Die Alb, die Liebe und der Tod - Martina Fiess - E-Book

Die Alb, die Liebe und der Tod E-Book

Martina Fiess

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Beschreibung

Frech, ironisch, spannend und mit einer guten Prise Romantik. Kunsthistorikerin Isabella ertappt ihren Verlobten und Chef in flagranti mit einer Arbeitskollegin. Hals über Kopf flieht sie auf die Schwäbische Alb und übernimmt eine Pension am Albtrauf. Während sie mit den Tücken des Landlebens kämpft, gerät sie nicht nur in Verdacht, falsche Gutachten für ein Auktionshaus in Auftrag gegeben, sondern auch einen Mord begangen zu haben. Auf der Suche nach dem wahren Täter kommt Isabella dem eigenwilligen Maler Leon näher, der deutlich mehr weiß, als er zunächst zugibt …

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Martina Fiess stöberte als Journalistin so manche Leiche im Keller anderer Leute auf, trennte als Sachbuchlektorin Fiktion von Fakten und manipulierte als Werbetexterin den schönen Schein. Dank dieser perfekten Vorbildung veröffentlichte sie bereits zahlreiche unterhaltsame Kriminalromane und Kurzgeschichten. Seit einigen Jahren pendelt Martina Fiess zwischen Stuttgart und Schwäbischer Alb.

www.martina-fiess.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Simon Dux Media

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-971-6

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde gefördert im Rahmen des Stipendienprogramms der VG WORT in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Über jeden Berg gibt es einen Weg,

der jedoch vom Tal aus nicht sichtbar ist.

Prolog

Bald ist sie tot. Dann werde ich eine Sorge weniger haben.

Der Mann lehnte sich im Fahrersitz zurück und wartete geduldig. Im schwarzen Lack seines Wagens spiegelte sich das grellweiße Licht der Straßenlaternen. Der Audi TT stand in einer menschenleeren Seitenstraße gegenüber einem Industriebau. Hinter den beleuchteten Fensterreihen des Fitnessstudios im oberen Stockwerk sah er Menschen auf Fahrrädern in die Pedale treten. Erhitzte Gesichter mit Stirnbändern bewegten sich rhythmisch auf und ab. Durch die gekippten Fenster schallte Musik nach draußen auf den vollgestellten Parkplatz.

Als die Tür im Erdgeschoss aufschwang und eine junge Frau herauskam, krallten sich seine Finger um das Lenkrad. Seit Tagen hatte er ihre Gewohnheiten studiert, und heute würde er es tun. Endlich. Sie lief über den Parkplatz, das blonde Haar wehte hinter ihr her wie ein Schleier. Ihr hellblaues Top hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen.

Eine schöne Frau, dachte er bedauernd. Schade, dass ihr Leben nun enden würde. Aber er hatte keine andere Wahl. Sie wusste zu viel.

Die Frau verließ den Parkplatz und ging die verlassene Straße entlang. Er wartete, bis sie nur wenige Meter vor ihm die Fahrbahn passierte und in die dunkle Gasse eintauchte. Fragte sie sich nicht, warum die Straßenlaternen in diesem Abschnitt nicht funktionierten? Er kannte die Antwort. Gestern Nacht hatte er die Glühbirnen mit gezielten Steinwürfen zerschmettert und die Scherben eingesammelt. Keine Spuren hinterlassen, darauf achtete er.

Ihre Leiche würde er auf der Alb in der Nähe von Ochsenwang deponieren. So konnte er den Verdacht auf jemanden lenken, der sie hasste und mehr als genug Gründe hatte, sie umzubringen.

Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und hörte, wie der Motor ansprang und zufrieden schnurrte. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, gab er behutsam Gas und folgte der jungen Frau auf dem Weg zu ihrem Wagen. Er warf einen Blick in die Rück- und Seitenspiegel und vergewisserte sich, dass es keine Zeugen gab.

Dienstag

Ausgerechnet die Schwäbische Alb! Isabella legte den fünften Gang ein und zog ihr Auto nach links auf die Überholspur. Denn genau dort gehörte sie hin. Auf die Überholspur. Die Straße der Gewinner. Aber leider lag ihre Zukunft nicht in Paris oder Barcelona, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte. An diesem trüben Mai-Nachmittag führte ihr Weg in irgendein Minikaff auf der Schwäbischen Alb, in dem die Schafe den ganzen Tag über gelangweilt blökten.

Noch vor zwei Wochen hätte sie Mark und Bein geschworen, dass ihr nächstes Zuhause ein Penthouse im Stuttgarter Nobelviertel Killesberg sein würde, wo die oberen Zehntausend standesgemäß in Halbhöhe residierten. Eingerichtet in geschmackvollen Beige- und Rosétönen, mit edler Bulthaup-Küche und original venezianischem Kronleuchter.

Mit einem herrischen Hupen blies der Fahrer hinter ihr zur Jagd auf ihren Kleinstwagen. Vor lauter Selbstmitleid hatte sie tatsächlich vergessen, dass sie keinen Sportwagen mehr fuhr, sondern ihren altersschwachen Agila aus Studienzeiten. Der Kastenwagen war nur dann überholspurtauglich, wenn die Straße bergab führte und der Rückenwind zusätzlich mithalf, was auf der flachen Strecke über die Filderebene nicht der Fall war.

Isabella passierte ein futuristisches Gebäude der Landesmesse mit schwingendem Dach. Sie tauchte in den Schatten des monströsen Parkhauses mit dem überdimensionierten blutroten Firmenschriftzug eines weltbekannten Automobilzulieferers ein. Trotz des gewaltigen Lärms, den der Motor des Agilas bei diesem Tempo produzierte, hörte Isabella das Kreischen eines startenden Flugzeugs. Kaum war die Maschine verschwunden, hupte es erneut.

Isabella schaute in den Rückspiegel und stieß einen Seufzer aus. Eine weitere Gemeinheit des Schicksals. Ausgerechnet ein schwarzer Audi TT Coupé hing an ihrem Kofferraum. Bis vor ein paar Tagen hatte sie genau dieses Modell gefahren. Für die Verlobte des Juniorchefs eines renommierten Auktionshauses war das nur standesgemäß gewesen.

Die Fernlichter des rassig schönen Automobils blendeten mehrmals auf und ließen keinen Zweifel daran, wo der Platz aller Agilas war: eindeutig auf der rechten Fahrspur. Besonders im autofixierten Bundesland Baden-Württemberg, in dem man nicht ohne Grund vom »Heiligs Blechle« sprach.

So einfach wollte sich Isabella nicht in die zweite Reihe drängen lassen. Energisch trat sie das ausgeleierte Gaspedal durch. Aus dem Motorraum des Agilas drang der Geruch von verschmortem Gummi in die Fahrerkabine.

»Komm, altes Mädchen«, spornte Isabella ihren Wagen an. »Wir werden uns jetzt keine Blöße geben.«

Zentimeter für Zentimeter quälte sie sich an einem Möbellaster vorbei und scherte wieder auf die Verliererspur ein. Am Seitenstreifen tauchte ein Hinweisschild in einem geschmacklosen Braunton auf und wies auf die nächstgelegene Sehenswürdigkeit hin. Unter dem Wort »Nürtingen« war die Silhouette einer Kirche abgebildet.

Nürtingen? Von einer Stadt mit diesem Namen hatte Isabella noch nie gehört. Und wenn, dann hatte sie sie sofort wieder vergessen. Obwohl, war da nicht was mit Hölderlin gewesen? Egal. Bis ihre Ausfahrt nach Schwäbisch Sibirien kam, hatte sie noch ein paar Kilometer Gnadenfrist.

Gedemütigt sah sie dem schwarzen Audi TT hinterher. Das Sportcoupé zog so mühelos an ihr vorbei, als würde sie gar nicht existieren. Womit der Fahrer durchaus richtiggelegen hätte. Isabella Walser, dreiunddreißig Jahre alt, Kunsthistorikerin, aufstrebende freie Mitarbeiterin des renommierten Stuttgarter Auktionshauses Lichtenstein und Verlobte des gut aussehenden Juniorchefs, gehörte der Vergangenheit an. Statt der festen Anstellung, auf die sie gehofft hatte, und des Aufstiegs in die Geschäftsführung hieß es nun Aushilfsjob in der Einöde.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Schwäbische Alb. Das langweilige Mittelgebirge kannte sie bisher nur von längst verdrängten Wandertouren mit den Eltern. Und von eher beiläufigen Blicken aus dem Seitenfenster, wenn sie Richtung »Bella Italia« oder in angesagte Wintersportorte gefahren und die Burg Teck südlich der A8 am Horizont erschienen war.

Dennoch ahnte Isabella, was sie erwartete: ein unverständlicher Dialekt aus Kehllauten wie »ra« und »dr«, nach Gülle stinkende Felder-Ödnis und aufgemotzte Audis mit wortkargen, pickelgesichtigen Fahrern, die samstagabends die Landeshauptstadt verstopften, weil sie die Sehnsucht nach der großen weiten Welt packte.

Unwillkürlich gab Isabella Gas, leider etwas zu heftig. Die Absätze ihrer Manolo Blahniks verhedderten sich in der abgewetzten Fußmatte. Ein paar Sekunden lang trudelte der Agila zwischen Mittellinie und Schutzplanken hin und her, bis sie ihre Edeltreter freibekommen hatte.

Plötzlich spürte sie ein dumpfes Vibrieren. Es kam von draußen. Im Rückspiegel sah sie einen riesigen Lastwagen heranpreschen. Der Fahrer hatte seine rote Ferrari-Kappe in die Stirn gezogen und schien sie anschieben zu wollen.

Isabella fühlte sich peinlich berührt. Sogar der Vieltonner war auf dem leichten Gefälle schneller.

Als sie den Blick im Spiegel senkte, landete er auf dem Rücksitz. Dort thronten ein Umzugskarton mit Kunstbänden, zwei pinkfarbene Hartschalenkoffer, ein silbernes Beautycase und ein in Luftpolsterfolie verpacktes Gemälde – das war alles, was sie bei der überstürzten Flucht mitgenommen hatte.

Der Tag, an dem Isabellas Leben ohne Vorwarnung auf den Kopf gestellt worden war, hatte wie üblich mit einem doppelten Espresso begonnen. Sie hatte an der Marmorplatte des Stehtischs gelehnt, der den Küchenbereich in der luxuriösen Penthouse-Wohnung vom Esszimmer trennte. Während sie genießerisch an dem kleinen Schwarzen in ihrer Hand schnupperte, glitten ihre Augen erfreut über den attraktiven Mann, der barfuß und nur mit grauen Boxershorts bekleidet am Herd stand.

Alex schien ihren hungrigen Blick zu fühlen. Er drehte sich um und deutete mit dem Bratwender auf das köstlich duftende Kaviar-Omelett in der Pfanne. »Frühstück für die Dame des Hauses?«

Isabella lächelte und ignorierte das erfreute Knurren ihres Magens. »Nein, danke, Schatz. Ich muss los.« Sie trank den Espresso aus, stellte die Tasse auf den Marmortisch und fuhr Alex zum Abschied liebevoll durch die verwuschelten sandfarbenen Haare, die ihm einen unwiderstehlichen Out-of-bed-Look verliehen. »Angermaier hasst es, wenn man ihn warten lässt.«

Der mittelständische Unternehmer Hannes Angermaier mehrte um diese Uhrzeit normalerweise sein Vermögen durch die Produktion von Halbleiterplatten. Heute wollte er sich ausnahmsweise eine Auszeit nehmen, um Isabella persönlich seine wertvolle Sammlung von Kupferstichen zu zeigen. Dabei würde er jede Gelegenheit nutzen, um auf ihren Hintern zu starren. Das nahm sie in Kauf. Sie hoffte, dass Angermaier ihr einige seltene Stadtansichten von Stuttgart für die nächste Versteigerung im Auktionshaus überließ, in dem sie seit fast zwei Jahren arbeitete. Wenn dieser Coup gelang, würde sie endlich bei Alex’ kritischem Vater punkten können, der sich hoffentlich bald in den Ruhestand zurückziehen würde.

Eine Stunde später hatte sich Isabella zwei von Angermaiers Kupferstichen gesichert, ohne auf seine Avancen einzugehen. Hocherhobenen Hauptes, wenn auch mit flauem Magen, war sie aus der protzigen Unternehmervilla mit ihren geschmacklosen vergoldeten Wasserhähnen und der von Löwenstatuen gesäumten Garagenzufahrt in exklusiver Degerlocher Waldrandlage gestöckelt. Auf die Butterbrezel, die Angermaier ihr nach seiner Privatführung angeboten hatte, hatte sie dankend verzichtet. Wegen der drohenden Fettflecke auf ihrem Kleid und weil sie dem gönnerhaften Patriarchen nicht kauend gegenübersitzen wollte. Das hätte ihre Position als ernst zu nehmende Geschäftspartnerin geschwächt.

Zur Belohnung beschloss Isabella, auf dem Weg in das Auktionshaus einen Zwischenstopp einzulegen und sich zu Hause eines der knusprigen Mohncroissants zu gönnen, die Alex am Morgen vom Bäcker geholt hatte.

Zufrieden mit sich und der Welt parkte sie ihren schwarzen Audi TT vor der Villa in der Hasenbergsteige. Drei Monate zuvor war sie in Alex’ elegantes Loft im obersten Stock eingezogen und genoss seitdem jeden einzelnen Tag an der Seite ihres Traummanns.

Als sie die Wohnung betrat, hing der Duft des Kaviar-Omeletts noch in der Luft. Isabella ließ ihre Umhängetasche auf die Terrakottafliesen im Flur fallen, streifte im Gehen die Stilettos ab und steuerte die Küche an. Durch die verglaste Südseite flutete die Frühjahrssonne herein und tauchte das Loft in warmes gelboranges Licht.

Isabella ging am Schlafzimmer vorbei. Ein Geräusch ließ sie innehalten. Es klang, als würde Stoff rascheln. Jemand atmete tief aus. Und dann … war das ein Lachen? Die Putzfrau konnte es nicht sein, denn die kam freitags.

Die Tür zum Schlafzimmer war einen Spaltbreit geöffnet, bemerkte Isabella. Sie trat näher. Der herbe Duft von Alex’ Duschgel stieg ihr in die Nase. Ihr Blick fiel auf eine blonde Hochsteckfrisur, aus der sich einzelne Strähnen gelöst hatten. Was auch an der Männerhand liegen mochte, die sich darin verkrallte. Ein zarter Nacken, nackte Schultern, genussvolles Stöhnen.

Die Blondine thronte auf der seidenen Bettdecke wie auf einer maisgelben Wolke und wandte Isabella den Rücken zu. Das goldfarbene Haar passte farblich perfekt zur Bettwäsche, wie Isabella als visuell orientierte Kunsthistorikerin automatisch registrierte. Dann visierte sie die Hand in der Hochsteckfrisur an. Und den mattierten Platinreif am linken Ringfinger. Darüber tauchte das lustverzerrte Gesicht des Mannes auf. Sein Mund war offen und er keuchte. Das sandfarbene Haar war zerzaust. Mit geschlossenen Lidern genoss Alex die sexuelle Liebkosung der Blondine, die sich auf seinem Schoß auf und ab bewegte.

Nichts wie weg hier! Um die deprimierende Erinnerung hinter sich zu lassen, drückte Isabella das Gaspedal des Agilas bis zum Anschlag durch. Kaum hatte sie Schwung gewonnen, schoss von links etwas Großes, Blaues heran und scherte vor ihrer Fronthaube auf die Fahrbahn ein.

Isabella trat hart auf die Bremse, um nicht auf den Pick-up aufzufahren, dessen Laderampe kaum mehr als drei Meter vor ihr wie eine blaue Wand aus Metall aufragte. Ihre Handflächen wurden feucht, und sie umklammerte das Lenkrad fester. Abrupt und ohne zu blinken, bog der Pick-up in die Ausfahrt Kirchheim/Teck-West ein.

Erneut bremste Isabella. Der Agila brach nach rechts aus, als wäre er auf eine Ölspur geraten, und schlingerte auf die Schutzplanke zu. Sie löste den Stiletto von der Bremse und steuerte sachte nach links gegen, bis der Agila sich wieder in der Spur befand.

Während ihr Puls sich beruhigte, warf sie einen Blick zur Hügelkette des Albtraufs. Die Autobahn folgte seinem Verlauf bis zum Albaufstieg. Auf einem erstaunlich hohen Hügel – oder war das ein Berg? – machte sie den runden weißen Turm von Burg Teck aus, der sich über reichlich Gemäuer in den frühlingsblauen Himmel schob. Wenn sie sich richtig erinnerte, war die Burg ein Nachbau aus dem 19.Jahrhundert und wurde als Wanderheim genutzt.

Bei dem Gedanken an muffelnde Wollsocken und karierte Wanderhemden rümpfte Isabella die Nase. Wandern war mit Abstand die schlimmste Freizeitbeschäftigung, die sie sich vorstellen konnte. Sinnlos durch die Gegend zu trampeln war nur etwas für Menschen, die mit ihrem Leben wirklich nichts Besseres anzufangen wussten. Oder die kein Geld für andere Hobbys hatten, wie es bei ihren Eltern der Fall gewesen war.

Die Burg wirkte noch genauso langweilig wie bei ihrer Fahrt zur Mailänder Möbelmesse im April. Dort hatten sie und Alex nach jungen Designern Ausschau gehalten. In ihrem Fünfsternehotel hatte Alex ein romantisches Abendessen auf der Dachterrasse arrangiert. Champagner und Austern mit phänomenalem Blick auf die weltberühmte Domfassade.

Isabella wurde es eng im Hals. Fast erleichtert begrüßte sie ein Hinweisschild für die nächste Ausfahrt, das ihre Aufmerksamkeit forderte. An die grobe Anfahrtsbeschreibung, die ihre Schwester Angie ihr gestern am Handy durchgegeben hatte, erinnerte sie sich nur vage. Sie wusste nur noch, dass sie hier die Autobahn verlassen musste. Als Eselsbrücke hatte sie sich den ersten Buchstaben »O« von Kirchheim-Ost gemerkt – »o« wie öde. Entschlossen setzte sie den Blinker.

Angies Hotel lag dreihundert Meter höher in einem kleinen Kaff, zu dem eine kurvige Straße hinaufführte. Isabella durchquerte einen Ort namens Nabern und fuhr durch einen Kreisverkehr. Unterwegs staunte sie, wie grün die Landschaft hier war. Überall Bäume, Büsche, Wiesen und Wälder.

Womit beschäftigen sich die Menschen hier nur, ganz ohne Cafés, Restaurants, Galerien oder Museen?, fragte sie sich.

An einem Hügel vorbei, hinter dem sich ein kegelförmiger Berg aus der Ebene schob, ging es steil aufwärts. Nach einer Haarnadelkurve öffnete sich eine weite Fläche. Ein Ortsschild begrüßte Isabella in Ochsenwang. Sie folgte den Anweisungen ihrer Schwester und landete auf einer schmalen Straße mit dicht gedrängten Häusern, die ins Niemandsland zu führen schien.

Isabella schaltete einen Gang zurück und löste den Sicherheitsgurt, während sie sich nach einem repräsentativen Hotelgebäude umsah. Die Straße ging in einen Feldweg über. Rechter Hand erstreckte sich ein Acker. Auf der zerfurchten Fläche reihten sich grüne Pflänzchen. Ein stechender Geruch drang in das Wageninnere. Kuhmist. Wo sollte sich in dieser gottverlassenen Gegend ein gehobenes Landhotel befinden?

Plötzlich tauchte vor ihr auf dem Weg ein rötliches Etwas auf. Isabella riss das Lenkrad herum. Es polterte heftig, und sie wurde durchgeschüttelt. Abrupt kam der Agila zum Stehen. Der Motor starb ab. Isabella knallte mit der Stirn an die Frontscheibe.

Bissiger Ammoniakgestank stieg ihr in die Nase. Von irgendwoher kam eine weibliche Stimme, die »Gott sei Dank« und »Lucinda« rief.

Vermutlich hatte sie ein Schleudertrauma erlitten, und zwar im Hörzentrum ihres Gehirns. Isabella sank gegen die Kopfstütze und fasste sich benommen an die Stirn. Um sie herum war alles braun. Sie war mitten in dem gülleverseuchten Acker gelandet. Und sie hatte Visionen. Denn etwas anderes konnte das da vor ihr nicht sein. Eine Gestalt in einem bunten, wallenden Kleid fing ein aufgescheuchtes Huhn ein, dessen Gefieder fast denselben Farbton wie die orangeroten Korkenzieherlocken der Frau hatte.

Sie klopfte an die Seitenscheibe. »Hallo, da drin, alles in Ordnung?« Ihre von Sommersprossen bedeckte Nase berührte fast das Glas. Tannengrüne Augen mit rötlich braunen Wimpern musterten Isabella. »Bist du verletzt?«

Isabella tastete nach der Kurbel und öffnete das Seitenfenster. »Was ist passiert?«

Die Frau lächelte und zeigte zwei weiße Reihen kleiner Zähne, die leicht übereinanderstanden. »Du hast Lucinda gerettet.« Ihr Kinn wies auf das Huhn in ihren Armen. »Das wilde Ding ist dir vors Auto gelaufen. Du hast blitzschnell reagiert.«

Isabella öffnete die Tür. Die Frau trat einen Schritt zurück, ging in die Hocke und setzte das Huhn ab. Das Federvieh schlug mit den Flügeln und rannte gackernd über die Schollen des Ackers davon.

Die Frau lachte. »Grüß dich, du tapfere Hühnerretterin. Ich bin Karlotta.« Sie schüttelte Isabellas Hand mit festem Griff.

Isabella kletterte aus dem Auto und versuchte, nur durch den Mund zu atmen.

»Sei vorsichtig, deine Schuhe sind nicht gerade ideal für eine Ackerüberquerung«, warnte Karlotta.

Keine Sekunde später gab die Erde unter Isabella nach. Ihre Stilettos sanken in eine Furche, und das Schlangenmuster des hellen Brokatstoffs wurde von einer braunen Brühe überspült.

»Uaaah«, stieß Isabella aus und stapfte auf den Ballen durch den feuchten Acker. Nach ein paar Metern hatte sie den Weg erreicht und schlüpfte aus ihren Schuhen.

»Hast du dich verfahren?« Karlotta deutete auf Isabellas Nummernschild, das sie als Bewohnerin der Landeshauptstadt auswies. »Suchst du das Mörikehaus?«

»Nein.« Isabella blickte dem Tier hinterher, das sich zu einigen Artgenossen gesellte, die auf einer Wiese nach Insekten pickten. »Dein Huhn heißt Lucinda?«

Karlotta nickte. »Mhm. Ist an dem Tag geschlüpft, an dem Lucinda Riley gestorben ist, die Schriftstellerin. Da hab ich das Küken nach ihr benannt.«

»Romantikkitsch«, murmelte Isabella.

Karlotta schien es trotzdem gehört zu haben. »Die Riley schreibt gar nicht so kitschig, wie viele denken.« Sie lächelte und zeigte erneut die Zähne.

»Das kann ich nicht beurteilen. Ich lese keine Liebesromane.« Niedergeschlagen betrachtete Isabella die teuren High Heels in ihrer Hand, deren Farbe von Creme zu Braun gewechselt hatte. »Mein Name ist Isabella. Ich bin auf der Suche nach einem exklusiven Landhotel, es heißt ›Wacholderblick‹.«

»Hier gibt’s kein Landhotel.« Karlotta unterdrückte ein Kichern. »Nur eine einfache Pension. Und die ist weniger exklusiv, vielmehr … sagen wir mal … romantisch.«

»Romantisch?«

»Eineinhalb-Sterne-Klasse. Hast du ein Zimmer gebucht?«

»Nicht direkt. Das Hotel gehört meiner Schwester, sie wartet auf mich. Ist es weit? Ich glaube nicht, dass mein Auto es von allein aus dem Acker schafft.«

»Die Pension ist dort drüben.« Karlotta zeigte zu zwei nahe gelegenen Häusern.

»Gut, dann gehen wir das kurze Stück zu Fuß. Mein Gepäck hole ich später.«

Die Frauen näherten sich der Häusergruppe. Links stand ein schiefes Fachwerkhaus mit Scheune. Schräg gegenüber befand sich ein kleiner Bauernhof mit Hühnerhaus und Kräutergarten.

»Da wohne ich«, sagte Karlotta. »Und dort in dem halb verfallenen Haus lebt Bauer Schmalz, dem der Acker gehört.«

Im Hof rosteten ein betagter Traktor und ein Moped mit zerbeultem Radblech vor sich hin.

Ein vierstöckiges Haus mit grünen Fensterläden und Mansarddach kam in Sichtweite. Umgeben war es von einer halbhohen Hecke, hinter der sich ein verwilderter Garten erstreckte. Ausgetretene Steinstufen führten zur Eingangstür hinauf. Über dem Vordach sah Isabella eine verblichene Schriftzeile in Schwarz, von der nur die Silben »Wach« und »blick« übrig waren.

Sie schluckte heftig. War dies das gehobene Landhotel, das sie den Sommer über führen sollte?

Eine dunkelhaarige Frau in einem grünen Kleid trat auf die Schwelle. Isabella hatte ihre Schwester seit dem letzten Sommer nicht mehr gesehen, dennoch erkannte sie Angie sofort. Von ein paar Kilo mehr auf den Hüften und einer für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Bräune im Gesicht abgesehen, hatte sie sich nicht verändert.

»Isa, na endlich!«, rief Angie und winkte Isabella. »Ich warte schon auf dich, mein Taxi kommt in einer halben Stunde.« Sie deutete auf zwei Lederkoffer am Fuß der Eingangstreppe.

»Achtung, gleich kommt wieder was Romantisches«, raunte Karlotta und kicherte, was sie offenbar gern tat. »Ich muss los. Die Hühnerbande steuert meinen Kräutergarten an. Das Hotel hast du ja nun gefunden.« Sie lief zu den Hühnern und kreiste mit den Armen. »Sch, sch, weg mit euch.«

Isabella straffte die Schultern und trat an das Gartentor. »Hallo, Angie. Das ist also dein Hotel.« Sie blickte an der Hausfassade hoch. Aus der Nähe waren die abblätternde grüne Farbe an den Fensterläden und die Spinnweben, die sich über die Scheiben der oberen Stockwerke zogen, nicht zu übersehen.

»Hotel?«, wiederholte Angie. »Wer hat was von einem Hotel gesagt? Bestimmt Mama, oder?«

»Nein. Mama hat damit nichts zu tun. Ich dachte nur, dass du vielleicht endlich …«

Gerade noch rechtzeitig brach Isabella ab. Nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten, wollte sie ihrer Schwester nicht gleich deren Vorliebe für Drittklassiges unter die Nase reiben.

»Freut mich, dich zu sehen«, sagte sie stattdessen.

Angie kam über den Gartenweg auf sie zu, öffnete das Holztor und beäugte sie von Kopf bis Fuß. »Wie immer die erfolgreiche Businessfrau, tadellos frisiert und im teuren Kostüm.« Ihr Blick fiel auf die in Mitleidenschaft gezogenen High Heels in Isabellas Hand.

Nun registrierte Isabella den unangenehmen Geruch, der von ihnen aufstieg.

»Na, dass du mit so feinen Stadtschühchen bei uns nicht weit kommst, scheinst du bereits gemerkt zu haben«, sagte Angie.

Isabella musterte das Kleid ihrer Schwester. Was war nur mit der Taille los? War Angie in der Mitte wie Hefeteig auseinandergegangen?

Inzwischen hatte Angie den Agila im Acker entdeckt. »Sag bloß, das ist dein Auto? Ich dachte, du fährst einen Sportwagen?«

Woher Angies Information stammte, ahnte Isabella. »Das hat Mama dir erzählt, hm?« In ihrem Inneren bildete sich ein Knoten. »Da ist sie nicht up to date.«

»Komm, ich zeige dir das Wichtigste. Die Gäste sind auf einer Kräuterwanderung im Bissinger Tal, du kannst dich also in Ruhe umsehen.« Angie ging zurück zur Eingangstreppe. »Leider haben wir nicht mehr viel Zeit. Ich konnte auf einen früheren Flug umbuchen und bin zum späten Abendessen bereits bei Costa auf Kreta. Ach, das wird ein Sommer voller Leidenschaft!«

Isabella folgte ihr die Stufen hinauf. Angie schob die Holztür auf und bat sie herein.

Im Flur roch es nach Keller. Der helle Steinboden sah ziemlich mitgenommen aus, trotzdem zögerte Isabella wegen ihrer feuchten Füße. »Ich möchte dir nicht den Boden versauen.«

Angie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, hier müsste sowieso dringend geschrubbt werden. Tritt ein, bring Glück herein.« Mit einem Lächeln ergänzte sie: »Bring noch mehr Glück herein, sollte ich besser sagen. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet in einem Yoga-Retreat einen derart phantastischen Mann treffe.«

Phantastische Männer. Schon wieder das falsche Thema, dachte Isabella, während sie Angies Lobeshymnen über ihre Urlaubsbekanntschaft über sich ergehen ließ. Die feuchten Schuhe stellte sie neben der Haustür ab.

Angie führte Isabella durch das Erdgeschoss und zeigte ihr den Wintergarten, wie sie den lichtdurchfluteten Raum mit schlichten Holztischen und Stühlen, Kamin und zwei Sofas entlang der Wände hochtrabend bezeichnete. »Hier frühstücken die Gäste. Auch das Abendessen wird hier serviert.«

»Abendessen?« Ein mulmiges Gefühl machte sich in Isabella breit.

»Ja. Für die Gäste, die Halbpension gebucht haben.«

»Wie viele Personen wohnen zurzeit im Hotel? Äh, in der Pension?«

Angie hob ihre rechte Hand hoch und klappte den Daumen ein. »Vier. Ein junges Paar auf Hochzeitsreise, eine Fotografin und ein Wanderfreak. Sind alle sehr nett, wenn auch etwas eigen. Daran gewöhnst du dich bald. So, und dort geht’s zur Küche und zum Büro, das auch als Rezeption dient.«

Angie wollte Isabella gerade die kleine Dachwohnung zeigen, die sie ihr während der nächsten Monate überließ, als es vor dem Haus zweimal hupte. Sie öffnete das Fenster und schaute nach unten.

»Das Taxi ist zu früh dran. Das Wichtigste hast du gesehen. Falls du Fragen hast, wende dich an Karlotta. Sie weiß Bescheid.« Angie drehte sich einmal im Kreis und hob ausgelassen die Arme. »Yassou, Griechenland! Ich komme!«

Verblüfft von so viel Temperament, wich Isabella zurück. Seit wann war ihre Schwester derart ausgelassen? Ob das die Hormone waren? Aus der Nähe hatte sie in Angies dunkelbraunem Schopf einige graue Strähnen ausgemacht und auf die Wechseljahre getippt. Nun ging ihr auf, dass ihre Lebenslust weniger auf Hormonschwankungen als auf diesen Costa zurückzuführen war.

Ein griechischer Lover. Na ja, dachte sie. Nicht mein Geschmack. Zu viel Knoblauch.

Angie überreichte Isabella den Schlüssel und lief die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Auf der Türschwelle fügte sie hinzu: »Du kannst auch Frau Gandolfini, die Fotografin, fragen. Sie ist seit Jahren Stammgast. Oder du schickst mir eine E-Mail. Es kann allerdings dauern, bis du von mir hörst. Costa will mir die Insel zeigen und mich seiner Familie vorstellen. Ach, das wird so romantisch!«

Durch das Dachfenster verfolgte Isabella, wie Angie das Haus verließ und dem Taxifahrer zunickte, der auf die beiden Koffer wies. Angie öffnete die Tür und wollte einsteigen, als sie zögerte und zu Isabella hochschaute. »Ach, Isa, das hätte ich beinahe vergessen. Ein Mann hat angerufen und nach dir gefragt.«

Isabellas Herz schlug schneller. »Ein Mann? Wie war sein Name? War es Alex? Alex Lichtenstein, meine ich?« Auch wenn die beiden sich nie kennengelernt hatten, hatte sie ihre Schwester Alex gegenüber natürlich erwähnt.

»Den Namen weiß ich nicht mehr. Er hat sich erkundigt, ob ich wüsste, wo du bist. Ich habe gesagt, dass du heute kommst und meine Vertretung übernimmst. Bestimmt meldet er sich wieder. Die Adresse habe ich ihm durchgegeben.«

Angie ließ sich auf der Rückbank des Taxis nieder.

Schade, dass sie den Namen vergessen hatte, dachte Isabella. Sie hätte zu gern gewusst, wer nach ihr gesucht hatte und nun ihren aktuellen Aufenthaltsort kannte. Schließlich war es ihr Plan gewesen, hier auf der Alb für eine Weile unterzutauchen. Vielleicht war der Anrufer ja jemand anders als Alex gewesen, überlegte sie. Womöglich sein Vater, der empört war, weil sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit gekommen war und sich dann krankgemeldet hatte.

Das Taxi wendete und entfernte sich im Schritttempo. Auf Höhe des Ackers, in dem der Agila steckte, winkte Angie ihr noch einmal strahlend zu. Isabella brachte nicht mehr als ein schmales Lächeln zustande. Am liebsten hätte sie auch ein Taxi gerufen und diesen Ort sofort wieder verlassen. Aber welches Ziel hätte sie dem Fahrer angeben sollen?

Mit hängenden Schultern trottete sie die Treppe hinunter.

»Wetten, deine Schwester kehrt mit einem Verlobungsring aus Griechenland zurück?« Karlotta kam von ihrem Bauernhof herübergeschlendert. »Falls sie überhaupt jemals wieder zurückkommt. Dieser Costa muss ein Hauptgewinn sein, so wie sie von ihm schwärmt. Ich kenne nur seine Stimme, und die klingt sexy.«

Auf Isabellas fragenden Blick hin ergänzte sie: »Ich habe neulich mit ihm telefoniert. Beziehungsweise bin ans Telefon gegangen. Angie war in Kirchheim, um fürs Abendessen einzukaufen. Apropos Abendessen. Hat Angie dir erklärt, was dafür zu tun ist?«

»Nein. Vielleicht kannst du mir den Koch vorstellen? Dafür hat die Zeit nicht mehr gereicht.«

»Koch?« Karlotta wirkte belustigt. »So nobel ist dieses Etablissement nicht. Fürs Abendessen bist du zuständig, hat Angie dir das nicht gesagt? Am Samstag hat sie einen Großeinkauf angeschleppt. Du müsstest also genügend Zutaten im Haus haben. Es sei denn, du möchtest an deinem ersten Abend ein Galadinner servieren.«

»Zutaten? Soll das bedeuten, ich muss das Essen selbst zubereiten?« Ein Schwindelanfall ließ Isabella gegen den Türrahmen sinken. »Also … ich soll … kochen?«

»Keine Sorge. Die Gäste wissen, dass du heute angekommen bist. Drei normale Gänge reichen völlig, und den Nachtisch essen meist nur die beiden Frischverliebten.«

»Drei Gänge?« Isabellas Stimme flatterte.

»Yep. Ist das ein Problem für dich?« Karlotta musterte sie neugierig.

Isabella schüttelte beherzt den Kopf. Drei Gänge für eine mittelmäßige Landpension, das würde sie ja wohl schaffen. Auch wenn sich ihre kulinarischen Erfahrungen der letzten Jahre auf Toaströsten und Austernöffnen beschränkt hatten. Und auf das Genießen der opulenten Menüs, die Alex für sie zauberte und die sie oft nackt im Bett verspeisten. Verspeist hatten. Wie auch immer, für solche Notfälle war schließlich YouTube erfunden worden.

»Bevor es dunkel wird, sollten wir dein Auto retten.« Karlotta deutete auf Isabellas Agila, der etwa zwanzig Meter entfernt stand. »Wenn Bauer Schmalz den in seinem Acker sieht, packt er womöglich die Mistgabel aus.«

»Hilfst du mir?«

»Ehrensache. Was Besseres hab ich heute sowieso nicht vor.«

Die Frauen folgten dem Fahrweg zurück bis zum Acker. Spitze Steinchen piksten in Isabellas Fußsohlen. Die Seidenstrümpfe würde sie wegwerfen müssen, genau wie die teuren Manolo Blahniks.

Unauffällig schaute sie zu Karlottas Füßen. Turnschuhe. Markenlos. Und leicht verlatscht, dachte sie, schaffte es aber, das Gesicht nicht zu verziehen. Ihre üblichen Maßstäbe konnte sie hier auf dem Land kaum anlegen. Sie seufzte.

»Keep cool, Isabella. Das schaffen wir«, tröstete sie Karlotta, die wohl davon ausging, Isabellas Seufzer gelte dem Agila. »Vielleicht springt er sofort an. Diese alten Kisten sind robuster als die neumodischen Elektronikwunder, bei denen sogar ein Mechaniker ohne Laptop nicht weiterkommt.«

Als Isabella den Weg verließ und auf den Acker trat, überkam sie ein leichtes Frösteln, obwohl die Temperatur gute zwanzig Grad betrug. Mit einem saftigen Schmatzen sank ihr Fuß bis zum Knöchel in eine matschige Furche. Unter Karlottas schallendem Gelächter stakste sie über den Acker zum Agila, stieg ein und drehte den Schlüssel herum. Nichts regte sich. Nach einem erneuten Versuch hörte sie ein tiefes Brummen, das stetig lauter wurde. Das Motorengeräusch ging nicht von ihrem Wagen aus.

»Da ist unser Retter in der Not.« Karlotta winkte mit den Armen, als würde sie ein Flugzeug einweisen. Aus dem Ort näherte sich ein blaues Ungetüm. »Ist zwar kein Ritter auf einem weißen Pferd, dafür ein starker Mann in einer PS-strotzenden Karosse.« Sie hob die Handflächen, um das Auto anzuhalten.

Isabella traute ihren Augen nicht. Entweder waren Pick-ups in dieser Gegend außergewöhnlich beliebt, vor allem blaue, oder das Schicksal spielte ihr einen Streich. Der Fahrer wich nach links aus und Isabella hatte den Eindruck, er wolle an Karlotta vorbeifahren.

Beherzt trat diese einen Schritt vor und rief: »Stopp, Leon! Wir brauchen deine Hilfe.«

Reifen quietschten und Staubwolken wirbelten auf. Kaum mehr als einen Meter vor Karlotta kam der Wagen zum Stehen. Sie warf Isabella einen triumphierenden Blick zu und reckte den Daumen.

Die Tür des Pick-ups schwang auf, und der Fahrer sprang heraus. Durchlöcherte Jeans, Holzfällerhemd, Cowboystiefel. Sicherheitshalber blieb Isabella im Agila und beobachtete, wie sich Karlotta und der Mann unterhielten.

Die rothaarige Frau deutete zur Pension und dann auf Isabellas Agila.

Der Fahrer schob eine Hand in die Gesäßtasche seiner Jeans, mit der anderen strich er sich über den struppigen Bart. Seine Mimik wirkte nicht besonders enthusiastisch. Jedenfalls der Teil seines Gesichts, der nicht von rötlich braunen Borsten überwuchert war.

Nun wandten sich die beiden Isabella zu.

Sie kurbelte die Scheibe herunter. »Hallo. Wir kennen uns bereits. Sie haben mich vorhin auf der Autobahn geschnitten.«

Der Mann zeigte keine Regung.

Karlotta wirkte einen Augenblick verwirrt, nahm das Heft aber sofort wieder in die Hand. »Leon, das ist Isabella. Sie ist Angies Schwester und übernimmt während des Sommers die Pension.« Dann deutete sie auf den Fahrer. »Isabella, darf ich vorstellen: Leon. Er wohnt gegenüber der Pension und hat sich netterweise bereit erklärt, deinen Wagen aus dem Acker zu ziehen.«

Als Isabella zu ihrem Helfer schaute, verdrehte der die Augen. Ganz freiwillig war seine Rettungsaktion demnach nicht. Was hätte er tun sollen? Karlotta überfahren?

Es dauerte einige Sekunden, bis Leon ihr sehr zurückhaltend zunickte. Isabella nickte genauso stoisch und blickte auf den Agila. »Soll ich lieber aussteigen?«

»Nein, bleib einfach sitzen, Leon und ich machen das.« Vor lauter Eifer waren ihre Wangen so rot, wie es die Äpfel auf der Obstbaumwiese neben dem Acker im Herbst sein würden.

Leon nahm jetzt ein Abschleppseil von der Ladefläche des Pick-ups und kam über den Acker auf Isabella zu. Seine Cowboystiefel versanken weniger tief im Morast als ihre Füße. Vor dem Agila angekommen, bückte er sich und klinkte eine Öse des Seils im Abschlepphaken ein.

»Handbremse lösen, Gang raus.« Sein strenger Tonfall verdeutlichte, wie lästig ihm die Aktion war.

Isabella befolgte seine Anweisungen.

Schließlich ging Leon zurück auf den Weg, befestigte das andere Seilende an der Anhängerkupplung des Pick-ups, stieg ein, startete und rangierte geschickt hin und her, bis das Seil nicht mehr durchhing. Dann fuhr er auf die Wiese gegenüber und mähte die kniehohen gelb und violett blühenden Butterblumen und Storchenschnabel nieder.

Ein Ruck ging durch den Agila. Isabella wurde gegen die Lehne gedrückt. Sie presste die Zähne aufeinander, falls die Fahrt holprig werden sollte. In Zeitlupe rollte der Agila aus der Furche und bewegte sich in stetem Auf und Ab auf den Weg zu. Kaum waren alle vier Räder dort angekommen, sprang Leon aus dem Pick-up und löste das Abschleppseil. Isabella zog die Handbremse an.

»Du bist großartig, Leon!« Karlotta klatschte Beifall. »Dafür bekommst du morgen ein paar Frühstückseier extra.«

Ohne eine Miene zu verziehen, stieg Leon wieder ein und fuhr zu dem Fachwerkhaus gegenüber der Pension. Er parkte vor der Scheune und verschwand wortlos im Haus.

»Das war nett von deinem schweigsamen Freund«, sagte Isabella.

Karlotta schnaubte. »Leon ist doch nicht mein Freund.« Sie fuhr sich durch die roten Locken. »Er ist nur ein Nachbar, der nicht viel Worte macht, dafür aber zur Stelle ist, wenn man einen braucht. Einen Freund, meine ich.« Sie kickte mit dem Turnschuh ein Steinchen weg.

Isabella startete den Agila. »Möchtest du mitfahren?«

Karlotta winkte ab. »Die paar Meter schaffe ich zu Fuß.«

Im Schritttempo fuhr Isabella zur Pension und hielt neben dem Gartentor. Sie stieg aus, öffnete die hintere Tür und nahm die beiden pinkfarbenen Koffer und das silberne Beautycase heraus. Als sie den Umzugskarton über den Rücksitz zerrte, kam Karlotta ihr zu Hilfe.

»Hast du den fünfundzwanzigbändigen Brockhaus dabei?«, fragte sie keuchend und brachte ihre Fußspitzen in Sicherheit, bevor sie den Karton auf dem Boden abstellten. Sie faltete ihn auf. »Adolf Hölzel, Willi Baumeister, Sonderborg … Willst du eine Buchhandlung eröffnen?«

»Das sind Ausstellungskataloge. Von Künstlern, die in Stuttgart gelebt oder an der Kunstakademie gelehrt haben.«

Karlotta zog einen Katalog heraus und blätterte darin. Mit ratlos wirkendem Gesichtsausdruck meinte sie: »Erinnert mich an Stromleitungen. Ist das Kunst?«

»Moderne Kunst, um genau zu sein. Der Maler heißt Sonderborg.« Isabella wunderte sich nicht über Karlottas Verwirrung. In Stuttgart war dieser Maler sehr bekannt. Hier standen die Menschen wohl mehr auf röhrende Hirsche.

Sie deutete auf eine Grafik, die schwarze Striche auf weißem Grund zeigte, wild durcheinander und voller Energie. »Mit Stromleitung liegst du richtig. Sonderborg war fasziniert von Strukturen wie Bündeln elektrischer Leitungen oder Wirbeln im Wasser.« Sie nahm Karlotta den Katalog aus der Hand und schob ihn in den Karton zurück. »Ist mein Spezialgebiet.« Nach kurzem Zögern korrigierte sie: »Oder war es.« Sie lehnte sich über den Rücksitz und griff nach einem rechteckigen Rahmen, der an die Lehne gestützt und in Luftpolsterfolie verpackt war.

In diesem Moment meldete sich ihr Handy mit einem Piepton. »Nimmst du mir das Gemälde ab? Vorsicht, es ist wertvoll«, bat sie Karlotta.

Diese griff behutsam nach dem ungefähr DIN-A3-großen Kunstwerk und hielt es mit ausgestreckten Armen von sich.

Nach einem Blick auf ihr Handy sah Isabella auf und zuckte mit dem Mundwinkel. Bereits einen Tag nach dem abrupten Ende ihres beruflichen Engagements im Auktionshaus Lichtenstein hatten ihre Kollegen die Aufgabe übernommen, interessante Hintergrundinfos über Instagram, Twitter und andere Kanäle zu posten, um die Neugier potenzieller Kunden auf die nächste Auktion zu wecken. Diese neue Form der Kommunikation war ihre Idee gewesen und hatte ihr, wenn auch kein Lob, immerhin ein knappes Nicken des ihr gegenüber sonst so kritischen Seniorchefs eingetragen.

Schnee von gestern. Sie schob den schmerzlichen Gedanken beiseite und nahm Karlotta das Bild ab.

Sichtlich erleichtert, atmete die Nachbarin auf. »Lass mich raten – auch Kunst?«

Isabella nickte. »Das Gemälde habe ich aus Stuttgart mitgebracht«, sagte sie vage. Mangels freier Hand schob sie das Gartentor mit der Hüfte auf. »Ich bringe es am besten in Sicherheit.«

Im Flur angekommen, sah sie sich nach einem geschützten Platz um und stellte das Bild auf einer Kommode neben der Garderobe ab.

Mit Karlottas Hilfe schaffte sie ihr Gepäck ins Dachgeschoss. Zuvor hatte sie keinen Blick in Angies Wohnung werfen können, weil das Taxi gekommen war. Nun war sie umso gespannter, was sie erwartete. Schließlich würde dies für die nächsten Monate ihr Zuhause sein.

Als sie das Reich ihrer Schwester betrat, wurde ihr eng ums Herz. Der quadratische Raum war mit Möbeln vollgestellt und wirkte durch die Dachschrägen zusätzlich beengt. Gestreifte Webteppiche und Vorhänge mit Streublümchen jagten ihr einen Schauer über den Rücken.

»Dies ist das Bad«, erklärte Karlotta, die Isabella gefolgt war und deren Beklemmung nicht zu bemerken schien. »Und hier ist die Schlafnische.« Sie zog einen geblümten Vorhang zurück.

Ein ungemachtes Bett mit Batiküberzug kam zum Vorschein. Es war in einer Vertiefung unterhalb der Dachschräge untergebracht und erinnerte an eine platzsparende Koje auf einem Boot. Daneben standen ein altmodischer Nachttisch und ein Kleiderständer, auf dem sich Pullis, Röcke und Hosen übereinandertürmten. In einem Regal waren Bücher quer und längs durcheinander gestapelt. Anhand der Pastellfarben auf Covern und Buchrücken schloss Isabella auf seichte Unterhaltungslektüre. Anscheinend hatte Angie die Leidenschaft ihrer Mutter für Liebesromane geerbt. Das passte, denn sie war nach Angelique, der Lieblingsheldin ihrer Mutter, benannt.

Bestürzt sah sich Isabella um. Vor ihrem inneren Auge tat sich ein weiter Raum auf, der sich über zwei Stockwerke erstreckte und zur Südseite hin verglast war. Schwarzweißer Marmorboden, moderne Sitzmöbel, abstrakte Gemälde an den Wänden …

»Die Ordentlichste ist deine Schwester nicht gerade«, sagte Karlotta und holte Isabella in die Realität zurück. »Aber dafür hat sie die Pension umso besser im Griff. Wenn du Platz brauchst, oben ist ein Dachboden. Dort kannst du etwas unterstellen.«

Isabella nickte und hoffte, dass der Dachboden groß genug für so ziemlich alles in dieser Wohnzelle war.

Karlotta sah auf ihre Armbanduhr. »Bald sechs. Du musst dich ans Abendessen machen. Um halb acht wird im Wintergarten serviert.«

»Okay. Meine Sachen räume ich später ein. Dann geh ich jetzt am besten in die Küche.«

»Mach das«, erwiderte Karlotta munter. »Ich wünsche dir …« Sie stockte, als Isabellas Handy erneut piepte. Da Isabella keine Anstalten machte, auf ihr Telefon zu sehen, fuhr sie fort. »Ich wünsche dir einen guten Einstand. Wir sehen uns morgen, wenn ich die Frühstückseier vorbeibringe.« Sie polterte die Treppe hinunter. Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss.

Unschlüssig blickte Isabella an sich hinab. Ihr teures Markenkostüm hatte bereits Schmutzspritzer abbekommen, war aber dennoch nicht die richtige Bekleidung, um am Herd herumzuhantieren. Sie öffnete einen der pinkfarbenen Koffer und durchwühlte die Kleider, die sie mitgebracht hatte. Vor allem Hosenanzüge und Businessblusen. Sie war davon ausgegangen, eine Leitungsfunktion in einem exquisiten Hotel zu übernehmen. Da sie keine Freizeitkleidung dabeihatte, entschied sie sich für ihre Joggingsachen. Bevor sie die überzog, musste sie die Gülle von ihren Füßen schrubben.

Sie öffnete die Badezimmertür und fuhr zurück. Das enge Kabuff hatte die Bezeichnung Zimmer nicht verdient. In dem winzigen Freiraum zwischen Duschkabine, Waschbecken und Toilette zog sie die an den Fußsohlen zerfetzte Seidenstrumpfhose aus und ließ sie in einem hässlichen Abfalleimer verschwinden.

Über die olivgrünen Kacheln der Dusche waren Seifenreste verteilt, und im Sieb wohnten dunkle Haare. Hier musste erst die Putzfrau aktiv werden, bevor Isabella sich hineinwagen würde.

Aus einem Regal nahm sie einen Frotteewaschlappen und machte sich am Waschbecken frisch. In Laufshirt, Leggins und Turnschuhen verließ sie das Dachgeschoss, das Mobiltelefon in der Hand.

Von draußen drang ein lautes Tuckern herein, das nach PS-starkem Motor klang. Fuhr der schlecht gelaunte Typ mit dem Pick-up vorbei?

Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock sah Isabella aus dem Sprossenfenster und hielt dabei Abstand zu den dunklen Punkten auf der Scheibe, die wie Hinterlassenschaften von Stubenfliegen aussahen. Unglaublich, wie viel Mist es hier gab. Die Putzfrau schien nicht besonders zuverlässig zu sein.

Das Geräusch stammte von einem Traktor mit Güllewagen, der an der Pension vorbeifuhr. Auf dem Fahrersitz kauerte ein untersetzter Mann in Latzhose und dreckstarrenden Gummistiefeln, eine Pfeife im Mundwinkel. Wenn das der Besitzer des Ackers war, sah er genauso aus, wie sie sich einen Hinterwäldler vorstellte.