Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte - Leena Parkkinen - E-Book

Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte E-Book

Leena Parkkinen

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Beschreibung

Ein wunderbarer Roman über die Kraft unerwarteter Begegnungen

Eine einsame Straße im Südwesten Finnlands: Die dreiundachzigjährige Karen sitzt am Steuer eines hellblauen Plymouth Furys und drückt aufs Gaspedal. Neben ihr sitzt die hochschwangere siebzehn Jahre alte Azar, welche vergeblich versuchte, die alte Dame bei einem Überfall auszurauben. Die ungleichen Frauen fliehen beide vor ihrer Vergangenheit, aber aus den unterschiedlichsten Gründen. Und doch verbindet sie ein Ziel: eine einsame Insel im finnischen Meer, die ein Geheimnis birgt. Denn dort müssen Karen und Azar einen über fünfundsechzig Jahre zurückliegenden Mord aufklären – dabei tauchen sie in eine Familiengeschichte ein, die so rau ist wie der Inselwind und so wunderschön wie das Sonnenlicht über dem eiskalten Meer.

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Seitenzahl: 535

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LEENA PARKKINEN

Roman

Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Galtbystä Länteen« bei Teos, Helsinki. Die Übersetzung wurde gefördert vom FILI – Finnish Literature Exchange
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Leena Parkkinen Originalausgabe © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Limes Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Leena Flegler Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-14329-9V002
www.limes-verlag.de

Für K., einen Freund, der mich lehrte, die Insel zu lieben

Karen war die ganze Nacht gefahren. Sie schaute in den Rückspiegel. Ich bin auf der Flucht, dachte sie. Graue Augen erwiderten ihren Blick, und um die Augen herum lag ein dichtes Faltennetz. In ein solches Gespinst hatte das Alter allmählich ihren ganzen Körper gehüllt. Für einen Moment hätte sie am liebsten laut geschrien, doch stattdessen prüfte sie, ob das Tuch immer noch ihren Hals richtig bedeckte. Sie wollte keinen Zug abbekommen. Der Wagen war wirklich nicht mehr in dem Zustand wie früher. Die Fenster waren undicht. Karen hielt Ausschau nach einer Tankstelle. Eine mit Selbstbedienung. Dort hingen zumeist schlechte Überwachungskameras. Für den Fall, dass Erik die Polizei alarmiert hatte. An einer normalen Tankstelle fiele ihr Auto zu sehr auf. Wo immer der Plymouth Fury auftauchte, würde man sich daran erinnern – genau wie an eine schöne Frau. Nur dass der Plymouth verlässlicher war, fügte Karen im Stillen hinzu. Laut aussprechen würde sie diesen Gedanken niemals. Männer verfügten in dieser Welt ohnehin schon über genug Waffen.

Die kahlen, vom Winter entlaubten Bäume zerteilten die Landschaft, der Himmel kündigte Regen an. Die Autobahn lag leer vor ihr. Vielleicht war es der Frühling, der sie so durcheinandergebracht hatte. Vielleicht erging es allen alten Leuten so, wenn die ersten Krokusse durchbrachen, wer weiß. Sie wunderte sich jeden Morgen beim Anblick ihrer Hände: die langen, schmalen Finger, die Leberflecke auf den Handrücken, die blauen Adern und die brüchigen, rot lackierten Nägel. In ihrer Vorstellung hatte sie immer noch die Hände eines Mädchens, glatt und makellos. Männer hatten, wenn sie ihre Hände hielten, stets gefragt, ob sie Klavier spiele. Als Antwort hatte sie für gewöhnlich nur gelächelt. In Wirklichkeit konnte sie eine Note nicht von einer Häkelnadel unterscheiden, aber die Frage hatte ihr geschmeichelt. Außerdem waren die Männer, die sie berührt hatten, selten an Musik oder ihrer Meinung zu Musik interessiert gewesen.

Sebastian war eine Ausnahme gewesen, in allem.

Erik. Wie konnte es sein, dass der Junge seinem farblosen Vater immer ähnlicher wurde! Von ihnen, von Karen und Sebastian Valter und von ihrer schönen Mutter, die dafür bekannt gewesen war, dass sie nicht einmal im November die Ziegenlederhandschuhe gegen Fäustlinge tauschte, hatte er rein gar nichts geerbt. Erik würde Angst bekommen, dachte Karen. Seit seiner Kindheit machte sich der Junge ständig um irgendetwas Sorgen. Einmal hatte er wissen wollen, ob Frösche eine Mutter haben und ob diese denn Sehnsucht nach dem Froschlaich empfinden, den er zuvor am Bachufer eingesammelt hatte. So wie Eriks Mutter Sehnsucht nach Erik habe. Vielleicht brächte er gerade am Straßenrand Plakate an. VERSCHWUNDEN, wäre darauf zu lesen. 83-JÄHRIGE FRAU. UNTERWEGS MIT EINEM HELLBLAUEN PLYMOUTH FURY, BAUJAHR 1956. FÜR HINWEISE IST EINE BELOHNUNG AUSGESETZT.

Der Junge konnte es sich leisten, eine anständige Belohnung zu zahlen. Er hatte schließlich nur eine Mutter. Da gehörte es sich nicht, knausrig zu sein. Welches Foto würde er wohl auswählen?, überlegte Karen. Hoffentlich nicht das schreckliche aus dem letzten Winter. Auf dem sah sie an der Kamera vorbei und trug diesen schauderhaften Oma-Morgenmantel aus Baumwolltrikot, den ihre Schwiegertochter ihr geschenkt hatte. (»Der hält warm!«) Das gewellte Haar fiel ihr über die Ohren, die Augenbrauen waren dünn gezupft, der immer schmaler gewordene Mund verlieh ihr eine gewisse Strenge. Sie sah auf dem Foto alt aus. Geschmack hatte ihre Schwiegertochter noch nie besessen. Erik allerdings auch nicht. Da kam er ganz nach seinem Vater. Der Mann war so langweilig gewesen, dass Karen es nur acht Jahre mit ihm ausgehalten hatte, und das auch nur, um ihre Schwiegermutter zu ärgern. Doch selbst wenn eine Ehe darauf beruhte, die Schwiegermutter in Schach zu halten, konnte sie nicht ewig halten, wenn der Mann Tag für Tag gebügelte Unterhosen wünschte.

Die Tankanzeige blinkte bereits, als Karen von der Autobahn ab- und an die Zapfsäule fuhr. Eine Tankstelle mit Personal. Warum war es nur so schwer, einen Tankautomaten zu finden, obwohl sich doch ständig alle darüber aufregten, dass ohnehin immer weniger Service geboten wurde? Doch sie musste das Risiko eingehen. Der alte Wagen brauchte genauso viel Sprit wie eine ganze Kneipe. Es wäre vernünftiger gewesen, Eriks Auto zu nehmen. Der dunkelblaue Saab hätte höchstens bei einem Bestattungsunternehmer Neugier geweckt.

An der Tankstelle stand kein einziges Auto. Drinnen hinter dem Tresen starrte ein junger Mann auf einen Fernseher und zupfte an seinem spärlichen Schnurrbart. Karen tankte, ging hinein und zog das verrutschte Tuch wieder über ihr Haar. Sie war doch nicht der einzige Kunde. Ein stämmiger Mann stand in der Ecke vor einem einarmigen Banditen. Schwarze Jeans, eine ausgewaschene schwarze Kapuzenjacke – wieder einer, der zu viele schlechte Filme gesehen hatte und glaubte, dass er mit seinesgleichen Schwierigkeiten bekäme, wenn er mal eine ordentlich gebügelte Hose anzöge. Karen bezahlte in bar. Kreditkarten traute sie nicht. Hinter ihr öffnete sich die Tür mit einem Klingeln, doch Karen wandte sich nicht um. Anscheinend waren zu jeder beliebigen Tageszeit Leute unterwegs. Sie faltete das Wechselgeld zusammen und wollte es gerade in ihr Portemonnaie stecken, als plötzlich jemand sie in den Rücken stieß.

»Geld auf den Tresen und Hände auf den Tisch, sodass ich se sehe!«

Karen drehte sich um und blickte direkt in die Mündung einer Waffe. Dahinter stand eine Frau mit einer Pinguinmaske auf dem Kopf. Sie trug schwarze Winterstiefel und einen viel zu dünnen Mantel, der vorn offen war und einen kugelrunden Bauch enthüllte. Schwanger, und das ziemlich weit, erkannte Karen und stellte überrascht fest, dass sie nicht die geringste Angst hatte. So fühlt es sich also an, dachte sie, wenn man in Gefahr ist. Es war lange her, dass sie echte Angst empfunden hatte. Im Alter hörte man auf, sich zu fürchten. Karen hatte schon mit achtzehn gelernt, dass der Tod ein unzuverlässiger Gefährte war. Und sich jederzeit einstellen konnte.

»Du auch, Oma«, blaffte die Frau mit der Maske. »Her mit dem Geldbeutel!«

Hinter ihnen röchelte der Verkäufer mit dem Jünglingsbart. Der Mann in der Kapuzenjacke drückte ihm gerade die Kehle zu.

»Er hat versucht, den Alarmknopf zu drücken.«

Die Frau wischte sich mit der freien Hand den Schweiß vom Hals. Der Mann in der Kapuzenjacke fesselte die Handgelenke des Jünglings mit einem Kabelbinder, stieß ihn zu Boden und griff dann in die Kasse.

»Du hast dir vielleicht Zeit gelassen! Ich hatte fast keine Münzen für den Spielautomaten mehr«, sagte der Mann und blätterte die Geldscheine durch. »Nur ein paar hundert …«

»Die Kupplung ist kaputtgegangen.«

»Das kommt davon, wie du fährst.« Der Mann nahm Karen das Portemonnaie aus der Hand und steckte seine dicken Finger hinein. Karen spürte, wie sich ihre Nackenmuskeln anspannten.

»Oho, drei, vier, fünf … Oma hat wohl gerade Rente gekriegt!«

Die Pinguinmaske warf Karen einen kurzen Blick zu, und Karen schaute ihr direkt in die Augen. Die Hände der Pinguinfrau hatten jung ausgesehen. Die kurzen Nägel waren zweifarbig lackiert, schwarz und pink, immer abwechselnd, genau wie eine Klaviertastatur. Sie hatte eine dunkle Hautfarbe.

Sie ist nicht von hier, dachte Karen. Und sie hat Angst. Sie ist eine Auswärtige, eine Fremde, und auf der Hut – wie ein Kätzchen im Straßengraben. Bereit, jedem zu gefallen, und andererseits vollkommen unberechenbar. Ich war einmal genauso. Damals, als ich gerade die Insel verlassen hatte.

»Das Auto ist eine Schrottkiste. Ich fahre, seit ich zwölf bin.«

»Na, dann besorgen wir dem Fräulein eben ein neues. Wie wär’s mit dem hellblauen da draußen? Der ist sogar vollgetankt.«

Nein!, protestierte Karen in Gedanken. Nicht mein Wagen! Ich bin nicht bereit, den Rest der Nacht hier auf der Tankstelle herumzustehen, auf die Polizei zu warten und Fragen zu beantworten. Ich bin nicht bereit, zu Hause besorgt empfangen zu werden und mir besänftigende Phrasen anzuhören. »Damit Oma keine Angst mehr hat.« Nein, ihr seid gar nicht imstande, mir Angst einzujagen, versteht ihr? Ich habe einen Knoten im Bauch, der den Ärzten Sorgen macht, ich habe eine Schwiegertochter, die ihre Beine mit Laser enthaaren lässt, und meine Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, habe ich bereits verloren, als mein Bruder im Krieg unter Leichen begraben wurde und meine beste Freundin mit Würgemalen am Hals in der Bucht Naavalahti angespült wurde und alle, die ich kannte, auf einmal anfingen, nur noch im Flüsterton mit mir zu sprechen.

Die Fähigkeit, verletzt zu werden, besitze ich nicht mehr, seit ich meinen ersten Mann dabei erwischte, wie er auf gestapelten Formularen lag und nur mehr Socken am Leib trug. Der eine Strumpf hatte auch noch ein Loch, aber das schien dieses dicke Laufmädchen aus seiner Firma nicht zu stören.

Und vor allem: Ich habe für all das keine Zeit.

Karen trat einen Schritt nach vorn. Die Frau kam auf sie zu und stieß ihr die Pistole in den Bauch. »Wo willst du hin?«

»Das ist mein Auto«, fauchte Karen und versetzte ihr einen Tritt. Die Frau fiel auf den Rücken. Der Mann stürzte auf Karen zu und griff nach der Waffe.

»Hä? Das ist ja eine Wasserpistole!« Er starrte seine Komplizin ungläubig an.

»Ich mag es nicht, wenn es laut knallt«, ächzte die Frau auf dem Fußboden und hielt sich den Bauch. »Du, ich glaube, es kommt …«

»Die Polizei? Die wissen doch noch gar nichts! Der Typ hat’s nicht geschafft, den Knopf zu drücken.«

»Tomppa, hilf mir! Das Baby!«, schrie die Frau.

»Assu!« Der Mann beugte sich über sie. Karen sah, wie sich der Jüngling mit dem Schnurrbart vorsichtig in Richtung Tresen bewegte. Aus dem Regal schnappte sie sich einen Kanister mit Glasreiniger, schloss die Augen und schlug zu. Der Mann mit der Kapuzenjacke fiel auf die Knie, und Karen trat ihm in den Rücken. Dann wühlte sie in ihrer Manteltasche und hätte beinahe vor Erleichterung laut geseufzt, als sie fand, wonach sie suchte.

»Du«, sagte sie zu der jungen Frau, »hör auf, hier herumzubrüllen. Es ist doch dein Erstes?«

Die Schwangere nickte.

»Dann kommt es noch lange nicht.« Karen zog einen Revolver mit Perlmuttgriff aus der Tasche. »Der hier hingegen hat es jetzt eilig. Und das ist kein Spielzeug.«

Der Mann in der Kapuzenjacke ächzte, hielt sich den Kopf und versuchte aufzustehen.

»Keine Bewegung!«, befahl Karen. »Deiner Mutter gefiele es sicher gar nicht, wenn sie hörte, wie du im Beisein von Damen redest. Die junge Frau darf dich jetzt fesseln.«

Die Schwangere stand auf, zog sich die Pinguinmaske vom Gesicht, und Karen zuckte zusammen. So jung, fast noch ein Kind: die großen braunen, erschrocken aufgerissenen Augen, das herzförmige Gesicht, die bleichen Lippen. Sie fesselte die Hände und Füße des fluchenden Mannes mit Kabelbindern.

»Das Geld«, sagte Karen. Die Kleine sah sie ratlos an. »Nimm das Geld und leg es in die Kasse zurück!«

Das Mädchen gehorchte.

»Die Polizei kommt!«, rief der junge Verkäufer.

Karen schaute nicht in seine Richtung. Ihr lief es kalt über den Rücken. Sie musste sich sofort aus dem Staub machen, sonst würden all ihre Pläne wie Seifenblasen zerplatzen.

Das Pinguinmädchen hielt sich den Bauch und jammerte.

»Hol lieber richtig Luft«, sagte Karen. »Du musst ins Krankenhaus.« Sie schubste das Mädchen in den Rücken und schob sie in Richtung Tür. Unterwegs hob sie ihr Portemonnaie auf und steckte es wieder in die Tasche. »Steig ein«, befahl sie, und das Mädchen gehorchte.

Irgendwo in der Ferne heulte eine Polizeisirene, als Karen den Wagen startete. Die Nacht roch nach Benzin.

Wer sich Fetknoppen mit dem Schiff nähert, sieht als Erstes die Uferfelsen, glatt und rund wie Kinderrücken. Sie tauchen ins Meer ein, dessen Wellen sich mit Kronen aus weißer Spitze an ihnen brechen. In den Felsspalten blüht Fetthenne – gelbe Farbtupfer, die der Insel ihren schwedischen Namen gaben. Im Frühsommerlicht wirken sie wie mit dickem Pinselstrich gemalt. Die Felsen von Fetknoppen haben einen rötlichen Farbton, und dasselbe Blutrot leuchtet in jedem Graben. Wenn man einen Brunnen anlegt, schmeckt das Wasser daraus so, als hätte man sich gerade auf die Lippe gebissen. Denn Fetknoppen ist eine Bergwerksinsel, hier wird Eisen abgebaut. In den Gruben arbeiten rund sechzig Männer, ein Teil kommt mit dem Schiff von den Nachbarinseln herüber. Während des Krieges waren in den Schächten auch Frauen beschäftigt. Sie trugen die gleiche Arbeitsbekleidung. Doch mittlerweile sind die Männer von der Front zurückgekehrt.

Es ist Juni. Zwischen den grauen Bootsschuppen am Ufer schwimmt eine Bisamratte und hinterlässt eine wie mit Öl gezogene Spur.

Karen sitzt auf dem Steg und raucht eine Zigarette, die sie ihrem Vater stibitzt hat. Eine ganze Zigarette nur für sie allein. Ihr Vater hat die Zigaretten vom Schwarzmarkt gegen ein Spiritusrezept erhalten, aber es ist besser, das niemandem gegenüber zu erwähnen. Obwohl auch auf dieser Insel sämtliche Häuser auf dem Sprit aufgebaut wurden, der mit dem Schiff aus Schweden kommt. Neben Karen stehen Mutters alte Schuhe, die auf dem Steg auslüften sollen. Karen hat sie auf dem Dachboden gefunden, wo sie in Zeitung eingewickelt ein paar Jahre gelegen haben. Die Schuhe riechen nach Naphthalin, und das Leder ist durch die Trockenheit rissig geworden. Karen will sie einfetten und Papier in die Schuhspitzen stopfen, weil sie ihr ein wenig zu groß sind. Es sind Tanzschuhe. Und neue bekommt man nun mal nicht, es sei denn, man heiratet einen Spritschmuggler oder den schwedischen Prinzen. Der ist allerdings im vergangenen Winter mit seinem Flugzeug über Kopenhagen abgestürzt. Doch Karen denkt jetzt nicht an den toten Prinzen und sein Kind, die Halbwaise, das winzige pausbäckige Prinzenbaby, von dem die Zeitungen nach dem Unglück unzählige Fotos veröffentlicht haben. Nein, sie denkt nicht daran, auch wenn sie damals vor Rührung weinen musste – als hätte sie nicht schon viel schlimmere Trauerfälle überstanden – und ein Bild des toten Prinzen in seiner Fliegeruniform an ihre Wand klebte. Er sah so toll aus. Aber nun ist er tot.

Heute ist im Vereinshaus Tanz. Das hat es seit Kriegsende nicht allzu oft gegeben, und Karen juckt es bereits in den Beinen. Sie schnipst die Zigarette ins Wasser und sieht zu, wie eine Möwe hinterherstürzt, sie verfehlt und in hohem Bogen über den Steg zurückfliegt, um das Mädchen aus sicherer Entfernung zu beobachten. Karen hört hinter sich die vertrauten Schritte. Sie lächelt, ohne sich umzudrehen. Es kribbelt in ihrem Bauch.

»Vater hat sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen«, sagt Sebastian. »Ich habe Aune gewarnt, sie soll den Rest des Alkohols verstecken. Eine Flasche hat er noch, aber damit kann er sich nicht umbringen.«

Karen nickt. Sie hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ihr Bruder wieder da ist. Nach dem Krieg war er oft krank. Dann hat er in Turku ein Studium begonnen. Sein Gesicht wirkt immer noch blass, während Karens Nase mit Sommersprossen gesprenkelt ist.

»Kommst du heute Abend mit?«

Sebastian muss lachen. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Es ist schwarz und glänzt und kräuselt sich an den Schläfen. »Zum Dorfschwof, meinst du?«

Karen ist angesichts seiner Wortwahl kein bisschen beleidigt, obwohl sie für den Tanzabend seit einer Woche an einem Kleid näht. Den Stoff dafür hat sie auf dem Dachboden gefunden. Er ist lindgrün, dünn wie ein Schleier und so spröde, dass er zu reißen droht, wenn in der Nähe nur gehustet wird. Statt zu schmollen nimmt sie sich Sebastians Skizzenblock, den er auf den Steg gelegt hat. Ihr Bruder kann hervorragend zeichnen. Er hat Karen aus einiger Entfernung mit nur wenigen Strichen so eingefangen, dass sie geradezu vollkommen wirkt, obwohl nur ein Stück ihrer Wange und der geschwungene Nacken zu sehen sind.

»Ich sehe toll aus«, verkündet sie.

»Mein schönes Ferkelchen«, scherzt Sebastian und zerzaust ihr das Haar. Karen blättert weiter. Das Bild einer Katze. Zwiebeln. Aune beim Wäschewaschen. Mit hochgekrempelten Ärmeln schwingt sie ihre dicken, im Alter zunehmend schlaff gewordenen Arme.

»Wer ist das?«, fragt Karen und zeigt auf das Bild eines ihr unbekannten Jungen. Sie erinnert sich vage daran, den Bekannten ihres Bruders schon ein paarmal auf Zeichnungen gesehen zu haben. Strenge Augenbrauen, ein Kinn, das als Eisbrecher herhalten könnte. »Jemand von der Uni, oder?«

Sebastian nimmt ihr den Skizzenblock weg und steckt ihn in die Tasche. »Deine Nase ist schon ganz rot. Du bekommst noch einen Sonnenbrand. Reib sie mit Zitrone ein, sonst bist du heute Abend wirklich ein rosarotes Ferkel.«

Karen bedeckt ihre Nase, schnappt sich die Schuhe und rennt ins Haus. Sie will keinen Sonnenbrand, auf keinen Fall.

»Nöff, nöff!«, ruft Sebastian ihr hinterher.

Das weiße Haus steht auf der Spitze der Halbinsel. Es hat zwei Stockwerke und ragt in die Höhe wie ein Eckzahn. Durch die oberen Fenster blickt man aufs Meer hinaus, auf der Verandaseite ist der Sockel etwas eingesunken, deswegen wirkt das Haus ein wenig windschief. Vater redet schon lange davon, es auszubessern, aber sie alle wissen, dass es dazu nicht kommen wird. Seine Unternehmungslust ist ihm während des Krieges, nach Mutters Tod, verloren gegangen. Tagaus, tagein nickt uns ein Mann zu, der wie Vater aussieht, und zieht sich dann in sein Arbeitszimmer zurück. Nur betrunken lebt er auf, wird boshaft, und nur da hat Karen die Kraft, ihn zu verabscheuen, den Vater, den Helden ihrer Kindheit, den sie einst vergötterte. Wie lange ist das her – wie lange ist es her, dass ihr Leben im weißen Haus am Ende der Halbinsel in normalen Bahnen verlief? Als die kleinen Zimmer noch nicht verlassen wirkten und endlos weit wie die Wüste Gobi.

Der Rock flattert um Karens Waden. Das Mädesüß blüht. Sie spürt ein leichtes Kratzen an ihrem Fuß, dreht sich um, bückt sich und nimmt das Kätzchen, das ihr nachgelaufen ist, auf den Arm. Es ist das einzige, das aus dem Wurf dieses Sommers übrig geblieben ist, ein kleines graues Wollknäuel und federleicht. Karen riecht an seinem milchig duftenden Fell und flüstert ihm zu: »Heute Abend will ich schön sein.« Doch ihre Angelegenheiten interessieren das Kätzchen nicht, und es sträubt sich. Vorsichtig setzt Karen es zurück auf den Boden. Es ist Sebastians Kätzchen. Ihr Bruder liebt Katzen, und auch diese hat er vor dem Wasserfass gerettet, das sie ansonsten erwartet hätte. Karen muss bis zum Abend noch tausend Dinge erledigen, aber ihre Gedanken wandern immer wieder zu Sebastian. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass ihr Bruder ihr etwas sagen wollte, es dann aber bleiben ließ. Karens Bruder sei merkwürdig, sagen alle. Aber die wissen nicht, was für eine weiche Stimme Sebastian hat, wenn er zu dem Kätzchen spricht, wie geschickt seine Hände sind, wenn er ein Netz flickt oder zeichnet. Was immer Sebastian ihr erzählen wollte – Karen weiß, dass es nichts allzu Schlimmes sein konnte. Nicht sein kann.

Es ist Juni, und der Flieder duftet. Von der Wäscheleine hängen die Gardinen, die Aune gebleicht hat. Wasser tropft daraus in den Sand. Bettwäsche und drei Kleider von Karen – alle Kleider, die sie besitzt, außer demjenigen natürlich, das sie anhat, und dem, das sie am Abend anziehen will. Abgetragene Lumpen, gewendet, geflickt, aber Karen liebt sie alle. Unterwäsche ist nicht dabei. Aune will nicht, dass Unterwäsche draußen hängt. Bei den Bergleuten weiß man nie. Karen hat keine Ahnung, warum Aune sich einbildet, dass Bergleute alte Unterhemden und Unterhosen klauen wollten, aber sie gehorcht ihr. Sie muss Aune gehorchen. Verglichen mit ihr ist Karen ein albernes junges Ding, das sich alles Mögliche vom Leben vorstellt. Und Karen weiß, dass sie ohne Aune nicht imstande wäre, den Haushalt zu führen. Heute ist Waschtag. Aune tut die Dinge immer dann, wenn sie an der Reihe sind. Niemals zu früh, niemals zu spät. Die Wäsche samstags, die Uhr in der Stube zieht sie mittwochs auf, und montags wird Fischsuppe gekocht. Karen berührt die weißen Laken, riecht ihren Duft, das Waschpulver, den von der Sonne warmen Stoff. Bevor sie zum Tanz geht, muss sie daran denken, die Wäsche abzunehmen, sie wird im Nu trocken sein.

Karen schiebt sich mit der Schulter voran durch den vollen Saal, die Handtasche hält sie fest in der Hand. Es ist eng, und es riecht nach warmem Schweiß. Männer stehen mit glänzenden Augen an den Wänden, sie sind mit dem Boot von der Nachbarinsel gekommen, ihre Brusttaschen sind prall gefüllt. Einen Teil ihres Proviants haben sie schon unterwegs zu sich genommen. Einer der Männer – Karen weiß, dass es ein Bergmann ist – mustert sie, sagt etwas zu seinem Kumpel, und beide lachen. Karen macht kehrt und schlängelt sich durch das Gedränge in eine andere Richtung. Plötzlich spürt sie eine Berührung im Nacken und dreht sich um.

»Ich hab dich schon gesucht«, sagt Nils. Karen starrt den Hals des Mannes an, der aus dem gestärkten Kragen ragt und im Takt seines Atems bebt.

»Mutter hat gesagt, ich soll mich von Männern fernhalten, die weiße Schuhe tragen«, erwidert Karen, und Nils legt die Hand auf ihre Taille. Sie tanzen, aber nicht besonders gut. Karen kann sich seinem Hinken nicht anpassen. Sie fühlt sich irgendwie schuldig, weil sie ihn an seine Behinderung erinnert. Im Stehen bemerkt man sie kaum. Aber sie möchte so gern tanzen. Das grüne Schleierkleid kommt überhaupt nicht zur Geltung, wenn es sich nicht bauscht. Und Karen hat doch einen ganzen Abend dafür verwendet, den Saum in Falten zu legen. Die Schuhe sind ihr immer noch ein wenig zu weit, obwohl sie Zeitungspapier hineingestopft hat, sie muss sich vorsichtig bewegen, um nicht zu stolpern. Sie hofft, dass Nils ihr Kleid kommentiert, aber er starrt lediglich über ihre Schulter zum Rand der Tanzfläche hinüber.

»Dein Bruder redet mit Kersti.«

»Ist das nicht unglaublich? Kersti wusste, dass ich mein grünes Kleid anziehe. Ich habe es ihr etliche Male gezeigt, und sie hat kein einziges Mal gesagt, dass sie sich ein ähnliches nähen will. Wenn diese Frau in meine Nähe kommt, zerkratze ich ihr das Gesicht.«

»Euch beide kann man nicht miteinander vergleichen. Kersti ist nur Kersti.«

»Herrgott noch mal«, schimpft Karen. »Kann diese Kapelle nicht mal was anderes spielen als dieses melancholische ›Auf den Hügeln der Mandschurei‹?«

»Wollen wir ans Wasser gehen?«, fragt Nils, und Karen lächelt. Sie nehmen den Weg über den Friedhof. Als Kind hat Karen die bemoosten Steine geliebt, die Holzkreuze mit den Metallschildern, auf denen »Älskade Birgitta« oder »Sjökapten Karl Gustav Eklund« steht. Mittlerweile meidet sie den Ort. Selbst die Kiefernäste hängen hier wie tot herab. Die Kirche blickt fast feindselig aufs Meer hinaus. Sie wurde irgendwann im neunzehnten Jahrhundert aus grobem grauem Stein errichtet. Vater hat behauptet, der Stein stamme aus den Ruinen des Franziskanerklosters, das hier einst stand.

In ihrer Kindheit hat Sebastian ihr immer wieder einzureden versucht, dass hinter dem Altaraufsatz der Kirche noch immer ein Franziskanermönch wohne. Ein Mann, der mächtig alt und runzlig war und so zerstreut, dass er vergessen hatte zu sterben. Und wenn Karen zu nahe an den Altar heranginge, würde der Mönch mit seinen langen Schrumpelfingern nach ihr greifen. Karen erzählt Nils davon, und sie lachen das ewige Lachen junger Leute, die das Gefühl haben, ihre Kindheit und deren verrückte Vorstellungen und Ängste schon ein ganzes Menschenleben lang hinter sich gelassen zu haben.

Karen zieht ihre Schuhe und die Kunstseidenstrümpfe aus und nimmt sie in die Hand. Abends ist der Boden feucht. Es wäre dumm, die guten Schuhe zu ruinieren. Beim Küssen schließt sie die Augen. An einem Schuppen ist Hopfen emporgeklettert. Sie ziehen sich in den Schatten zurück, als sie vom Kiesweg Schritte hören. Sie wollen nicht gesehen werden, sie möchten nicht, dass sich irgendjemand zu ihnen gesellt. Karen spürt Nils’ Atem an ihrem Ohr, wie leichte elektrische Schläge wandert er ihre Wirbelsäule hinab und lässt ihre Knie vor Anspannung erzittern. Er fasst sie um die Hüften, und Karen fühlt ihn an ihrem Rücken, riecht den Schweiß und das Mädesüß. Es ist ein Spiel: Sie haben sich versteckt und sind zugleich sichtbar, und Nils fährt mit dem Zeigefinger ihre Lippen entlang. Dann in den Ausschnitt hinein. Er lässt einen Finger am Rand ihres Büstenhalters kreisen. Karen könnte nicht sagen, was sie dabei fühlt. Doch die Schritte auf dem Weg gehen nicht vorbei. Sie wissen, wo sie suchen müssen. Jetzt rascheln Stiefel im feuchten Gras.

»Karen?«, ruft eine Stimme, und im selben Moment reißt sich das Mädchen aus Nils’ Umarmung los.

»Sebastian!«

»Ich hab gesehen, dass ihr in Richtung Friedhof gegangen seid.« Sebastian sieht Nils an und nickt. Es ist so etwas wie eine Bitte um Entschuldigung. Nicht unterwürfig, denn er ist der Bruder des Mädchens. Das Nicken zeigt vielmehr, dass er weiß, wie es ist, nachts mit einem Mädchen auf dem Friedhof zu sein. »Karen, ich muss mit dir reden. Jetzt sofort.«

»Vater?«, fragt Karen, aber Sebastian schüttelt den Kopf. Sie sieht Nils an, und der nickt. Der brave Nils, der stets so verständnisvolle Nils. Eigentlich hat Karen diesen Mann gar nicht verdient. Manchmal geht er ihr auf die Nerven, aber gerade jetzt wird ihr wieder klar, warum sie ihn so sehr mag: Nils braucht sie nicht die ganze Zeit, verlangt nicht ständig etwas von ihr. Er gibt sich mit dem zufrieden, was Karen bereit ist, ihm zu geben. Er beklagt sich nicht darüber, dass Karen ihn nicht genug liebt. Er wird nicht wütend, wenn sie zwischendurch gedankenversunken dasteht und bei einem unverständlichen Satz des Mannes plötzlich aufschreckt, ohne den Zusammenhang zu begreifen.

»Wir sehen uns morgen. Du nimmst es mir doch nicht übel?« Karen hakt sich bei Sebastian unter, lächelt Nils entschuldigend an, streift mit ihrer Wange zum Abschied seine Lippen und verschwindet mit Sebastian in der Sommernacht. Zurück bleibt nur der leichte Duft von Sandelholzseife.

Das Hemd des Bruders reibt an ihrem nackten Arm. Auf seiner Schläfe stehen Schweißperlen.

Karen hat den Morgen damit verbracht, einen Brei aus Preiselbeeren und Grieß schaumig zu schlagen und die kalten Umschläge auf Vaters Stirn zu wechseln. Er hat wieder einmal Weltschmerz. Der packt ihn einmal im Monat, immer wenn die Saltholm am Steg anlegt.

»Der Sohn des Spritkaisers!«, schimpft er dann. »Sein Vater kann kaum lesen. Eine feine Sippschaft.« Karen verkneift es sich anzumerken, dass Vater anscheinend trotzdem ganz gern ein Gläschen zu sich nimmt, das der Spritkaiser gefüllt hat. Sie macht den Mund zu und kehrt in die Küche zurück.

Karen schält Möhren, die letzten dieses Winters. Im Keller sind sie durch den Frost süß geworden. Das Fenster steht offen, und die blau geblümten Gardinen flattern im Wind. Der Gestank von Mattsons neuem Kuhstall weht herein. Karen hat sich bei Vater über den Geruch beschwert, doch der hat nur auf ihre Stirn gestarrt und entgegnet: »Das ist der Geruch des Geldes, Tochter. Damit werden auch deine Kleider bezahlt.«

Sie hatte keine Lust zu erwidern, dass sie schon ein ganzes Jahr lang keinen neuen Kleiderstoff mehr bekommen habe. Es wäre zwecklos gewesen. Vater hört nicht richtig zu, deshalb kann man mit ihm nicht streiten. Nüchtern ist er mürrisch und schweigsam. Schon allein, dass er sich gezwungen sieht, sich mit hässlichen, alltäglichen Dingen abzugeben, ärgert ihn. Vater mag die Wirklichkeit nicht, er will nichts mit Kartoffelkochen, Milchrechnungen und entzündeten Eutern zu tun haben. Am liebsten würde er sich ganz in seine Bücher vertiefen und Artikel über die viertausend Jahre alten Knochen eines Urstieres schreiben, die man in den Pyrenäen gefunden hat. Aber die Wirklichkeit verlangt von ihm, dass er seine Hand in eine unter Milchfieber leidende Kuh schiebt, und deshalb braucht er etwas, was ihn aufmuntert: ab und zu einen kleinen Cognac.

Wenn Vater trinkt, wird er sanft. Er erzählt Geschichten, sitzt bei Karen oder Sebastian auf der Bettkante und redet darüber, wie sie als kleine Kinder waren. In betrunkenem Zustand ist er allseits beliebt – zumindest am frühen Abend. Nur verlässlich ist er nicht. Die Geschichten werden von Mal zu Mal wilder. Er selbst würde nie zugeben, dass mit seinem Gedächtnis irgendwas nicht stimmt. Trotzdem hat er Karen einmal auf dem Regal im Bootsschuppen vergessen, als sie noch klein war, und ist fischen gegangen. Vier Stunden später hat man Karen wiedergefunden. Da war ihr Vater längst mit zwei Hechten zurückgekehrt und in seinem Zimmer verschwunden, um ein Nickerchen zu machen. Erst da ging man das Mädchen suchen und kam schließlich auf die Idee, im Bootsschuppen nachzusehen. Dort saß sie auf dem Regal, baumelte mit den Beinen und war hungrig wie ein Wolf.

Zucker hat Karen das letzte Mal zu Ostern bekommen. Vater tauscht ihre Lebensmittelkarten lieber gegen Zigaretten ein. Wenn Karen sich konzentriert, kann sie sich noch vage daran erinnern, wie zu Friedenszeiten die Karamellbonbons auf der Zunge knisterten. Aber sie ist sich nicht ganz sicher, ob dies eine echte Erinnerung ist oder nur das Ergebnis von Gesprächen mit ihren Freundinnen. Denn natürlich haben sie darüber geredet – stundenlang haben sie darüber geredet, wie das Essen vor dem Krieg war. So lange, dass sich Karen zwischendurch die Ohren zuhielt und rief, sie ertrage das alles nicht mehr.

Aune reißt sie aus ihren Gedanken. Die Haushaltshilfe stürmt in ihrer Stallschürze herein. »Kersti ist verschwunden!«, ruft sie. »Man hat ihr Fahrrad an der Bushaltestelle gefunden. Endlich ist sie abgehauen.«

Karen steht auf und trocknet sich die Hände an der Hose ab. Sie weiß, dass sie Aunes Ausdrucksweise korrigieren müsste, dass sie mit ihr schimpfen müsste wegen der Schürze, in der sie Bakterien in die Küche bringt, in Karens saubere, mit Lauge geschrubbte Küche, doch stattdessen fragt sie: »Und Sebastian?«

Wie auf Zuruf stürzt im selben Augenblick ihr Bruder in die Küche. Er riecht nach Meer. Hat Fischblut an der Hose. »Ich hatte einen Fünf-Kilo-Hecht im Netz! Er hat sich darin verfangen und es zerrissen. Noch im Boot hat er verbissen gekämpft, aber mit Müh und Not habe ich es geschafft, ihm die Kehle durchzuschneiden.«

Sie starren Sebastian an, bis der Bruder sich verwirrt umsieht. Er wischt sich die Stirn ab, und das aufgeregte Rot angesichts seines Fangs verblasst auf seinen Wangen.

»Kersti ist weg«, sagt Karen, und der Triumph hämmert in ihrer Brust. »Sie hat nicht in ihrem Bett geschlafen.«

Der Bruder sieht erst sie an, dann Aune. Schließlich zieht ein Schleier der Gleichgültigkeit über sein Gesicht. Er weiß, dass die beiden Frauen ihn mustern, in seinem Gesicht die Antwort auf ihre Fragen suchen. Vor allem auf die Frage, warum er, Sebastian, noch hier ist. Er, der doch immer vom Fortgehen redet. Und plötzlich durchfährt es Karen wie ein Blitz: Welches Recht hat Kersti zu verschwinden? Ist ihr Zuhause etwa schlechter gewesen als das von Sebastian und Karen? Ärmer ist es natürlich.

»Ich werde niemals denselben Fehler begehen wie Mutter«, hat Karen zuletzt vor ein paar Stunden gesagt. Sie will sich nicht verlieben und alles hinter sich lassen, um auf eine kleine Insel in den äußeren Schären zu ziehen. Auf eine felsige Klippe, über die der salzige Seewind weht, der die Bäume austrocknet und kaum zehn Jahre alte Balken morsch werden lässt. Karen will Prinzessinnentorte, Rosenwasser und Restaurantdiners mit fröhlichen Herren. Sie will keine praktischen Schuhe tragen und ihr Tuch so fest binden müssen, dass ihre Frisur platt wird. Wenn Karen alt genug ist, wird sie fortgehen. Und Sebastian kommt mit.

Es ist, als hätte Kersti sie ob ihrer Träume verspottet und sie ihnen hingeschleudert und sie beide Traumtänzer geschimpft, die in der Tür standen und staunend zusahen, während andere taten, wovon sie nur redeten.

Mit ihren achtzehn Jahren ist Karen durchaus schon woanders gewesen. Zweimal ist sie übers Wochenende zu Sebastian nach Turku gefahren, sie hat Hunderte Stunden im Hafen von Fetknoppen gesessen und zugesehen, wie das Schiff nach Stockholm vorüberfuhr. Sie hat den Geschichten der alten Schmuggler gelauscht, über Riga und die Mädchen in Hamburg, über die Polizisten in Rotterdam und jene Ufer, an denen man ein schnelles Boot gut verstecken konnte. Sie weiß, dass es eine Welt jenseits von Fetknoppen gibt und dass diese Welt auf sie wartet. Der Wunsch fortzugehen brennt in ihrem Bauch, sie sehnt sich weg, weiß aber nicht genau, wohin. Doch sie weiß, dass das Festland sie erwartet, und schon allein das lockt sie unwiderstehlich aufzubrechen, sich auf den Weg zu machen. Genau das, denkt Karen, ist der Grund, wofür man lebt.

Sie nimmt ihre Schürze ab und wischt sich entschlossen die Finger daran ab. »Ich gehe in Raivola vorbei, bei Kersti zu Hause. Die werden bestimmt schon was wissen.«

»Was willst du denn da? Da rennen jetzt auch so schon genug Neugierige rum«, sagt Aune, hindert sie aber nicht weiter daran aufzubrechen.

Vor dem Spiegel im Flur zupft Karen ihre Locken zurecht, denkt kurz darüber nach, ob sie sich schminken soll, verzichtet dann aber darauf. Kerstis Eltern sind fromm. Es ist besser, sich nach den Leuten zu richten, wenn man etwas von ihnen in Erfahrung bringen will.

Kerstis Zuhause sieht man schon vom weißen Haus aus. Es ist zweistöckig und wie die meisten Häuser auf Fetknoppen rot gestrichen. Eigensinnig steht es an der Mündung einer Meerenge, die Fensterbretter sind sauber gekalkt, rein wie die Seelen der Pfingstler, sagt Vater. Er kann diese frommen Leute nicht ausstehen, und auf der Insel leben gleich drei Arten davon. Karens Familie gehört der normalen Kirche an. Dann gibt es noch die Pfingstler mit ihren eigenen Bethäusern und Friedhöfen und schließlich die Mitglieder der Kirche des Neuen Lebens, so wie Kerstis Familie. Die Kirche des Neuen Lebens ist so klein, dass sie über keinen eigenen Friedhof verfügt, und die Gottesdienste werden reihum in den Häusern der Gemeindemitglieder abgehalten. Es ist wohl so, als wolle man in der Gemeinde nicht besonders gern mit Andersgläubigen verkehren. Sie kaufen beispielsweise nur in Öskildsens Laden ein, während die anderen zu Johansson gehen. Dass Öskildsen fromm ist, erkenne man spätestens daran, behauptet Aune, dass bei ihm die Preise gen Himmel steigen.

In der Diele riecht es muffig. Kerstis Mutter lüftet nicht besonders gern. Sie fürchtet die Kälte und die Feuchtigkeit, wie es bei dünnen Frauen oft der Fall ist. Auf der Holzbank schläft ein Hund, ein Köter mit einem Ringelschwanz. Er öffnet ein verklebtes Auge, späht zu Karen hinüber, schließt es wieder und schläft weiter. Karen hat noch nicht einmal geklopft, da steht die Hausherrin schon an der Tür. »Kersti, warte nur, bis dein Vater …« Die Frau verstummt, als sie Karen erblickt. »Ah, die Tochter des Doktors. Pass auf, dass es nicht reinzieht! Schnell, in die Küche, dort ist es wärmer.«

Die Augen von Kerstis Mutter sind rot gerändert, an ihrer fleckigen Schürze hängen Federn. Und der alte Franzén? Er wird schon irgendwo sein. Die Frau zuckt mit den Schultern und deutet in Richtung Kirche. »Er geht von Haus zu Haus und fragt, ob jemand irgendwas gehört hat. Hat sie dir auch nichts gesagt? Wohin sie gegangen ist?«

Karen schüttelt den Kopf. In der Küche ist es fast unangenehm warm, der Geruch verbrannter Federn hängt in der Luft. Als hätte man sich die Haare angesengt. Eine Lötlampe lehnt am Küchentisch, und auf dem Tisch steht eine Schüssel für die Innereien. Das Huhn selbst liegt in einer Blechschüssel, aus der starker Spiritusgeruch aufsteigt. Es sieht aus wie ein nacktes Kind. Die Stümpfe der Federkiele ragen wie Stacheln in die Höhe. Karen wendet den Blick ab. Sie hasst es, Geflügel zu rupfen, abzuziehen und zu zerlegen. Bei ihnen macht das Aune. Sebastian und Karen sind einfach dafür nicht geeignet. Die Sprösslinge des Tierarztes können kein Blut sehen.

»Ich wollte ihr ein Buch zurückbringen«, erklärt Karen und hebt ein dünnes hellblaues Bändchen in die Höhe. Sie hat es in der Annahme, dass Kerstis Mutter sich mit den Büchern ihrer Tochter nicht auskennt, im Vorbeigehen zu Hause aus der Bibliothek genommen. Und sie hat recht. Die Frau nickt. Und sie scheint erst jetzt zu bemerken, wie ihre Schürze aussieht.

»Ich war gerade dabei, ein Huhn zu rupfen. Da sollte man nicht mittendrin aufhören, so verdirbt der gute Braten. Obwohl ich …« Die Frau bricht mitten im Satz ab und sieht Karen an. »Und wenn du es in ihr Zimmer bringst? Auf den Dachboden, meine ich, du weißt schon. Ein richtiges Zimmer hat sie ja nicht. Ich habe sie nicht so erzogen, dass eine vornehme Dame aus ihr wird – obwohl ihr Mädchen natürlich eure eigenen Vorstellungen habt. Sich rausputzen und rumtreiben und von Chiffonrosen träumen, obwohl das Gesicht aussieht wie aus Bootsplanken gezimmert. Da können Chiffon und Satin auch nichts mehr ausrichten.«

Karen tritt einen Schritt zurück, doch der Ausbruch der Frau wird nur noch heftiger. Sie zischt, als wäre der Stöpsel aus einem Dampfkochtopf geflogen. Speichel sprüht durch die Luft. So wird Karen es später Sebastian beschreiben.

»Filmzeitschriften hat sie sich angeschaut. Ein Wunder, dass sie zwischendurch wenigstens irgendein Buch gelesen hat! Sogar an ihre Wände hat sie diese Bilder geklebt. Ich hab sie alle abgerissen. Ingrid Bergman, du lieber Himmel! Sie hätte lieber an ihre unsterbliche Seele denken sollen. Und jetzt auch das noch. Mir sagt sie, dass sie bei Johanssons auf das Kind aufpassen will, und als ich heute Morgen bei Johanssons vorbeischaue, da wissen die überhaupt nichts davon. Zum Tanz ist sie gegangen, um sich irgendwem an den Hals zu werfen. Hast du sie dort gesehen?«

Karen nickt. »Ich hab ihr neues Kleid gesehen …«

»Aha, der Doktor hat wohl andere Erziehungsprinzipien. Aber deine Mutter, die war eine gläubige Frau, obwohl auch über sie alles Mögliche geredet wurde. Nicht dass ich das je geglaubt hätte. Über schöne Frauen wird immer allerlei erzählt. Die Leute tratschen, sobald jemand auch nur einen etwas engeren Rock trägt und sich die Lippen schminkt. Aber sie ist gestorben, und über Tote will ich nichts Schlechtes sagen.«

»Vielleicht sollte ich jetzt das Buch …«

»Du bist ein hübsches Mädchen geworden. Die Leute sagen, dass schon ein Bräutigam bereitsteht? So einfach ist das nicht, hab ich zur Johansson gesagt. Nicht jedes dieser Mädchen findet einen Mann. Für alle reichen sie nicht. Da muss man auch mal einen nehmen, der einen kleinen Webfehler hat. Es gibt sie ja, diese Invaliden. Fast in jedem Haus wohnt einer, so was Besonderes ist das doch auch nicht mehr. Und Granatsplitter vererben sich ja nicht auf die Kinder. Außerdem hat er Geld. Heutzutage darf man es damit nicht mehr so genau nehmen, woher das Geld stammt.«

»Ich will nicht länger stören …«

»Das kann man ja verstehen, wenn die Mutter gestorben ist. Der Vater wird doch nicht mit zwei von der Sorte fertig! Als Kersti letzte Woche mit einem neuen Hut auf dem Kopf aus Korpo kam, hab ich ihr gesagt: Ein Frack macht aus einem Schwein keine Schönheit. Als hätten wir in diesem Haus zu viel Geld, das man darauf verschwenden dürfte, sich herauszuputzen! ›Ihr Schmuck‹, steht in der Bibel, ›soll nicht aufwendig sein mit Haarflechten und Goldumhängen oder Kleideranlegen.‹ Aber das Mädchen ist eigensinnig wie der Teufel persönlich.«

»Woher hatte Kersti denn das Geld?«

»Wenn ich das nur wüsste. Sie hat darauf bestanden, dass es ihr Geld und ihre Bezugsscheine seien, und sie hat behauptet, sie habe gesehen, wie Prediger Öskildsens Frau einen geräucherten Schinken gegen Bezugsscheine für einen Mantel eingetauscht hat. Dabei wissen doch alle, dass sich die Frau erst vor einem Jahr einen neuen Mantel zugelegt hat, einen aus Kamelhaar. Da hab ich ihr ein paar hinter die Ohren gegeben. Unter meinem Dach wird gegen eine fromme Frau kein falsches Zeugnis abgelegt. Und es steht dem Mädchen nicht zu, seiner Mutter zu widersprechen.« Frau Franzén lässt sich auf den Stuhl fallen und wischt sich über die Stirn. Rußspuren bleiben darauf zurück. »Daran musste ich den ganzen Vormittag denken. Ist sie deswegen gegangen? Weil ich wegen dieses Huts …«

Karen macht einen Schritt nach vorn, legt ihre Hand auf die zitternde Schulter der Frau und drückt sie sanft, doch Frau Franzén scheint es nicht zu bemerken. Der Spiritusgeruch umgibt sie beide, er dringt tief in die Nasenhöhlen ein und steigt ihnen in den Kopf. Für einen Moment fragt sich Karen, ob die Frau einen Schluck davon getrunken hat, aber dann hält sie den Gedanken für ungehörig und schiebt ihn beiseite. Der Hühnerhals ist immer noch nicht sauber durchtrennt. Der blutige Stumpf starrt Karen anklagend an wie ein Auge.

»Soll ich was kochen? Vielleicht Malzkaffee?« Karen traut sich nicht, richtigen Kaffee vorzuschlagen, obwohl man den mittlerweile wieder bekommt. Aber dann denkt die Frau vielleicht, sie hätte es darauf abgesehen.

Doch sie schüttelt nur den Kopf. »Geh du nur rauf. Tobias kommt bald.«

Kerstis Dachkammer ist nicht viel größer als ein begehbarer Kleiderschrank und liegt über der Küche. Im Winter, wenn unten der Herd warm gehalten wird, muss es furchtbar heiß hier oben sein. An den Fenstern hängen gestreifte Vorhänge, an den Scheiben klebt Fliegendreck. Vom Fensterbrett blättert die Farbe ab. Unten im Haushalt wird auf Ordnung geachtet, aber bis ins Zimmer der Tochter hat es nicht gereicht.

Es ist lange her, dass Karen zuletzt hier gewesen ist. Sie streicht über die aus Angelschnur gehäkelte Tagesdecke und legt das Buch aufs Bett. Sie hört, wie Kerstis Mutter in der Küche auf und ab geht. Karen nimmt sich einen Moment Zeit, aber allzu lange darf sie nicht bleiben, ohne Verdacht zu erregen. Sie sieht unters Bett. Nein, dort ist nichts festgeklebt. Auch nicht unter dem Fensterbrett, hinter dem kleinen billigen Spiegeltisch, unter den Dielen, über denen ein Teppich liegt. Im Schrank hängen ein paar Kleider, überwiegend abgetragene, aber manch eines ist aus dem Stoff genäht, der aus den amerikanischen Carepaketen stammt. Karen besitzt auch so eines. Im obersten Fach liegt in einem Karton der umstrittene Hut eingewickelt in Seidenpapier. Karen liest den Text auf dem Schweißband und betrachtet dann die Schachtel. Sie gehört nicht zu dem Hut. Der Hut ist teurer. Und wurde woanders gekauft, bestimmt nicht in Korpo. Dafür haben garantiert nicht einmal die Bezugsscheine aus zwei Monaten gereicht. Auch in den Schuhen ist nichts versteckt. Ihre besten hat Kersti mitgenommen, bemerkt Karen.

Allmählich hat sie genug. Unten hustet Kerstis Mutter. Dann fällt es ihr wieder ein. Es ist viele Jahre her.

Zwei kleine Mädchen haben immer Geheimnisse. Und Kersti hat nicht viel Fantasie. Karen tastet an der Wand entlang. Sie weiß, dass es dort irgendwo sein muss. Aus der Tasche ihrer Kittelschürze nimmt sie ein Finnenmesser und klopft damit auf die Ziegel, vorsichtig, damit man das Geräusch unten nicht hört. Sie steckt das Messer zwischen zwei Ziegel und ruckelt damit hin und her, bis der lose Ziegel sich bewegt und ihr fast in den Schoß fällt. Karen fängt ihn auf, legt ihn auf den Fußboden und wischt sich den Staub von der Schürze. Dann schiebt sie die Hand in den Hohlraum, tastet und zieht sie wieder heraus. Da ist er. Kerstis Schatz.

Karen schämt sich, als sie die Kostbarkeiten der Siebzehnjährigen betrachtet. Zum Teil sind es sicher Überbleibsel aus früheren Zeiten. Zerknitterte Bilder von Ingrid Bergman und Ava Gardner. Eine billige Puderdose aus Email, Jasminparfüm, ein Herrentaschentuch. (Von Sebastian stammt es nicht, sieht Karen. Vielleicht von einem verflossenen Verehrer.) Ein Foto von ihnen allen, aufgenommen im letzten Frühjahr von Sebastian. Auch Karen ist darauf, mit zusammengekniffenen Augen sieht sie in die Sonne. Zeitungsausschnitte über irgendwelche verrückten Kriminalfälle. Kerstis Mutter hatte recht, als sie sagte, Kersti lese keine Bücher. Sie ist vor allem an Morden interessiert und wie man sich die Haare frisiert. Zum Schluss zieht Karen ein Bündel Briefe heraus, zusammengeschnürt mit einem roten Wollfaden. Karen erkennt Sebastians Handschrift, sie blättert die Briefe durch und steckt sie dann in die Tasche ihrer Kittelschürze. Am liebsten würde sie vor Enttäuschung schreien. Was sie gesucht hat, ist nicht da. Hat Kersti es mitgenommen? Oder ist vor ihr jemand an dem Versteck gewesen? Karen weiß, dass Kersti nicht eben die Fantasie einer Künstlerin besitzt. Das Versteck kann in den vergangenen zehn Jahren ein jeder ausfindig gemacht haben. Es ist hauptsächlich dafür gedacht, Dinge vor Kerstis Mutter zu verbergen. Den Puder und all die anderen dummen Träume zu verheimlichen.

Karen legt die Gegenstände zurück, schiebt den Ziegel vorsichtig wieder hinein und verlässt die Kammer. Die Treppe knarrt, aber Kerstis Mutter hebt nicht einmal den Kopf, als Karen in die Küche zurückkehrt.

»Sind denn viele Leute hier gewesen?«, fragt Karen. »Freunde von Kersti?«

Kerstis Mutter streichelt das tote Huhn wie eine Katze. »Das Mädchen hat auf einmal eine Menge Freunde. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, alle möglichen Leute sind hier schon aufgetaucht. Neugierig wie die Elstern sind sie. Und immer bereit zu behaupten, dass ich nicht fähig wäre, mein Kind zu erziehen. Dass es mit irgendeinem Mann durchgebrannt wäre. Mit jemandem, der ihr Gott weiß was versprochen hat, aber wohl kaum einen Verlobungsring.« Als Karen schon an der Tür ist, ruft die Frau ihr nach: »Dieser junge Mann, nimm dich vor ihm in Acht.«

Auf dem Heimweg überlegt sie, wen sie wohl gemeint hat. Nils? Sebastian? Oder jemand anders? Aber sie will nicht noch einmal zurückgehen. Nicht in ein Haus, in dem es nach Frömmigkeit und verbrannten Federn riecht.

»Kersti kommt zurück«, sagt sie zu Sebastian. »Sie ist nicht nach Stockholm gegangen. Niemand würde so einen Hut zurücklassen.«

Es ist Abend. Draußen ist es immer noch hell, die Lampen sind noch nicht eingeschaltet. Vater achtet streng auf einen sparsamen Umgang mit Strom. Auch das Heizen erlaubt er erst ab Oktober. Bis dahin ist die Feuchtigkeit längst in die Bettwäsche gekrochen, und Karen schläft unter drei Decken. Der wärmste Raum des Hauses ist die Küche. Im alten Ofen brennt tagaus, tagein ein Feuer und sorgt für eine gemütliche Atmosphäre. Deswegen sitzen sie auch jetzt in der Küche, obwohl es Hochsommer ist. Sebastian hat die Reste des Abendessens aus den Töpfen auf seinen Teller gekratzt. Ihr Bruder hatte immer schon einen Bärenhunger, solange Karen sich erinnern kann. Im Handumdrehen ist das frische Blutbrot in seinem Schlund verschwunden. (Johanssons haben bereits geschlachtet.) Er bestreicht die Brotscheiben mit Butter, legt Schmalzfleisch darauf und bohrt mit der Gabel Löcher in den Möhrenauflauf, sein Lieblingsessen. Aune bereitet den Auflauf im Holzofen zu.

Das ist Fetknoppen: Als Johansson einen neuen Heuwender bekam, ging die ganze Insel hin, um ihn zu bestaunen. Er war rot, schön wie ein Kalb, aber Johansson war unzufrieden. Er hatte etwas anderes bestellt. Am nächsten Tag fuhr er nach Nagu und kaufte sich einen großen Eimer voll grüner Farbe. Mit irgendwelchen Intrigen der Kommunisten wolle er nichts zu schaffen haben. Mittlerweile blättert von der Seite des Heuwenders der Lack ab, wenn Johansson damit über die Felder von Pikiniemi fährt. Er hat sich nicht ausreichend Zeit gelassen, ihn lange genug trocknen zu lassen. Unter der grünen Farbe blitzt das Rot hervor.

Auch das ist Fetknoppen: eine Insel bedeckt von Fetthenne, ein sicherer Hafen, eine halbe Stunde westlich von Galtby. Ein Ort, den der Arm der Kommunisten nicht erreicht hat. Eine Insel, auf der nichts Schlimmes passieren kann. Auf der sich nie etwas ändert. Auf der keine Mädchen verschwinden.

»Sie wird zurückkommen«, fährt Karen fort. Je öfter sie es wiederholt, umso fester wird ihre Stimme.

Der Bruder nickt, und im selben Augenblick fasst Karen Mut und redet weiter: »Hast du ihn gekauft? Kersti ist nie in Turku gewesen, und mit ihrem Geld kann sie erst recht nicht bei Bullmann eingekauft haben.«

Sebastian sieht Karen an, lächelt dann und sagt: »Das denkst du? Dass ich herumfahre und Mädchen Hüte kaufe? Wie viele Hüte habe ich dir denn gekauft, Ferkelchen?«

»Keinen, aber …«

»Aber Kersti, meinst du?«

»Wenn ihr … wart. Seid ihr?«

»Ein Liebespaar? Anscheinend sagen das die Leute. Glaubst du das auch, Ferkelchen?« Sebastian mustert sie. Er hat den Kopf geneigt und in den Augen dieses spöttische Funkeln, das Karen nicht ausstehen kann. »Würde es dich stören, Ferkelchen? Würde das irgendetwas ändern?«

Karen schüttelt den Kopf. »Nein. Es würde nichts ändern.«

Aus Vaters Zimmer dröhnt ein dumpfer Schlag, aber sie rühren sich beide nicht. Um sie herum hält bereits die Dämmerung Einzug, doch in die Küche dringt immer noch hochsommerliches Abendlicht herein. Karen spürt Sebastian mehr, als dass sie sein Gesicht wirklich sieht. Das Ticken der Wohnzimmeruhr ist bis hierher zu hören. Karen starrt durchs Fenster zu einem lärmenden Schwarm Eiderenten am Ufer, nur um Sebastian nicht ansehen zu müssen. Zu gern hätte sie ihren Bruder berührt. Sein Duft wird in der Küche fast greifbar, sie weiß, dass er da ist, auch wenn sie ihn nicht riecht. So ist es immer mit Sebastian. Karen spürt seine Anwesenheit in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug, bis in jede Haarwurzel. Doch irgendetwas hat sich verändert. Karen will nicht genauer darüber nachdenken. Sie weiß, dass nichts mehr so sein kann wie früher. Sie steckt die Hände in die Schürzentasche, um nichts Unüberlegtes zu tun. Ihre Haut ist rau, der dünne Stoff bleibt daran hängen. Die Hände einer Waschfrau, hätte ihre Mutter gesagt und sie aufgefordert, sich eine Dose Melkfett zu besorgen. Nichts ist besser für die Haut.

Doch in der Schürzentasche fühlt sie die Briefe, die sie Kersti gestohlen hat. Also nimmt Karen eine Hand wieder heraus, dreht eine Locke zwischen den Fingern und zieht sie sich bis an die Lippen. Sie hat vor, die Briefe später zu lesen, abends, wenn sie allein ist.

»Früher oder später kommt sie zurück.«

In der Woche darauf ist es drückend heiß, die Heuschrecken zirpen in einem mechanischen Rhythmus. Karen läuft der Schweiß über den Rücken. Ihre Finger brennen, seit dem frühen Morgen hat sie den Wohnzimmerteppich mit Lauge gescheuert und ihn dann zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet. Vom Herumwuchten des nassen Teppichs tun ihr die Arme weh. Teppiche sollte man nicht allein waschen, aber heute hat Aune frei. Und Karen wollte nicht mehr warten. Sie will arbeiten. Möglichst hart und schwer. Damit sie abends einfach nur ins Bett fällt und keine überflüssigen Träume hat.

Sebastian kommt über den Hof gerannt. Karen sieht seinen Kopf, sein sonnendurchflutetes Haar. Wie schön er ist, denkt sie.

Er fährt sich beim Sprechen mit den Fingern durchs Haar. Einen Augenblick lang betrachtet Karen nur Sebastians Mund. Dann schreckt sie aus ihren Gedanken auf, als ein vertrauter Namen fällt. »Was ist mit Kersti?«

»Man hat sie gefunden.« Sebastian schreit jetzt fast. »Ihre Finger sind ganz blau. Ihre kleinen Finger«, sagt er immer wieder.

Karen nimmt ihn in den Arm und wiegt ihn sanft hin und her. Sie stellt keine Fragen. Nicht jetzt. Erst muss Sebastian sich beruhigen.

Die Haut ihres Bruders duftet nach Rauch. O Sebastian.

Sie haben sich gestritten, tagelang kein Wort miteinander gesprochen. Doch jetzt ist er hier, in Karens Armen, dort, wo er hingehört.

Mit Sebastian stimmt etwas nicht, das weiß sie. Sie hat es schon immer gewusst. Heute kann sie nicht mehr sagen, wann sie es zum ersten Mal bemerkt hat. Mit Sebastian stimmt etwas nicht, irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Der Satz hämmert in ihrem Bewusstsein. Aber Karen liebt Sebastian, liebt ihn so, wie man einen Körperteil liebt oder eine alte Puppe. Ohne auch nur darüber nachzudenken, woher das kommt. Sebastian zu lieben ist seit jeher eine Selbstverständlichkeit, das Beste an ihr, das, was an ihr am meisten Karen ist. Gerade Sebastians Unvollkommenheit sorgt dafür, dass Karen ihn umso inniger liebt.

Es dauert seine Zeit, bis Karen ihn mit ihren wiegenden Bewegungen beruhigt hat. Bis der Bruder ihr alles erzählt.

Kerstis Leiche wurde in der Nähe von Naavalahti ans Ufer gespült. Das Mädchen hat lange im Meer gelegen, sein Körper ist im Wasser aufgequollen wie ein Hefeteig, und irgendetwas hat die Haut an den Beinen zerfetzt. Fische vermutlich. Die Strümpfe sind weg, ebenso der BH, sie trug nur noch Fetzen ihres Rocks auf dem Leib. Norrström hat den Krankenwagen bestellt.

»Hast du sie gesehen?«, fragt Karen.

Nein, Sebastian will nicht über die Leiche reden. Er will Kersti so in Erinnerung behalten, wie er sie zuletzt gesehen hat.

»Wann war das?«

Der Bruder löst sich aus Karens Umarmung. »Fang du nicht auch noch an! Damals in der Nacht. Natürlich erinnerst du dich. Du warst doch dabei.«

Karen nickt, und Sebastian redet weiter. Er hat Kerstis Finger gesehen, die kleinen blauen Finger, die wie aufgeblasene Handschuhe aussahen. »Tang, um ihre Handgelenke hing Tang«, sagt Sebastian. Dann erbricht er weißen Schleim auf Karens Kittelschürze.

Karen ist barfuß. Sie rutscht auf den Uferfelsen immer wieder weg. Die Blüten des Mädesüß verbreiten einen schweren Duft.

Karen lebt ganz in diesem Augenblick – und auch wieder nicht. Sie spürt ihre Fußsohlen nicht mehr. Erst später bemerkt sie, dass eine kleine Zehe ganz blau ist, weil sie sich an einem Felsen oder einem Ast gestoßen hat. Ihre Unterschenkel sind braun und voller Mückenstiche, die Waden federn elastisch. Die Kittelschürze klebt auf ihrer verschwitzten Haut. Als sie das Ufer erreicht, sind schon alle da: der örtliche Polizeichef, der Dorfpolizist Norrström, Doktor Östermalm und eine Gruppe Einheimische. Der Polizeichef hat Schweißperlen auf der Stirn, sie sind gelblich wie Harzperlen oder geschmolzenes Wachs. Er ist sichtlich aufgeregt. Er war für den Krieg zu alt und wird den Gedanken nicht los, das Spannendste verpasst zu haben, weil er jahrelang an der Heimatfront saß, während den anderen auf dem Schlachtfeld die Kugeln um die Ohren pfiffen. Jetzt endlich passiert auch hier etwas, und er hat fürchterliche Angst, dass alsbald jemand kommt und ihm die Leiche und die Mordermittlungen wegnimmt. Der Polizeichef ist ein Jagdfreund ihres Vaters, und Karen wird sich erst jetzt bewusst, wie sehr sie diesen Mann verabscheut.

Kerstis Leiche ist winzig. Das blonde Haar hängt ihr ins Gesicht, und die Lippen sind blau.

Östermalm, der Arzt, hat seine Tasche geöffnet und beugt sich über sie. Er nimmt ihren Kopf in die Hände und streckt ihren Hals, sodass Karen und alle anderen Zuschauer die blauen Spuren erkennen können.

»Erdrosselt.«

Karen weiß nicht, wer es ausspricht. Es ist jemand von ihnen, den Inselbewohnern, einer der Umstehenden.

»Vermutlich kein Strick. Vielleicht ein dünner Schal oder was Ähnliches«, stellt Östermalm fest. »Keine sichtbaren Spuren von Gewalt. Keine Spuren von Gegenwehr. Das Mädchen wurde also wohl nicht vergewaltigt. Mehr kann ich allerdings vor der Obduktion nicht sagen.« Dann wird dem Arzt plötzlich bewusst, dass er ein Publikum hat, und er blickt auf. »Am besten, wir decken das Mädchen zu, bis der Leichenwagen kommt.«

Norrström breitet eine Decke über Kersti aus. Die Decke ist grün und trägt das Emblem des Bergwerks. Viele Inselbewohner leihen sich Sachen aus dem Bergwerk. Nur wenige bringen sie wieder zurück.

Karen betrachtet Norrströms Hände. Sie sind bis hinab zu den Fingern behaart. Dünne rote Härchen. Sie muss an den Tag denken, als sie ihn halb nackt in der Scheune erwischte, und es schüttelt sie vor Ekel.

Der Leichenwagen kommt eine Stunde später. Er hat einen langen Weg von Pargas bis hierher zurücklegen und drei Fähren nehmen müssen. Korpo selbst hat keinen eigenen, ganz zu schweigen von Fetknoppen. Die Zuschauer treten beiseite. Karen ahnt, dass heute alle auf der Insel erstmals seit dem Krieg, als Gerüchte über russische Agenten aufkamen, die hier mit dem Fallschirm abspringen wollten, wieder die Haustüren abschließen werden. Sie erkennt es daran, wie die Menschen sie ansehen. Sie sprechen es nicht aus, aber Karen weiß, was sie denken.

Sie denken an die Monate, die Sebastian im Sanatorium verbracht hat. Und sie denken darüber nach, dass Karens Bruder schon immer merkwürdig gewesen ist.

»Erdrosselt.« Karen formt das Wort mit den Lippen, aber sie ist heiser und bringt keinen Ton heraus. Sie hat es gewusst, tief im Innern hat sie es von Anfang an gewusst, seit dem Tag, als Kersti verschwand. Dass sie sich nicht einfach nur aus dem Staub gemacht hat, nach Stockholm gegangen ist und als Dienstmädchen oder in einer Felgenfabrik arbeitet, dass sie nicht in einem Café in der Sturegatan sitzt, Eis isst und Schuhe aus Lackleder trägt. Und Karen wusste es nicht nur, weil Kersti ihren besten Hut nicht mitgenommen hat.

Karen drückt Sebastians Kopf an ihren Hals. Alles ist gut, will sie damit sagen. Ich bringe das wieder in Ordnung. Und wie so oft in jenen Wochen denkt sie einmal mehr an die Nacht zurück, in der Kersti verschwand. Jetzt muss sie sich alles wieder ins Gedächtnis rufen. Kersti war an jenem Abend aufgeregt, Karen erinnert sich noch an die Schweißperle über Kerstis Nasenwurzel, an ihre wild gestikulierenden Hände. An die Augen, die sagten, ich glaube es nicht, nein, ich glaube es nicht, und die gleichzeitig all ihre Verzweiflung offenbarten. Wie bei einem Kaninchen. So ist … So war Kersti.

Und jetzt ist Kersti tot. Dieses weiche Wesen, das von allen nur Gutes dachte. Das anderen stets das größere Stück vom Kuchen überließ und dabei zufrieden lächelte. Karen war diese kaum merkliche Unterwürfigkeit zuwider. Und sie hat das Mädchen immerzu aufgezogen, indem sie ihr Fragen stellte, auf die Kersti keine Antworten wusste. »Ich verstehe nicht, was du meinst, Karen. Du bist so viel schlauer als ich.« Und dann hat Karen es ihr gnädig erklärt.

Kersti war stolz, eine Freundin wie Karen zu haben. Zu Recht, wie Karen fand.

Kersti, Kersti, Kersti. Karen kann nicht glauben, dass sie tot ist. Dieses farblose, magere Wesen, das ihnen, Karen und Sebastian, in ihrer Kindheit ständig hinterhergelaufen ist. Wie kann ein Mensch sterben, der die ganze Zeit zu unbedeutend erschien, um überhaupt zu leben? Und dann schämt sich Karen wieder für ihre Gedanken. Jedes Leben ist wertvoll, und das Mädchen war ihre Freundin. Eine unermüdliche Zuhörerin und Vertraute. Mit ihrer Hilfe hat Karen die Kriegsjahre überstanden, als Mutter starb, Vater sich immer häufiger in sein Arbeitszimmer zurückzog und Sebastian weg war.

Karen und Nils streiten sich. »Sebastian sitzt in der Klemme!«, wiederholt er, und dann erklärt er ihr seinen Plan. Nisse besitzt ein schnelles Boot – das alte Schmugglerboot seines Vaters. Und Nisse hat Freunde, die er »die Jungs« nennt. Sebastian könne im Handumdrehen in Schweden oder Deutschland sein, noch ehe die Polizisten dazu kamen, das Wort »Haftbefehl« auszusprechen. Sebastian könne seinen Namen ändern, sich einen neuen Pass beschaffen. Wenn man die richtigen Kumpels kenne, dann lasse sich alles organisieren. Er könne Sebastian helfen. Und er werde es tun – seine eigene Sicherheit und seinen Ruf aufs Spiel setzen –, weil er Karen liebe.

»Du hältst ihn für schuldig!«, schreit Karen. »Stell ihn doch gleich an den Pranger! Du willst, dass er wegen einer Tat flieht, die er nicht begangen hat.«

»Bist du dir da sicher?«, fragt Nils. »Dass er es nicht getan hat?«

Eine Woche später kommt der Polizeichef mit seinen Leuten und nimmt Sebastian mit. Es sind Männer, die sie kennen. Sie schütteln sich im Flur den Regen von der Kleidung. Vaters Jagdkameraden. Sie kommen nicht herein, obwohl Vater ihnen anbietet, einen Cognac mit ihm zu trinken. Der Polizeichef räuspert sich und fingert an seiner Mütze herum. Schließlich trägt er sein Anliegen vor, doch niemand, nicht einmal Vater, wirkt überrascht. Für einen Augenblick ist es ganz still, dann beginnen Karen und Vater gleichzeitig zu reden, verstummen wieder, man hört in der Diele das Ticken der Wohnzimmeruhr und vom Grammofon einen Schlager aus der Kriegszeit. Als hätte man den nicht schon oft genug gehört. Später, noch Jahrzehnte danach, wird Karen das Geleier in den Ohren klingen – von einem Treffen unter der Laterne. »Wie einst Lili Marleen.« In Karens Kopf erklingt es immer noch, und selbst fünfundsechzig Jahre danach sorgt dieses Lied dafür, dass ihr die Magensäure aufsteigt. Bei der Taufe ihres eigenen Kindes schaltet Karen das Radio aus, das der Cousin ihres Mannes aufgedreht hat, um bei der Feier für Stimmung zu sorgen. Dann rennt sie ins Schlafzimmer und weint. Ihrem Mann bleibt nichts übrig, als mit den Schultern zu zucken und den Gästen irgendwas von den angespannten Nerven junger Mütter zu erzählen. Wenn sie im Fernsehen die Sondersendungen von den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag im Präsidentenschloss sieht, anlässlich derer das Lied – ursprünglich eine deutsche Komposition – im Hintergrund gespielt wird, denkt Karen nicht an den Krieg, sie denkt an Sebastian. »Wie einst Lili Marleen« – und sofort steht sie wieder im Flur, spürt Sebastians Finger, die sich in ihre verkrallen, und will schreien: Geh nicht! Geh wenigstens nicht ohne mich!

Aber der Bruder nickt nur und geht mit. An der Haustür berührt er noch einmal Karens Finger.

»Mach dir keine Sorgen, Ferkelchen. Es ist nur ein Verhör, das wird in solchen Fällen immer gemacht.« Aber es ist nicht nur ein Verhör. Sebastian kommt nicht wieder zurück.

Kersti wurde erdrosselt, und sie war schwanger.