Die Aloe - Katherine Mansfield - E-Book

Die Aloe E-Book

Katherine Mansfield

0,0

Beschreibung

Die Familie Burnell – Großmutter, Eltern, Tante, drei kleine Mädchen – zieht aus Wellington in ein Landhaus, vor dem eine große Aloe wächst. Der lange Blütentrieb dieser geheimnisvollen Pflanze, die nur »alle hundert Jahre einmal blüht«, nimmt für die neuen Bewohner unterschiedliche Bedeutungen an: Für die Kinder symbolisiert sie die Fremdheit der neuen Umgebung, für die Großmutter ist sie ein gutes Omen und für die kränkliche Mutter wird sie eines Nachts zum Segelschiff, mit dem sie sich fortträumt von ihrem präpotenten Mann und den Belastungen des Familienlebens. Katherine Mansfield beleuchtet die Konflikte des komplexen Familiengespinsts aus mehreren Perspektiven und gibt gerade den schwächsten Familienmitgliedern eine eigene Stimme. All dies wird in einer Art literarischem Tachismus erzählt, der die Tradition der Short Story im englischen Sprachraum maßgeblich beeinflusste und ihr zugleich zu einzigartigem Glanz verhalf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 139

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herausgegeben von Andreas Nohl

Katherine Mansfield

Die Aloe

Aus dem Englischen von Liat Himmelheber

Steidl Nocturnes

Deutsche Erstausgabe

Unserer Übersetzung liegt zugrunde:

Katherine Mansfield, The Aloe (with Prelude), ed. by Vincent O’Sullivan, Manchester (Carcanet New Press), 1983

Inhalt

Cover

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Nachwort

Anmerkungen

Impressum

Kapitel 1

Für Lottie und Kezia war im Einspänner kein Zentimeter mehr frei. Pat hievte sie oben auf das Gepäck, aber da saßen sie viel zu wackelig; Großmutters Schoß war voll, und Linda Burnell konnte auf dem ihren unmöglich während der ganzen Fahrt ein schweres Kind festhalten. Isabel thronte im Vollgefühl ihrer Bedeutung neben Pat auf dem Kutschbock. Reisetaschen, Beutel und Hutschachteln türmten sich auf dem Boden.

»Die Sachen hier sind absolut notwendig, die lasse ich nicht einen Moment aus den Augen«, sagte Linda Burnell, und ihre Stimme zitterte vor Müdigkeit und Anspannung.

Lottie und Kezia standen gestiefelt und gespornt auf dem Rasen hinter dem Gartentor, in Matrosenmänteln mit messingnen Ankerknöpfen und runden bebänderten Matrosenmützen. Hand in Hand. Sie schauten mit großen, fragenden Augen erst die »absolut notwendigen Sachen« und dann ihre Mutter an.

»Wir müssen sie zurücklassen. So ist es nun mal. Wir müssen uns von ihnen trennen«, sagte Linda Burnell. Ein seltsames kurzes Lachen kam ihr über die Lippen; sie lehnte sich in die knopfgesteppten Lederpolster zurück, schloss die Augen … und lachte in sich hinein.

Zum Glück rauschte in diesem Augenblick Mrs. Samuel Josephs, die nebenan wohnte und die Szene hinter ihrem Wohnzimmervorhang beobachtet hatte, auf dem Gartenpfad heran.

»Lassen Sie doch die Kinder für den Dachbittag bei bir, Brs. Burdell. Sie ködden ja bit dem Umzugsbann auf dem Tafelwagen fahren, wenn er am Abend kobbt. Diese Sachen auf dem Weg büssen doch geholt werden, oder?«

»Ja, alles, was draußen steht, muss abgeholt werden«, sagte Linda Burnell und wedelte mit ihrer weißen Hand zu den Tischen und Stühlen, die frech vor dem leeren Haus Kopfstand machten.

»Tja, bachen Sie sich keide Sorgen, Brs. Burdell. Lottie und Kezia können bit beinen Kiddern Tee trinken, und dadach passe ich auf, dass sie sicher bit dem Tafelwagen weg kobben.«

Sie lehnte sich mit ihrem dicken, knarzenden Leib über das Gartentor und lächelte beruhigend. Linda Burnell tat so, als dächte sie nach.

»Ja, das ist wirklich das Beste. Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Mrs. Samuel Josephs. Kinder, sagt danke zu Mrs. Samuel Josephs.«

(Zweifaches leises Zwitschern: »Danke, Mrs. Samuel Josephs.«)

»Und seid brave, folgsame kleine Mädchen und – kommt näher!« – sie traten heran – »vergesst nicht, Mrs. Samuel Josephs Bescheid zu sagen, wenn ihr mal müsst …«

»Ja, Mutter.«

»Keine Sorge, Brs. Burdell.«

Im letzten Moment ließ Kezia Lotties Hand los und sauste zum Wagen.

»Ich will Grandma nochmal einen Abschiedskuss geben.« Das Herz wollte ihr zerspringen.

»Meine Güte!«, jammerte Linda Burnell.

Aber die Großmutter neigte Kezia ihren reizenden Kopf mit der fliederfarbenen Blumenhaube entgegen, und als Kezia sie fragend anblickte, sagte sie: »Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Sei schön brav.« Der Einspänner rollte los, die Straße hinauf, Isabel saß hochaufgerichtet neben Pat und blickte verächtlich auf alle Welt hinunter, Linda Burnell weinte halb ohnmächtig hinter ihrem Schleier und die Großmutter wühlte in dem Krimskrams, den sie im letzten Augenblick noch in ihr schwarzes Seidenridikül gesteckt hatte, nach Lavendelriechsalz für ihre Tochter.

Der Wagen blinkte im sonnenbeschienenen goldenen Staub davon – den Hügel hinauf und dann hinüber. Kezia biss sich fest auf die Lippe, aber Lottie fing, nachdem sie vorsorglich ihr Taschentuch herausgezogen hatte, zu heulen an:

»Mut-ter! Grandma!«

Mrs. Samuel Josephs watschelte wie eine lebende schwarzseidene Kaffeehaube zu Lotties Rettung herbei.

»Es ist alles gut, beine Kleine. Naa, naa, Häschen! Sei tapfer! Kobb und spiel im Kinderzibber.«

Sie legte einen Arm um die weinende Lottie und führte sie weg. Kezia ging hinterher und schnitt Mrs. Samuel Josephs’ wie immer offenstehendem Rockschlitz, aus dem zwei lange, rosa Korsettbänder heraushingen, eine Grimasse.

Die Samuel Josephs’ waren keine Familie. Sie waren ein Schwarm. Sobald man ihr Haus betrat, tauchten sie auf und sprangen einen an, unter den Tischen hervor, zwischen den Stäben des Treppengeländers, hinter Türen, hinter den Mänteln im Flur. Unmöglich, sie zu zählen: unmöglich, sie auseinanderzuhalten. Selbst auf den Gruppenfotos, die Mrs. Samuel Josephs zweimal im Jahr machen ließ – sie und Samuel in der Mitte – Samuel die Faust, die eine Pergamentrolle umschloss, aufs Knie gestützt, sie mit dem jüngsten Mädchen auf dem Schoß –, konnte man nie sicher sein, wie viele Kinder eigentlich da waren. Man zählte sie, und dann sah man noch einen weiteren Kopf oder einen weiteren kleinen Jungen im weißen Matrosenanzug, der auf der Armlehne eines Korbstuhls thronte. Alle Mädchen waren dick, ihr schwarzes Haar wurde von einem roten Band zusammengehalten, und sie hatten Knopfaugen. Die kleinen hatten rote Gesichter, die großen hingegen weiße mit Mitessern und einer Andeutung von Schnurrbart. Die Jungen hatten das gleiche pechschwarze Haar, die gleichen Knopfaugen, aber zusätzlich waren sie noch mit tintenschwarzen Fingernägeln geschmückt. (Die Mädchen kauten Fingernägel, deshalb sah man das Schwarze nicht.) Und jedes Kind begann fast unmittelbar nach der Geburt eine Fehde gegen alle anderen.

Wenn Mrs. Samuel Josephs ihnen nicht die Hosen hochkrempelte oder die Kleider herunterzupfte (je nach Geschlecht) und sie mit der Haarbürste verprügelte, nannte sie diese Fehde »die Lungen lüften«. Sie schien sogar stolz darauf zu sein und sie aus der Ferne zu genießen wie ein dicker General, der seine Soldaten in wilder Schlacht durch den Feldstecher beobachtet …

Lotties Weinen erstarb, als sie bei Samuel Josephs’ die Treppe hinaufstieg, aber ihr Auftritt in der Kinderzimmertür mit geschwollenen Augen und Kartoffelnase war eine enorme Genugtuung für die S.J.s, die auf zwei Bänken an einem langen Tisch mit Wachstuchdecke saßen, vor sich riesige Platten mit Schmalzbroten und zwei braune dampfende Kannen.

»Hallo! Du hast ja geweint!«

»Huh, deine Augen sind ganz verquollen!«

»Ihre Nase sieht vielleicht komisch aus!«

»Du bist ganz rot und fleckig!«

Lottie war ein großer Erfolg. Das spürte sie, sie plusterte sich auf und lächelte schüchtern.

»Setz dich deben Zaidee, Häschen«, sagte Mrs. Samuel Josephs, »und Kezia – du setzt dich hinten deben Boses.«

Moses grinste und zwickte sie beim Hinsetzen in den Hintern, aber sie tat so, als merkte sie es nicht. Wie sie Jungen hasste!

»Was möchtest du denn«, fragte Stanley (einer von den Großen), beugte sich sehr höflich über den Tisch und lächelte Kezia an. »Womit möchtest du anfangen – Erdbeeren mit Sahne oder Schmalzbrot?«

»Erdbeeren mit Sahne, bitte«, sagte sie.

»Ha-h-h-h-a!« Wie sie alle lachten und mit ihren Teelöffeln auf den Tisch klopften. War das nicht ein toller Streich! Wahrhaftig! War doch einmalig! Wie hatte er sie reingelegt! Der gute alte Stan!

»Ma! Sie hat es wirklich geglaubt!«

Sogar Mrs. Samuel Josephs, die verdünnte Milch ausschenkte, lächelte nachsichtig. Es war ein vergnügtes Abendessen.

Nach dem Abendessen mussten die jungen Samuel Josephs’ nach draußen, bis das Dienstmädchen sie zum Schlafengehen rief, indem sie mit einem Kartoffelstampfer auf ein Blechtablett schlug.

»Wisst ihr, was wir machen?«, sagte Miriam. »Wir spielen Verstecken in Burnells Haus. Ihre Hintertür ist immer noch offen, weil sie das Büfett noch nicht rausgeräumt haben. Mama hat zu Gladys gesagt, sie würde so’n altes Gerümpel nicht in ein neues Haus mitnehmen! Kommt mit! Kommt mit!«

»Nein, ich mag nicht«, sagte Kezia und schüttelte den Kopf.

»Uh! Sei kein Jammerlappen. Komm, mach schon!«

Miriam packte ihre eine Hand, Zaidee die andere.

»Ich mag auch nicht, wenn Kezia nicht will«, sagte Lottie und blieb stehen. Aber auch sie wurde fortgewirbelt … Jetzt bestand der Hauptspaß des Spiels für die S.J.s darin, dass die Burnell-Mädchen nicht mitspielen wollten. Im Garten hielten sie inne. Burnells Garten war klein und quadratisch, mit Blumenbeeten zu beiden Seiten. Auf der einen Seite reckten große Callalilien ihre üppige Schönheit in die Höhe, auf der anderen Seite wucherten bloß »Großmutters Nadelkissen«, wie die Kinder sie nannten, eine unauffällige mattrosa Blume, die aber so kräftig war, dass sie sich sogar durch einen Riss im Beton ihren Weg bahnen und dort wachsen konnte.

»Ihr habt bloß ein Klo in eurem Haus«, sagte Miriam verächtlich. »Wir haben bei uns zwei. Eins für Männer und eins für Damen. Das für Männer hat keinen Sitz.«

»Keinen Sitz!«, rief Kezia. »Das glaube ich dir nicht.«

»Es-stimmt-es-stimmt-es-stimmt! Oder, Zaidee?« Und Miriam begann zu tanzen und zu hüpfen, so dass ihre Baumwollunterhose unter dem Kleid hervorschaute.

»Klar stimmt es«, sagte Zaidee. »Du bist vielleicht ein Baby, Kezia!«

»Ich glaub’s auch nicht, wenn Kezia es nicht glaubt«, sagte Lottie nach einer Pause.

Aber keiner gab Acht, was Lottie sagte. Alice Samuel Josephs zupfte an einem Lilienblatt, riss es ab und drehte es um. Auf der Unterseite war es von winzigen blauen und grauen Schnecken bedeckt.

»Wieviel kriegt ihr von eurem Pa fürs Schneckensammeln?«, fragte sie.

»Nichts!«, sagte Kezia.

»Ehrlich? Gibt er euch gar nichts? Unser Pa gibt uns nen halben Penny für hundert. Wir tun sie in einen Eimer und Salz dazu, und dann machen sie lauter Blasen, wie Spucke. Kriegt ihr überhaupt kein Taschengeld?«

»Doch, ich kriege einen Penny, wenn ich mir die Haare waschen lasse«, sagte Kezia.

»Und nen Penny für jeden Zahn«, sagte Lottie leise.

»Was! Ist das alles! Einmal hat Stanley aus all unseren Sparbüchsen das Geld rausgenommen, und Papa war so sauer, dass er bei der Polizeiwache angerufen hat.«

»Nein, hat er gar nicht. Nicht in echt«, sagte Zaidee. »Er hat bloß den Hörer abgenommen und reingesprochen, um Stan einen Schrecken einzujagen.«

»Huh, du Lügnerin! Huh, du bist vielleicht eine Lügnerin«, schrie Alice, die ihre Felle davonschwimmen sah. »Aber Stan hatte solche Angst, dass er sich an Pa geklammert hat, und er hat geschrien und ihn gebissen, und dann hat er sich hingeschmissen und seinen Kopf ganz doll auf den Boden geschlagen.«

»Ja«, sagte Zaidee, die jetzt in Schwung kam. »Und dann hat es beim Abendessen geklingelt, und Pa hat zu Stan gesagt: ›Da kommen sie – die wollen dich abholen‹, und was glaubt ihr, was Stan da gemacht hat?« Ihre Knopfaugen blitzten vor Freude. »Er hat sich übergeben – über den ganzen Tisch!«

»Wie apselut widerlich«, sagte Kezia, aber während sie noch sprach, hatte sie einen ihrer ›Einfälle‹. Er jagte ihr Angst ein, so dass ihr die Knie zitterten, machte sie aber so glücklich, dass sie fast aufschrie vor Freude.

»Ich weiß ein neues Spiel«, sagte sie. »Ihr steht alle in einer Reihe, und jeder hält eine Callalilie. Ich zähle einszwei-drei, und bei drei müssen alle das Gelbe abbeißen und kauen – und wer als Erster runterschluckt, hat gewonnen.«

Die Samuel Josephs’ schöpften keinen Verdacht. Das Spiel gefiel ihnen. Ein Spiel, bei dem etwas kaputt gemacht wurde, erschien ihnen immer verlockend. Mit Wucht rupften sie die großen weißen Blüten ab und stellten sich in einer Reihe vor Kezia auf.

»Lottie darf nicht mitmachen«, sagte Kezia.

Aber das spielte gar keine Rolle. Lottie bog immer noch geduldig einen Lilienkopf hin und her – aber er ging einfach nicht vom Stiel ab.

»Eins – zwei – drei«, sagte Kezia.

Sie warf vor Freude die Hände in die Höhe, als die Samuel Josephs’ abbissen, kauten, schrecklich die Gesichter verzogen, spuckten, kreischten und zur Gartenpumpe der Burnells rasten. Aber das half nichts – es kam nur ein dünnes Rinnsal heraus. So rannten sie schreiend davon.

»Ma! Ma! Kezia hat uns vergiftet.«

»Ma! Ma! Meine Zunge verbrennt.«

»Ma! Uuh, Ma!«

»Was ist denn los?«, fragte Lottie sanft und drehte weiter den abgeknickten, nässenden Stiel hin und her. »Kann ich meins einfach so abbeißen, Kezia?«

»Nein, du Dummchen«, Kezia ergriff ihre Hand. »Das brennt ganz furchtbar auf der Zunge.«

»Ach, deshalb sind sie alle weggerannt«, sagte Lottie. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schlenderte sie zum Haus und begann, die Stuhlbeine auf dem Rasen mit dem Schürzenzipfel abzustauben.

Kezia war sehr befriedigt. Langsam stieg sie die Hintertreppe hinauf und ging durch den Anrichteraum in die Küche. Dort war nichts zurückgeblieben außer einem Klumpen gelber Scheuerseife in einer Ecke des Fensterbretts und einem Baumwolllumpen voller Waschbläueflecken in der anderen. Der Kamin war mit Müll vollgestopft. Auf der Suche nach Schätzen stocherte sie darin herum, fand jedoch nur eine Haarklammer mit einem Herzchen darauf, die dem Dienstmädchen gehört hatte. Aber die ließ sie liegen und schlüpfte durch den engen Flur ins Wohnzimmer. Die Jalousie war heruntergelassen, aber nicht ganz geschlossen. Das Sonnenlicht drang durch die grünen Lamellen und beleuchtete noch einmal die von gelben Chrysanthemen überquellenden violetten Vasen, die die Wände schmückten.

Die scheußliche Kammer war ganz kahl, genau wie das Esszimmer, abgesehen vom Büfett, das verloren in der Mitte stand, die Fächer eingefasst von einer Zackenlitze aus schwarzem Leder. Aber dieses Zimmer hatte einen ›komischen‹ Geruch. Kezia hob den Kopf und schnupperte noch einmal, um ihn sich einzuprägen. Leise wie ein Kätzchen kroch sie die leiterartige Treppe hinauf. In Mr. und Mrs. Burnells Schlafzimmer fand sie eine Pillendose, außen schwarzglänzend und innen rot, die einen Wattebausch enthielt. »Da könnte ich ein Vogelei drin aufbewahren«, beschloss sie.

Das einzige weitere Zimmer im Haus (das kleine Badezimmer mit der Zinkwanne zählte nicht) war ihr Zimmer, wo Isabel und Lottie in dem einen Bett und sie und Grandma im anderen geschlafen hatten. Sie wusste, dass dort nichts war – sie hatte Grandma beim Packen zugeschaut.

Oh, da war doch etwas! In einer Dielenritze steckte ein Korsettknopf und in einer zweiten einige Perlen und eine lange Nähnadel. Sie ging ans Fenster und presste die Hände gegen die Scheibe.

Vom Fenster aus sah man hinter dem Garten einen mit Baumfarnen und dicht verschlungenem wilden Grün bewachsenen Graben, und jenseits davon erstreckte sich die Esplanade, die von einer dicken Steinmauer eingefasst war, an der sich das Meer tosend brach.

Kezia war in diesem Zimmer geboren. Sie war während eines eisigen Südsturms schreiend aus ihrer widerstrebenden Mutter gekrochen. Als die Großmutter sie vor dem Fenster wiegte, sah sie, wie das Meer sich zu grünen Bergen erhob und die Esplanade überschwemmte. Das kleine Haus war wie eine Muschel im lauten Meeresdröhnen. Unten im Graben peitschten die Bäume wild gegeneinander, und große Möwen glitten kreiselnd und kreischend am Fenster vorbei.

Kezia gefiel es, so am Fenster zu stehen. Sie mochte das Gefühl des kalten Glases an ihren heißen kleinen Handflächen und genoss es zu beobachten, wie ihre Fingerspitzen ganz weiß wurden, wenn sie sie fest gegen die Scheibe drückte.

Während sie dort stand, verlosch der Tag, und die trübe Dämmerung verbreitete sich im Haus. Die diebische Dämmerung stahl die Form der Dinge, die listige Dämmerung malte die Schatten. Ihr auf den Fersen kroch der Wind heran, schnüffelnd und heulend. Die Fenster ratterten – ein Knarzen kam aus den Wänden und Fußböden, ein loses Blechstück schlug einsam gegen das Dach. Kezia registrierte dies alles nicht im Einzelnen, aber sie stand plötzlich ganz regungslos mit weit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Knien – sie hatte entsetzliche Angst. Ihr altes Schreckgespenst, die Dunkelheit, hatte sie eingeholt, und jetzt gab es kein beleuchtetes Zimmer, wohin man sich in der Verzweiflung retten konnte. Zwecklos, »Grandma« zu rufen – zwecklos, darauf zu warten, dass das Dienstmädchen vergnügt die Treppe heraufstapfte, um die Rollos herunterzulassen und die Wandlampe anzuzünden … Da war nur Lottie im Garten. Wenn sie jetzt begann, nach Lottie zu rufen, und immerfort laut nach ihr rief, während sie in fliegender Hast die Treppe hinunter und aus dem Haus rannte, würde sie Ihm vielleicht entrinnen. Es war rund wie die Sonne. Es hatte ein Gesicht. Es grinste, aber Es hatte keine Augen. Es war gelb. Wenn sie ins Bett gepackt wurde mit zwei Tropfen Aconitum im Medizinglas, atmete Es sehr laut und stetig, und bei gewissen, besonders furchteinflößenden Gelegenheiten, hatte Es sich sogar pausenlos um die eigene Achse gedreht. Es hing in der Luft. Das war alles, was sie wusste, und selbst das hatte sie der Großmutter nur unter größten Schwierigkeiten klarmachen können. Näher kam das Grauen und deutlicher war das blöde Grinsen zu spüren. Sie riss die Hände von der Fensterscheibe, öffnete den Mund, um Lottie zu rufen, und es kam ihr vor, als riefe sie laut, dabei gab sie keinen Ton von sich … Es war auf dem oberen Treppenabsatz, Es war unten an der Treppe und wartete im kleinen dunklen Flur, Es bewachte die Hintertür – aber an der Hintertür war auch Lottie.

»Ach, da bist du ja«, sagte sie fröhlich. »Der Umzugsmann ist da. Alles ist auf dem Wagen – und drei Pferde, Kezia! Mrs. Samuel Josephs hat uns ein großes Umhängetuch gegeben, da können wir uns reinwickeln, und sie sagt, du sollst den Mantel zuknöpfen. Sie kommt nicht raus, weil sie Asthma hat, und sie sagt, ›das darfst du nie wieder machen‹.«

Lottie tat sehr wichtig.

»Jetzt aber, Kinder«, rief der Umzugsmann. Er hakte seine großen Daumen unter ihre Achseln, und schon flogen sie empor. Lottie drapierte das Tuch »wunderschön«, und der Fuhrmann wickelte ihre Füße in ein altes Stück Decke.

»Füße hoch – schön sachte«, als wären sie zwei junge Ponies.