19,99 €
Sternstunden der Medizin – eingefangen in einem packenden historischen Roman 1540. Die kräuterkundige Verena von Pfäffikon soll als Hexe verbrannt werden. Doch bevor sie auf dem Scheiterhaufen stirbt, brennt das Dorf – Verena gelingt die Flucht. Drei beschwerliche Wochen später trifft sie – als Mann verkleidet und sich nun Johann nennend – in Padua ein. Im Sog einer Gruppe von Studenten gelangt sie ins anatomische Theater und wird Zeugin, wie der berühmte Anatom Andreas Vesal eine Obduktion ausführt. Doch noch während der Demonstration wird Vesal nach draußen zu einem sterbenden Studenten gerufen. So wie der Arzt erkennt Verena sofort, dass der junge Mann vergiftet wurde. Gemeinsam obduzieren sie die Leiche und finden sich in ihrem Verdacht bestätigt. Doch wer sollte einen Studenten vergiften? Und warum?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 463
Veröffentlichungsjahr: 2025
1540. Die kräuterkundige Verena von Pfäffikon ist knapp dem Scheiterhaufen entkommen und auf der Flucht. Drei beschwerliche Wochen später trifft sie, als Mann verkleidet, in Padua ein. An der freien Universität führt der Arzt Andreas Vesal vor großem Publikum regelmäßig Obduktionen durch. Auch Verena verfolgt gebannt seinen Vortrag, als Vesal plötzlich nach draußen gerufen wird, zu einem sterbenden Studenten. So wie der Arzt erkennt Verena sofort, dass der junge Mann vergiftet wurde. Gemeinsam obduzieren sie die Leiche und finden sich in ihrem Verdacht bestätigt. Doch wer sollte einen Studenten vergiften? Und warum? Auf der Suche nach Antworten geraten Vesal und Verena selbst in tödlliche Gefahr.
Leon Morell
Historischer Roman
Zwei Atemzüge im Halbschlaf, um zu verstehen, was sie geweckt hatte. Vogelrufe. Bald hast du es hinter dir. Drei Stunden, dann ist es vorbei. Eine kühle Ruhe breitete sich in ihr aus. Der Tod konnte ein verheißungsvoller Ort sein. Ein Ort, an dem ihr nie wieder jemand etwas antun würde. Lass es schnell gehen.
Verena wusste, dass es unmöglich war, trotzdem suchte sie nach einer Position, die ihre Schmerzen erträglicher machen würde. Ein komisches Geschöpf, der Mensch. Wusste um die Vergeblichkeit seines Tuns und versuchte es dennoch. Unbelehrbar. In diesem Moment begriff sie, dass etwas anders war.
Die Vogelrufe. Drosseln, Zeisige, Finken, alles schrie wild durcheinander. Dabei konnte Verena kaum die Lichtluke ausmachen, so düster war es. Tiefe Nacht, aber die Vögel in heller Aufregung.
»Hörst du das?«, wisperte Karin. »Die Vögel!«
Ihr Flüstern verschwand sofort in den Mauerritzen. Karin Angst. Einen passenderen Namen hätte sich niemand ausdenken können.
»Wie könnte ich das nicht hören?«, erwiderte Verena.
»Was hat das zu bedeuten?«
Darauf hatte auch Verena keine Antwort. Womöglich war es die Luft. Erst hatte sie die Menschen um den Verstand gebracht, jetzt die Tiere. Der letzte Regen lag so lange zurück, dass man sich davon erzählte wie von einer Sonnenfinsternis: Weißt du noch, damals.
Bereits im Winter war der Schnee ausgeblieben, im Frühjahr dann, für die Dauer eines Vormittags, ein paar dünne Fäden Regen. Der Beginn von etwas, das Leben hervorbringen würde. Dachte man. Doch es sollte der Anfang vom Ende sein. Inzwischen war die Luft seit Monaten so trocken, dass man sie gewaltsam schlucken musste. Zum Dank brannte sie in der Lunge und schmeckte nach Staub.
Das Getreide war verdorrt, bevor die Ähren Kniehöhe erreicht hatten. Die spärliche Ernte konnte nicht gemahlen werden, weil der Bach nicht genug Wasser führte, um die Mühle anzutreiben. Stattdessen war das Erdreich aufgeplatzt, sogar im Wald – Spalten so groß, dass man den halben Arm hineinstecken konnte. Und selbst dort, eine Elle tief in der Erde, war alles trocken. Zu Mariä Himmelfahrt, wie auf ein Zeichen, hörten die Kühe auf, Milch zu geben. Seitdem standen sie reglos im Schatten und erwarteten ihr Ende. Manche brachen lautlos zusammen und unternahmen keinerlei Versuche, wieder auf die Beine zu kommen. Niemand konnte sich erinnern, jemals etwas Ähnliches erlebt zu haben.
Im Dorf hatten viele die Schuppenflechte bekommen, vor allem Frauen. Sie schrien vor Schmerzen, kratzten sich nachts die Haut vom Kopf und rissen sich büschelweise die Haare aus. Zurück blieben faustgroße kahle Stellen, roh und eitrig.
Natürlich waren sie zu ihr gekommen, insgeheim, nach Sonnenuntergang. Dieselben Leute, die sich die Mäuler über Verena zerrissen und einander die wunderlichsten Dinge über sie erzählten – dass sie mit ihren Tieren spreche und sich bei Vollmond am Weiher mit körperlosen Wesen vereinige. Dabei ging sie dort nur hin, weil er so schön glänzte bei Vollmond. Wie flüssiges Silber. Doch wenn es etwas zu heilen gab, bei dem auch der Arzt keinen Rat wusste, dann standen sie plötzlich vor ihrer Hütte.
Verena hatte es mit Kamille versucht, mit der Jauche von Zinnkraut, mit Melissensalbe. Nichts half. Als sie Margretha, der Frau des Ratsherren, sagte, dass sie fürchte, es gebe Ursachen für die Flechte, die sie nicht behandeln könne, fuhr die sie an: »Was denn für Ursachen?« Als hätte Verena ihr gesagt, sie selbst sei schuld an ihrem Leid.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, manche bekommen es, andere nicht. Die Luft aber ist für alle gleich.«
Margretha hatte Verena daraufhin als Unholdin beschimpft und war aus der Hütte gestampft. Es hätte Verena eine Warnung sein sollen.
Wurde man als Unholdin beschimpft, dauerte es selten lange, bis das Gerede von der Hexe die Runde machte. Doch was hätte Verena tun sollen? Die Frau des Ratsherren wegen Verleumdung anzeigen? Da hätte sie sich gleich selbst zu Tode foltern können. Fliehen? Wohin? Stattdessen vertraute sie darauf, dass die Leute im Dorf genug andere Sorgen hätten und Margrethas Geschwätz nicht bis zum Malefizrat vordringen würde.
Der Mensch.
Unbelehrbar.
»Hörst du das?« Karin wieder. Wie konnte so viel Einfalt in einem einzigen Menschen Platz finden? »Hörst du das nicht?«
»Was?«, herrschte Verena sie an.
»Die Vögel!«
Herrgott, ja, die Vögel. Wen interessiert’s? Dann erst verstand Verena: Die Vögel waren verstummt. Nicht ein Laut war mehr zu hören.
Inzwischen konnte sie die Umrisse der Lichtluke ausmachen. Der Morgen dämmerte herauf. Auf der Mauer gegenüber der Luke glomm ein schwefelgelber Strich. Eigentlich wäre jetzt die Zeit für die Vögel, ihren Gesang anzustimmen.
»Ist das nicht eigenartig?«, flüsterte Karin.
Verena richtete ihren Oberkörper so weit auf, wie die Ketten es erlaubten. Jedes Reiben der Schellen an ihren Handgelenken war, als schleife jemand ein stumpfes Messer an ihren Knochen. Ihr ganzer Körper war wund.
Der Scharfrichter hatte die Ketten, mit denen ihre Hände verbunden waren, durch die Fußketten gezogen. So konnten sich Verena und Karin weder hinstellen noch ihren Oberkörper zur Gänze aufrichten. Auf diese Weise fesselte man Schweine, bevor man ihnen einen Spieß durch den Leib trieb.
Verena schob sich zwei Handvoll Stroh unter und zog die Beine vor den Körper. So konnte sie kurz den Kopf in den Nacken legen.
»Ich hab schreckliche Angst«, sagte Karin.
Natürlich hast du die.
Verena betrachtete den orangefarbenen Widerschein auf der Mauer. Es konnte eine Täuschung sein – ihren Augen war nicht mehr zu trauen –, doch je länger sie ihn ansah, desto sicherer war sie: Der Lichtstreifen bewegte sich. Als atmete er.
»Glaubst du«, überlegte Karin, »meine Seele wird trotzdem Eingang ins Himmelreich finden? Der Priester hat gesagt, dass …«
»Sei mal still.« Verena spitzte die Ohren. Nein, sie täuschte sich nicht. Da war ein Rauschen – dunkel, grollend. Und der Lichtschein bewegte sich.
»Was, wenn i–«
»Sei! Still!«
Verena hörte das Knacken von Holz, gefolgt von eiligen Hufschlägen. Eine Wildschweinrotte lief schnaubend die Stadtmauer entlang und am Turm vorbei.
»Was ist da los?«
»Das kann ich dir sagen.« Verena ließ ihren Oberkörper zurück ins Stroh kippen. »Wenn wir Pech haben, brennt unser Scheiterhaufen, bevor der Nachrichter uns darauf festbinden kann.«
»Aber wie kann d–«
»Der Wald brennt, Dummchen.«
Verena wartete, ohne zu wissen, worauf. Karin kauerte unterdessen im Stroh, zu einem Knoten erstarrt. Das Feuer war gewaltig, alles verschlingend. Und schnell. Dem Widerschein nach zu urteilen, musste der halbe Wald in Flammen stehen. Das Rauschen war zu einem fortwährenden Grollen angeschwollen. Sämtliche Tiere, deren Beine stark und lang genug waren, brachen durchs Gehölz und flohen.
Verena hörte die Schritte des Turmhüters über sich, zu dessen Kammer die Holzstiege hinaufführte. Der Weg in die Freiheit. Oder, wie in ihrem Fall, auf den Scheiterhaufen. Ihr Verlies lag zwar zu ebener Erde, doch eine Tür gab es nicht. Nur die kleine Luke, die keinen Luftzug einließ. Karin und Verena waren eingemauert. Der einzige Zugang zum Turm war die Außentreppe, die ins Obergeschoss führte.
Nutzlose Überlegungen. Sie war an eine Öse in der Mauer gekettet, außerdem war die Luke am Kopf der Stiege von oben durch einen Riegel verschlossen. Hör auf zu denken, Verena.
Über Tag hatte sich der Turm so sehr aufgeheizt, dass Verena sich gefragt hatte, ob Karin und sie womöglich ersticken würden, bevor der Nachrichter, ein gewisser Martinus, sie verbrennen konnte.
Gestern Vormittag hatte er aus zwei Klaftern Holz den Scheiterhaufen errichtet. Berechnen würde er vier. Nichts vergüteten die Seckelmeister großzügiger als das Errichten des Scheiterhaufens. Einen Menschen lebend verbrennen: vierzehn Kronen. Eine Person mit dem Schwert töten: zehn Kronen. Einen Scheiterhaufen aufrichten: dreißig Kronen. Offenbar sah die Inquisition das Aufeinanderstapeln von Holz als die mühsamste Arbeit an.
Da Verena nicht denselben Fehler begangen hatte wie damals ihre Mutter, sondern sofort alles gestand, was der Malefizrat an Anschuldigungen hatte zusammentragen können, erging das Urteil ohne vorangegangene Folter. Ja, sie habe mit dem Teufel zu schaffen gehabt, der ihr zwei Briefli mit Pulver gegeben habe, von denen das eine die Kraft hatte, in einem Mann unstillbares Begehren zu entfachen, wohingegen das andere unheilbar krank machte. Ersteres habe sie dem Claus Tobler verabreicht, woraufhin der arme Mann keine andere Wahl gehabt habe, als sich mit ihr zu vereinigen. Als hätte der Tobler je irgendeines Pulvers bedurft, um Verena zu begehren. Letzteres habe sie den Kühen im Dorf ins Futter gemischt, die von Stund an der Milch beraubt gewesen seien. Kurz darauf habe die Agatha Tobler ihres Zaubers wegen ein totes Kind zur Welt gebracht. Und so weiter und so fort.
Der Nachrichter jedenfalls hatte niemanden zum Foltern gehabt und fühlte sich um sein Salär geprellt. Um dennoch zu bekommen, was ihm seiner Meinung nach zustand, hatte Martinus einen Scheiterhaufen errichtet, würde Karin und Verena Rücken an Rücken an denselben Pfahl binden und gemeinsam verbrennen, aber doppelt abrechnen.
Unter mächtigem Ächzen brach die Linde neben dem großen Tor in sich zusammen. Das Feuer hatte die Mauer erreicht. An der Lichtluke stoben Funken vorüber. Sollten die Flammen den Weg ins Verlies finden, würde ihre Verbrennung ohne Zuschauer vonstattengehen, dachte Verena. Das Stroh brannte schneller als jeder Scheiterhaufen. Sie stellte sich vor, wie Martinus die Luke öffnen und nur noch die Ketten und ihre verkohlten Reste vorfinden würde. Hör auf zu denken, Verena.
Der gesamte Ort war in Aufruhr. Die Flammen hatten sich so nah an das Dorf herangeschoben, dass man fürchtete, das Feuer werde die Mauer überwinden und die Häuser erfassen. Die Bewohner luden das Nötigste auf ihre Wagen und Karren, trieben ihre Schweine und Esel vor sich her und strebten zum See hinunter. Der war zwar in den vergangenen Monaten zu einem morastigen Teich verkümmert, doch das verbliebene Wasser reichte immerhin noch bis zu den Knien.
Verenas Hütte war sicher längst in Flammen aufgegangen. Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielte. Hoffentlich hatte wenigstens ihre Ziege Bertha sich retten können. Verena dachte daran, wie Hämmerli ihr Urteil verlesen hatte und wie, als er zum Ende kam, sie ihm ins Gesicht gelacht hatte. »Was an Vermögen sie hat« – Hämmerlis Stimme schwoll so sehr an, dass er selbst ganz ergriffen war von seiner Autorität –, »ist gemeiner Stadt auf ihre Gnade, auch Brief und Siegel erkannt auf Erfordern des Herrn Burgermeisters.« Wie konnte man überhaupt derart schwülstige Sätze formulieren?
»Eine Holzhütte, eine Ziege und ein Kräuterbeet?« Wäre er nicht so weit von ihr entfernt gewesen, sie hätte ihm ins Gesicht gespuckt. »Das ist zusammen nicht so viel wert, wie ihr dem Nachrichter zahlen müsst, um den Scheiterhaufen aufzurichten. Da wäre es euch günstiger gekommen, mich am Leben zu lassen!«
Jetzt würden Hämmerli nicht einmal die Hütte und die Ziege bleiben.
Die hektischen Schritte des Turmhüters über ihr verrieten, dass auch er seine Habseligkeiten zusammenraffte. Kurz darauf schlug die Tür, und über ihnen wurde es still. Karin wand sich im Stroh, als versuchte sie, einem Wurm gleich in der Erde zu verschwinden.
Als Verena begriff, dass die Flammen tatsächlich den Scheiterhaufen in Brand gesetzt hatten, ging ein Ziehen durch ihren Körper. Wie ein Erwachen. Der Nachrichter hatte das Holz in der Nische zwischen Turm und Mauer aufgeschichtet, jetzt knackte und zischte es zornig, die Flammen loderten zur Luke empor. Verena legte die Hände an die Mauer, spürte die Hitze, und dann, zu ihrer eigenen Überraschung, machte sie das, was sie in den vergangenen Tagen sicher schon hundertmal gemacht hatte: Sie versuchte, ihre Hand aus der Schelle zu ziehen.
Aussichtslos, natürlich. Wie die hundert Male zuvor. Die Schelle ließ sich so eben über das Handgelenk schieben, über die Finger aber unter keinen Umständen. Außer, sie würde sich selbst die Hand brechen. Doch auch damit wäre nichts gewonnen. Zwar könnte sie so die Kette, mit der ihre Hände verbunden waren, durch die Fußfessel ziehen und sich aufrichten, der Freiheit aber brächte sie das nicht näher. Die Stiege, die Kammer, die Tür – all das wäre weiterhin unerreichbar, denn ihre Füße würde sie schon abhacken müssen, um ihre Beine zu befreien. Was für eine Vorstellung: der Folter zu entgehen, um sich anschließend selbst die Füße abzutrennen.
Mit aller Gewalt zerrte sie an der Kette. Der Schmerz schoss ihren Arm hinauf und schnitt in ihr Rückenmark. Sie schrie auf und wusste nicht, was größer war, Schmerz oder Zorn. Fudimangöögis! Der Turm war unbewacht, das Dorf mit sich selbst beschäftigt, niemand nähme Notiz davon, wenn Verena sich jetzt davonmachte. Und sie war an diese Öse gekettet. Hör auf zu denken, Verena!
Sie blickte zur Luke hinauf. Schritte. Schritte, oben in der Kammer. Offenbar war der Turmhüter zurückgekehrt. Doch warum? Hatte er etwas vergessen? Verena sah zu Karin hinüber. Dann hörte sie, wie die Luke entriegelt wurde, der Bolzen über die Bretter schrammte. Der Deckel wurde angehoben. Karin hörte auf, sich zu winden.
Eine Stimme drang zu ihnen herab: »Warum sich nicht noch ein wenig Vergnügung verschaffen?«
Verena konnte den Mann, dem sie vor drei Tagen noch so gerne ins Gesicht gespuckt hätte, nicht sehen. Hämmerlis Stimme jedoch hätte sie unter Hunderten herausgehört. Der Mann, den nichts mehr erregte als die Ohnmacht seines Gegenübers. Beinahe klang er heiter. Und draußen brannte der Wald.
Jahre zuvor hatte Hämmerli sich bereits an Verenas Mutter »Vergnügung verschafft«. Was ihn nicht davon abgehalten hatte, sie verbrennen zu lassen. Jetzt war er gekommen, um dasselbe mit Verena zu machen. Die Schmerzen, die sie eben noch in ihrem Arm verspürt hatte, wurden von etwas überlagert: Ihr Herz hämmerte, die Kopfhaut zog sich zusammen, sie erkannte Kanten und Fugen in der Mauer, die zuvor nur Schatten gewesen waren.
»Das geht steiler hinunter als gedacht«, sagte Hämmerli.
Umständlich setzte er den ersten Fuß auf die obere Sprosse, verkehrt herum, wie ein Kind, das gerade Laufen lernte. Verenas Zehen brannten, die Augen, die Finger. Als müssten sich die Nägel ablösen. Sie hechelte wie ein Wolf.
Hämmerli setzte den zweiten Fuß unter den ersten, sein Körper rückte ins Blickfeld. Verena schob etwas Stroh zur Seite und platzierte die Schelle so auf dem steinernen Untergrund, dass ihre Handkante nach unten zeigte. Der Spalt zwischen Hand und Boden war so groß, wie die Schelle dick. Etwa einen Fingerbreit. So viel, wie ihr fehlte, um die Hand zu befreien. Sie ergriff die aus der Schelle ragenden Finger, presste sie auf den Boden, setzte ein Knie auf ihr Handgelenk, hielt die Luft an und verlagerte ihr Gewicht auf ihr Bein.
Sie hörte den Knochen brechen, bevor der Schmerz ihren Kopf erreichte. Als er kam, war er gleißend, heiß und umfassend. Anschließend dauerte es zwei Atemzüge, ehe sich der erste Gedanke formte: Noch einmal mache ich das nicht.
Während Hämmerli schwerfällig die Stiege herunterkam, quetschte Verena mit der rechten Hand die Finger der linken durch die Schelle. Bis Hämmerli den Boden erreichte, hatte sie ihre Hand befreit und ihr Leinenhemd darüber gebreitet.
Hämmerli suchte nach einem Ort, um die Laterne abzustellen, entschied sich schließlich für die untere Sprosse der Stiege. Um möglichst kein Geräusch zu verursachen, hielt Verena die Kette eng umfasst, während sie unter dem Hemd ein Glied nach dem anderen durch die Fußfessel zog.
Er drehte sich um, sah sie an. Behutsam legte er seine Handflächen gegeneinander. Als bedauerte er, sich an ihr vergehen zu müssen. Noch nie hatte Verena derart gepflegte Nägel gesehen. Der Mann hatte in seinem Leben noch keinen Besen in der Hand gehalten. Seine Hände waren so zart und weiß, dass das Licht hindurchschien. Nachdenklich führte er die Spitzen seiner Zeigefinger ans Kinn.
»Ich hatte so sehr gehofft, Ihr würdet nicht denselben Weg einschlagen, den Eure Mutter gegangen ist. Gebetet habe ich für Euch.«
Ich hätte ihn nicht anschreien sollen, dachte Verena. Damit habe ich ihn nur herausgefordert. Jetzt will er Genugtuung.
»Das muss Euch große Opfer abverlangt haben – für mich zu beten. Ich danke Euch, Herr.«
Immerhin entging ihm der Spott in ihrer Stimme nicht. Hämmerli kam auf sie zu.
Mit Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger umklammerte Verena die Schelle, in der eben noch ihre Hand gesteckt hatte. Unter der Haut rieben Knochenteile gegeneinander. Der Schmerz befeuerte ihren Hass. So wach hatte sie sich lange nicht gefühlt.
Drei Handbreit vor ihr blieb er stehen. Schwarze Kuhmaulschuhe mit einer goldenen Schnalle am Riemen, bestes Leder, das täglich von einer Bediensteten mit einer Speckschwarte abgerieben wurde. Und was für kleine Füße er hatte.
Hämmerlis Zunge bewegte sich in seinem geschlossenen Mund hin und her, als suchte sie nach einem Essensrest. »Arge Zeiten«, sagte er schließlich. »Arge Zeiten sind das.«
Verena erwartete, dass er ihr als Nächstes das Hemd über die Hüfte schieben würde. Stattdessen wandte er sich Karin zu. Offenbar hatte er den Schmerz in Verenas Gesicht als Angst missdeutet und fühlte sich geschmeichelt. Verena verstand: Sie sollte mitansehen, was sie erwartete. Hämmerli wollte es auskosten.
Karin, die wie versteinert im Stroh saß, bewegte sich keinen Fingerbreit, als er vor sie trat. Einzig ihre Augen weiteten sich.
Hämmerli beugte sich herab, legte ihr eine Hand unters Kinn und drehte ihren Kopf nach oben. »So zart. Und doch so verdorben.«
An Hämmerli vorbei signalisierte Verena ihr, dass sie sich in ihre Richtung bewegen solle, Karin aber starrte nur ausdruckslos ins Leere. Verena hätte aufstehen können, ihre Fußfessel allerdings reichte nicht bis zu Karin hinüber. Sie zeigte ihre befreite Hand vor, hielt die Kette hoch. Nichts. Schließlich winkte sie mit der freien Hand und gestikulierte: Hier! Du musst in meine Richtung kommen!
Endlich kroch Karin mechanisch über den Boden, als versuchte sie, zu entkommen.
Hämmerli genoss es. »Wo will sie denn hin?«
Er ließ sie gewähren und wartete, bis die Kette sich spannte und Karin nicht weiterkam. Dann stellte er sich hinter sie, den Rücken Verena zugewandt, die die Entfernung abschätzte: anderthalb Schritte.
Hämmerli beugte sich über Karin. »Na, komm, mein Mädchen.«
Er umfasste ihre Hüfte und zog, bis sie auf Händen und Knien stand. Unterdessen kam Verena hinter ihm auf die Beine. Hämmerli zerrte an Karins Hemd, schob es über ihre Hüfte und versank für einen Moment im Anblick des halb entblößten Körpers, des nackten Hinterns. Dann begann er, sich an seiner Hose zu schaffen zu machen.
Verena schnellte vor, so weit es die Fußfessel zuließ.
Hämmerli begriff erst, dass ihm eine Kette um den Hals geschlungen worden war, als Verena mit aller Macht daran zog. Rückwärts taumelte er gegen sie, während Verena die Arme über Kopf führte, sich um die eigene Achse drehte und an der Kette riss. Einen Moment lang standen sie Rücken an Rücken. Hämmerli ruderte mit den Armen, während Verena versuchte, sich ihn am Hals auf den Rücken zu schnallen. Mit einem Aufschrei beugte sie sich vor und sah, wie sich Hämmerlis Schuhe vom Boden lösten. Er gab ein Geräusch von sich, wie wenn man einem Schwein die Kehle durchtrennte. Doch er war nicht geschlagen. Seine Arme suchten nach ihr, griffen ins Leere, drei Atemzüge lang konnte sie ihn so halten, dann spürte sie, wie ihre Beine unter seinem Gewicht nachgaben.
»Tu was!«
Verena verlor das Gleichgewicht, stolperte über ihre Fußkette. Sie stürzten gemeinsam. Verena hatte nur einen Gedanken: Wenn du loslässt, bist du tot.
»Karin!«
Sie stemmte Hämmerli die Knie ins Kreuz. Schwindel erfasste sie. Noch immer ruderte sein Arm in der Luft. Seine Faust traf sie hart an der Hüfte, einmal, zweimal.
»Komm schon!«
Mit aller Gewalt umklammerte sie die Kette, doch sie spürte ihre Hände nicht mehr. Eine nach der anderen glitten die Glieder durch ihre Finger. Beinahe, dachte Verena. Beinahe hätte ich es geschafft.
Verena trieb auf dem Wasser, die Arme ausgebreitet und den Blick zu den Sternen gerichtet. In den Ohren ein Flüstern, als wäre der Weiher ein Lebewesen. Als atmete er. Im Mondschein leuchtete ihre Haut wie Marmor. Ein Gedanke reichte aus, sie hinabsinken zu lassen. Ihre Beine, der Bauch, die Arme tauchten ins Wasser, Mund, Nase, Augen. Eine kühle Ruhe umfing sie, ein Schweben. Kein Schmerz, nirgends. Sie sah ihre Haare, schwerelos, glänzend wie Seide, und über ihr, oben auf dem Wasser, ein Tropfen aus Silber. Der Mond.
»Verena?«
Sie spürte ein Ziehen. Ihr Arm. Gleich würde der Schmerz zurückkehren.
»Verena!«
Eine fremde Macht riss ihren Arm nach oben, zog sie gewaltsam hinauf. Sie durchstieß die Oberfläche, spürte ihren Atem in der Lunge. Der Schmerz war wie flüssiges Wachs in den Adern. Es roch nach Scheiße. Sie öffnete die Augen.
Neben ihr im Stroh, das Gesicht so friedlich wie das der hölzernen Madonna in der Franziskuskirche, lag Hämmerli und rührte sich nicht. Über seinem Ohr klaffte eine Wunde, Blut sickerte durch die Haare, das Stroh unter seinem Kopf hatte sich bräunlich verfärbt. Neben seinem Kopf lag der Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichtet hatten – vielmehr das, was von ihm noch übrig war. Karin musste Hämmerli so hart getroffen haben, dass der Eimer zerbrochen war. Verenas Füße steckten nach wie vor in Ketten. Wie gerne wäre sie geblieben, wo sie eben noch gewesen war.
Sie stieß Hämmerli drei Finger in die Rippen. Der rührte sich nicht. Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf die Brust.
»Ist er tot?«
Karin. Auch sie war wieder da, natürlich.
»Ich fürchte, nein«, erwiderte Verena.
Ihre Gedanken hatten sich so weit geordnet, dass eine Reihenfolge erkennbar war.
»Hat er die Schlüssel?«
»Welche Schlüssel?«
Verena richtete sich auf. »Du hast nicht nachgesehen, ob …«
Sie zerrte an Hämmerlis Hemd, zog ihn zu sich heran. Als sie ihn an der Schulter packte und auf die Seite drehte, hörte sie ein leises, metallisches Klirren. Sie tastete seine Hose ab, sah Karin an und zog den Bund heraus. Die Erleichterung lief ihr wie ein Eisschauer das Rückgrat hinab.
Sie zeigte die Schlüssel vor. »Wolltest du warten, bis er aufwacht?«
Sie löste ihre Fesseln, warf Karin den Schlüsselbund zu und befühlte ihre Fußgelenke. Hämmerli lag im Stroh, als schliefe er einen Rausch aus. Sie streckte die Beine und sah ihre nackten Füße neben Hämmerlis glänzenden Schuhen im Stroh liegen. Seine Füße waren tatsächlich klein.
Sie zog einen der Schuhe von seinem Fuß und probierte ihn an. Dann den anderen. Das Leder roch nach gutem Wein in Kristallgläsern, nach Geschmeide und Gelächter und nach glänzenden Zähnen unter vielarmigen Leuchtern. Sie rochen nach allem, was das Leben Verena stets vorenthalten hatte. Und sie waren wie für sie gemacht.
Sie zerrte Hämmerli die Strümpfe von den Beinen und zog ihm die geschlitzte Hose mit dem Seidenfutter aus. Als sie merkte, dass Karin ihr dabei zusah, sagte sie: »Ich weiß nicht, was du vorhast. Aber an deiner Stelle würde ich in die Kammer des Turmhüters hinaufgehen und nach etwas Brauchbarem suchen.«
Verena war dabei, Hämmerli aus seinem Hemd zu schälen, was sich angesichts ihrer gebrochenen Hand kompliziert gestaltete, als er ein Geräusch von sich gab, das an eine kalbende Kuh erinnerte. Sie tastete nach dem Teil des Eimers, der am Stück geblieben war, und hielt ihn über Hämmerlis Kopf, bereit, erneut zuzuschlagen. Doch Hämmerli zog es vor, freiwillig wieder ins Reich der Bewusstlosigkeit hinabzusinken. Verena schob den anderen Ärmel über Hämmerlis Arm, raffte seine Kleider an sich, blickte sich um. Nein, hier gab es nichts mehr, das ihr noch von Nutzen hätte sein können.
Hinter sich hörte sie Stroh rascheln. Hämmerli. Nackt auf dem Boden wirkte er wehrlos und bedürftig. Wie konnte dieses Männlein sich anmaßen, nach Belieben über das Schicksal unschuldiger Frauen zu entscheiden? Er hatte die Augen geöffnet.
Verena nahm die Laterne, setzte einen Fuß auf die Stufe. »Hier bin ich.«
Langsam drehte sich sein Kopf in ihre Richtung. Sein Blick erstarrte, für einen Moment dachte Verena, er wäre tot. Dann begannen seine Lippen, sich zu bewegen. »Du entkommst mir nicht.«
Da lag er, nackt in seinem eigenen Blut, und alles, woran er denken konnte, war die erlittene Kränkung.
Verena wandte sich ab und erklomm die Stiege. Dabei summte sie: »An ihren Schuhen sollt ihr sie erkennen.« Sie schloss die Luke und schob den Bolzen vor.
Karin stand orientierungslos in der Kammer des Turmhüters, drei Teller und einen Becher in den Händen.
»Zinnteller?«, fragte Verena. »Du willst Zinnteller mitnehmen? Warum schlägst du nicht gleich deine Füße wieder in Ketten?«
»Ich dachte, die kann ich verkaufen.«
»An wen denn?«
Karin besah sich die Teller. Schließlich sagte sie: »Wo gehst du denn jetzt hin?«
»Weiß ich noch nicht«, erwiderte Verena. »Weg. Schnell.«
»Nimmst du mich mit?«
Über ihre Antwort musste Verena keinen Augenblick nachdenken. »Auf keinen Fall.« Sie sah sich um. »Was glaubst du, wie weit wir kommen, zu zweit, als zum Tode verurteilte Hexen mit Zinntellern im Gepäck?«
Neben der mit Spreu gefüllten Schlafmatte des Turmhüters entdeckte sie zwischen gesammelten Wachsresten ein Klappmesser. Sie wog es in der Hand. Eigentlich sollte sie es behalten, doch sie hatte bereits die Schuhe. Sie hielt es Karin hin. »Das wird dir von größerem Nutzen sein als ein paar Zinnteller. Und wenn du einen Rat von mir willst: Zögere nicht, Gebrauch davon zu machen.«
In dem Moment schlug eine Faust von unten gegen die Luke. Hämmerlis Stimme drang durch die Ritzen: »Verena! Du. Entkommst. Mir. Nicht.«
Verena drückte Karin das Messer in die Hand. »Was immer du tust, warte nicht zu lange.« Sie nahm die Laterne und zog die Tür auf. Die Hitze schlug ihr entgegen, als hätte sie die Tür eines riesigen Ofens geöffnet. »Und jetzt lauf!«
Das Feuer war monströs, biblisch. Von Norden her stülpte es sich über den Wald und verzehrte ihn wie ein ausgehungertes Tier. Kaum hatten die Flammen einen Baum erfasst, sprangen sie bereits auf den nächsten über und ließen ihn glühend und verstümmelt zurück. Der gesamte Nachthimmel brannte. In undurchdringlichen Schwaden zogen Rauchwolken über den Horizont. Verena spürte die Hitze durch die Sohlen ihrer neuen Schuhe. Das Dorf war nicht mehr zu retten. Sollten die Flammen die Mauer tatsächlich nicht überwinden, würden sie sich unter ihr hindurchgraben.
Möglich, dass ein Geräusch sie verraten hatte, jedenfalls schien Hämmerli zu wissen, dass sie vor dem Turm stand.
»Eines Tages finde ich dich!«, rief er.
Verena trat einen Schritt zurück, sah zur Lichtluke hinauf, zielte. Und warf. Die Laterne verschwand in der Ritze. Ein Geräusch machte sie erst, als sie aufschlug und das Glas in Scherben ging. Kurz darauf war der Widerschein von Flammen zu sehen. Das Stroh hatte Feuer gefangen.
»Hilfe«, verlangte Hämmerli, »helft mir!«
Verena trat unter die Luke. »Es gibt einen Kniff«, sagte sie. »Atmet so viel von dem Rauch ein, wie Ihr könnt, dann werdet Ihr ohnmächtig, bevor Ihr verbrennt.«
Sie hielt sich im Schatten der Mauer, bis sie das Stadttor erreichte. An ihr vorbei eilten die Dorfbewohner im Laufschritt zum See hinab. Sie selbst schlug den Weg zum alten Kastell ein. Bei Tagesanbruch könnte sie bereits das nahe Wetzikon hinter sich gelassen haben. Im Verlies würden sie später nur noch die Reste einer verkohlten Leiche mit kleinen Füßen finden. Wenn sie Glück hätte, würde niemand je nach ihr suchen.
Als sie das erhöht gelegene Kastell erreicht hatte, tauschte sie ihr Leinenhemd gegen Hämmerlis Kleider, riss ihr Hemd in drei Finger breite Streifen und verband ihre Hand so, dass sie keine unwillkürlichen Bewegungen machen konnte. Sie lehnte sich gegen die Mauer. Die heraufziehende Dämmerung brachte das Ausmaß der Verheerung zum Vorschein. Der schwarze Rauch senkte sich als giftiges Laken auf das Land herab, belegte die Zunge, drang in die Haut.
Verena besah sich die Schuhe und die Hose, in deren Schlitzen beim Gehen Streifen grüner Seide aufblitzten. Seit sie denken konnte, war sie die Tochter einer Hexe gewesen, die in einer Hütte am Waldrand lebte. Das Beste, was sie je von den Dorfbewohnern bekommen hatte, war Mitleid gewesen. Häufiger waren es Abscheu und Hass – wenn die Heranwachsenden auf der Suche nach einer Mutprobe Steine nach ihr warfen.
Sie kam auf die Beine und richtete den Blick gen Süden.
Wasser. Es gab keins, nirgends. Nicht einmal in den Dörfern. In Pfäffikon war lediglich im großen Brunnen auf dem Dorfplatz noch eine Pfütze verblieben, drei Handbreit tief. Rund um die Uhr hatten sie ihn bewacht, Ausschank nur bei Glockenschlag. Die alte Pedrini war tot umgefallen, als sie in der Mittagshitze auf Zuteilung wartete. Womöglich stimmte es, was die Brüder der Kirche des heiligen Michael verkündeten: dass die Offenbarung des Johannes sich vollziehe und Erde und Himmel verschwinden und ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen würden.
Anfangs hatten die Dorfbewohner den Glaubensbrüdern noch wenig Beachtung geschenkt. Spätestens jedoch, als die Kühe aufhörten, Milch zu geben, hatte der Zweifel auch diejenigen verstummen lassen, die sich zuvor noch über die Brüder lustig gemacht hatten.
Verena wusste nichts von der Bibel und kannte nur einen Johannes, und der war Ziegenhirte. Die Vorstellung, dass Himmel und Erde untergingen, beunruhigte sie nicht. Sie würde der Welt, in der sie aufgewachsen war, keine Träne nachweinen. Es gab nichts zu bedauern. Tot war sie schon. Sie konnte nur gewinnen.
Anfangs bewegte sie sich ausschließlich nachts. Über Tag verkroch sie sich in Schuppen oder Scheunen oder einfach im Schatten eines Felsens. Ein rauchiger Schleier hatte sich unbeweglich über den Himmel gespannt, die Sonne war zu einer rötlich glühenden Scheibe verschwommen. Doch die Hitze blieb. Atmen war Arbeit. Manchmal, wenn sie sich in einem Stall oder einer Scheune einen Platz suchte, spürte ein Hund sie auf, schlug aber nie Alarm. Mit Hunden, Füchsen und Wölfen war sie immer gut ausgekommen. Als würden sie einander erkennen. Sie streckte ihnen die Hand hin, die Hunde beschnüffelten sie, leckten daran und legten sich zu ihr oder trotteten weiter. Sollte die Welt tatsächlich untergehen und eine neue entstehen, würde diese neue Welt hoffentlich von Hunden, Füchsen und Wölfen bevölkert sein.
Am zweiten Tag erreichte sie Schmerikon. Der Obersee war zu einer schmutzigen Spiegelung in der Ferne verkümmert. Die Häuser, die sonst die Uferlinie säumten, blickten auf eine Wüste. Der Boden war aufgebrochen, die Spalten so groß, dass man mit dem Schuh darin stecken blieb. Es roch nach fauligem Fisch. In einem Boot, das mit bleichem Bauch auf der Seite lag, fand Verena eine Mütze aus dünnem Filz sowie eine abgewetzte Tasche mit einer Angelschnur.
Zwei Tage später wagte sie sich in Weesen erstmals wieder unter Menschen. Als sie nach Wasser fragte, sagte man ihr, sie solle es im Kloster versuchen. Wo sie das fand, musste sie nicht erfragen, denn es thronte an einen Felsen geschmiegt über dem Ort.
Der Brunnen lag im Innenhof. Im Schatten des Kreuzgangs standen vereinzelte Glaubensbrüder, als warteten sie auf eine Eingebung. Der Mönch, der das Wasser ausschenkte, war so dick, dass er kaum an den Eimer heranreichte.
Als Verena um Wasser bat, sagte er: »Nur für Ordensmitglieder und Pilger.«
»Ich bin Pilger«, erwiderte Verena. Beim Anblick des Brunnens war ihr Mund so trocken geworden, dass sie kaum ihre Zunge bewegen konnte.
Er musterte sie, die edlen Männerhosen, die Fischermütze. Weder Pilgerstab noch Pilgertasche. Er wusste nicht, wen er vor sich hatte, doch eines wusste er sicher: keine Pilgersfrau.
»Morgen fang ich an«, sagte Verena. »Das Pilgern.«
Er blickte auf ihre Schuhe mit den Messingschnallen.
Sie senkte den Blick und bekreuzigte sich. »Mein Mann war Lederer.« Das erklärte zumindest die Schuhe.
In einer Bewegung, die seinem Körper längst eingeschrieben war, zog der Mönch mit einem langstieligen Schöpflöffel den über dem Brunnen schwebenden Eimer zu sich heran und befüllte eine Holzschale.
Als er sie Verena reichte, sagte er: »Der Sünde zu folgen, heißt, Gottes Geschenken den Rücken zu kehren.«
Sie nahm die Schale und verließ den Hof.
Die niedrige Mauer vor dem Kloster umfriedete ein Beet mit verschiedenen Kräutern, das offenbar mehrmals täglich gegossen wurde. Klette, Minze, Heidekraut, Betonie … Den Pflanzen ging es prächtig. Vor der Mauer stand eine Pilgergruppe beisammen, drei Männer und zwei Frauen, die sich für ihre Reise rüsteten. Alle hatten Pilgerstab und Pilgertasche.
Als sie Verena bemerkte, löste sich eine der Frauen aus der Gruppe und kam auf sie zu. Um ihren Hals trug sie einen Kranz aus geflochtenen Betonienblüten, als Schutz gegen Hexerei. Ihr Gesicht bestand aus nichts als wohlmeinender Offenherzigkeit. »Seid auch Ihr auf Pilgerschaft?«, fragte sie.
Verena setzte die Schale an die Lippen und trank. Kühles, klares Wasser, frisch aus dem Brunnen. Gottes Geschenk. »Könnte man sagen.«
Die zweite Frau kam hinzu. Sie trug die Betonienblüten zu einem Armreif geflochten um ihr Handgelenk. Es gab kein Brot zu kaufen und kein Wasser zu trinken. Die halbe Welt stand in Flammen, aber Hauptsache, man schützte sich gegen Hexerei.
»Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr Euch uns anschließen«, sagte die Frau mit dem Unschuldsgesicht. »Wir sind Pilgersleute.«
Als wäre das nicht offensichtlich. »Und warum tut Ihr das?«
Auf den Gesichtern der Frauen breitete sich Unverständnis aus. »Wir alle haben Schuld auf uns geladen. Wir pilgern, um Buße zu tun.«
Verena dachte an Hämmerli, dessen Schuhe und Hose sie trug und den sie im Hexenturm eingesperrt hatte, um anschließend die Laterne durch die Lichtluke zu werfen.
»Wie?«, fragte sie. Als sie von ihrer Wasserschale aufsah, waren vier fragende Augen auf sie gerichtet. »Wodurch habt Ihr Schuld auf Euch geladen?«
Die zweite Frau ergriff das Wort: »Niemand ist frei von Schuld. Gott hat seinen Sohn für uns geopfert.«
Hätte er ja nicht machen müssen, dachte Verena. »Und dadurch, dass ihr pilgert, wird diese Schuld von euch genommen?«
»Die Sünde ist in uns. Daher ist die Buße Teil unseres Lebens. Wir sind Pilgersleute.«
Wenn die Sünde so oder so in einem war, dachte Verena, und es also nichts änderte, wozu dann büßen?
»Ihr pilgert immerzu?«, fragte sie.
»Christus ist für uns gestorben.«
»Und wohin pilgert ihr?«
Die Gesichter, die eben noch Mitleid bezeugt hatten, hellten sich auf. »Nach Santiago de Compostela.«
»Wo ist das?«
»In Spanien«, sagte die Erste und dehnte dabei das A: Spaaanien.
»Wie lange geht man nach Santiago?«
»Letztes Mal haben wir ein halbes Jahr gebraucht. Aber dieses Jahr ist es so schrecklich heiß, da werden wir sicher länger brauchen.«
»Falls wir es überleben.«
»Ja, dieses Jahr ist mörderisch.«
Für Verena klang es, als würden sie gerne Buße tun. Als würde ihre Schuld ihnen Lust bereiten. Sie trank ihre Schale leer. »In welche Richtung ist das?«, fragte sie.
Die beiden Frauen zeigten mit ausgestrecktem Arm einen Weg hinunter, der sich zwischen blattlosen Weinreben verlor.
Verena versuchte sich an einem Lächeln. Dann brach sie auf. In die entgegengesetzte Richtung. Die Schale steckte sie ein.
Vier Wochen später hatte sie die Südseite der Alpen erreicht, war wohlhabender als jemals zuvor und ein Mann. Ihren Reichtum verdankte sie zwei glänzenden Punkten, die ihr ins Auge gefallen waren, als sie bei Nacht den weitgehend ausgetrockneten Walsee durchquert hatte. Golddukaten. Sie sahen alt aus, aber soweit Verena wusste, verloren Dukaten nicht an Wert.
Die Idee, sich als Mann auszugeben, war ihr gekommen, nachdem sie, die Haare unter der Fischermütze verborgen, mehrfach als Herr angesprochen worden war. Die Menschen sahen eben nur, was sie zu sehen glaubten. Solange Verena als verwaiste Tochter einer zum Tode verurteilten Hexe in einer Hütte am Waldrand gelebt hatte, war man ihr mit Argwohn und Feindseligkeit begegnet. In Schnabelschuhen und der geschlitzten Hose eines Advokaten war sie plötzlich ein Herr.
Da ein Leben als Herr in jeder Hinsicht einfacher und angenehmer war als das einer Hexe, hatte Verena, als sie bei Zernez in einer verlassenen Fischerhütte übernachtete, ihr Gesicht aus unterschiedlichen Winkeln in der Scheibe betrachtet, es für durchaus maskulin befunden und sich mit einer rostigen Klinge die Haare geschnitten. Ihre Brüste waren kein Problem, die ließen sich abbinden. Die Menschen sahen, was sie zu sehen glaubten. Und ab jetzt würden sie in Verena einen Mann sehen.
Sie gab sich den Namen Johann.
Die Mauern waren von erhabener Größe – hoch aufragend und massiv, die Wehrtürme wie von göttlicher Hand in den Boden gerammt. Alles an ihnen strebte nach oben und war doch unverrückbar verankert. Es hieß, sie seien uneinnehmbar. Ein Versprechen.
Verena saß auf dem Markstein gegenüber dem Stadttor und beobachtete, wer hineinging und wer herauskam. Bald einen ganzen Monat war sie gewandert, hatte in der Zeit mehr verendete als lebende Tiere gesehen und nur selten ihren eigenen Schatten, weil sie entweder nachts gegangen war oder der Ruß den Himmel so verschleierte, dass die Sonne keine Schatten warf. Ihre Beine waren müde. Alles an ihr war müde. Die Erschöpfung hing an ihren Armen, ihrem Nacken, den Augenlidern. Sogar die Zähne schmerzten. Außerdem war ihr der Hunger zu einem ständigen Begleiter geworden. Für einen Teller Pasta, eine Matratze und eine von innen zu verriegelnde Kammer hätte sie den schöneren ihrer Golddukaten geopfert, womöglich beide.
Genau genommen, bestand das Stadttor aus drei Toren, einem bogenförmigen in der Mitte, das von Wagen beliebiger Größe passiert werden konnte, sowie zwei weiteren zur Linken und zur Rechten, durch die Fußgänger ein und aus gingen. Anders als die Stadtmauer war die Fassade des Tors gegliedert, erhob wie selbstverständlich Anspruch auf harmonische Proportionen, wollte schön sein. Das Gesims wurde von gestaffelten Säulen getragen. So viel Überlegung, so viel Nachdenken. Für ein Stadttor! Verena dachte an das Tor in Pfäffikon, für das man vier Eisenhaken in die Feldsteinmauer getrieben hatte, um zwei grob gezimmerte Türflügel daran zu befestigen. Dieses hier hätte das Tor eines Tempels sein können.
Den Entschluss, nach Padua zu gehen, hatte Verena gefasst, als sie eine Tageswanderung vor Davos von drei deutschen Männern in einer Kutsche überholt worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich noch nicht in einen Mann verwandelt. An der nächsten Poststation traf sie die Gruppe wieder. Eine Zeit lang beobachtete sie die Männer aus der Entfernung. Der Postillon hatte die Pferde ausgespannt und versorgte sie, die Männer unterhielten sich. Einer von ihnen saß lässig in der Kutsche, ein anderer lehnte mit überkreuzten Beinen an der Karrosse, der dritte vollführte alberne Bewegungen, streckte, drehte und beugte sich und wurde dabei vom übergroßen Kragen seines Hemdes umflattert. Das Verdeck des Wagens war geöffnet.
Es war eine dieser neumodischen Kutschen, bei denen der Kasten an Lederriemen aufgehängt war. Die Türen waren seitlich angebracht, nicht hinten, und mit Messingbeschlägen versehen. Außerdem gab es einen Tritt, um den Einstieg zu erleichtern. Hinter dem Kasten ragten drei übereinander geschnürte Transporttruhen auf. In jeder von ihnen hätte mühelos alles Platz gehabt, was Verena jemals besessen hatte. Sie konnte nicht hören, worüber gesprochen wurde, doch es wurde ausgiebig gelacht, wobei der Mann in der Kutsche jedes Mal vergnügt auf die Lehne einschlug.
Verena spürte Widerwillen in sich aufsteigen. Männer wie diese waren ihr oft genug begegnet. Sie kannte den Hochmut in all seinen Facetten. Doch da war noch ein anderes Gefühl. Sicher, die ererbten Privilegien und das gockelhaft zur Schau gestellte Überlegenheitsgefühl waren ihr zuwider. Zugleich aber – und dieses Gefühl verstärkte sich, je länger sie die Männer bei ihrer Selbstdarstellung beobachtete, wollte sie, nun, nicht unbedingt dazugehören. Doch sie wollte Zutritt zu dieser Welt. Eines war ihr seit der Flucht aus dem Hexenturm klar geworden: Häme und Verachtung wurden nur über die ausgegossen, die anderen das Gefühl gaben, sie hätten das Recht dazu.
Sie rieb den Staub von den Schuhen, brachte die Schnallen zum Glänzen, straffte sich, trat auf den Vorplatz und rief: »Seid gegrüßt!«
Ihr Mann war gestorben, ihr Dorf abgebrannt, das Pferd war mit ihrem Hab und Gut auf und davon. Die Hand hatte sie sich gebrochen, als das Pferd sie abgeworfen hatte. Mit dieser Geschichte hatte Verena brauchbare Erfahrungen gemacht. Ein tragisches Schicksal verlieh moralische Größe. Als wäre es ein Verdienst. So auch jetzt. Die drei Männer schienen betroffen. Jedenfalls wäre keiner von ihnen auf die Idee verfallen, Verena danach noch mit Herablassung zu begegnen.
Als sie sich nach dem Ziel ihrer Reise erkundigte, sagte der Mann, der an der Kutsche lehnte: »Padua natürlich.«
Der in der Kutsche ergänzte: »Wohin sonst?«
Derjenige, der die sonderbaren Körperübungen vollführt hatte, zog sein Schwert und lehrte einen unsichtbaren Angreifer das Fürchten. »Für einen Mann, der frei denken und leben will«, rief er und drängte seinen imaginären Gegner zurück, »gibt es keinen anderen Ort.«
Der im Wagen schlug einmal mehr auf die Lehne ein. »Universa Universis Patavina Libertas!«
Der am Kasten Lehnende wies mit dem Kinn in Richtung seines säbelschwingenden Freundes. »Lasst Euch von ihm nicht täuschen. Mit frei leben meint er vor allem die Freiheit, zweimal die Woche das Bordell aufzusuchen.«
»Wofür ihr mir dankbar sein solltet«, gab der Säbelmann zur Antwort. »Irgendwer muss schließlich unsere Professoren entlohnen.«
Verena verstand immer weniger. Die drei Männer waren kaum älter als sie, wenn überhaupt, und doch hatten sie bereits die halbe Welt bereist, wie es schien.
Der Wagenlehner löste sich vom Kasten. Verena hatte schon gedacht, er wäre mit ihm verwachsen. »Wir sind Studenten«, erklärte er. »In Padua nennt man uns ›Ultramontani‹, weil wir von jenseits der Alpen kommen. Und unter den Ultramontani ist die Natio Germanica die größte.«
»Bei Weitem«, fügte der Kerl im Wagen hinzu.
»Es gibt noch andere?«, fragte Verena.
»Selbstverständlich.« Der, der zuvor an der Kutsche gelehnt hatte, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann, auf und ab zu gehen. »Die Universität in Padua steht Studenten aller Nationen offen. Polen, Burgund, Schottland, Spanien …« Eins, zwei, drei, hin. Eins, zwei, drei, zurück. Er stolzierte wie ein Hahn. »Neben den Ultramontani gibt es auch Ultramarini, also Studenten aus Zypern oder Griechenland. Nur etwa die Hälfte stammt aus Italien.«
Zu viele Informationen. Verena versuchte, einen konkreten Gedanken zu fassen. »Und was hat es mit den Bordellen auf sich?«
»Padua erhebt eine Steuer auf Prostitution. Ebenso wie« – er strich über die Kutschentür wie über den Hals eines Pferdes – »auf vierrädrige Wagen. Zur Finanzierung der Universität.«
Der Säbelmann schlug einen weiteren Angreifer in die Flucht. »Huren sind Wohltäterinnen!«, rief er.
Verena hatte das Gefühl, ihr bisheriges Leben nicht in einer Hütte am Waldrand, sondern in einem Erdloch verbracht zu haben. »Und was macht diese Universität so besonders?«
Der im Wagen beugte sich vor: »Unter uns: dass sie nicht der Kirche untersteht.«
»Universa Universis Patavina Libertas«, sagte jetzt auch der Hin- und Hergeher. »Der Leitspruch unserer Universität.«
Vom Waldrand rief der Säbelschwinger: »Die Paduanische Freiheit ist universell und für alle!«
»So ist es«, übernahm der Wortführer wieder. »In Padua ist jeder Student aufgefordert, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.«
Später hatten die drei Studenten Verena eine Mahlzeit und einen Schlafplatz bei den Pferden bezahlt. Aus Mitleid. Spendiert, wie der Säbelschwinger es nannte. Im Spendieren schien ihm kaum jemand das Wasser reichen zu können. Verena nahm es an, doch die mitfühlende Geste kam von sehr weit oben.
Eines der Pferde, die in der Mitte des Raums angebunden waren, schlug im Schlaf mit dem Schweif, als wehrte es böse Geister ab. Verena hatte den Blick auf die Deckenbalken gerichtet, deren Umrisse sich über ihr abzeichneten. Sie spürte den Atem der Pferde und den des Wachhundes, der sich eine Armlänge von ihr entfernt im Stroh niedergelassen hatte.
Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus dem Hexenturm dachte sie über das nach, was vor ihr lag. Über Möglichkeiten. Bisher war sie so sehr damit beschäftigt gewesen, Dinge hinter sich zu lassen, dass die Zukunft in ihrem Denken keinen Platz gehabt hatte. Jetzt, auf der Schlafmatte mit der klumpigen Füllung, öffnete sich unversehens eine Tür. Dahinter die Frage: Was willst du? Sie rückte näher an den Hund heran, legte ihm eine Hand auf den Bauch. Es war nicht so, dass sich ein Bild geformt hätte von ihr, Verena, in einer möglichen Zukunft. Ein Gedanke jedoch trat ihr entgegen, klar und scharfkantig: Sie würde kein Leben leben, in dem sie von dem Mitleid anderer abhängig wäre.
Am nächsten Morgen blickte sie der abfahrenden Kutsche nach, den drei federgeschmückten Hüten. Derjenige, der bereits am Vortag so leidenschaftlich auf die Lehne eingeschlagen hatte, ließ seine Hand schon wieder auf das Polster klatschen. »Patavium hic venimus!«
Eine Stadt, die nicht der Kirche unterstand und in der Menschen aus aller Welt sagen und denken durften, was sie wollten. Welcher Ort hätte geeigneter sein können? Also hatte Verena sich in einen jungen Mann verwandelt und drei weitere Wochen lang die Alpen durchwandert. Jetzt aber, im Angesicht der Mauern, zögerte sie. Es hatte geklungen wie das Paradies, als die drei Männer davon sprachen. Die Stadtmauern jedoch waren gewaltig. Einerseits boten sie Schutz, andererseits hielten sie einen gefangen. Mauern war nicht zu trauen.
Die Abenddämmerung setzte ein. Verena bemerkte eine Veränderung, ohne sie benennen zu können. Das Licht? Sie betrachtete die Haut an ihren Armen, die sich aufrichtenden Härchen. Dann begriff sie. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte, aber ihr Körper erinnerte sich: Aus den Alpen schob sich feuchte Luft hinunter in die Ebene. Die Art von Luft, die Regen ankündigte.
Sie stand auf, wandte ihr Gesicht nach Norden. In der Ferne hatte sich ein dunkles Band über die Bergspitzen gelegt, unbeweglich und lauernd. Die ausgefransten Reste eines fernen Donnergrollens zogen über sie hinweg. Es wäre der erste Regen seit acht Monaten.
»Ich heiße Johann«, Verena senkte ihre Stimme, »Johann Lederer. Ich bin ein Mann. Und ich stamme aus Weesen.«
Sie steuerte auf das Stadttor zu, legte Sicherheit und Entschlossenheit in ihren Gang. Männer hatten immer diesen schweren Schritt.
Der Wächter nickte nur beiläufig, als sie vorbeiging.
Das Paradies stank zum Gotterbarmen. Padua, das in Verenas Vorstellung hell und klar und heiter hätte sein sollen, war stickig und grau. Und stank. Ein Geruch süßlicher Verwesung, gemischt mit dem von Kot, Blut und Schleim. Alles, was der Mensch ausschied. Die Stadt schien von Kanälen durchzogen, doch wie schon der Graben um die Mauer kaum Wasser geführt hatte, so waren auch die Kanäle innerhalb der Stadtmauern weitgehend ausgetrocknet. Lediglich ein bräunliches Rinnsal schlängelte sich auf dem Grund. Was immer man dort hineinwarf, es blieb liegen. Und fing an zu stinken.
Verena war erst wenige Minuten gegangen, als sie sich erneut einem Tor und einer Mauer gegenübersah. So klein war die Stadt der Verheißung? Wie sollten hier Studenten aus einem Dutzend Ländern unterkommen, wenn man in wenigen Minuten die gesamte Stadt durchmaß? Sie näherte sich dem Tor, erblickte dahinter einen Platz und eine Kirche und verstand: Das Tor gehörte nicht zu der Mauer, die sie vorhin so lange betrachtet hatte. Dieses war älter, ebenso die Mauer. Die Stadt war gewachsen, und jetzt hatte man neue, größere Mauern um sie gebaut. Das eigentliche Zentrum lag noch vor ihr, eine Stadt in der Stadt, umgeben von zwei Mauern.
Kaum hatte sie das zweite Tor passiert, bot sich Verena ein völlig verändertes Bild. Menschen. Noch nie hatte sie so viele Menschen gesehen. Und alle schienen eine Aufgabe zu haben, ein Ziel, bewegten sich wie auf vorgezeichneten Pfaden. Die dicht gedrängten Häuser ragten hoch auf, hatten drei, vier, fünf Stockwerke. Und überall Balkone, wofür um alles in der Welt brauchte man all diese Balkone? Noch zahlreicher als die Balkone waren die Säulen. Säulen, Bögen, Arkaden. Wohin Verena ihren Blick richtete, traf er wie selbstverständlich auf etwas Schönes. Als müsste es einen besonderen Grund geben, etwas nicht schön zu machen. Alles, was sie sah, sah sie zum ersten Mal. Ihr wurde übel.
Sie überquerte einen mit mächtigen Steinplatten gepflasterten Platz, vorbei an einer alten Kirche, tauchte in die nächste Gasse ein, die auf den nächsten Platz mit der nächsten alten Kirche führte. Keine Straße verlief gerade, immer sah man höchstens ein Ende der Gasse, niemals beide. Es war, als bewegte sich die Stadt, während Verena ging, im Kreis um sie herum.
Auf einer Piazza, die größer war als alle vorherigen, hielt Verena inne. Sie musste zu sich kommen, einen Plan fassen. Im Zentrum stand ein Brunnen, allerdings war er nicht zum Wasserholen gedacht, sondern zur Zierde. Das Becken war aus Marmor gefertigt, ebenso die Statue in seiner Mitte – eine junge Frau, die mühelos eine Amphore auf ihrer nackten Schulter balancierte, während sie mit der anderen Hand einen Krug hielt. Trotz ihrer Last wirkte sie makellos und leichtfüßig. Wer auch immer sie angefertigt hatte, wusste nichts von dem Gewicht einer wassergefüllten Amphore. Verena setzte sich auf den Rand und widerstand dem Impuls, sich hinzulegen. Niemand nahm Notiz von ihr. Eine Wohltat. Sie war einfach ein junger Mann, der auf dem Brunnenrand saß.
Die Stirnseite des Platzes wurde von einer Kirche begrenzt. Noch eine. Dafür, dass die Stadt nicht dem Verdikt des Kirchenstaates unterstand, gab es auffallend viele Kirchen. Ihr gegenüber befand sich ein Gebäude, das die gesamte Breite des Platzes einnahm und dessen Turm alle anderen Bauten überragte. Hoch oben prangte eine gewaltige Uhr in Gold und Ultramarin, die selbst in der Dämmerung strahlte. In einem äußeren Ring waren Zahlen angebracht, doch es gab weitere Ringe, die Mondphasen, Tierkreiszeichen und Sterne zeigten.
Womöglich war die Idee, nach Padua zu gehen, widersinnig gewesen, dachte Verena. Was hatte sie in einer Stadt verloren, in der alles, was ihr begegnete, ihren Verstand überstieg? Andererseits sollte es ihr nicht schwerfallen, hier ein Auskommen zu finden. Die drei Ultramontani mit ihrer herrschaftlichen Kutsche hatten berichtet, dass sie sich mit anderen Studenten zusammen ein ganzes Haus mieten würden, eingeschlossen eine Köchin sowie eine Haushälterin, die ebenfalls im Haus wohnten. In ihren Kreisen sei das üblich.
Vielleicht sollte sie sich jetzt, da sie unbeschadet bis nach Padua gelangt war, wieder in eine Frau verwandeln. Wenn jemand sie als Haushälterin einstellte, hätte sie ein eigenes Zimmer, ein Bett. Und müsste um nichts bitten. Es würde ihr zustehen. Zunächst jedoch galt es, einen Ort zu finden, an dem sie die Nacht verbringen konnte.
Die Luft lastete schwer auf dem Platz. Das ferne Grollen, die Ankündigung kommenden Regens, war verklungen. Es dunkelte. Die Tavernen unter den Kolonnaden füllten sich dennoch, Kerzen flackerten, Gespräche wogten auf den Platz. Verena glaubte, wenigstens ein halbes Dutzend Sprachen auszumachen. Manches klang vertraut, anderes fremd, das meiste aber verstand sie. Ihr fiel eine Bewegung auf, eine Art Strömung. Etwas Nervöses lag in der Luft. Viele Studenten eilten an ihr vorüber und verschwanden in der Gasse neben der Kirche.
Eine vierköpfige Gruppe steuerte auf den Brunnen zu, Deutsche. Sie waren teuer gekleidet, wenngleich nicht annährend so edel wie manch andere, die Verena beobachtet hatte. Einer von ihnen löste sich aus der Gruppe, trat an den Brunnen, setzte einen Fuß auf den Rand und zog umständlich die Schnürung seiner Oberhose nach.
»Trödelhans!«, rief einer.
»Perfer!«, gab er zur Antwort und richtete wie zur Demonstration auch sein zweites Hosenbein, obwohl sich die Schnürung dort gar nicht gelöst hatte. »Es gibt vierhundert Sitzplätze. Man wird uns nicht draußen stehen lassen.« Er sah Verena an und verdrehte die Augen. »Wie ein junger Hund: kann keine Minute stillhalten.«
Johann, ermahnte sich Verena, dein Name ist Johann Lederer, und du stammst aus Weesen. Sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Wohin geht Ihr?«
Falsche Frage. Dumme Frage. Es musste eine dumme Frage sein, so, wie der Student sie musterte.
»Er ist neu«, stellte er fest.
Es machte keinen Sinn, es zu leugnen. »Ja.«
»Deutschland?«
»Schweiz.«
Seine Hosenbeine waren geschnürt. Er straffte sich. Die haben das alle, dachte Verena, diesen Hochmut. Oder es war etwas, das nur sie sah, weil sie bis vor vier Wochen in einer Hütte am Waldrand gelebt hatte.
»Iuristarum oder Artistarum?«, fragte er.
Sie würde sehr schnell lernen müssen. »Ich …«
»Recht oder Kunst?«, erklärte er.
Offenbar war das die Wahl, die man als Student in Padua hatte. Verena erinnerte sich an die drei Deutschen mit ihrer Kutsche, den Säbelschwinger mit dem Flatterkragen, den Dicken, der immer auf die Lehne eindrosch, und den Wortführer. Die hatten Jura studiert. Und sich mächtig etwas darauf eingebildet.
»Kunst«, erwiderte Verena. »Aber ich bin gerade erst angekommen.«
In der Gruppe wurde Unmut laut. »Jetzt schwätzt er wieder!«, seufzte einer.
Der mit den frisch geschnürten Kniebünden ließ sich nicht beirren. »Wie heißt er?«, fragte er.
»Johann. Johann Lederer.«
»Kasper«, erwiderte Kasper. »Ich rate dringend, sich uns anzuschließen. Ein größeres Spektakel als das heutige wird das kommende Lehrjahr kaum zu bieten haben.«
Einer aus der Gruppe rief: »Heute kommt es zum Disput!«
Verena blickte zwischen Kasper und der Gruppe hin und her. »Ihr habt mir noch immer nicht gesagt, wohin ihr geht.«
Kaspers Ausdruck bekam etwas Konspiratives. »Ins Theater.«
Die Euphorie unter den Studenten war wie ein Leuchten, sichtbar sogar in der Dunkelheit. Verena überließ sich der Strömung. Schwere Schritte, ermahnte sie sich.
Die Gasse neben der Kirche führte auf einen weiteren, noch größeren Platz, der von einem Gebäude beherrscht wurde, das sich Verena nicht hätte ausdenken können. Die ausladenden Arkaden des Erdgeschosses stützten eine weitere Reihe schmaler Arkaden, die sich über schlanke, von Fackeln erleuchtete Säulen spannten. Darüber schwebte ein Saal, der groß genug war, um darin Pferderennen auszutragen. Es war, als würde man Träume übereinanderstapeln.
Die anderen nahmen Verena, die sie für einen Schweizer Studenten hielten, in ihre Mitte. Sie nannten ihre Namen, doch Verena vergaß sie augenblicklich. Stattdessen hatte sie schon wieder einen noch nie gedachten Gedanken: Würde sie womöglich Teil einer Gemeinschaft werden können? Sich zugehörig fühlen zu etwas, das größer war als sie allein? Wie eine dieser schlanken Säulen, die wiederum von anderen getragen wurden? Die bloße Vorstellung kam ihr wagemutig vor und sorgte dafür, dass sie sich zugleich groß und völlig unbedeutend fühlte.
Der nächste Platz, noch mehr prachtvolle Gebäude, noch mehr Arkaden. Als Kind hatte Verena einen fahrenden Spaßmacher gesehen, der fünf Bälle durch die Luft wirbeln ließ, ohne dass einer von ihnen heruntergefallen wäre. So fühlte sich ihr Kopf an. Die Gruppe blieb stehen. Vor ihnen erhob sich ein weiterer Bau, allerdings war dieser nicht leichtfüßig, sondern massiv, unverrückbar. Auf dem Platz davor eine Menschenansammlung, die meisten davon Studenten. Das Getuschel unter den Arkaden sammelte sich in den Bögen.
»Ist hier das Theater?«, fragte Verena.
»Der Palazzo Bo«, erklärte Kasper. »Das Herz der Universität. Aber ja, es ist auch ein Theater. Ein Theater des Lebens. Warte, bis wir drin sind.«
Eine Information wehte über den Platz, die Menge geriet in Bewegung. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Gasse neben dem Palazzo, doch zu sehen gab es nichts. Noch nicht. Wie auf ein Zeichen hielt der Platz den Atem an, dann trat ein Mann aus dem Dunkel, in seinem Gefolge etwa zwei Dutzend Studenten, die offenbar darauf hofften, dass etwas von seinem Glanz auf sie abstrahlte. Applaus brandete auf, Rufe ertönten. Unter einer Arkade blieb er stehen und wandte sich der Menge zu. Er war klein, jung und schillerte wie ein Pfau. Sein Bart verlieh ihm eine gewisse Ernsthaftigkeit, doch seine Augen verrieten, dass er kaum älter war als seine Studenten.
Er dämpfte den Applaus, verneigte sich und wartete, bis Ruhe einkehrte. »Danke für Ihr Interesse. Und Ihre Neugier.« Er breitete die Arme aus, sein von Goldfäden durchwirktes Wams versprühte Funken. »Es erwarten uns spannende Ein-Sichten.«
Verena verstand das Wortspiel nicht, aber viele der Studenten lachten auf.
»Wir sollten daher unseren Probanden nicht länger warten lassen und uns dem zuwenden, das uns zusammengeführt hat: der Suche nach Erkenntnis!«
Eine Woge des Applauses trug ihn ins Gebäude. Es folgten Männer in schwarzen Gewändern – Adelige, Edelleute, vor allem aber Studenten.
Verena betrat die Eingangshalle und folgte der Menge zum Innenhof. Sie zuckte, als sie sah, dass man am Einlass Geld zu entrichten hatte.
Kasper bemerkte ihr Zögern. »Studenten müssen nicht zahlen.«
»Aber …«
»Bleib einfach in unserer Mitte.«
Einen Augenblick später stand sie bereits im Hof.
Von den beiden umlaufenden Loggien, die ihn einfassten, war nicht viel zu sehen, da nahezu der gesamte Hof von einer Holzkonstruktion ausgefüllt wurde. Verena folgte den anderen durch einen niedrigen Eingang, dann erst begriff sie, dass es sich bei der Konstruktion um Tribünen handelte. Offenbar hatte man das Theater in den Hof hineingebaut. Im Zentrum, das als Bühne diente und nicht mehr als drei auf drei Schritte maß, stand ein Tisch, über den ein Laken gebreitet war. Sonst nichts.