieder in seinem Element: dem Ränkeschmieden. Sein Vorschlag zur Ethik-Kommission war ein Schnellschuss gewesen, ein Befreiungsschlag als Gegengewicht zu der vom neuen Papst angeordneten Untersuchung der Geschäfte der Vatikanbank. Inzwischen trieben seine Gedanken immer mehr Blüten, da er die Möglichkeiten erfasste, die ihm seine Kommission bot.

Er würde bei der Kandidatenliste genauso vorgehen wie amerikanische Anwälte bei der Geschworenenauswahl in einem Gerichtssaal. Er würde Enzos Kandidaten noch ein paar Namen hinzufügen, alle eher untragbar, damit der Papst sie ablehnen konnte. Und dann würde er dafür Sorge tragen, dass allein seine Kandidaten zum Zuge kamen. Die Kommission würde nach seiner Pfeife tanzen, sie würde nur die Informationen erhalten, die er vorab abgesegnet hatte. Die Krönung aber war, wen er als Leiter für die Ethik-Kommission auserkoren hatte. Jemanden, den der Papst auf keinen Fall ablehnen konnte. Durch seine Wahl konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er war ein Genie! Er drehte sich zu dem an der Wand angebrachten Kreuz um, sprach ein kurzes Gebet und dankte Gott für seine Geistesgaben.

Sein Coup entschädigte ihn ein wenig dafür, dass er erneut nicht zum Papst gewählt worden war, und das, obwohl seine Verbündeten Wort gehalten und ihm unter anderem alle Stimmen der amerikanischen Kardinäle gesichert hatten.

Trotzdem wusste er, dass es ihm vorherbestimmt war, eines Tages den Fischerring zu tragen. Seine Gedanken schweiften dreißig Jahre zurück, verharrten einmal mehr an jenem schicksalhaften Tag in Amerika, als sein Freund zu ihm sagte …

»Jetzt komm schon, Clemente! Diese Schamanin ist unglaublich. Du musst die Frage nur denken, und sie gibt dir darauf eine Antwort. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich würde es nicht glauben.«

Der Angesprochene schüttelte unwillig den Kopf. »Du weißt, Tommaso, ich habe mit solchem Humbug nichts zu schaffen!«

»Papperlapapp«, erwiderte sein Freund unbeeindruckt und stellte seine Kaffeetasse ab.

Die beiden jungen Priester saßen im Frühstücksraum des Hilton Hotel Bonaventure in Montreal. Der Bischof von Chicago, dessen Delegation sie während seiner zehntägigen Kanada-Rundreise angehörten, hatte ihnen heute freigegeben. Der Bischof litt an einer Magenverstimmung.

Tommaso hatte dies respektlos mit: Der Gute hat sich schlichtweg überfressen kommentiert und sich über den freien Tag gefreut. »Humbug ist so oder so Ansichtssache«, fuhr er nun fort. »Sind wir nicht vom selben Fach? Wir wollen Leuten unseren Glauben nahebringen, ohne dafür einen direkten Beweis zu liefern. Jetzt gib dir einen Ruck, Clemente. Von hier nach Hogansburg ist es ein Katzensprung, kaum achtzig Meilen. Und die Gegend ist sehr schön. Außerdem heißt unser Hotel hier nicht von ungefähr Bonaventure, gutes Abenteuer! Das ist ein Zeichen. Also ich«, Tommaso fuhr sich mit der Serviette über den Mund und erhob sich, »werde auf alle Fälle fahren. Der Wagen ist schon bestellt.«

Clemente musterte seinen Freund und Kollegen scharf. »Dir geht es doch gar nicht um diese Wahrsagerin. Das Casino lockt dich.«

Tommaso fasste sich theatralisch ans Herz. »Getroffen! Ein Grund mehr, dass du mitkommst, Clemente. Oder willst du mich ganz allein dem Spielteufel überlassen?« Er lächelte entwaffnend.

Clemente warf seine Serviette mit einer resignierten Geste auf den Teller und stand nun auch auf. »Ehrlich, Tommaso, manchmal frage ich mich, warum du Priester geworden bist.«

»Wieso denn? Gott hat uns erschaffen, wie er alles erschaffen hat, also auch das Vergnügen. Warum sollte ein Priester nicht das Leben genießen? Ich finde sogar, es gehört zu seinen Pflichten, seiner Gemeinde ein lebenswertes Leben vorzuleben.«

»Dazu gehört aber sicher nicht, den Klingelbeutel im Casino zu verspielen.«

»Ich bin froh, dass du nicht Kollekte gesagt hast … Kommst du nun mit?«, wiederholte er seine Frage und sah seinen Freund auf eine Weise an, die selten ihre Wirkung verfehlte. Er und Clemente stammten aus demselben apulischen Dorf und waren als Nachbarskinder aufgewachsen. Von klein auf waren sie unzertrennlich gewesen, hatten alles gemeinsam unternommen. Am Tag, als Clemente verkündet hatte, dass er Priester werden wolle, war es für Tommaso selbstverständlich gewesen, seinem Freund auf dessen Lebensweg zu folgen.

Nach seiner Weihe wurde Tommaso eine Gemeinde in den Abruzzen zugeteilt, Clemente ging nach Rom. Und so hatten sich die beiden Freunde für eine Weile aus den Augen verloren.

Tommaso legte keinen übermäßigen Ehrgeiz an den Tag, ganz im Gegensatz zu seinem Jugendfreund. Clemente Finzi-Contini hatte bereits begonnen, sich in der Kirchenhierarchie nach oben zu arbeiten, und fungierte seit einem Jahr als Privatsekretär des Bischofs von Chicago, der reichsten Diözese der USA. Vor drei Monaten hatte er seine Beziehungen genutzt und Tommaso aus Santo Stefano di Sessanio zu sich nach Chicago geholt. Auch wenn Tommaso nicht den gängigen Konventionen eines Priesters entsprach, so war er doch seinem Freund gegenüber hundertprozentig loyal. Das war es, was für Clemente zählte. Wenn er sein hochgestecktes Ziel erreichen wollte, musste er sich von Beginn an mit loyalen Mitstreitern umgeben.

»Du machst schon wieder dein Karrieregesicht«, feixte Tommaso, der das Mienenspiel seines Freundes beobachtet hatte. »Vielleicht möchtest du der Schamanin eine ganz bestimmte Frage stellen, hm?«

Clemente sah Tommaso grimmig an. »Vergiss es.«

»Ach, komm schon. Ich weiß, du bist immer noch verschnupft, weil ich letzte Woche ausgebüxt bin.«

»Ja. Weil ich wegen dir den Bischof anlügen musste. Ich habe dich nicht zu mir geholt, Tommaso, damit du mir Schwierigkeiten machst.«

»Du hast doch gar nicht richtig gelogen, das war nur eine kleine Ausflucht zu aller Zufriedenheit.«

Clemente seufzte. »Du bist so glatt wie die zugefrorene Hölle. Vielleicht solltest du lieber auf Politik umsatteln.«

»Merkwürdig, und ich dachte, da wäre ich längst gelandet«, konterte er unbekümmert. »Sieh es so, Clemente. Hätte ich nicht diese kleine Fahrt unternommen, wäre ich niemals dieser unglaublichen Frau begegnet. Das war Fügung. Und wenn wir Priester nicht an Schicksal glauben, wer sonst?«

Zwei Stunden später parkte der Mietwagen der beiden Priester vor dem Akwesasne Mohawk Casino, und wiederum eine Stunde später hatte Pater Tommaso eine Audienz, wie er es nannte, bei der Schamanin erwirkt. Sie würde sie am frühen Nachmittag empfangen.

»Ich lasse dir den Vortritt«, sagte Tommaso, als es so weit war, und schob seinen weiterhin widerstrebenden Freund über die Schwelle des Blockhauses, das am Rande des Casino-Parks lag.

Unvermittelt fand sich Clemente in einem einzigen großen Raum mit bodentiefen Fenstern wieder, der so gar nicht seinen Vorstellungen der Örtlichkeit einer Wahrsagerin entsprach. Misstrauisch musterte er die Umgebung, davon überzeugt, doch noch Flitterkram, Räucherstäbchen und eine Kristallkugel zu entdecken, wenn er nur lange genug danach Ausschau hielt. Stattdessen präsentierte sich ihm der lichtdurchflutete Raum geradezu klinisch nüchtern. Seine sparsame Möblierung bestand aus einer weißen Ledercouch mit passenden Sesseln und einem Tisch, es roch angenehm nach Holz und frisch gebrühtem Kaffee. Einzig der eindrucksvolle Webteppich, der indianische Jagdszenen zeigte und die gesamte rückwärtige Wand einnahm, zeugte von der Herkunft seiner Gastgeberin.

Auch die Schamanin überraschte ihn. Sie war winzig, und ihre alterslose Erscheinung strahlte eine stille Würde aus, die ihn wider Erwarten beeindruckte, aber da war noch mehr. Clemente ertappte sich dabei, wie er den Blick nicht von ihr wenden konnte. Hypnotisierte sie ihn etwa? Tatsächlich waren ihre Augen ungewöhnlich: eines blau, das andere sienafarben. Er suchte sich ihr zu entziehen, indem er sich auf den türkisfarbenen Stein an ihrem Hals konzentrierte, doch dieser hatte dieselbe Wirkung auf ihn, als wäre der Stein das dritte Auge der Schamanin. Was geschah mit ihm? Ohne sein Zutun hob sich sein Kopf, und er begegnete erneut ihrem Blick. Ein seltsames Gefühl, ausgehend von seiner Mitte, breitete sich nun in seinem Körper aus, als würde er sich von sich selbst entfernen, transferiert werden in eine andere Welt, in der er kein Wesen aus Fleisch und Blut mehr war, sondern eine durchsichtige Hülle, seltsam substanzlos und bar jeglichen Schutzes. Er ahnte, dass die Schamanin in sein Innerstes eindrang, seine Geheimnisse aufspürte, seine Seele nach außen kehrte. Und er konnte nichts dagegen tun. Er war machtlos, ein Gefangener ihres Willens. Als sie von ihm abließ, wusste er zunächst nicht, wie er reagieren sollte, kämpfte mit einem Bündel widersprüchlicher Emotionen. Er war erbost über ihre Dreistigkeit, sich einfach seines Geistes zu bemächtigen, und gleichzeitig verärgert über sich selbst, weil er sich derart von dieser Hexe hatte übertölpeln lassen. Nur knapp entkam er dem Impuls, ihr sein Kreuz entgegenzuhalten und ein vade retro, satana! entgegenzuschmettern. JesusChristus,er sollte hier schleunigst verschwinden! Doch wie sähe das aus? Er, Clemente Finzi-Contini, floh vor dieser Kassandra? Niemals! Er richtete sein angeknackstes Selbstbewusstsein wieder auf, indem er sich auf seine beträchtlichen Fähigkeiten besann, die ihm bereits die Tür zu Aufstieg und glänzender Karriere geöffnet hatten, rückte seinen Kragen zurecht, der ihm urplötzlich zu eng erschien, und folgte der eleganten Handbewegung seiner Gastgeberin, Platz zu nehmen. Sie schenkte ihm Kaffee ein, reichte ihm die Tasse und setzte sich ihm gegenüber. »Ich habe auf Sie gewartet«, eröffnete ihm die Frau in einem seltsam melodischen Englisch mit französischem Akzent. Dabei fixierte sie ihn weiter mit ihren markanten Augen. »Ich kenne Ihre Frage und die Antwort darauf, junger Priester. Darum frage ich Sie: Ist es Ihr freier Wille, sie zu hören? Hier und heute? Das Schicksal ist ein launisches Element, es ist weder männlich noch weiblich, es ist, und doch ist uns Seelen vom Moment der Zeugung an alles vorherbestimmt. Sein Schicksal zu kennen bedeutet nicht, es zu lenken. Der Stern folgt stets seinem eigenen Weg. Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, wohin er uns führt.«

Nicht nur ihre Augen waren ungewöhnlich, stellte Clemente fest, sondern auch ihre Stimme. Sie war wie geschaffen, um die Sinne zu streicheln. Oder um die Hölle zu verheißen. Sein Unbehagen in Gegenwart dieser Frau wuchs. Er hätte sich nicht von Tommaso überreden lassen sollen! Eigentlich war er nur hierhergekommen, um seinem Freund zu beweisen, dass seine Begeisterung für die angeblichen Fähigkeiten dieser Kassandra Nonsens war, sein Freund schlichtweg Hokuspokus aufgesessen war. Er hatte das Weib entlarven wollen und sich vorgestellt, seine Kräfte mit den ihren zu messen, überzeugt davon, dass sein Wille stark genug sei. Und war eines Besseren belehrt worden, wusste, dass er die brennende Frage seines Lebens – die eine Frage, die ihn umtrieb, seit er zum ersten Mal das Priesterseminar betreten hatte – nicht vor ihr verbergen konnte. Er nickte ihr wie unter Zwang zu.

Und die Schamanin antwortete. Ihre Worte fügten sich wie zu einer kleinen Melodie zusammen, und es war jene Harmonie, die sich Clemente zu hören erhofft hatte. Eine Antwort, die ihm sein großes Schicksal verhieß – das Lied von Macht und Einfluss.

Der forschende Blick seines Sekretärs holte den Kardinal in die Gegenwart zurück. Er genehmigte sich noch einen Grappa, und während er ihn trank, ließ er sich ihre Worte noch ein wenig auf der Zunge zergehen, kostete ihre Essenz, wie er den Alkohol genoss. Die Frau hatte ihm im Grunde nur das bestätigt, was er selbst längst gewusst hatte – nicht dass er viel auf ihr Wort geben würde. Doch sein Tag würde kommen, etwas würde geschehen.

Mit Spannung wartete er daher darauf, was die Vorsehung für Lorenzo, den neuen spanischen Papst, bereithielt.

Am übernächsten Morgen verkündete ihm Enzo mit kaum verhohlenem Triumph in der Stimme, dass Saul Kaschinski auf freiem Fuß sei und bereits mit einem sicheren Mobiltelefon ausgestattet worden war. Er übergab dem Kardinal die Nummer.

Sobald der Sekretär sein Büro verlassen hatte, nahm der Kardinal einen Schlüssel von der Kette um seinen Hals und sperrte seine Schreibtischschublade auf. Darin lag sein geheimes, abhörsicheres Handy. Selbst Enzo musste nicht alles wissen. Er wählte die Nummer. »Ich bin es. Nein, danken Sie mir nicht. Sie bekommen noch eine letzte Chance, sich zu bewähren. Ihr Auftrag lautet: Finden Sie einen Mann namens Massimo Trapano. Er ist seit jeher das technische Genie hinter der Holländerin. Er ist genauso fanatisch wie dieses gottverdammte Weib und hält sich irgendwo versteckt! Ich übermittele Ihnen gleich die wenigen mir bekannten Daten zu Trapano. Wenn Sie ihn gefunden haben, holen Sie alles aus dem Mann heraus, was er über die Dokumente weiß, die er und van Kampen meiner Kirche gestohlen haben. Anschließend liquidieren Sie Trapano und stecken sein Labor in Brand. Es soll nichts von ihm übrig bleiben als graue Asche. Verstanden?« Er sandte die vorbereiteten Daten ab, dachte kurz nach und tätigte noch einen Anruf. Zeit, sich wieder um diesen Lukas von Stetten zu kümmern.

Er gab seine Instruktionen durch, legte auf und lehnte sich zurück. Gleich hatte er noch einen Termin, aber danach würde er sich ein gutes Essen in seiner Lieblingstrattoria auf der Piazza del Popolo gönnen. Er hatte einen Bärenhunger. Intrigen machten ihn immer hungrig.

Kapitel 2

Nürnberg/Deutschland – zwei Monate später

»Unfassbar, dieser Sumpf.« Lukas raschelte mit der Nürnberger Zeitung, hinter der er seit einer Viertelstunde verschwunden war.

Magali seufzte vernehmlich, entwand Matti das offene Glas Nusscreme und schraubte es zu. Auf dem Brot ihres Sohnes türmte sich bereits ein bedenklicher Berg davon, von seinen Fingern und dem Gesicht ganz zu schweigen. Doch ihr Seufzer galt nicht Matti, sondern ihrem Mann. Seit drei Tagen kannte er kein anderes Thema; sie hoffte, dass wenigstens heute der Kelch an ihr vorübergehen und ihr ein neuerlicher Vortrag erspart bliebe. Vergeblich.

»Ich begreife nicht, wie das derart eskalieren konnte«, klang es erbost hinter der Doppelseite hervor. »Das Laimburger Bistum ist doch kein Hasenzuchtverein! Wenn der dortige Bischof Millionen verpulvert, um sich ein Luxusdomizil samt Privatkapelle hinzustellen, das noch dazu jeder Spaziergänger in jeder Bauphase begutachten kann, muss das doch irgendjemandem früher aufgefallen sein! Das ist gelebter Feudalismus. Bischof Titus von Elsterich schadet der Kirche ungemein. Was sage ich, das gesamte Ansehen der Kirche steht durch ihn auf dem Spiel«, ereiferte sich Lukas weiter. »Der neue Papst sollte hart durchgreifen und den Mann so schnell wie möglich von seinen Ämtern entbinden. Alles andere wäre nicht glaubhaft. Weißt du, was ich denke? Da steckt mehr dahinter. Der Bischof war das nicht allein. Er wurde gedeckt, wahrscheinlich sogar vom dortigen Kirchenrat.«

Magali ergab sich in ihr Schicksal. »Vermutlich hast du damit deine Erklärung.« Dann fiel ihr noch etwas ein. »Hieß es nicht in den Nachrichten, dass dieser Bischof unlängst nach Rom gereist wäre, um mit dem Papst zu sprechen?«

»Das ist es ja, was ich meine! Bischof von Elsterich sitzt dort seit Tagen fest und wartet auf eine Audienz beim Heiligen Vater. Bei allem Respekt für dessen Amtsgeschäfte, aber das dauert zu lange und schafft der Presse Raum für Spekulationen.« Endlich ließ Lukas die Zeitung sinken und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Er verzog das Gesicht. Sein Kaffee war längst kalt geworden.

Magali unterdrückte den Impuls, ihm frischen nachzuschenken, obwohl die Thermoskanne direkt neben ihr stand. Schließlich vernachlässigte er das gemeinsame Frühstück seit einer geraumen Weile. Sie verstand zwar, dass es ihm wichtig war und er sich zu Recht darüber aufregte, wie einfach es diesem Bischof möglich gewesen war, Kirchengelder zu verschwenden. Aber sie fand auch, dass es irgendwann einmal genug sein musste. Schließlich war Lukas kein Jesuit mehr, die katholische Kirche nicht mehr sein Arbeitgeber, und ihrer Meinung nach sollte er langsam mehr Abstand zu deren Angelegenheiten bekommen.

»Findest du nicht, dass du dich zu sehr in die Sache hineinsteigerst?«, sagte sie nun doch, während sie Matti erneut das Glas Nusscreme wegnahm und es aus seiner Reichweite schob. Der Junge zog eine Schnute und murmelte: »Menno.«

»Wieso denn? Das ist ein unfassbarer Skandal und …«

»Ich wünschte«, fiel ihm Magali ins Wort, »die Öffentlichkeit hätte sich genauso laut, breit und lange echauffiert, als die Missbrauchsfälle durch den Klerus bekannt wurden. Mir kommt es so vor, als würde sich jeder nur noch für diesen verschwenderischen Bischof interessieren – als wäre Geld wichtiger als die armen Kinder.« Magali sagte dies schärfer als beabsichtigt. Sie war zwar erst im vierten Monat, doch die Hitze der letzten Tage hatte ihr zugesetzt. Ihre Beine waren geschwollen, und sie fühlte sich erschöpft. Lukas sah sie überrascht an. »Was ist los, Magali? Geht es dir nicht gut? Ist etwas mit dir oder dem Baby?«, reagierte er besorgt auf ihren ungewohnt gereizten Ton.

»Alles gut, ich würde nur gerne wieder einmal mit meinem Mann frühstücken und nicht mit einer Zeitung. Ich vermisse unsere Morgengespräche.« Magali lächelte schief. Sie war sich selbst unangenehm, wenn sie angespannt war.

»Du hast recht, entschuldige. Ich bin kein guter Ehemann«, sagte Lukas angemessen zerknirscht. »Ich werde mich künftig im Stillen aufregen und die Zeitung nach dem Frühstück lesen. Bekomme ich jetzt frischen Kaffee?«

Magali lächelte. Ertappt. Sie griff nach der Kanne und schenkte ihm nach.

»Worüber möchtest du reden?«, fragte Lukas, nachdem er einen Schluck genommen und sich bequem im Korbstuhl zurückgelehnt hatte. Es war ein herrlicher Morgen, und sie genossen ihr Frühstück auf der Terrasse. Obwohl es erst kurz nach sieben Uhr war, besaß die Sonne schon viel Kraft.

»Zum Beispiel, wie es mit dem Angebot deines Vaters steht?«

»Ah, ich verstehe. Der Vorsitz der Stiftung.« Lukas rollte mit den Augen. »Hat Mutter dich deswegen wieder geplagt?« Er war am Abend erst spät von einer Lehrerkonferenz heimgekehrt, und Magali hatte bereits geschlafen.

»Ja, sie rief gestern Nachmittag an. Sie versucht weiter, mich als Verbündete zu gewinnen. Die üblichen Argumente, dein Vater wäre zweiundsiebzig und sollte endlich anfangen kürzerzutreten. Darüber hinaus versteift sie sich in letzter Zeit immer mehr darauf, dass du als Lehrer nicht deine vollen Möglichkeiten ausschöpfst.«

»Also die alte Leier.«

»Genau.«

Lukas schüttelte den Kopf. »Ich frage mich noch immer, wie sie es geschafft hat, Vater so weit zu bringen, tatsächlich abtreten zu wollen und mir auch noch seine Position anzubieten.«

»Ich würde sagen, mit steter Hartnäckigkeit? Dieselbe Methode, die sie immer anwendet? Irgendwann wird man so davon zermürbt, dass Nachgeben das kleinere Übel ist.«

Lukas schmunzelte. »Ist wirklich alles mit dir in Ordnung? Plagen dich etwa Schwangerschaftshormone? So spitzzüngig kenne ich dich gar nicht.«

»Nur eine Feststellung. Außerdem kennst du ihre Art besser als ich. Sie ist deine Mutter. Und sie ist wirklich unanständig hartnäckig, wenn sie etwas erreichen will. Immer wenn das Telefon in letzter Zeit klingelt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit sie am anderen Ende. Du weißt, ich mag sie und wir verstehen uns prima, aber inzwischen graut mir fast davor, an den Apparat zu gehen.« Als hätte sie es heraufbeschworen, klingelte das Telefon. Lukas und Magali sahen sich in stillem Einverständnis an. Keiner der beiden rührte sich. Niemand rief sie um diese Uhrzeit an, außer Evelyn von Stetten …

»Ich gehe schon!«, rief Matti eifrig, sprang auf und rannte davon, gefolgt von den drei Hunden des Haushalts, die ihn selten aus den Augen ließen.

»Von Stetten«, rief er atemlos in den Hörer. So meldete sich sein Vater immer.

Die Person am anderen Ende stutzte kurz ob der jungen Stimme. »Äh, mit wem spreche ich, bitte?«

»Na, mit mir! Wissen Sie denn nicht, wen Sie angerufen haben?«, wunderte sich Matti.

»Doch, ich …«

»Und wer sind Sieeee?«, fragte Matti gedehnt.

»Mein Name ist Pater Anton Gänserich, und ich rufe aus Rom an …«

»Ah, Sie sind das. Der Gänserich. Tiere vom Bauernhof haben wir neulich in der Schule durchgenommen.«

»Wie bitte?« Bevor der Mann weitersprechen konnte, meinte Matti eifrig: »Sie wollen sicher meinen Papa sprechen. Papaaaa …«, brüllte er los, sodass der Mann am anderen Ende des Hörers zusammenzuckte. »Es ist für dich!«

»Wer ist denn dran?«, rief Lukas fast genauso laut von der Terrasse zurück.

»Eine männliche Gaaaans!«

Zehn Minuten später legte Lukas den Hörer auf. Er fand Magali in der Küche beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine. Er wirkte fassungslos. Magali sah es sofort. »Ist etwas passiert? Wer war das?«

»Das war der Präfekt des Päpstlichen Hauses und gleichzeitig auch Privatsekretär des Papstes, Kurienbischof Gänserich.«

»Und was wollte er von dir?«

»Er hat mir angeboten, den Vorsitz einer unabhängigen Ethik-Kommission zu übernehmen, die diverse Vergehen des Klerus untersuchen soll. Ziel ist es, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Staatskirche in der Öffentlichkeit wiederherzustellen.«

Magali fühlte eine leichte Schwäche. Für sie stand sofort fest, was dies bedeutete: Die Kirche streckte erneut ihre gierigen Finger nach Lukas aus! Nach außen hin wirkte sie ruhig, aber innerlich zitterte sie. Vorsichtshalber stellte sie den Stapel Teller auf der Anrichte ab. Sie sah ihren Mann prüfend an, erkannte, wie es in ihm arbeitete, dachte an seine Bemerkungen zur Affäre von Elsterich und verkündete: »Du solltest es deinen Eltern sagen.«

»Was meinst du?«

»Dass du dieses Angebot annehmen wirst, Lukas. Ich sehe es dir an. Einmal Jesuit, immer Jesuit. Deine Kirche ruft dich, sie braucht dich. Damit ist der Vorschlag deines Vaters vom Tisch. Das meine ich.« Magali wandte sich von ihm ab. Tränen schossen ihr in die Augen. Was war nur heute mit ihr los? So kannte sie sich selbst nicht. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie bereits länger eine dunkle Ahnung, dass sich neuerliches Unheil über ihr zusammenbraute – genau genommen seit dem Tag vor zwei Wochen, als der Bote ihr das Kuvert des Schweizer Notars mit dem Schließfachschlüssel ihrer Mutter überbracht hatte. Sie hatte in einem ersten Impuls sofort Lukas angerufen, bei seinem späteren Eintreffen jedoch behauptet, den kleinen Schlüssel im Affekt die Toilette hinabgespült zu haben.

Sie hatte es auch wirklich vorgehabt, aber im letzten Moment war sie vor dieser endgültigen und vielleicht vorschnellen Entscheidung zurückgeschreckt. Stattdessen hatte sie den Schlüssel im Gartenhaus versteckt. Es war diese Lüge, die sie beschäftigte und zermürbte. Sie stand zwischen ihr und Lukas, und ganz offensichtlich ließ sie ihr schlechtes Gewissen nun an ihm aus. Sie war ungerecht.

Lukas war mit zwei Schritten bei ihr, drehte sie zu sich herum, sah ihre Tränen und zog sie fest in seine Arme. »Mein armer Schatz, was stellst du dir denn vor? Dass ich wieder in den Orden eintrete? Sicher nicht. Ich war Jesuit, ja, aber jetzt bin ich Vater und Ehemann. Wenn du mich so gut kennst, wie du sagst, dann müsstest du wissen, dass meine Familie das Wichtigste für mich ist. Niemals würde ich eine solch weitreichende Entscheidung ohne dein Einverständnis treffen.« Lukas streichelte ihren Rücken. »Es ist das Baby, oder? Lucie hat mich gewarnt, dass dich Hormone plagen. Gar nichts ist entschieden, hörst du? Außerdem weiß ich selbst viel zu wenig über die Angelegenheit. Bischof Gänserich schickt mir die Projektunterlagen heute noch per Boten. Lass uns am Abend darüber sprechen. In Ordnung?« Magali nickte. Lukas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es wird spät. Ich muss zum Unterricht.« Er küsste sie und ging.

Hormone! Magalis irrationale Wut drängte erneut an die Oberfläche. Es waren weder die Hormone noch die Hitze, die ihr einen Streich spielten, doch sie ließ Lukas lieber in dem Glauben.

Sie fuhr sich sachte über die leichte Wölbung ihres Bauches. Unwillkürlich drängte sich in ihr Gedächtnis, wie sie nach Lukas’ Heiratsantrag tagelang mit sich gehadert hatte. Obgleich sie ihn liebte, hatte sie lange gezögert. Ohne Frage war Lukas dabei schonungslos ehrlich zu ihr gewesen und hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm in erster Linie darum ging, dass sein Sohn Matti in geordneten Verhältnissen aufwuchs – und das bedeutete für ihn und sein konservatives Weltbild: mit beiden Eltern.

Seine Vatergefühle in Ehren, aber welche Frau wollte nicht wiedergeliebt werden? In den letzten beiden Jahren hatte sich Magali so manches Mal gefragt, ob sie sich nicht selbst belogen, sich nicht alles schöngeredet hatte. Wie viel unerwiderte Liebe ertrug ein Mensch? War es ein Fehler gewesen, Ja zu sagen, in dem Wissen, dass ihre Gefühle für Lukas eben nicht so abgeklärt waren wie die seinen? Letztendlich hatte Matti den Ausschlag gegeben. Wie jeder Junge hatte er sich nach einem Vater gesehnt und Lukas vom ersten Tag an vergöttert. Es war für sie wunderbar gewesen, ihren kleinen Sohn so glücklich zu sehen. Hatte sie das Recht, ihm ein Leben mit seinem Vater vorzuenthalten, nur um sich selbst zu schützen?

Seitdem hatte sie sich an den Gedanken geklammert, dass sie Lukas noch immer verlassen konnte, bevor sie an ihrer unerwiderten Liebe zerbrach – sobald Matti groß genug wäre, um auf eigenen Füßen zu stehen. Stattdessen hatte das launische Schicksal eine Unpässlichkeit ausgenutzt und sie ungewollt zum zweiten Mal schwanger werden lassen. Und Lukas ließ keine Gelegenheit aus, um ihr zu zeigen, wie sehr er sich auf sein zweites Kind freute.

Sie hörte Matti auf seine unnachahmliche Art die Treppe herabrumpeln, gleich darauf stürmte ihr Sohn in die Küche. Sein Ungestüm riss sie aus ihren trüben Grübeleien. Sie wischte sich kurz über die Augen, sammelte sich und drehte sich mit einem Lächeln zu ihm um. »Na, du kleiner Krawaller? Hast du deinen Rucksack gepackt? Alle Bücher für heute dabei?«

»Klaro, Mami.«

»Gut«, sie reichte ihm eine blaue Plastikdose, »hier ist dein Pausenbrot, steck es ein. Aber diesmal isst du auch deinen Apfel auf und bringst ihn nicht wieder mit nach Hause, hörst du?«

»Klaro, Mami.« Matti grinste quer über das Gesicht.

»Ich kenne dich, junger Mann. Ich sagte aufessen, nicht irgendwo wegwerfen. Woanders …«

»Ja, ja, Mami«, unterbrach Matti sie altklug, »woanders verhungern die Kinder. Ich weiß. Tschüüüüüss.« Er stob davon, gefolgt von der bellenden Dreierbande. Gleich darauf fiel die Haustür ins Schloss. Die Hunde trotteten in die Küche zurück und bauten sich wie Orgelpfeifen vor Magali auf. Eine stumme dreifache Aufforderung.

Magali sah sie an, die beiden Shih Tzus und den jungen Golden Retriever, den ihre Mutter ihrem Enkelsohn in Barcelona geschenkt und den Matti Pepe getauft hatte. Pepe war schon wieder gewachsen. Magali seufzte. Auch Matti wurde viel zu schnell groß.

»Na, ihr Rabauken? Wir gehen gleich spazieren.« Drei Ruten wedelten. »Aber ich muss vorher noch telefonieren.«

Wie an jedem Morgen und Abend wählte sie die eingespeicherte Nummer des Untersuchungsgefängnisses in Barcelona. So oft es die spanischen Behörden erlaubten, sprach sie mit Consulea. Heute hatte sie kein Glück. Sie hatte für ihre Ziehmutter die teuerste Anwaltskanzlei Spaniens engagiert und sie inzwischen zweimal besuchen dürfen. Im September begann der Prozess. Sie würde alles dafür tun, um Consuela so schnell wie möglich aus dem Gefängnis zu holen.

Kurz darauf verließ sie mit den drei Hunden das Haus. Es fiel ihr nicht auf, dass sie dabei beobachtet wurde.

Kapitel 3

 

Am Abend wälzte sich Magali schlaflos im Bett. Es war nicht nur das schlechte Gewissen wegen ihrer Schlüssel-Lüge, das sie wach hielt. Ihr war klar geworden, dass sie sich in den letzten Wochen, seit ihrer Rückkehr aus dem kleinen Landhaushotel in Tirol, in einer Art trügerischen Hoffnung gewiegt hatte – schließlich hätte es seither nicht besser zwischen ihr und Lukas laufen können.

Anfangs hatte es sie zutiefst beunruhigt, als sie von der Rückkehr seiner Jugendliebe Rabea erfahren hatte. Inzwischen war sie jedoch der Überzeugung, dass es das Beste war, was ihnen hatte passieren können.

Zwei lange Jahre hatte sich Lukas abgekapselt und einer nicht erfüllten Liebe nachgetrauert. Durch den vermeintlichen Tod der Journalistin hatte er nie die Chance erhalten, richtig mit der Vergangenheit abschließen zu können. Lukas’ Jugendliebe hatte auf diese Weise mehr zwischen ihnen gestanden, als wenn Rabea noch am Leben gewesen wäre.

Nachdem die Journalistin quicklebendig wiederaufgetaucht war, hatte Lukas schließlich doch noch die Möglichkeit erhalten, mit ihr ins Reine zu kommen. Und er hatte sich für sie, Magali, entschieden!

Zum ersten Mal überhaupt hatte Magali ihr Leben als perfekt empfunden: Sie hatte ein gemütliches Heim, einen Mann, den sie liebte, einen wunderbaren Sohn, und nun erwartete sie ihr zweites Kind. Sie und Lukas würden ihre Kinder großziehen, ihnen ihre Werte vermitteln und sie auf ihr Erwachsenenleben vorbereiten. Erfüllung fanden sie beide in ihren Berufen als Lehrer und Kindergärtnerin. Das stille Glück, es war zum Greifen nahe gewesen.

Doch seit Heinrich von Stetten seinem Sohn angeboten hatte, die Von-Stetten-Stiftung alleinverantwortlich zu übernehmen, hatte eine schleichende Unruhe Besitz von ihr ergriffen. Mit jedem Tag, der verging, war ihr bewusster geworden, wie sehr sie darauf gehofft hatte, Lukas würde ablehnen. Er hatte es nicht getan, hatte sich bisher um die Entscheidung gedrückt, und deswegen hatte sie ihm unbewusst gegrollt. Sie kam nicht dagegen an. Magali war nicht stolz auf ihren Egoismus – aber die Wahrheit war, dass sie nicht wollte, dass sich ihr Leben erneut änderte –, was unweigerlich der Fall wäre, wenn Lukas das Angebot annähme. Ihr Schwiegervater war ein Vollblutunternehmer, ein Mann, der sich nie gescheut hatte, mitunter harte Entscheidungen zum Wohle seiner Firma zu treffen. Ihr Lukas war anders. Sollte er sich der Herausforderung stellen, würde dies ihr Leben erneut belasten. Was sein Vater allein entschied, würden Lukas und sie dann gemeinsam beratschlagen. Wie sie es bereits in den Fragen taten, die ihr eigenes Unternehmen betrafen, das Erbe ihrer Mutter. Lukas unterstützte sie sehr, und er konnte das Gleiche von ihr erwarten. Doch sie fürchtete, alldem nicht gewachsen zu sein. Sie war keine Unternehmerin, so wie ihre Mutter es gewesen war. Und Lukas war nicht der Unternehmer, den sein Vater in ihm sehen wollte.

Das Erbe ihrer Mutter hatte sich längst wie eine giftige Wolke über ihr Leben geschoben. Ginge es nach ihr, hätte sie sofort alles verschenkt. Abgesehen davon, dass dies eine utopische Vorstellung war, durfte sie bei ihrer Entscheidung nicht allein an sich denken, sondern musste auch die vielen Menschen, die für Van-Kampen-Enterprises arbeiteten, berücksichtigen. Weltweit waren es an die zwanzigtausend. Dieser Verantwortung konnte und wollte sie sich nicht entziehen. Sie würde jedoch auf einer weitgehenden Zusicherung bestehen, dass niemand seine Arbeit bei einem Verkauf verlor, weil Unternehmensteile zerschlagen oder weiterveräußert würden. Magali seufzte. Natürlich wusste sie, dass diese Vorstellung genauso unrealistisch war, wie alles zu verschenken. Mittlerweile wurde sie zunehmend vom Aufsichtsrat und den diversen Geschäftsführern bedrängt. Jeder schien etwas von ihr zu wollen, ihr E-Mail-Account quoll über, und ihr Handy hatte sie deshalb die meiste Zeit abgeschaltet. Für ihre privaten Telefonate hatte sie sich deshalb ein zweites Handy angeschafft. Mehrere Interessenten hatten bereits Konzepte zur Anteilsübernahme vorgelegt. Doch noch waren ihr die Hände gebunden. Van-Kampen-Enterprises waren eine Aktiengesellschaft, ihre Mutter Mehrheitsanteilseignerin. Mit ihrem Tod und dem damit verbundenen Erbe musste der Wert des Unternehmens in aktuelle Zahlen aufgeschlüsselt werden, von der Berechnung des Börsenwerts bis hin zur Ermittlung des Verkehrswertes zur Festsetzung der Erbschaftssteuer. Es war alles furchtbar kompliziert. Ihr Schwiegervater hatte ihr angeboten, sie zu unterstützen, und ihr seinen langjährigen Justiziar und Freund, Karl Benrath, zur Seite gestellt.

In den letzten Wochen hatte sie zahllose Treffen mit Wirtschaftsprüfern oder Benrath selbst gehabt, die ihr eine Vielzahl an Dokumenten mit imposanten Überschriften vorlegten. Sie musste Schriftstücke unterschreiben, von deren Inhalt sie wenig verstand. Aber sie wollte all das nicht! Weder die Verantwortung, die auf ihr lastete wie ein Fels, noch die Erinnerungen, die durch das Erbe ihrer Mutter zum Leben erweckt worden waren. Alles, wonach sie sich sehnte, war, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen und ihren ruhigen Lebensrhythmus wiederaufzunehmen. Sie hatte sich bisher an die Hoffnung geklammert, dass all ihre momentanen Sorgen, all die Verantwortung, die sie nicht wollte, nur eine vorübergehende Phase in ihrem Leben darstellten.

Sollte sich Lukas am Ende jedoch für das Angebot seines Vaters entscheiden, würden sich ihre Lebensumstände so oder so ändern. Der Gedanke daran, bei gesellschaftlichen Ereignissen repräsentieren zu müssen, behagte Magali überhaupt nicht. Bisher hatte sie die Öffentlichkeit weitgehend meiden können, die ihre Heirat in die Von-Stetten-Familie mit sich gebracht hatte – dank Lukas’ Unterstützung. Und jetzt gab es ein zweites Angebot. So wie die Dinge lagen, hatte sie die Ambitionen ihres Mannes falsch eingeschätzt; er war nicht in jenem Zufriedenheitskokon eingesponnen, den sie meinte geschaffen zu haben. Offenbar konnte er sich durchaus eine andere Perspektive vorstellen, als bis zu seiner Pensionierung als Lehrer am Melanchthon-Gymnasium zu arbeiten.

Sie hätte es wissen müssen, es entsprach dem Charakter ihres Mannes. Lukas besaß Ehrgeiz. Schließlich hatte er sich einmal zum Jesuiten berufen gefühlt und war den beschwerlichen Weg bis zur Priesterweihe gegangen. Sie hätte die Zeichen längst erkennen können, denn ihr Mann hatte kürzlich seine Arbeit an der in Rom abgebrochenen Promotion wiederaufgenommen.

Mit dem Anruf von heute Morgen war ein altes Gespenst zurück: die katholische Kirche. Es hatte bereits ihre Kindheit überschattet, weil ihre Mutter Carlotta ihren manischen Hass auf die Kirche und ihre irdischen Vertreter über alles andere gestellt und ihrer einzigen Tochter diesen Hass mit der Muttermilch eingeflößt hatte.

Magali hatte sich dem verderblichen Einfluss ihrer Mutter erst spät entziehen können; dennoch war sie bisher davon überzeugt gewesen, sich von dieser Indoktrinierung befreit zu haben. Bis der heutige Tag sie eines Besseren belehrt hatte.

Schon als Lukas sie in der Küche über den Inhalt des Telefonats mit dem Papstsekretär informierte hatte, hatte sie begriffen, wie unverbrüchlich ihre Mutter sie mit ihrem Hass auf die Kirche infiziert hatte, wie tief er in ihr verwurzelt war; er glich einem konditionierten Reflex. Sie hatte dieses Gefühl unter Kontrolle gehabt, solange die Kirche keine Gefahr für sie darstellte. Doch jetzt hatte sie erneut ihre gierigen Finger nach Lukas ausgestreckt. Weit mehr als das Angebot seines Vaters lockte ihren Mann jenes des Papstes. Lukas drängte es danach, nach Rom zu gehen, für die Kirche da zu sein und zu ihrer Rehabilitation beizutragen. Die Erkenntnis traf Magali bis ins Mark. So wie sie sich nie gänzlich von den Einflüssen ihrer Kindheit freigemacht hatte, erging es auch Lukas, der, wie er ihr erzählt hatte, als Kind viel Zeit mit seinem Onkel, dem ermordeten Bischof von Bamberg, verbracht hatte. Ihre Kindheit hatte sie beide tief geprägt. Magali fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie ein Leben lang für ihre Mutter würde bezahlen müssen.

Sie starrte an die Decke und dachte an den zurückliegenden Nachmittag. Sie hatte den Umschlag mit dem vatikanischen Siegel entgegengenommen. Der Bote hatte ihn ihr erst ausgehändigt, nachdem er telefonisch Rücksprache mit seinem Vorgesetzten gehalten und sie ihm ihren Personalausweis gezeigt hatte. Die katholische Kirche und ihre verdammte Geheimniskrämerei!

Bis zu Lukas’ Heimkehr war sie um das Kuvert herumgeschlichen, das Symbol für die Rückkehr des Feindes in ihr Leben. Natürlich war ihr klar, dass sie überreagierte. Aber sie kam nicht dagegen an, war zwischen Anspannung und Gereiztheit gefangen. Kein zuträglicher Gemütszustand für eine Schwangere und leider förderlich für Kurzschlusshandlungen – wie sie noch feststellen würde.

Lukas hatte zwei Stunden über dem Inhalt der Projektmappe gebrütet. Für Magali waren es die zwei längsten Stunden ihres Lebens gewesen. Nachdem sie Matti mit den üblichen abendlichen Querelen – »Ich bin aber noch gar nicht müde, Mami!« – zu Bett gebracht hatte, hatte sie sich zu Lukas gesellt und sich dem unerwarteten Vorstoß aus Rom gestellt. Schlussendlich war ihre Diskussion in ein hitziges Wortgefecht ausgeartet. Magali musste zugeben, dass sie Lukas zugesetzt hatte. Warum hatte er aber auch erneut ihre Schwangerschaftshormone ins Spiel bringen müssen? »Warum müssen Männer Frauen immer auf ihre Emotionen reduzieren?«, hatte sie ihn daraufhin angefahren.

Am Ende hatte sie sich selbst überrascht und einen Entschluss gefasst, mit dem sie ihrem Mann quasi einen Freibrief ausstellte. »Ich werde dir nicht im Weg stehen, Lukas. Im Gegenteil, ich möchte, dass du das Angebot des Papstes annimmst. Es ist eine reizvolle Aufgabe, und ich kann gut verstehen, dass es dich dazu drängt. Was ich aber keinesfalls möchte, ist, dass du wegen mir darauf verzichtest und das irgendwann zwischen uns steht.«

»Aber du bist schwanger, und …«

»Wenn du jetzt noch einmal die Worte schwanger oder Hormone in den Mund nimmst, ich schwöre dir, Lukas, bekomme ich einen Schreikrampf!«

Lukas lächelte schief. »Noch einen? Das werde ich sicher nicht riskieren. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich dich während deiner Schwangerschaft nicht allein lassen will. Ich habe bereits die von Matti versäumt.«

»Da hast du nicht viel verpasst und wirst du auch jetzt nicht. Ich werde jeden Tag dicker, unansehnlicher und damit unausstehlicher. Außerdem wäre es nur für ein halbes Jahr. Mit dem Flugzeug ist man in drei Stunden in Rom. An den Wochenenden kommst du entweder nach Hause oder Matti und ich besuchen dich. Und zur Geburt wirst du ja wohl freibekommen. Ich rufe dich bei der ersten Wehe an, versprochen. Also, worauf wartest du? Auf nach Rom!«

»Du bist einfach unglaublich, Magali. Weißt du das?«

Endgültig entschieden hatte sich Lukas noch nicht. Zumindest behauptete er das, als er sie in seine Arme zog.

Dafür stand ihr eigener Entschluss fest. Sie würde in die Schweiz reisen. Magali war endlich klar geworden, warum sie den Schlüssel zum Schließfach ihrer Mutter behalten hatte.

Kapitel 4

Berlin/Deutschland

Der Taxifahrer hatte es sich nicht nehmen lassen, Rabeas Rollkoffer und ihre Reisetasche bis vor ihre Wohnungstür zu tragen. Sie bedankte sich mit einem Extra-Trinkgeld und schloss die Tür auf.

Ihre neue Wohnung im Berliner Bezirk Pankow lag nur einen Straßenzug von ihrer alten Wohnung entfernt, die nach ihrem vermeintlichen Tod aufgelöst worden war. Jules hatte dafür Sorge getragen, dass ihre Möbel und Habseligkeiten unter falschem Namen eingelagert worden waren. Ihr neuer und alter Arbeitgeber, der Berliner Sender, der sich neuerdings BBCo. – Berlin Broadcast Company – nannte, hatte ihr die Wohnung besorgt. Bereits vor ihrer Reise nach Washington hatte sie den Spediteur beauftragt, ihre Sachen an die neue Adresse zu liefern.

Da sie das Auspacken auf ihre Rückkehr verschoben hatte, sah es in ihrer Wohnung entsprechend aus. Überall standen wahllos Umzugskisten verteilt, und auf dem hellen Laminat wimmelte es von schmutzigen Schuhabdrücken. Rabea seufzte. Aufräumen und Putzen. Ihre absoluten Lieblingsbeschäftigungen … Zunächst aber brauchte sie einen richtigen Kaffee. Das dünne Gebräu, das man in der Touristenklasse einer amerikanischen Airline vorgesetzt bekam, verdiente diese Bezeichnung kaum.

Danach würde sie die Redaktionssekretärin anrufen. Gerda Pratschke sammelte nicht nur mit Leidenschaft Entenfiguren aller Art, sondern war, wie sich unlängst herausgestellt hatte, auch eine große Katzenliebhaberin. Frau Pratschke hatte sich sofort bereit erklärt, Rabeas kosmopolitisches Kätzchen, das bereits Tanger, London und nun auch Berlin bereist hatte, während Rabeas Abwesenheit zu versorgen. Seit London besaß es auch einen Namen. Hobbit. Ryan hatte es so getauft. Weil es genauso klein war und eine beinahe so lange und gefährliche Reise hinter sich gebracht hatte wie Frodo und seine Gefährten. Die Erinnerung an den großen, durchtrainierten DIA-Agenten Ryan MacKenzie, wie er bäuchlings auf dem Teppich lag und mit der winzigen Hobbit spielte, zauberte ein Lächeln auf Rabeas Gesicht. Unvermittelt fror ihr Lächeln ein. Aus dem Augenwinkel hatte sie eine Bewegung wahrgenommen. Sie war nicht allein! Jemand war in ihrem Schlafzimmer!

Blitzschnell kalkulierte Rabea ihre Möglichkeiten. Zurück zur Haustür konnte sie nicht, dazu müsste sie am Schlafzimmer vorbei, dessen Zugang sich links hinter ihr befand. Blieb als Fluchtpunkt das Wohnzimmer mit der integrierten Küchennische. Küche! Messer! Sie brauchte ein Messer! Dann fiel ihr ein, dass sie den Messerblock noch gar nicht ausgepackt hatte, und sie verfluchte ihre Nachlässigkeit. Aber sie könnte dennoch versuchen, die Wohnzimmertür zu verschließen, auf den Balkon zu flüchten und von dort aus Hilfe zu rufen. Ihr Handy steckte in der Jackentasche. Sie ließ sich nichts anmerken, machte einen Schritt auf das Wohnzimmer zu, hatte bereits die Schwelle erreicht, als eine männliche Stimme hinter ihr sagte: »Willkommen zurück. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Rückreise, Frau Kennedy.«

Rabea fuhr herum. In der Schlafzimmertür stand ein gedrungener Mann mit olivenfarbener Haut und kahlem Kopf. Neben seiner eleganten Aufmachung im Nadelstreifenanzug, lila Seidenhemd und Hermès-Krawatte fiel Rabea die goldene Nadel in Form eines Kamels auf, und dass seine Hände in schwarzen Lederhandschuhen steckten. Sie versteifte sich. Dieser Eindringling wollte keine Spuren hinterlassen. Dennoch war er gekleidet wie ein Dandy, so auffällig wie ein Rabe zwischen einer Schar weißer Tauben. Da Rabea nicht davon ausging, dass er geistig beschränkt war, tippte sie auf das Selbstbewusstsein arabischer Despoten. Oder er war einfach nur ein eitler Fatzke.

Der Mann ließ ihr Zeit, um ihn zu sondieren. Dabei lächelte er höflich und wirkte so entspannt, als wären sie heute verabredet gewesen. Ein Profi, kaltblütig bis in die Fingerspitzen. Rabea ahnte seit der ersten Sekunde, mit wem sie es zu tun haben dürfte. »Ich nehme an, Ihr Name lautet Yussuf?«

»Ah, ich sehe, unser gemeinsamer Freund Lafitte hat Ihnen bereits von mir erzählt! Ich hoffe, mit Rücksicht auf Ihre Gesundheit, dass es nicht zu viel war. Wollen wir uns setzen?« Er vollführte eine Geste in Richtung Wohnzimmer, als wäre er der Hausherr.

»Nein, ich stehe gern.« Rabea sah keinen Grund, höflich zu sein. »Warum sind Sie hier? Was wollen Sie?«

Der Mann schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf. »Unhöflichkeit ist der Untergang des Abendlandes.«

»Ach ja?«, erwiderte Rabea beißend. »Wie höflich ist es denn, in meine Wohnung einzubrechen? Aber da Sie scheinbar so viel Wert darauf legen … Dann seien Sie jetzt so höflich und verschwinden. Ich bin müde und würde gerne einen Kaffee trinken. Und zwar allein.«

Der Mann lachte sichtlich amüsiert. »Sie sind sehr erfrischend, Frau Kennedy, oder darf ich Sie Rabea nennen?«

»Ich ziehe Rosenthal vor.«

»Stolz auf die jüdische Herkunft?«

»Was wollen Sie von mir?«, ging Rabea nicht darauf ein.

»Ich schätze es, wenn meine Gesprächspartner gleich zur Sache kommen. Ihrer Bitte, Sie zu verlassen, werde ich entsprechen, allerdings erst, wenn Sie sich kooperativ gezeigt haben und meine Frage beantworten. Wo ist Ihr Freund Lafitte?«

Jetzt war es an Rabea, Heiterkeit zu zeigen. »Damit beleidigen Sie seine Intelligenz. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass er mir das verraten hat?«

»Vermutlich nicht. Aber Sie haben sicher eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte … Außerdem werden Sie etwas vereinbart haben, eine Art Code, wie Sie in Kontakt treten können. Ein toter Briefkasten, ein bestimmtes Kleidungsstück, das Sie tragen, oder eine Anzeige in einer Zeitung. Es gibt viele Möglichkeiten.«

»Weder noch. Ich habe die letzten beiden Jahre isoliert verbracht. Das müssten Sie doch wissen.« Rabea lächelte verbindlich.

Yussuf trat einen Schritt auf sie zu. Jegliche Jovialität war aus seinem Gesicht getilgt. Rabea widerstand dem Impuls, einen Schritt zurückzuweichen. Nach außen hin unbeeindruckt, hielt sie dem Blick seiner kleinen, stechenden Augen stand, während sich ihr Herzschlag beschleunigt hatte. Sie würde keinesfalls den Fehler begehen, diesen Mann zu unterschätzen.

»Geben Sie mir Ihr Handy.« Yussuf streckte seine Hand auffordernd aus. Rabea wich nun doch einen Schritt zurück.

»Nein.«

Plötzlich hielt Yussuf eine Waffe mit Schalldämpfer in der Hand. Er musste den Taschenspielertrick lange geübt haben, die Geschwindigkeit, mit der dies geschehen war, grenzte an Zauberei. »Sie sind zu klug, um zu diskutieren. Sie wissen, dass Sie keine Wahl haben, als zu kooperieren. Es sei denn, Sie möchten hier und jetzt sterben. Möchten Sie sterben, Rabea?« Das letzte Wort klang sanft und lauernd zugleich.

Einen unausgeglichenen Moment lang war die rebellische Rabea in ihr versucht, Ja zu sagen. Einfach, um zu sehen, wie Yussuf darauf reagieren würde. Sie glaubte nicht, dass er sie töten würde. Nicht sofort jedenfalls. Noch brauchte er sie. Sie war seine einzige real existierende Verbindung zu Jules. Aus Yussufs Sicht hatte Jules seine gesamte Existenz für sie riskiert, sie war der Grund für sein Untertauchen. Rabea verneinte nun seine Frage, indem sie stumm den Kopf schüttelte.

»Gut, gehen Sie voran ins Wohnzimmer und setzen Sie sich.«

Rabea tat wie geheißen und ging mit gesenktem Kopf voraus. Dabei drehte sie sich gerade so weit, dass Yussuf hinter ihr nicht sehen konnte, wie sie mit der Hand unauffällig in die Tasche ihres Blazers fuhr und nach ihrem Handy tastete. Sie konnte so tun, als hätte die Sicherheitskontrolle am Flughafen ihr Mobiltelefon außer Gefecht gesetzt. Aber was sollte das bringen? Yussuf würde es mitnehmen; ein Mann wie er hatte zweifellos genug Leute an der Hand, die ihr Handy knacken konnten. Und wenn schon … Über Jules würde er ganz sicher nichts darauf finden. Jules würde auf eine andere Art mit ihr in Kontakt treten – falls er es wollte. Und natürlich hatte Yussuf recht, es gab den geheimen Code. Dann durchzuckte sie ein Gedanke. Aber ja! Sie hatte doch etwas, das sie gegen ihn einsetzen konnte! Ihr zweites Handy. Das, das sie aus den USA mitgebracht hatte. Ihre Daten waren darauf gespiegelt, aber es verfügte im Gegensatz zu ihrem anderen Handy über ganz spezielle Features. Es war in der Tat ein smart phone, und es steckte in ihrer linken Jackentasche. Es konnte funktionieren – solange Yussuf nicht auf die Idee kam, sie zu durchsuchen.

»Ihr Mobiltelefon, Rabea. Sofort.« Yussuf wedelte herrisch mit der Hand. Er hatte einen Handschuh ausgezogen, und ein protziger Siegelring mit einem gelbstichigen Stein blitzte an seinem Finger auf. Rabea sah, dass Jules’ Feind inzwischen sein eigenes Telefon auf den Tisch gelegt und ein USB-Kabel angeschlossen hatte. Er wollte die Daten von ihrem Handy herunterladen? Wieso nahm er es nicht einfach mit? Rabea wunderte sich, aber nur kurz. Dann fiel ihr Blick auf die Pistole, die demonstrativ daneben lag.

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der der Mann damit hantiert hatte, unterdrückte Rabea den Impuls, sich darauf zu stürzen. Es wäre Selbstmord, zu versuchen, ihn mit der eigenen Waffe zu erschießen – obwohl der Gedanke durchaus seinen Reiz hatte. Aber es würde allenfalls ihr momentanes, nicht jedoch Jules’ Problem lösen. Yussuf war kein Einzelkämpfer. Er hatte ziemlich unangenehme Geschäftspartner und vier erwachsene Söhne. Jules hatte ihr das beim Abschied klar zu verstehen gegeben. »Ich würde die Welt liebend gern von diesem stinkenden Dunghaufen erlösen, Rabea. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Alles, was ich damit erreichen würde, wäre, einen blutigen Rachefeldzug heraufzubeschwören. Ich muss diese Angelegenheit anders lösen. Auf meine Weise.«

Jules hatte es nicht ausgesprochen, aber Rabea hatte ihn auch so verstanden. Es ging Jules primär um die Opfer, die er vermeiden wollte. Was auch immer zwischen Jules und Yussuf vorgefallen war und Jules gezwungen hatte, von der Bildfläche zu verschwinden, ihr Freund hatte es als zu gefährlich eingestuft, um sie einzuweihen.

Ihr Blick wanderte jetzt von der Pistole zurück zu Yussuf. Sie zog ihr zweites Smartphone aus der linken Tasche, entsperrte es und reichte es ihm. Mit ausdrucksloser Miene hantierte er damit. Nachdem er die Datenübertragung beendet hatte, wischte er ihr Handy mit seinem seidenen Einstecktuch ab. Zuletzt streifte er seinen Handschuh über und schob ihr das Mobiltelefon über den Tisch zu. Er gab es ihr zurück? Einfach so? Rabea vermutete sofort eine Hinterlist.

»Das war doch leicht, oder?« Yussuf lächelte überlegen. Rabea wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen. Wie so oft in brenzligen Situationen war ihre Wut größer als ihre Angst. Dieser selbstherrliche Großkotz! Er war Waffenhändler, wusch Schwarzgeld, finanzierte Terroristen. Krebsgeschwüre wie er waren schuld, dass die Welt nicht zur Ruhe kaum. Sie streuten die Tumore, die einen Krieg nach dem anderen provozierten. Sie musste an sich halten, um ihren Hass nicht offen zu zeigen, gleichzeitig spürte sie auch Befriedigung. Wenn Yussuf ihr das Handy zurückgab, konnte es dafür nur einen Grund geben: Er wollte nicht ihre Daten von ihrem Handy abrufen, sondern seine eigenen Daten aufspielen: Ein kleines Schadprogramm, dazu geschrieben, mit Yussuf Kontakt aufzunehmen, sobald Rabea ihr Handy nutzte. Sollte sie es mit ihrem Laptop und ihrem Tablet verbinden, konnte er vermutlich diese Geräte ebenfalls ausspionieren. Bei dieser Aktion ging es Yussuf einzig um den künftigen Zugriff. Nur deshalb hatte er auf sie gewartet und mit ihr geplaudert, anstatt sie mit Nachdruck zu überreden.

Was Rabea weit mehr ärgerte als ihr verseuchtes Handy, war der Umstand, dass Yussuf sie offenbar für dämlich hielt. Nach seinem Selbstverständnis war eine Frau ohne die männliche Hilfe aufgeschmissen. In seiner beschränkten Sichtweise auf die Welt im Allgemeinen und auf die Frauen im Besonderen würde ihm im Traum nicht einfallen, dass seine Rechnung nicht aufgehen würde. Sie hatte ihn längst ausgetrickst –