Die Alpträume meiner Frau - Gabriel Maria Nerítidos - E-Book

Die Alpträume meiner Frau E-Book

Gabriel Maria Nerítidos

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Beschreibung

Mauricio ist ein erfolgreicher Journalist und Medienmanager. Doch nachts lebt er in den Alpträumen, die ihm seine Frau erzählt. Schon bald gerät er in den Strudel ihrer nächtlichen Geschichten. Bei ihm kommen lange verborgen geglaubte Phantasien zum Vorschein. Vorstellungen werden aktiviert, von denen er nie gewusst hat, dass sie in seinem Inneren existieren. Sein Leben beginnt auseinander zu brechen: Dieser Roman ist ein Blick hinter die dunkle Fassade von Normalität und Erfolg in einer Gesellschaft, in der die Schrecken des Unterbewussten keinen Platz haben. "Es geht immer weiter, auch wenn ich es nicht will. Die Geschichten entwickeln ein Eigenleben. Sie überrollen mich. Nachts, im Halbdunkel des warmen Bettes erzählt, werden sie sehr wirklich."

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Für meine traurige Geliebte und die Tränen am Strand von Almeria

Inhalt

Introduktion

Alpträume

Die Stadt

Schläge im Kopf

Schläge real

Seelenstaub

Hundepeitsche

Fusion

Eingekapselt

Restaurant

Dunkle Nächte

Mariola

Sprachregelung

Weinende Augen

Fremd

Kennenlernen

Vergangenheit

Schnitt in den Kopf

Schrei

Der große Raum

Prüfungsangst

Nacht

Blut hinter den Ohren

Domina

Nichts getan

Rock und Bluse

Nach dem Po ins Gesicht

Wieder die Faust vor die Stirn

Kreis

Lüge

Transkription

Fast vergessen

Traum

Von Zuhause geträumt

Kindergartenausflug

Regen

Unter der Decke Phantasie Nummer 254

Aus der Nacht

Hinter den Wolken

Epilog

Introduktion

Das Handy klingelt. Mein Handy. Jahrelang habe ich mich geweigert so ein kleines mit Elektronik vollgepacktes Stück Plastik mit mir herum zutragen. Ich brauche das nicht. Wenn ich im Büro bin, habe ich ein Telefon auf dem Tisch. Wenn ich zuhause bin, kann man mich auch dort über das Festnetz erreichen. Und wenn ich unterwegs bin, da muss man mich nicht erreichen können. Ich bin sogar froh darüber. Das habe ich immer gesagt. Und jetzt habe ich mir doch so ein Ding gekauft. Es ging einfach nicht mehr. Es glaubt einem heutzutage einfach keiner, dass man kein Handy hat. „Du willst mir doch nur deine Nummer nicht geben“, heißt es dann. Einen größeren Ausdruck von Misstrauen kann es schon fast nicht mehr geben. Okay, jetzt habe ich eine Nummer und deshalb habe ich jetzt in der einen Hand den Telefonhörer mit der noch nicht zu Ende gewählten Nummer und in der anderen Hand das Handy in das ich hastig „Ja, hallo“, huste. Dummerweise bin ich erkältet, aber das hat, anders als meine schlechte Stimmung, nichts mit dem Handy zu tun.

Irgendwie fühle ich mich unbeholfen und auch etwas unter Stress, wenn ich mit dem schwarz glänzenden Ding telefoniere. Ich spreche meistens lauter, auf jeden Fall aber unnatürlich. „Nein, ich kann nicht kommen. Nein wirklich nicht!“

Ich bin im Büro. Ich habe es mir abringen lassen, auch im Büro das Handy an zu lassen. Alle Kollegen machen das. „Ich kann dich im Büro nicht erreichen, wenn du dauernd auf der Festnetzleitung telefonierst“, sagt Evita. Ich habe gesagt, dass ich nicht gleichzeitig mit zwei Leuten telefonieren kann. Aber das war kein Argument. In letzter Zeit sind meine Argumente nie ein Argument. Und wahrscheinlich hat sie sogar Recht. Ich komme einfach nicht mehr hinterher. Ich verliere viel zu oft die Kontrolle über alles und manchmal auch fast schon die Fassung.

„Sorry“, sage ich, „ich kann jetzt wirklich nicht mit dir telefonieren.“ Kapiert sie das denn nicht: Ich bin im Büro. Erstens habe ich zu tun, schließlich ist das ein Job hier, den ich mache und außerdem hören alle Kollegen mit und mir ist das peinlich. Ja, vielleicht bin ich fürchterlich altmodisch. Jeder quasselt die intimsten Sachen mit voller Lautstärke in das kleine Plastikkistchen, ohne mit der Wimper zu zucken tun sie das. Niemandem ist das peinlich, nur mir. Es ist mir peinlich gegenüber den Kollegen und auch peinlich gegenüber Evita. Ich bin dann befangen und sage Sachen, die ich ihr, wenn wir richtig, das heißt unbelauscht, telefonieren, nie so sagen würde. Es ist einfach der Ton. Ich bin dann fremd und unpersönlich. Das ist komisch Evita gegenüber, das ist aber auch komisch gegenüber den Kollegen. Spricht der so emotionslos mit seiner Frau, sehe ich auf ihren Gesichtern. Aber ich will die Kollegen auch nicht teilhaben lassen an unserem persönlichen Gespräch. Warum sollen sie die Kosenamen wissen, oder andere private Worte? Ich habe ihr das tausendmal gesagt, wir haben sogar für solche Fälle ein Codewort vereinbart, aber sie scheint es wieder einmal vergessen zu haben und redet und redet und ich versuche mit einem gedämpften „Mmh,“ nach dem anderen ihren Redeschwall zu einem sanften Ende zu bringen. Es ist nicht unwichtig was sie sagt, und ich höre sie gerne reden, aber nicht jetzt, jetzt bin ich auf der Arbeit, wir können das alles heute Abend und ganz in Ruhe besprechen. Dann fasse ich allen Mut den ich habe, sage so frisch wie möglich noch ein hoffentlich munter wirkendes „mmh“ und dann nach einer winzigen Pause: „Ja, tschüüüß“ und klappe schnell das Handy ein.

Eigentlich ist damit das Gespräch unterbrochen, gewissermaßen das Äquivalent zum klassischen Auflegen. Aber dummerweise habe ich, der technisch unbegabte, aber dessen ungeachtet ungebremst neugierige Nutzer, irgendwo in den Tiefen der Optionsmenüs, zwischen einigen hübsch aufrollenden Animationen und bunten, mir immer noch in ihrer Bedeutung unerklärlichen Icons, die Grundeinstellungen so verändert, dass sich das Ding beim zuklappen in den Freisprechmodus umschaltet und jetzt Evitas Stimme quäkend in meinem Handteller liegt. Sie spricht munter weiter, denn das „Tschüüüß“ kam nur von mir, sie war noch lange nicht fertig. Ich drücke das Handy reflexartig gegen meine Wange, Fleisch hat eine ganz gute schallschluckende Wirkung, und dann kommt sie an einen Knopf im Hörer, das passiert ihr manchmal, und die Leitung ist unterbrochen. Ausnahmsweise habe ich einmal Glück gehabt. Ich atme durch. Die Kollegen tun so, als sei nichts geschehen. Ist es auch nicht. Trotzdem ist es peinlich. Ich denke an heute Abend und konzentriere mich auf die Redaktionssitzung. Noch zehn Minuten. Okay, das reicht.

Ich muss mit der Kollegin noch zwei Artikel durchsprechen. Die Kollegin ist neu. Sie ist sehr gut, aber sie kennt noch nicht die Abläufe bei uns. Ich mache mit ihr zusammen eine Serie für die nächste Ausgabe. – Verdammt, ich kann mich immer noch nicht richtig konzentrieren. Ich denke an Evitas Gegrummel. Wenn ich nach Hause komme, heute Abend, ist es hoffentlich wieder vorbei. Oder es ist zu einem massiven Grollen angewachsen. Auch das ist möglich. Man kann das nie wissen. Egal. Jetzt erst mal die nächsten zehn Minuten konzentrieren und dann in die Sitzung.

„Ihre Frau“, meine ich im Blick auf das von mir immer noch krampfhaft umfasste Handy im Gesicht der Kollegin zu lesen. Aber das bilde ich mir nur ein, ganz sicher. Die ist viel zu professionell, seriös, oder wie immer man das sagen soll. Selbst wenn sie so etwas denken würde, nur für einen Bruchteil einer Sekunde, so als Gedankenblitz, sie würde es gleich wieder fallen lassen, es würde sie einfach nicht interessieren.

Ihre Professionalität gibt mir Ruhe. Endlich kann ich mich konzentrieren. Sie hat wirklich gute Ideen. Ich mache ein paar Vorschläge für die notwendigen Kürzungen, ersetze einige etwas unpassende Adjektive. Sie versteht was ich meine und hat zweimal eine noch bessere Lösung. Es macht Spaß mit ihr zu arbeiten. Sachlich, lösungsorientiert. Wenn ich so mit Evita sprechen könnte, denke ich. Aber das ist natürlich Quatsch. Beziehungswiese es ist genau das, was ich gemacht habe und was der Fehler war. Ich habe mich bei einem Projekt in Evita verliebt, bei der Arbeit. Man konnte wunderbar mit Evita arbeiten. Und es ist ein Fehler, wenn man das durcheinander bringt, das Private und die Arbeit. – Bin ich gerade dabei mich in die neue Kollegin zu verlieben? Nein, das ist Quatsch. Ich schaue kurz auf die Uhr und mache weiter.

Ja, ich habe auf ihre Figur geschaut, sie taxiert, als ich sie das erste mal gesehen habe. Alle Männer machen das wenn sie eine Frau sehen. Und dann schauen sie auf die Hände und sehen eine Ehering, oder sie hören, dass sie mit ihrem Freund oder Ehemann telefoniert oder man denk daran, dass man selber verheiratet ist. Meist denke ich recht spät daran, zumindest in der letzten Zeit. Und außerdem findet das nur wirklich in den allerersten zwanzig oder dreißig Millisekunden statt und dann denkt man wieder ganz normal. Das sind einfach die biologischen Urinstinkte und die laufen ab, ganz automatisch, und dann kommen die Kultur und die Sozialisation und die Erfahrung und bremsen die Urinstinkte ganz schnell aus. Nur keinen Unsinn machen! Außerdem hat man irgendwann und eigentlich schon ganz schnell dann das Bild, das von den Leistungen, die die Kollegin bringt und von den Erfahrungen, die man mit ihr gemacht hat, geprägt ist. Ein sachliches Bild. So ist das.

Evita glaubt mir das nicht. Ich habe zumindest den Eindruck, dass sie mir das nicht glaubt. Ich habe einmal versucht, ihr das zu erklärt. Sie hat nichts gesagt, ich glaube einmal hat sie sogar genickt. Und jeder andere hätte das als Zustimmung verstanden. Ich aber nicht. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht glaubt. Und dummerweise weiß ich, dass sie recht hat, zumindest in einem Fall und den kennt sie nur zu gut. Aber nicht nur deshalb gebe ich gerne zu: irgendwie schwimmt da immer auch noch, nur ganz weit hinten natürlich, der Gedanke mit, dass man ja eigentlich mit ihr könnte, mit der Kollegin, der Mitarbeiterin. Nur theoretisch natürlich und wenn sie auch an so etwas denken würde und wenn man nicht verheiratet wäre und so weiter und eigentlich ja natürlich nicht. Warum auch? Für ein kleines bisschen Spaß muss man nicht mit so viel Ärger bezahlen. Man bezahlt immer. Das ist das was ich weiß. Ich sage es nicht, niemandem sage ich das, aber ich bin mir ganz sicher, dass das so ist.

Wieso kommen mir eigentlich jetzt diese Gedanken?

Die Sitzung hat schon begonnen. Ich räuspere mich und stelle kurz das Projekt vor. Nur ein paar Sätze. Die Kollegen wissen, dass es mein Projekt ist und dass ich die neue Kollegin da rein geholt habe, und dass sie das dann nachher selbstständig machen soll. Ich habe ein gutes Händchen für neue Kollegen, ich könnte auch Chefredakteur sein, den ganzen Laden hier organisieren. Aber ich fühle mich in der zweiten Reihe ganz wohl. Da hat man immer etwas mehr Zeit, die eine entscheidende Viertelsekunde mehr, um überlegt zu reagieren. Und mein Chef weiß das zu schätzen. Wir sind ein gutes Team. Ich mache das nicht kaputt, nicht durch Eitelkeiten und nicht durch irgendwelche unüberlegten Dummheiten. Aus dem Alter bin ich raus.

Es gibt keine Einwände und auch keine Änderungsvorschläge. Die Kollegin schaut mich an. So arbeitet ein Profi. Wenn ich das jetzt so sagen würde, wäre das überheblich, aber ich spüre es in ihrem Blick und dann ist es okay. Es kommt ja von ihr. Auf dem Weg zurück in mein Büro denke ich, ich sollte nicht so viel hineininterpretieren, in ihre Blicke oder Gesten. Bei Evita ist das anders. Da muss ich das, da ist das überlebensnotwendig. Aber nicht noch so etwas Kompliziertes auf der Arbeit, denke ich. Wieso komme ich immer wieder auf dieses Thema? In meinem Büro angekommen mache ich das Fenster auf: Frische Luft.

Am Abend, zuhause, ist alles in Ordnung. Ich merke das schon als ich die Tür öffne. Sie hängt gerade Wäsche auf, im Bad. Das finde ich nicht schön, sie könnte es doch auch auf dem Balkon machen, aber da hat sie Angst vor den Fliegen. Wir haben einmal darüber gesprochen, so wie über so vieles. „Die Fliegen, die setzen sich doch auf alles möglich drauf, du weißt schon, doch auch auf Sch ... , nun ja, und dann auf die Wäsche“, sagte sie. Und ich hätte sie beinahe gefragt, warum sie, die doch sonst so völlig ungehemmt fluchen und schimpfen kann, sich jetzt nicht traut das Wort ‚Scheiße‘ in den Mund zu nehmen. Aber ich habe sie nicht gefragt. Ich wollte sie nicht reizen oder verletzen. Sie ist manchmal sehr empfindlich.

Ich setze mich an den Tisch. Sie hat das Essen gemacht. An ihrem freien Tag macht sie immer den Haushalt. Das haben wir so abgesprochen. Ansonsten ist das mein Revier, der Haushalt, und das finde ich auch gut. Das war von Anfang an in unserer Beziehung so. Ich habe gekocht und auch die anderen – wie ich das gerne nenne – Servicearbeiten übernommen. Letztendlich ist das einfach eine Frage der Organisation. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, das ich so lange allein war. Ich bin es einfach gewohnt diese Arbeiten zu machen.

Es ist für mich das erste Mal, dass ich in einer festen Beziehung lebe, so richtig traditionell mit gemeinsamem Haushalt. Selbst als ich schon lange mit Evita zusammen war und es eigentlich jedem, der von unserer Beziehung wusste, klar war, dass wir früher oder später ganz klassisch heiraten würden, haben wir noch zwei Wohnungen gehabt. Sie hatte noch sehr lange zuhause gewohnt, bei ihrer Mutter, und dann eine Zeit lang noch in einer kleinen Dachwohnung in einem alten Haus sehr nah an der Universität. Eigentlich eine Studentenwohnung, nicht ein Apartment für eine erwachsene Frau.

Einmal, im ersten Jahr unserer Beziehung, habe ich zu ihr gesagt: „Ich bin wohl für dich ‚Hotel Mama zwei.‘“ Sie hat gelacht. Sie fand das gar nicht schlimm, eher sogar amüsant.

Ich war sehr wütend, als ich das mit dem ‚Hotel Mama zwei‘ gesagt habe. Sonst wäre mir das gar nicht herausgerutscht. Damals war das eine Ausnahme, dass ich wütend war. Ich verliere eigentlich nie die Fassung. Doch dass sie in dieser Situation auch noch lachte, hat bei mir das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich war zornig. Aber ich habe mich schnell wieder beruhigt und wir haben uns zusammengerauft. – Eigentlich ist das gar nicht richtig, denke ich. Wir haben uns nicht zusammengerauft, sondern ich habe es ausgehalten, es etwas ignoriert, und mir meinen Teil gedacht. Vor allem aber habe ich mich zusammengenommen und es einfach als Ausdruck ihrer Hilflosigkeit gedeutet und so habe ich es ihr dann letztendlich doch nicht übel genommen. Vielleicht war ich auch einfach nur zu feige für einen Streit, vielleicht auch damals schon, einfach nur zu müde.

Alpträume

Mit der Müdigkeit, das ist wirklich ein Problem. Seit wir zusammen sind, schlafe ich nicht mehr richtig. Zunächst hat sie mich einfach bis zum Wahnsinn erregt. Ich war noch nie so intensiv mit einer Frau zusammen wie mit ihr. Anfangs haben wir es wie Teenager miteinander gemacht, in Kleidung. Ich habe ihr unter das T-Shirt gepackt, die Finger unter den BH geschoben, hinten am Verschluss, aber sie wollte nicht, dass ich ihn öffne. Dann habe ich an den Hosenbund gegriffen. Zu der Zeit waren die Hosen an der Hüfte sehr tief geschnitten. Bei den meisten Frauen blitzte der Schlüpfer heraus, wenn sie sich vorbeugten. Ich bin tief mit der Hand hineingegangen, aber mit den Fingern nie bis zu ihrer Spalte vorgedrungen.

Wir haben uns ineinander verkrallt. Tief die Münder ineinander eingesaugt. Mich hat zuvor noch nie eine Frau so geküsst. Auch im Bett haben wir noch die Hosen angelassen und uns aneinander gerieben. Auf dem weißen Bettlaken konnte man nachher das blau ihrer durchgeschwitzten Jeans sehen. Trotzdem bin ich nie wirklich zum Höhepunkt gekommen. Nicht einmal habe ich abgespritzt, obwohl doch nichts hätte passieren können. Ich hätte schon damals wissen können, dass da etwas nicht stimmte mit uns. Aber ich habe das verdrängt.

Die ganze Nacht war ich voll unter Strom, immer kurz davor zu explodieren, und manchmal haben wir in einer Nacht nur zwei Stunden geschlafen oder weniger. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass sie auch normalerweise nicht schlafen konnte. Ich dachte, das sei eine Ausnahme, diese Extase. Aber es war anders. Viel später erst habe ich es gemerkt: Sie hatte Träume. Unruhige Träume, Träume die sie aufwachen ließen, und die Angst vor den Träumen ließ sie nicht einschlafen und deshalb krallte sie sich an mich. Es war nicht Erregung, es war Hilflosigkeit, Angst, Angst davor einzuschlafen.

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Richtig verstanden habe ich es bis heute nicht. Diese intellektuelle leistungsbetonte Frau lag nachts wach in ihrem Bett und der Grund, dass sie nicht schlafen konnte, war nicht ich.

„Ich muss noch etwas lesen“, sagt sie und ich ziehe mich in mein Arbeitszimmer zurück. Sie hat in letzter Zeit eine ganze Menge am Hals, und ich merke, dass mir das gar nicht unrecht ist, so habe ich etwas Ruhe, zum Arbeiten, denke ich. Meistens nicke ich schon kurz nachdem ich auf meinem Schreibtischsessel sitze ein. Was ich in der Redaktion nicht schaffe, schaffe ich auch zu Hause nicht mehr. Das ist blöd und wenn die Kollegin nicht so fit wäre, hätte ich ein wirkliches Problem. Ich komme einfach nicht mehr dazu, die Routinearbeiten und die Hintergrundrecherchen zu machen. Ich bin so völlig ausgelaugt. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis das auffällt. Das kann nicht mehr lange gut gehen. Ich fühle mich schon ziemlich nah an der Grenze. Und dann gehen mir immer wieder die Bilder ihrer Träume durch den Kopf. Wenn sie nicht schlafen kann, erzählt mir Evita ihre Träume.

Es ist meine Schuld, ich habe damit angefangen, wollte den Versteher, den Psychoanalytiker spielen. Ein fataler Fehler. Ich hätte ja auch nein sagen können. Jetzt werde ich sie nicht mehr los, diese Traumbilder. Sie laufen mir hinterher, sind immer schneller als ich und ich fürchte, dass sich die Träume und die Wirklichkeit ineinander verweben. Nur bis auf die Arbeit haben die Alpträume mich noch nicht verfolgt. Gott sei Dank.

Die Stadt

Sie ist in einer Stadt. Sie träumt oft von Städten. Sie kennt diese Stadt, vielleicht von früheren Träumen oder auch von einer Reise. Wahrscheinlich von einer Reise. Sicher ist sie sich da aber nicht. Sie wüsste gerne welche Stadt es ist, sagt sie. Sehr viel Backsteingebäude, etwas dunkel, schon sehr alt. Eigentlich eine schöne Stadt, nur eben etwas dunkel und die Straßen sind recht eng, sehr eng sogar, so eng, dass man, wenn man die Arme ausstreckt und sich ein bisschen anstrengt die Fassaden der Häuser auf der rechten und linken Straßenseite gleichzeitig berühren kann. Sie fährt durch diese Stadt, mit dem Auto, einem kleinen roten Auto. Durch das geöffnete Seitenfenster streicht ihr der Fahrtwind durch das Haar. Das Auto fährt nicht auf der Straße, sondern auf der Höhe des zweiten, manchmal auch des dritten Stocks durch die Luft. Aber es fliegt nicht, sondern es fährt, so wie es sich für ein Auto gehört. Sie spürt das Holpern des Kopfsteinpflasters und manchmal auch ein Schlagloch der Straße, die einige Meter unter dem Auto dahinfliegt.

Irgendwo ist ein Hotel, ein altes Hotel, ein Hotel mit Stil und Atmosphäre. Aber das Hotel ist nicht mehr in Betrieb. Der Aufgang, eine große Treppe, weit geschwungen, steht dunkel da. Irgendwo fehlen einige Wände, es ist ein bisschen wie eine Ruine oder eine Theaterkulisse. Sie geht die Treppe hinauf, ein langer Flur, rechts und links Türen, dann nur noch links, die Türen. Rechts fehlt die Wand und man schaut auf die Landschaft. Hier im zweiten Stock ist plötzlich rechts nur noch Landschaft. Schottische Hügel, etwas flacher als in Schottland, doch das Gras so tief grün wie man es von Postkarten kennt. Sie geht in eines der Zimmer, sie hat einen Schlüssel in der Hand. Es ist wohl ihr Zimmer, aber sie könnte auch in ein anderes Zimmer gehen. Sie ist auch in einem anderen Zimmer und wenn man aus dem Fenster geht, das ist jetzt der vierte Stock, fällt man nicht auf die Straße, sondern man ist direkt in einem Möbelhaus, in einer Ausstellung von Schlafzimmermöbeln. Sie geht über ein Bett, über zwei weitere Betten, die sehr eng nebeneinander stehen, da kann man nicht nebenher gehen, und dann ist da eine Gardine, eine Gardine die sie beiseiteschiebt, ein bisschen nur, um zu schauen was da ist, hinter der Gardine. Sie erwartet ein Fenster, denn Gardinen sind doch normalerweise vor Fenstern, aber da ist eine Bushaltestelle. Hinter dieser Gardine ist eine Bushaltestelle. Einige Leute warten, aber die Leute nehmen sie nicht wahr, obwohl sie sich auch in die Schlage stellt, einfach so, weil die anderen Leute ja auch in der Schlange stehen. Dann geht sie weiter, wieder durch das Fenster und sie ist wieder im Hotel, in einem anderen Zimmer allerdings, und so geht sie eine ganze Weile hin und her, wechselt zwischen Hotel, Möbelhaus und einer Landschaft, die jedes Mal etwas anders ist und auch in dem Hotel ist sie jedes Mal in einer anderen Etage.

Ein feiner Sprühregen schlägt auf die Fenster des Schnellzugs. Es ist lange her, dass es das letzte Mal geregnet hat. Wahrscheinlich wird es gleich einen richtigen Guss geben. Ich sitze im Zug und schaue auf die Tropfen die der Fahrtwind vor sich her treibt. Ich habe einen seltsamen Geschmack im Mund. Es kann von der Klimaanlage kommen. Vielleicht kommt es auch von dem Traum.

Ich frage mich, warum man von so einem Traum aufwacht. Evitas Träume sind mir fremd. Meine Träume sind ganz anders. Nur selten kann ich mich an einen meiner Träume erinnern, und wenn, dann verblasst die Erinnerung sehr schnell nach dem Aufwachen. Ich weiß dann nur noch, dass ich geträumt habe und nicht mehr was. Ich habe ihr das nicht gesagt. Ich habe einfach nur zugehört. Und jetzt sind die Bilder wieder da, so, als läge sie neben mir, als spürte ich noch das Zittern in ihrem Körper. Ich spüre es.

Es ist sehr fremd, was sie mir erzählt, fremd aber nicht erschreckend. Wo ist das Erschreckende, das Grausen? Liegt es zwischen den Steinen, den dunkel roten Backsteinen, aus denen die Häuser dieser Stadt gemauert sind? Sie mag Backstein, das sagt sie immer, wenn wir unterwegs sind und sie irgendwo ein Haus sieht aus Backstein. Ich weiß nicht wo das Grauen liegt, dass ihr den Schlaf raubt.

In mir ist eine abwartende, verhalten Grundstimmung, ein Schutz, der mich ihre Worte immer mit einer leichten Verzögerung wahrnehmen lässt, einfach eine Art Sicherheitsschaltung, damit, wenn das Erschreckende kommt, ich nicht zu sehr erschrecke, nicht so sehr erschrecke, dass sie noch mehr erschrocken ist, als das schon ohnehin der Fall ist. Ich will mich vor Ihrer Angst nicht ängstlich machen lassen um ihre Ängstlichkeit nicht noch zu steigern.

Wahrscheinlich erzählt sie mir das wirklich Erschreckende nicht, denke ich, und versuche zu erraten, wo in dem Erzählten der Punkt ist, an dem sie es herausgenommen hat. Aber ich finde den Ansatz nicht.

Irgendwann ist sie wieder in einer Stadt, in diesem Traum. Es ist eine andere Stadt. Sie steht in einer großen Menge von Menschen, die sich vor einer Kirche mit einem übermäßig hohen Turm versammelt hat. Ihre Worte erzeugen in mir ein Bild von einer übergroßen, verzerrten Fassade, einer Mischung aus Gaudi Kathedrale und Kölner Dom. Zwei Türme die asymmetrisch in den Himmel jagen, auch wenn sie nur von einem Turm spricht. Über große schwarze Lautsprecher hört man eine Stimme wie von einem Fußballreporter. Von der Turmspitze springen Leute, sie sind an einer Art Bungee Seil angebunden. Aber das Seil ist viel zu lang, es spannt sich nicht einmal ein bisschen. Die Leute springen von der Turmspitze und rammen mit dem Kopf in den Boden, so, dass nur noch ihre Füße herausstehen. Oder sie werden mit den Füßen soweit in den Boden gerammt, dass man nur noch ihre schreiend nach oben gestreckten Hände aus dem Boden herausragen sieht.

An der Stelle wo die Leute in den Boden gerammt werden springen die Zuschauer entsetzt auseinander. Aber so richtig erschrocken ist niemand. „Da ist wohl etwas schief gegangen“, sagt die Reporterstimmen fast sachlich. Da müsse man wohl etwas anders machen, aber vielleicht sei ja der nächste Sprung besser. Aber auch der nächste Springer wird wieder in den Boden gerammt. Irgendwann hört man auf mit dem grausigen Spektakel. Nicht wegen des Grausens oder des Entsetzens, nein einfach so, weil es Abend geworden ist, oder weil man es ja schon eine ganze Weile gemacht hat, oder weil einem etwas anderes eingefallen ist. Und dann wacht sie auf: Müde, gelähmt, entsetzt.

Sie schaut mich nicht an, während sie mir das erzählt. Ihr Blick geht an die Decke, eigentlich immer zu derselben Stelle. Sie sagt nichts mehr. Ich spüre den faden Geschmack des horriblen Sarkasmus ihres Traumes auf meiner Zunge.