Die Andere - Ursula Hegi - E-Book

Die Andere E-Book

Ursula Hegi

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Beschreibung

Trudi Montag wünscht sich ganz fest, so groß zu werden wie die anderen Kinder, aber ihr Körper wächst einfach nicht mehr. Als sie älter wird, beginnt Trudi zu verstehen, dass sie in ihrem kleinen Dorf am Rhein immer die »Andere« sein wird. Aber Trudi hat etwas, was sonst niemand hat: Geschichten. In der Leihbücherei ihres Vaters saugt sie alles auf, was die Leute erzählen, sammelt Geheimnisse, Wünsche und Wahrheiten. Doch mit den Jahren wird der Ton im Dorf ein anderer. Braunhemden schwingen wütende Parolen, und der Metzger stellt Alpenveilchen vor das Porträt des Führers. Die Geschichten werden düsterer, und schließlich kann Trudi nicht mehr nur zuhören. Ursula Hegis Geschichte eines deutschen Dorfes im Dritten Reich ist einer der großen, vergessenen Romane der deutschen Literatur.

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Seitenzahl: 1026

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Über dieses Buch

Trudi Montag wünscht sich ganz fest, größer zu werden, aber sie wächst einfach nicht mehr. Als sie älter wird, sammelt sie Geschichten und Geheimnisse, doch der Ton in ihrem kleinen Dorf wird immer rauer. Braunhemden schwingen Parolen, und der Metzger stellt Alpenveilchen vor das Porträt des Führers. Schließlich kann Trudi nicht mehr nur zuhören.

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Ursula Hegi (*1946) ist eine deutsch-amerikanische Autorin und Dozentin für Kreatives Schreiben und Literatur. Sie hat Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Sachbücher veröffentlicht. Ihre Werke wurden millionenfach verkauft und u. a. mit fünf PEN Awards ausgezeichnet. Sie lebt in New York.

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Cornelia Holfelder-von der Tann (*1950) studierte Germanistik, Romanistik und Anglistik und übersetzt aus dem Englischen und Französischen, u. a. die Werke von Tad Williams, Kawai Strong Washburn und Marilyn Yalom. 2021 erhielt sie den Übersetzerpreis »Rebekka« für langjährige Übersetzungen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Ursula Hegi

Die Andere

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1994 bei Poseidon Press, New York

Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 im Rowohlt Verlag, Reinbek

Originaltitel: Stones from the River

© by Ursula Hegi 1994

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Autorin

© by Unionsverlag, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Mindseyes (Photocase)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31179-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 25.05.2023, 11:27h

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Inhaltsverzeichnis

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DIE ANDERE

1 — 1915–19182 — 1918–19193 — 1919–19204 — 1920–19215 — 1921–19236 — 1923–19297 — 1929–19338 — 19339 — 193410 — 1934–193811 — 193812 — 1939–194113 — 1941–194214 — 194215 — 194216 — 194217 — 194318 — 1943–194519 — 1945–194620 — 1946–194921 — 1949–1952 – Dank

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Für Gordon

1

1915–1918

Als Kind dachte Trudi Montag, alle Menschen wüssten, was in anderen vorgeht. Das war, ehe sie um die Macht des Andersseins wusste. Um die Qual des Andersseins. Und um die Sünde des Wütens gegen einen untätigen Gott. Aber davor – Jahre und Jahre bis dahin – betete sie darum zu wachsen.

Jeden Abend beim Einschlafen betete sie, dass ihr Körper sich über Nacht strecken möge, zur Größe anderer gleichaltriger Mädchen in Burgdorf, nicht mal zu der der größeren – wie Eva Rosen, die auf der Schule für kurze Zeit ihre beste Freundin werden würde –, aber zu einem Körper mit normal langen Armen und Beinen und einem kleinen, wohlgeformten Kopf. Um Gott zu helfen, hängte Trudi sich an Türrahmen, bis ihre Finger taub waren, fest davon überzeugt, dass sie fühlen konnte, wie ihre Knochen länger wurden; oft band sie sich nachts die Seidenschals ihrer Mutter um – einen um die Stirn, den anderen unterm Kinn verknotet –, damit ihr Kopf sich nicht noch weiter ausdehnte.

Wie sie betete! Und morgens, wenn ihre Arme immer noch stummelig waren und ihre Beine nach wie vor nicht auf den Boden reichten, wenn sie sich von der Matratze schwang, dann sagte sie sich, dass sie nicht inbrünstig genug gebetet hatte oder dass es noch nicht der richtige Zeitpunkt war, und so fuhr sie fort, zu beten und zu wünschen und zu glauben, dass einem alles, wofür man betete, bestimmt gewährt würde, wenn man nur Geduld hatte.

Geduld und Gehorsam – das war kaum zu trennen, und die Erziehung dazu begann mit dem ersten Schritt, den man machte: Man lernte, dass man den eigenen Eltern gehorchen musste und allen anderen Erwachsenen, dann der Kirche, den Lehrern, dem Staat. Ungehorsam wurde rasch und wirksam bestraft: ein Schlag mit dem Lineal auf die Fingerknöchel, drei Rosenkränze, eingesperrt werden.

Als Erwachsene sollte Trudi die gehorsamen Dummköpfe verachten, die in der Kirche knieten und warteten. Doch als Kind ging sie jeden Sonntag in die Messe und sang im Chor; unter der Woche schlüpfte sie manchmal auf dem Heimweg von der Schule rasch in die Kirche, um den tröstlichen Duft des Weihrauchs zu riechen, während sie flüsternd zu den bemalten Gipsheiligen betete, die an den Längsseiten von St. Martin aufgereiht waren: der heilige Petrus gleich neben dem Beichtstuhl, die Augenbrauen immer schockiert in die Höhe gezogen, als hätte er jede einzelne Sünde mitgehört, die die Burgdorfer Generationen von müden Priestern flüsternd gestanden hatten; die heilige Agnes, die traurigen Augen himmelwärts verdreht und die Finger in die Brust gekrallt, als probe sie, unzähligen weiteren Angriffen auf ihre Keuschheit zu widerstehen; der heilige Stefan, die Füße – bis auf einen teigigen Zeh – unter einem Haufen schokoladenfarbener Steine versteckt, die blutenden Arme ausgebreitet, als lade er seine Feinde ein, noch größere Steine auf ihn zu werfen und so sein ewiges Seelenheil zu sichern.

Zu ihnen allen betete Trudi, und ihr Körper wuchs, aber – als hätte jemand einen schlimmen Scherz gemacht und ihre Gebete ins Gegenteil verkehrt – nicht in die Höhe, wie sie gemeint, aber nicht in jedem einzelnen Gebet klargemacht hatte, sondern in die Breite, bis ihre Arme schließlich so massig waren wie die von Herrn Immers, dem Inhaber der Metzgerei, und ihr Kinn so mächtig wie das von Frau Weiler, die das Lebensmittelgeschäft nebenan führte.

Doch da hatte Trudi bereits den Moment hinter sich, in dem sie erkannte, dass es nicht half, um etwas zu beten, dass nichts passierte, dass alles so blieb, wie es war; dass es keinen Gotteszauber gab; dass sie nie größer werden würde, als sie war; dass sie eines Tages sterben würde und dass alles, was ihr bis zum Tag ihres Todes widerfuhr, ihr Problem war. Das alles erkannte sie mit einer verblüffenden Klarheit, die ihr kalt bis ins Mark fuhr, an jenem Aprilsonntag 1929 im Kuhstall der Braunmeiers, als sich der Ring der Jungen um sie schloss – jener Jungen, die ihre Beine auseinanderrissen, die ihre Seele auseinanderrissen, bis es sich anfühlte, als ob der getrocknete Rotz auf ihrem Gesicht für immer dort bleiben und ihre Haut wie verkleckertes Eiweiß zusammenziehen würde – und sie sich selbst als alte Frau sah und gleichzeitig als kleines Kind, als hingen Vergangenheit und Zukunft an den Enden eines gespannten Gummibandes, das jemand für einen kurzen Moment losgelassen hatte, sodass ihr ganzes Leben – jede einzelne Minute, die sie gelebt hatte und noch leben würde – zusammenschnellte und sich berührte, hier in diesem Moment im Stall, und sie wusste, dass sie noch öfter so sehen würde: Sie sah, wie sie ihre Mutter aus dem Erdnest unter dem Haus zog; sah sich einen Teil der Steinwand im Keller demontieren und einen geheimen Tunnel zum Haus der Blaus hinübergraben; sah, wie sie den Rücken ihres Liebsten mit beiden Händen streichelte und das feine Haar oval am unteren Ende seiner Wirbelsäule befühlte, während um sie herum der Nachthimmel wirbelte; sah sich vor der Hitze der Flammen zurückzucken, die aus dem geborstenen Fenster der Synagoge loderten und die Schule und das Theresienheim mit einem Funkenregen überschütteten, der dieselbe Farbe hatte wie der Judenstern aus Stoff, den ihre Freundin Eva Rosen auf ihrem Mantel tragen musste.

Nach Trudis Geburt wollte ihre Mutter sie monatelang überhaupt nicht berühren. Aus dem, was sie aufschnappte, würde sie sich später zusammenreimen, dass ihre Mutter einen Blick auf sie geworfen und dann die Hände vors Gesicht geschlagen hatte, als wollte sie das Bild der kurzen Gliedmaßen und des etwas zu großen Kopfes des Säuglings aussperren. Es half auch nicht, dass Frau Weiler, nachdem sie in den Korbwagen geschaut hatte, fragte: »Hat das Kind denn einen Wasserkopf?«

Trudis Augen wirkten älter als die der anderen Säuglinge, so, als enthielten sie die Erfahrung von jemandem, der schon lange gelebt hat. Die Frauen in der Nachbarschaft übernahmen es abwechselnd, sie am Leben und sauber zu halten. Sie waren es, die ihr silberblondes Haar zu einem dünnen Löckchen oben auf dem Kopf bürsteten und mit einem Tupfer Tannenhonig zusammenhielten, die Ziegenmilch kochten und sie ihr aus der Flasche gaben, die flüsternd ihren Körper mit dem anderer Kinder verglichen, die am Bett von Trudis Mutter saßen und ihren unruhigen Schlaf bewachten, wenn jemand sie heimgebracht hatte, nachdem sie aus ihrem Haus in der Schreberstraße weggelaufen war.

Es war der Sommer 1915, und die Stadt gehörte den Frauen. Da ihre Männer schon so lange an der Ostfront kämpften, hatten sie wieder gelernt, auch die schwierigsten Häkchen an ihren lachsfarbenen Korsetts selbst zu öffnen; sie hatten sich daran gewöhnt, Entscheidungen zu fällen – wie etwa die, welche Reparaturen sie selbst vornehmen und welche sie bis nach dem Krieg aufschieben sollten; sie fegten weiter ihre Bürgersteige und ermahnten ihre Kinder, Klavier zu üben; sie überredeten Herrn Pastor Schüler, einen alten Schachmeister aus Köln einzuladen, damit er ihren Kindern eine ganze Woche lang nach der Schule Unterricht gab; sie verscheuchten die Gaukelbilder der Gesichter ihrer Männer unter der Erde, wenn sie die Pflanzen auf den Familiengräbern gossen. Manchmal, wenn sie ihren Hunger vergaßen und ihre Abneigung gegen Rüben, die jetzt ihr Hauptnahrungsmittel waren, schien es merkwürdig, dass um sie herum das Fest des Lebens weiterging, als gäbe es keinen Krieg: die Kirsch- und Apfelblüte, der Gesang der Vögel, das Lachen ihrer Kinder.

In diesem kleinen Ort, der mit den Traditionen von Jahrhunderten befrachtet war, fielen Frauen ohne Männer aus dem Rahmen: Sie waren Gegenstand von Mitleid oder Klatsch. Doch der Krieg änderte das alles. Ohne Männer verschwammen die Grenzen zwischen den verheirateten und den unverheirateten Frauen: Plötzlich gab es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Jetzt wurde ihnen Respekt nicht mehr wegen der Stellung ihrer Männer zuteil, sondern ihrer eigenen Fähigkeiten wegen.

Das war etwas, was die alten Witwen schon lange erkannt hatten. Sie waren es, die den Ort in Wahrheit beherrschten, aber sie waren klug genug, das für sich zu behalten. Sie umrissen die Grenzen der Gemeinschaft mit der unsichtbaren Kette ihrer Hände, wenn sie ihre Kinder mit ihren Ratschlägen versorgten und ihren Enkelkindern alte Märchen erzählten, als wären sie noch nie zuvor erzählt worden.

Sie waren misstrauisch gegenüber den wenigen Männern, die in Burgdorf geblieben waren, und sie tratschten über sie – etwa über Emil Hesping, einen ausgezeichneten Sportler, der den Turnverein leitete, aber behauptete, wegen seiner schwachen Lungen kriegsuntauglich zu sein, oder über Herbert Braunmeier, der darauf beharrte, dass sich niemand anders um seine Milchwirtschaft kümmern könne. Selbstsüchtig, sagten die alten Frauen, aber sie verhätschelten die Männer, die im Krieg verwundet worden waren, wie etwa Leo Montag, der als Erster wiederkam; sie strickten ihm Wollwesten und brachten ihm Pflaumenkompott aus ihren mageren Vorräten, um ihn für seine Verwundung zu entschädigen.

Zwei Monate nach der Schlacht von Tannenberg im Oktober 1914 war Leo Montag nach Burgdorf hineingehumpelt, mit einer Stahlplatte anstelle seiner linken Kniescheibe und einem langen Seehundmantel, der einem russischen Gefangenen gehört hatte. Auf diesem silbergrauen Pelz – ausgebreitet auf dem Fußboden der hastig geschlossenen Leihbücherei – war Trudi Montag noch am selben Nachmittag gezeugt worden. Ihr Vater war nur ein paar Monate fort gewesen, aber er umklammerte seine Frau, als seien es Jahre gewesen. Gertruds Gesicht, das oft fiebrig wirkte, wenn sie erregt war, war jetzt fast durchscheinend in seiner Schönheit, während sie lachte und weinte und ihn in den Armen hielt. Die Burgdorfer sagten von ihr, sie nehme die Freuden und Leiden anderer auf sich, als seien es ihre eigenen.

Die meisten waren sich einig, dass es ihr gar nicht ähnlichsah, ihr Kind abzulehnen. Aber einige behaupteten, den Keim des Wahnsinns in Gertrud gespürt zu haben, lange bevor er zum Ausbruch kam: Sie sprachen von jenem Sommer, als sie vier gewesen war und für ein ganzes Jahr aufhörte zu reden, und sie erinnerten sich gegenseitig an ihre Erstkommunion, als sie sich geweigert hatte, die Lippen zu öffnen, um die heilige Hostie zu empfangen, sodass die anderen Kinder am Altargeländer warten mussten, bis sich der Pastor schließlich bereitfand, ihr die Absolution für die Sünden zu erteilen, die in den Stunden seit ihrer letzten Beichte an ihr haften geblieben waren.

Drei Tage nach Trudis Geburt war Gertrud Montag aus ihrem Zimmer geflohen, weg von dem Geschrei des Säuglings, das ihre Brüste von der eingeschlossenen Milch stechen ließ. Blut aus ihrem eingesunkenen Leib hatte sich auf der Vorderseite ihres Batistnachthemds ausgebreitet, als Herr Pastor Schüler sie hinter der Martinskirche fand, die Arme vor der Tür der Sakristei ausgebreitet, als wollte sie ihn nicht hineinlassen. Automatisch bekreuzigte er sich, als zwänge ihn etwas, die Form ihres Körpers nachzuvollziehen. Während er um des Anstands willen ihre Hände von der Tür zu lösen und sie in die Sakristei zu ziehen versuchte, rannte einer der Ministranten los, um Trudis Vater zu holen, der rasch von der Leihbücherei zwei Häuserblocks weiter herbeihumpelte, wo die Burgdorfer auch weiterhin die billigen Liebes- und Kriminalromane ausliehen, gegen die Herr Pastor Schüler in seinen Sonntagspredigten wetterte.

Leo Montag trug seine Frau, in eins der Altartücher gewickelt, nach Hause. Ihr Blut sickerte in die alte Spitze, und obwohl die Haushälterin des Pastors das Tuch in Salzwasser einweichte, verblassten die Flecken lediglich zu rosa Wölkchen. Bald stand Gertrud wieder an der Sakristeitür – korrekt gekleidet, war der erste Gedanke des Priesters, als er sie sah, in ihrem Wollkleid und der grauen Strickjacke ihres Mannes, trotz der Schwüle, die ihm gar nicht lieb war. Er fühlte schon den Schweiß auf seiner Brust und unter seinen Genitalien jucken, diesen Schweiß, den er hasste, aber mit nichts anderem eindämmen konnte als mit medizinischem Fußpuder, der elfenbeinfarbene Ringe auf seinen Kleidern und eine kalkige Staubspur auf seinen Schuhen hinterließ.

Der Pastor – dessen Gesicht so rund war, dass man eine massige Gestalt erwartete, wenn man ihm das erste Mal begegnete – blieb in sicherer Entfernung vor Gertrud Montag stehen, den schmächtigen Körper in ihre Richtung gebeugt. Tauben pickten um seine Füße und stoben auf, als er in seine Tasche griff, um sein Taschentuch aus seinem Rosenkranz zu entwirren. Er tupfte sich den Hals ab.

»Warum sind Sie hier?«, fragte er.

Sie hob den Blick, um einem weißen Storch nachzusehen, der auf trägen Schwingen über den Markt zum Dach des Rathauses glitt und mit seinen langen bernsteinfarbenen Beinen über die Tonziegel schleifte, ehe er neben dem Schornstein landete. Aus den offenen Fenstern der Bäckerei eine Querstraße weiter drang der hefige Geruch von warmem Brot herüber. Zwei Dackel sprangen kläffend um die Hufe des Lumpenhändlerpferds.

»Warum sind Sie hier?«, fragte der Pastor noch einmal.

Aber sie antwortete nicht, diese große Frau mit den lodernden Augen, die sich durch ihn hindurchsengten, und da er nicht wusste, was sonst tun, und sich gern als barmherzigen Menschen sah, segnete der Pastor Gertrud Montag mit einer ähnlichen Geste, als ob er die Letzte Ölung verabreichte. Und als das keine Wirkung zeitigte, teilte er ihr mit, dass ihr all ihre Sünden vergeben seien, da sie das schließlich schon einmal besänftigt hatte, damals am Tag ihrer Erstkommunion. Während er sich immer wieder umsah, ob ihr freundlicher, bestürzter Mann endlich käme, vergab er ihr – ohne es zu wissen – sogar die eine Sünde, die sie selbst sich nie vergeben würde.

Auch als aus ihren Brüsten längst keine Milch mehr rann, lief Gertrud Montag weiter von daheim weg, aber sie versteckte sich nicht immer hinter der Kirche. Manchmal drückte sie sich in die Fliederbüsche hinter dem Haus der Eberhardts. Renate Eberhardt hatte den üppigsten Garten in der ganzen Stadt: Löwenmäulchen, Rosen, Geranien und Gänseblümchen wuchsen hier in großen Farbklecksen – nicht ordentlich wie in den meisten anderen Gärten –, und ein prächtiger Birnenbaum trug goldgelbe Früchte. Sie ließ Gertrud Montag einen Blumenstrauß pflücken, ehe sie sie nach Hause führte, und sie blieb dort und brachte sie ins Bett, legte die kühlen Finger auf Gertruds heiße Stirn. Renates schlanker Hals schien zu lang für die Last der schweren Zöpfe, die sie in einem Kranz um den Kopf trug.

Gertruds Lieblingsversteck war unter dem erhöhten Teil ihres Hauses, das an einem sanften Abhang stand, vorne, wo die Leihbücherei war, ebenerdig und hinten auf alten Säulen aus Holz und grauen Feldsteinen. Gleich am Eingang zu dem Unterschlupf hing die Halterung für Leos Bambusrechen und Gartenschaufeln. Dahinter war ein Hohlraum, wo schwarze Käfer mit hart gepanzerten Körpern mit dem Dunkel verschmolzen und feine Spinnweben von den Balken hingen, sanft gewiegt von einem Wind, der von zu weit weg kam, als dass ihn ein menschliches Wesen hätte spüren können. Leo musste hinter seiner Frau herkriechen und sie hervorziehen, während sie Kirchenlieder sang und ihre bloßen Fersen in den Boden stemmte, sodass kleine Dellen zurückblieben. Danach waren ihre Wadenmuskeln so verspannt, dass er sie ihr massieren musste.

Manchmal fand er sie gar nicht, obwohl er die Leihbücherei, wo sie vor Trudis Geburt mit ihm zusammengearbeitet hatte, abschloss und auf seinem Fahrrad – mit dem rechten Bein tretend, das versehrte linke ausgestreckt – durch die Straßen rings um die Kirche fuhr und von da durch die ganze Stadt, die Römerstraße hinunter, einmal um den Jahrmarktsplatz, die Barbarossastraße hinauf zum Rhein, wo er und Gertrud auf der breiten Wiese zwischen Deich und Fluss als Schulkinder Drachen hatten steigen lassen.

Manchmal spürte er sie auf, aber meistens kam sie von allein wieder heim, und ihr schwarzes Haar war wirr und roch nach dem Fluss oder nach den Weizenfeldern rings um den Ort. Dann pflegte er den Kamm aus seiner Brusttasche zu nehmen und sie sanft im Arm zu halten, während er die Zinken durch das verfilzte Haar zog. Eines Sonntags grub er eine junge Kastanie im Wald bei der Mühle aus, schenkte sie Gertrud und erklärte ihr – während er ihr half, den Schössling vor der Leihbücherei einzupflanzen –, dass dieser Baum sie daheim halten würde. Doch am nächsten Vormittag war sie wieder weg, und zwei Nonnen brachten sie zurück.

Um sie müde zu machen, beschloss Leo, weitere Wanderungen mit ihr zu unternehmen als nur den sonntäglichen Spaziergang mittags um zwölf, wenn er die Leihbücherei schloss, aber sie rannte vor ihm her, während er mit der doppelten Bürde seines steifen Beins und des Kinderwagens kämpfte. Er sammelte Kamille und brühte aus den Blüten Tee, in der Hoffnung, er werde sie beruhigen – diese Frau, die er kannte, seit sie beide Kinder gewesen waren, diese Frau, die einen Tag älter war als er. Ihm hatte es immer gefallen, dass sie gleich alt waren, obwohl das für Eheleute unüblich war. Bei den meisten Ehepaaren, die er kannte, war der Mann etliche Jahre älter als die Frau, aber er konnte sich nicht vorstellen, mit einer Person verheiratet zu sein, mit der er nicht aufgewachsen war.

Nachts versuchte er, Gertrud an seinem Körper zu bergen, aber sie lachte in seinen Armen, ein seltsames, wildes Lachen, das seine Lenden gefrieren ließ, und obwohl sie sich der Länge nach an ihn schmiegte, schrak sein Geschlechtsteil vor ihr zurück, und er konnte sie nur wie eine Schwester halten.

Vor der Geburt ihrer Tochter hatte Gertrud ihre Arbeit im Haus und in der Leihbücherei freudig getan, aber jetzt bewegte sie sich abrupt und laut. Beim Einkaufen vergaß sie, was sie hatte holen wollen, und sie verstreute Asche, wenn sie den Küchenherd oder den grünen Kachelofen in der Wand zwischen Wohn- und Esszimmer ausräumte.

Eines frühen Septembermorgens, als Leo vor ihr aufwachte und ihr friedliches Gesicht betrachtete, sah sie genauso aus wie früher, und er war überzeugt, dass sie wieder die Alte werden würde, dass sie jetzt bereit war, ihrem Kind eine Mutter zu sein. Er schlug das leichte Federbett zurück, stand auf und zog seinen guten Anzug an, obwohl Werktag war. Er holte seine Tochter von Frau Abramowitz drüben auf der anderen Straßenseite, wo sie in dieser Nacht geschlafen hatte – die Nacht davor war sie bei Frau Blau nebenan gewesen –, aber statt sie wie gewöhnlich in ihr Bettchen im Kinderzimmer zu legen, außer Sichtweite ihrer Mutter, setzte er sich mit ihr auf Gertruds Bettkante.

Trudi war der erste Säugling, den er je in den Armen gehalten hatte, und ihm schien sie nicht anders als die anderen Säuglinge, die er im Lauf der Jahre aus sicherer Entfernung angeschaut hatte. Während er in ihre weisen Augen sah, dachte er verwundert, dass dieses Kind im Gegensatz zu ihm und seiner Frau, zwei langen, eckigen Menschen, wie ein Flusskiesel war – rund und kompakt. Es hatte seine helle Haut- und Haarfarbe, sein kräftiges Kinn und seine hohe Stirn. Die Zunge titschte gegen die Oberlippe, als suchte sie etwas Essbares, und produzierte eine kleine, schimmernde Speichelblase. Er ließ das Kind an seinem Finger saugen und staunte über den heftigen Sog der Zunge und der Kiefer. Spitzengardinen bauschten sich vor dem offenen Fenster, und im Morgenlicht schimmerte das glatte braune Holz der Fensternische honigfarben. Als er Trudis hohen Gaumenbogen an seinem Fingernagel spürte, drehte er den Finger behutsam zur Seite, um sie nicht zu kratzen.

»Schau sie an, Gertrud«, sagte er, als seine Frau die Augen aufschlug und sich erschrocken aufsetzte. »Schau sie nur mal an. Bitte.«

Aber seine Frau, nach der er das Kind, wie während der Schwangerschaft geplant, genannt hatte, kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf weg.

Die Leihbücherei bestand jetzt in der dritten Generation und verschaffte den Montags selbst in den mageren Kriegsjahren ein Auskommen, denn die Leute brachten Kohlen, Lebensmittel und Kleider im Tausch für die bunt kolorierten Bücher, die eine andere Art von Abenteuer in ihr freudloses Heim brachten als das, das sie erlebten – das Abenteuer des Krieges, der Armut, der Angst.

In der Leihbücherei konnte man auch Tabak kaufen. Hölzerne Zigarrenkisten und große Gläser mit neun Sorten Tabak standen auf dem einen Ende des Ladentischs, gleich neben dem Eintragungsbuch, in dem Leo Montag die Leihbücher registriert hatte, eins auf jeder Seite. Die Länge der Eintragungsspalte unter dem Titel, die die Namen der Entleiher enthielt, zeigte die Beliebtheit des jeweiligen Buches.

Die Seitenmauern des Montag’schen Hauses waren noch nicht einmal eine Armlänge von den Mauern der Nachbarhäuser entfernt – dem der Weilers zur Linken, dem der Blaus zur Rechten. Herr Blau war früher Schneider gewesen und jetzt im Ruhestand, und Frau Weiler führte das Lebensmittelgeschäft. Die Fassaden der drei schmalen Häuser waren weiß verputzt, mit einer Reihe Backsteinen unter den Fenstern und über den hohen Türen, und die Grundmauern bestanden aus großen, glatten Steinen, die aus dem Rheinbett stammten. Die meisten anderen Läden und Geschäfte Burgdorfs lagen ebenfalls in den Straßen rings um den Kirchplatz: Hansens Bäckerei und der Frisiersalon, der Eisenwarenladen und das Hutgeschäft, zwei Gasthäuser und der Markt.

Die Weilers hatten einen Sohn, Georg, der in der Nacht vor dem Aufbruch seines Vaters an die Ostfront gezeugt worden war. Frau Weiler, die bei Georgs Geburt schon alt genug gewesen war, um Großmutter zu sein, hatte ein breites Gesicht mit traurigen, hervorquellenden Augen und klang oft so panisch, als hätte sie Angst, ihre Arbeit nicht ganz zu bewältigen. Sie verzieh es ihrem Sohn nie, dass er nicht als Mädchen zur Welt gekommen war, und sie versuchte immer noch, diesen Irrtum zu korrigieren, indem sie ihm Kittelkleidchen anzog und sich weigerte, ihm die Haare zu schneiden.

Die Kinder der Blaus waren schon erwachsen: Margret und ihre Familie bewohnten eine Mietwohnung in der Nähe der Kapelle, und Stefan Blau, der als junger Bursche nach Amerika durchgebrannt war, war nur einmal, 1911, nach Burgdorf zurückgekehrt, um Leo Montags Schwester Helene zu holen, damit sie seine dritte Frau und den Kindern ihrer Vorgängerinnen, die im Kindbett gestorben waren, eine neue Mutter würde. In letzter Zeit wünschte sich Leo manchmal, seine Schwester würde noch bei ihm und Gertrud leben. Sie hätte gewusst, wie man Gertrud dazu bringen könnte, ihr Kind anzunehmen. Aber Helene war ein paar Tausend Kilometer weit weg, hatte drei Stiefkinder und inzwischen auch noch ein eigenes Kind.

Die Leihbücherei, die Küche und das Wohnzimmer mit dem Klavier nahmen das Erdgeschoss des Montag’schen Hauses ein, die Schlafzimmer den ersten Stock. Oben im zweiten Stock befand sich ein Nähzimmer mit einer Stiefmütterchentapete und einem schmalen Fenster; hier schloss Leo Montag seine Frau zur Sicherheit ein, nachdem sie begonnen hatte, sich für die Engel auszuziehen. Das erste Mal war es mitten in der Sonntagsmesse passiert. Leo, der zwischen zwei älteren Männern saß, registrierte zwar, dass der Priester oben auf der Kanzel predigte, hörte aber nicht auf die Worte, da ihn das Licht beschäftigte, das – obwohl es draußen regnete – in blauen, lilafarbenen und goldenen Sternen durch die Buntglasfenster strahlte, als schiene die Sonne. Er bemerkte nicht einmal, dass Gertrud ihr Kleid aufgeknöpft hatte, bis der Priester mitten im Satz innehielt, einen mageren Arm zur Frauenseite der Kirche hin reckte und alle Blicke für einen endlosen Moment auf Gertrud lenkte, bis Frau Eberhardt, die in der Bank dahinter kniete, Gertrud ihren Mantel um die Schultern warf.

Das nächste Mal war Gertrud nicht so schnell erwischt worden: Sie schlüpfte hinaus, als der Eismann eine Stange Eis lieferte. Leo hatte bezahlt, dem Pferdewagen des Eismannes nachgeschaut und erst dann gesehen, dass Gertrud nackt und hocherhobenen Hauptes zum Ende der Schreberstraße spazierte. Er hatte das rot-weiß karierte Tischtuch vom Küchentisch gerissen und war hinter ihr hergerannt.

Von da an presste er jeden Morgen, ehe er die Leihbücherei öffnete, ein Glas Karottensaft, den Gertrud so gern mochte, schnitt ihr einen Apfel in Schnitze und mühte sich, sie nach oben in das Nähzimmer zu schaffen, um sie dort einzuschließen. Um ihr eine Freude zu machen, hängte er einen kleinen Spiegel mit einem Goldrahmen auf, den sie einmal drüben im Wohnzimmer der Abramowitz bewundert hatte. Sie hatten ihn von ihrer Venedigreise mitgebracht, zusammen mit Fotos für ein ganzes Album, die sie überall machten, wohin sie fuhren – und sie reisten in so weit entfernte Länder wie China und Venezuela. Im Tausch für den Spiegel hatte Leo Frau Abramowitz fünf Jahre Gratisausleihe angeboten.

»Ich würde ihn Ihnen lieber schenken«, hatte sie gesagt. Die unzähligen feinen Fältchen, die sie schon als junge Frau gehabt hatte, erkannte man erst, wenn man ganz genau hinsah – wie bei einem Seidenstoff, der zerknittert und gebügelt worden war und unter dessen glatter Oberfläche eine feine Maserung lag.

»Aber Sie sollen auch etwas dafür bekommen.«

»Zwei Jahre Ausleihe sind mehr als genug.«

»Fünf. Mindestens fünf.«

»Na ja, in diesen Büchern werde ich wahrscheinlich mehr finden, als ich je in diesem Spiegel sehe«, hatte sie eingelenkt.

Leo kaufte Gertrud einen Porzellannachttopf mit einer Bordüre aus aufgemalten Rosen und acht glänzende Bögen mit Ausschneidepüppchen und den dazugehörigen prächtigen Kleidern. Da es ihm nicht geheuer war, ihr eine Schere in die Hand zu geben, schnitt er die Püppchen für sie aus und zeigte Gertrud, wie man die Abendkleider, Mäntel und Hüte an ihren papierdünnen Körpern befestigte, indem man die kleinen Laschen um Schultern und Taille bog.

Er brachte ihr ein blaues Samtsofa, das er Emil Hesping beim Schach abgenommen hatte, sagte Gertrud aber nicht, woher es stammte. Obwohl Emil seit der ersten Klasse sein Freund war, duldete ihn Gertrud nicht mehr im Haus. Sie verließ die Leihbücherei, wenn Emil hereinkam, um sich Tabak zu kaufen.

»Ist ja nicht deine Schuld«, versicherte Emil, wenn Leo sich für das Verhalten seiner Frau entschuldigte. Emil war der Bruder eines Bischofs, ging aber nicht in die Kirche. Obwohl erst Anfang dreißig, hatte er schon seit zehn Jahren eine Glatze; aber er sah trotzdem jünger aus als andere Männer seines Alters, da sich die rosige Haut seines Gesichts einfach über die Stirn hinaus und am Hinterkopf wieder hinunterzog. Er lachte viel, und wenn er es tat, stießen seine Augenbrauen – eine beinahe durchgängige schwarze Linie, die einzigen Haare, die man von ihm sah – über der Nase zusammen.

Leo, der vor seiner Kriegsverletzung Mitglied in Emils Turnverein gewesen war, vermisste es, am Schwebebalken dahinzufliegen, seinen Körper über die glatten Holzholme des Barrens zu schwingen und über den stabilen Lederleib des Pferdes zu springen, fast ohne ihn zu berühren. Und er vermisste das kameradschaftliche Zusammensein mit Emil. Durch sein schmerzendes Knie zur Schwerfälligkeit verurteilt, spürte er in Emil den Rausch des Siegens, wie er ihn in der Turnriege erlebt hatte. Emil Hesping konnte einen glauben machen, dass man noch immer das Zeug zum Sieger hatte. Er brachte einen zum Lächeln und sogar zum Lachen. Er brachte einen dazu, sich mit ihm auf ein Bier oder zwei in der Traube zu treffen, wenn die eigene Frau einen nicht mehr ins Haus ließ.

Eines Nachmittags kam Emil in die Leihbücherei und brachte ein altes Klassenfoto aus der fünften Klasse mit, auf dem Leo neben ihm stand, während Gertrud mit den anderen Mädchen in der vordersten Reihe kniete. »Schau, was ich gefunden habe«, sagte er aufgeregt und drückte Gertrud das Bild in die Hand. »Erkennst du uns?«

Einen Moment lang stand sie da, das bräunliche Foto in der Hand, die Zähne gefletscht wie ein wütender Hund; dann ließ sie ihm das Bild vor die Füße flattern und schoss in die Küche.

Als Leo ihr nachlief, riss sie die Türen der weißen Hängeschränke auf und knallte sie so heftig zu, dass die Blümchentassen-Kollektion ihrer Urgroßmutter auf dem Bord über der Spüle zitterte.

»Emil war auch dein bester Freund«, rief Leo ihr in Erinnerung.

»Er denkt, er kann sich alles nehmen, was er will.«

»Er hat dir etwas gebracht. Und außerdem zahlt er für seinen Tabak.«

Sie starrte ihn aus wilden Augen an, starrte auf das sanfte Gesicht und den steifen Kragen dieses Mannes, den sie geliebt hatte, seit sie beide acht Jahre alt gewesen waren, und der so oft für alles stand, was ihr hier missfiel – an diesem Ort, wo das Leben langsamer ablief als in der Großstadt, in der sie ihre ersten Jahre verbracht hatte.

»Wir zahlen alle, Leo.« Sie horchte ihren Worten hinterher und musste lachen. »Wir zahlen alle.«

Während seine Tochter in ihrem Korbwagen zwischen der hölzernen Ladentheke und den Regalen lag, bediente Leo seine Kunden, oder er studierte raffinierte Schachzüge auf dem Brett mit den handgeschnitzten Figuren, das immer in irgendeinem Stadium einer Partie gegen einen imaginären Gegner auf dem Ladentisch wartete. Gelegentlich kam einer der alten Männer vorbei, um gegen Leo zu spielen, und dann redeten sie über die Männer an der Front. Sie schwelgten in Erinnerungen an den Burgdorfer Schachklub und schmiedeten Pläne, die Montagstreffen wiederaufleben zu lassen, sobald der Krieg vorbei war.

Von Zeit zu Zeit sah Leo an die Decke, um sich zu vergewissern, dass seine Frau noch im Nähzimmer war. Seine Augen verengten sich, als wollten sie die Schichten aus Stein und Holz durchdringen, die zwischen ihm und dem zweiten Stock lagen. Er war besorgt, wenn er ihre unruhigen Schritte hörte, aber noch besorgter, wenn er nichts hörte, da Gertrud es mindestens einmal pro Woche schaffte zu entkommen. Es war ihm ein Rätsel, wie es passieren konnte, dass sich der einzige Schlüssel, den er außen im Schloss stecken ließ, in ihrer Tasche befand, wenn er sie endlich einfing.

Einmal, als er sie durch die offene Tür der Leihbücherei den Flur entlanghuschen sah, fischte er Trudi aus ihrem Wagen und humpelte, das Kind an die Brust gedrückt, hinters Haus.

»Gertrud?« Er bückte sich und lugte in den schwarzen Hohlraum. »Gertrud, bist du da?«

Es dauerte ein Weilchen, bis er sie erkennen konnte. Sie kauerte zwischen dem Unkraut und den Steinen, das Gesicht halb von Haaren verhangen. Leo wusste nicht, warum er es tat – wusste nicht einmal, dass er es tat, bis er merkte, dass er seine Tochter vor sich in die Luft streckte, fast wie ein Priester den Kelch. Er hielt sie in die Strahlen des perlgrauen Lichts, obwohl seine Arme von dem Gewicht zu zittern begannen, hielt sie, wie ihm schien, ein ganzes Menschenleben lang dort, zwischen sich und seiner Frau, während ihre dicken Patschhände die Luftschichten in Unruhe versetzten wie tropische Fische, hielt sie so lange, bis seine Frau auf sie zustürzte, aufschluchzte, ihm das Kind mit ihren dreckverschmierten Händen wegschnappte und sie alle drei in eine Wolke von modrigem Erdgeruch hüllte.

Leos Arme fühlten sich schwerelos an – fast wie Flügel –, und als sich die Leichtigkeit auf seine Brust und seine Kehle ausdehnte, wollte er seine Frau und sein Kind umfassen, um sich selbst im Boden zu verankern, aber er trat ein Stück zurück, nicht so weit, dass es Gertrud erschreckte, aber weit genug, um ihr Raum zu lassen, ihre Tochter aus den kleinen Söckchen, dem Kleid, dem Unterhemdchen und den Windeln zu schälen und jeden einzelnen Teil ihres drei Monate alten Körpers – die Zehen, den Nabel, den Hals, den Popo, die Finger, die Ohren – zu inspizieren, wie es frischgebackene Mütter tun, wenn ihnen ihr Kind nach der Geburt gereicht wird.

Für Leo würde dies der Tag der Geburt seiner Tochter bleiben, als wären all die vorangegangenen Momente nur die Vorbereitung auf das gewesen, was er sich unter einer Familie vorgestellt hatte, und es erfüllte ihn eine grenzenlose Hoffnung – auch dann noch, als Gertrud an ihrem Kleid herumfummelte und den Mund des Kindes an ihre trockene Brust presste. Obwohl er Trudi erklären würde, dass es unmöglich sei, sich so weit zurückzuerinnern, bewahrte sie es für immer in sich: diesen Moment, in dem ihre Mutter sie zum ersten Mal berührte, und die alles durchdringende Wonne, die sie durchströmte, obwohl ihr Bauch hungrig blieb und die Hände ihrer Mutter rau waren, als wären sie es gewohnt, große Erdklumpen beiseitezuräumen.

Von diesem Tag an war Trudi die Einzige, die ihre Mutter ohne körperliche Gewalt aus dem Erdnest unter dem Haus hervorlocken konnte – zunächst von den Armen ihres Vaters aus, und als sie dann laufen lernte, allein. Hier suchte sie zuerst, wenn ihre Mutter verschwunden war. Eine saubere Schürze über ihrem Kleidchen, die knöchelhohen Lederschuhe ordentlich geschnürt, marschierte sie los, um ihre Mutter zu suchen, und was sie fand, war eine seltsame Schönheit, dort unten in diesem dunklen Hohlraum, den die Stimme und die lebhaften Bewegungen ihrer Mutter erhellten, jene Art Schönheit, die der Unterseite der Dinge eigen ist und nur selten sichtbar wird, jene Art Schönheit, die einen – wenn man einmal von ihr weiß – immer wieder treibt, nach ihr zu suchen. Man erkennt sie allmählich an Orten, wo niemand anders sie sieht – im komplizierten Muster der Falten um die Lippen eines alten Mannes; in der Art, wie die Luft sich unmittelbar vor dem Blitz verdichtet und intensiv nach Eiern riecht, im schrillen Wutgeschrei eines kleinen Kindes.

Und da sie begonnen hatte, solche Dinge zu sehen, kam Trudi gar nicht auf die Idee, zurückzuzucken, als ihre Mutter eines Nachmittags einen schwarzen Käfer einfing, seinen runden Körper zwischen ihren Fingern zerdrückte und mit verzückter Miene daran roch. »Es riecht wie Erdbeeren«, sagte sie und hielt Trudi ihre Fingerspitzen unter die Nase. Und es stimmte. Es roch wie frische Erdbeeren, und die roten Kleckse auf den weißen Fingern ihrer Mutter hätten gut kleine Stücke süßen Fruchtfleischs sein können.

Schon mit zwei Jahren fühlte sich Trudi älter als ihre Mutter, wenn sie ihr unter das Haus folgte, mit ihr dort saß und sie damit unterhielt, dass sie ihr erzählte, wer alles an diesem Tag in der Leihbücherei gewesen war. Sie würde ihren Besuch so angenehm gestalten, dass ihre Mutter den Wunsch hätte, ihr hinaus ins Licht zu folgen, und dann würde sie ihr sachte zureden, bis sie wie ein Krebs seitwärts zu ihr gekrabbelt käme.

Und es ging nicht nur darum, sie herauszulocken. Man musste es tun, ohne dass jemand es sah, damit die Nachbarinnen es nicht ihrem Vater erzählten, denn der würde ihre Mutter sonst nur wieder einsperren. Deshalb wurde es Trudis Geheimnis, wenn ihre Mutter sich unter dem Haus versteckte – ein ernstes Geheimnis für ein Kind ihres Alters, zumal ihre Mutter ihr den Trick gezeigt hatte, wie man aus dem Nähzimmer entkam: Man schob ein Blatt Papier unter der Tür hindurch, stocherte mit einer Haarnadel im Schloss, und wenn der Schlüssel draußen auf das Papier fiel, zog man ihn vorsichtig herein und schloss auf.

Ihre Mutter an beiden Händen aus dem Dunkel zu führen, war das Einzige, was Trudi tun konnte, um die Schuld abzutragen, dass die Mutter ihretwegen die Grenze zum Wahnsinn überschritten hatte. Sie wusste das nicht nur, weil sie Frau Weiler und Frau Buttgereit im Lebensmittelgeschäft hatte reden hören, sondern auch, weil sie ihr in die Augen schaute und die wirbelnden Bilder hinter den blauen Iris reisen sah, ein Geflecht von Bildern, das ihre Mutter verwirrte und das Trudi nicht verstand, obwohl sie seine erschreckende Macht spürte. Und sie sah noch etwas: dass ihre Mutter sich schuldig fühlte, dass da eine längst vergangene Sünde war, die so abscheulich sein musste, dass ihre Mutter dachte, sie sei der Grund, dass sie ein Kind mit missgestaltetem Körper zur Welt gebracht hatte.

Ihre Mutter aus dem Dunkel und über das Netz der Fersenabdrücke locken, das den staubigen Boden überzog wie das feine Muster der Spuren, die die Beine der Erdbeerkäfer hinterlassen hatten … Die Hände ihrer Mutter in dem Bach abspülen, der, vom Ende der Schreberstraße kommend, hinter der Leihbücherei vorbeifloss und sich dort auf seinem Weg zum Jahrmarktsplatz gabelte … Wenn sie sie auf diese Weise wieder ins Reich der Normalität hätte zurückholen können, Trudi hätte ihre Geburt drangegeben und jeden Atemzug, den sie seither getan hatte. Wenn sie die große Frau mit dem Schattenhaar nur wieder so machen könnte, wie sie auf den Fotos aussah. Aber wie sollte sie das können, wenn nicht einmal der Priester und die Ärztin wussten, wie?

Es war der Beschluss der alten Frauen im Ort, dass Gertrud Montag – nachdem man sie ohne Kleider auf der Eingangstreppe der katholischen Schule entdeckt hatte – eine Zeit lang in die Grafenberger Anstalt sollte. Die alten Frauen hatten ihre Krankheit geduldig hingenommen, aber Unsittlichkeit war gefährlich, da sie die Jugend verdarb. Sie schickten eine Abordnung zu Herrn Pastor Schüler, der Leo Montag ins Pfarrhaus einlud, um ihn dort bei Kaffee und Apfelstrudel von der Besorgnis des ganzen Ortes in Kenntnis zu setzen.

»Ich wünschte, ich wüsste einen leichteren Weg«, begann der Pastor in mitfühlendem Ton.

Leo hörte höflich zu, wie man es ihn als Jungen gelehrt hatte; er lobte die Kruste des Strudels, nahm dankend eine zweite Portion, widersetzte sich aber dem Rat des Pastors, Gertrud nach Grafenberg zu schicken. Genauso, wie er das Anderssein seiner Tochter und die Schmerzen in seinem Bein akzeptiert hatte – unter gelegentlichen Ausbrüchen von Trauer, aber mit einer alles überlagernden Hoffnung –, akzeptierte er auch, wie seine Frau geworden war. Erst als Gertrud sich bei einer ihrer Eskapaden das Handgelenk gebrochen hatte und Frau Doktor Rosen, nachdem sie das Gelenk gerichtet hatte, meinte, es sei wohl das Beste, sie in Grafenberg untersuchen zu lassen, gab Leo dem Drängen des Pastors nach – doch nicht, ohne zunächst stattdessen das Theresienheim vorzuschlagen, das Kloster gleich um die Ecke, wo die Nonnen die Alten und Kranken betreuten.

»Da ist sie in der Nähe«, erklärte er der Ärztin. »Trudi und ich können sie besuchen.«

»Die Schwestern …« Frau Dr. Rosen zögerte und rieb sich die weiße, erhabene Narbe zwischen Nase und Oberlippe, die Spur ihrer Hasenscharte. »Die Schwestern«, sagte sie sanft, »meinen es gut … Sie tun gewiss eine Menge für die alten Leute, aber was Ihre Frau braucht, ist ein Spezialist, jemand, der sich mit der menschlichen Psyche auskennt.«

Sie behielten Gertrud drei Wochen in der Anstalt, und während ihrer Abwesenheit kam das Geschenk des unbekannten Wohltäters – ein hölzernes Grammofon und acht dicke schwarze Platten mit Musik von Beethoven und Bach. Leo entdeckte es eines Morgens auf dem Ladentisch der Leihbücherei, als er die grünen Läden öffnete. Der unbekannte Wohltäter verteilte schon seit zwölf Jahren Gaben an die Burgdorfer – Kleider und Körbe mit Lebensmitteln und Umschläge mit Geld, die in kritischen Zeiten in verschlossenen Häusern auftauchten, ohne Begleitbrief und ohne jeden Hinweis auf den Spender, der, da waren sich alle einig, aus dem Ort sein musste, da die Geschenke immer genau das Richtige waren – so wie das glänzende Fahrrad, das Frau Simon, zwei Tage, nachdem ihr Rad gestohlen worden war, in ihrem Schlafzimmer gefunden hatte, oder der Pappkarton mit neuen Mänteln für die gesamte Familie Buttgereit, nachdem Unwetter ihre Ernte ruiniert hatten.

Leo Montag stellte das Grammofon in der Leihbücherei auf, und Trudi vergaß beinahe ihren Kummer um die Mutter, als die ersten Töne den Raum mit Ekstase, Wut und Leidenschaft erfüllten. Sie stand ganz still da und sog diese Schwingungen ein, spürte, wie ihre Kraft sie durchdrang und Gefühlen Gestalt gab, die sie noch nicht kannte, aber dunkel erahnte.

Als ihre Mutter wieder heimkam, das Kleid bis zum Hals zugeknöpft und den Unterarm in Gips, waren ihre Augen zu stumpf, um irgendwelche Bilder durchzulassen, und sie bewegte sich, als wate sie durch hüfthohes Wasser. Aber die alten Frauen nickten zustimmend, als sie an diesem Sonntag, mit einem blauen Hut aus der Hutmacherei von Frau Simon, zwischen Frau Blau und Trudi in der Kirche kniete und die einzig entblößte Haut an ihr die des Gesichts und der gefalteten Hände war. Als Frau Blau das schwarze Gesangbuch für sie aufschlug, bewegte sie fügsam die Lippen mit den Worten, die aus der Gemeinde emporstiegen.

Mit jedem Tag wurden ihre Bewegungen weniger verhalten. Das waren immer die schönsten Momente für Trudi – nachdem die Trübheit aus den Augen ihrer Mutter gewichen war und ehe sie wieder anfing, unruhig im Haus umherzulaufen –, die Momente, wenn ihr Vater die Leihbücherei schloss, ihre Mutter aus dem Nähzimmer ließ und sie beide mit an den Rhein nahm. Dort band Trudi ihre Schuhe auf, raffte ihren Rock und watete am seichten Ende der Bucht hin und her oder hopste auf einem Bein, Bewunderung heischend, vor ihren Eltern herum, die auf dem Steg saßen und ihr zuwinkten, während Silberbänder von ihren Zigaretten den Himmel an den Fluss hefteten.

»Versprich, dass du mich nicht wieder nach Grafenberg schickst«, flehte Gertrud eines Abends, als Leo gerade Bratwürste und Zwiebeln briet.

Er nahm sie sanft in die Arme. »Wenn ich kann«, sagte er. »Wenn ich kann, Liebchen.«

Trudi kletterte auf den hölzernen Eiskasten, um dicht bei ihren Eltern zu sein, und hockte sich zwischen die Zuckerdose und die Eierwärmer. Die Strickjacke ihres Vaters hing wie üblich von der Lehne eines Küchenstuhls, und auf der Fensterbank am offenen Fenster saß eine Fliege, die Flügel schillernd, die Vorderbeine so geschäftig werkelnd wie Frau Blaus Stricknadeln. Auf der Wiese hinter dem Lebensmittelladen schlug Georg Weiler Purzelbäume, wobei ihm das Kleid über den Kopf fiel, als sollten die Leute an seiner Unterwäsche sehen, dass er kein Mädchen war.

Trudis Mutter war genauso groß wie Trudis Vater. »Versprochen?«, fragte sie noch einmal und sah ihm direkt in die Augen.

Er lehnte die Stirn an ihre. Sie trug ihr Lieblingskleid, weiß mit bunten Stickereiblumen, die sich als Borte um Ärmelränder und Ausschnitt zogen und sich in einer langen Ranke vom Hals bis zur Taille hinab wanden. Dieses Kleid – so war Trudi erzählt worden – hatte sich ihre Mutter zwei Jahre vor Trudis Geburt genäht, für einen Kostümball. Sie war als Prinzessin gegangen, mit Krone und Zepter, während Trudis Vater sich als Seeräuber verkleidet hatte, mit Augenklappe und Pappsäbel.

»Versprochen?«

Er nickte.

»Du wirst dich freuen«, sagte sie und lachte. Ihre Hand – die ohne Gips – schoss zwischen seine Beine.

Er machte einen Satz rückwärts. »Gertrud!«, sagte er und starrte Trudi an, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt.

»Papst Leo …«, sang Trudis Mutter laut. »Wie viele Päpste gab es, die Leo hießen?« Sie schwang herum und hob Trudi hoch. »Heiliger Mann … Leo, Leo, heiliger Mann …«

Trudi hielt sich an dem Stoff auf der Schulter ihrer Mutter fest, während sie zusammen durch die Küche wirbelten.

»… heiliger Mann. Ab sofort erklären wir deinen Vater zum Papst – Leo der Siebzehnte, der ihn nicht …«

»Gertrud!« Er packte ihre Mutter an den Ellbogen, um sie am Weitertanzen zu hindern, und zog Trudi aus ihren Armen. »Deine Mutter braucht Ruhe«, sagte er.

Draußen hatte Georg das Purzelbaumschlagen eingestellt, und er spähte zu ihrem Fenster herüber, den Kopf gereckt, als könne er so besser hören. Blonde Ringellocken fielen ihm auf den runden Kragen.

»Heiligster unter den Heiligen …«, sang Trudis Mutter. »Gebenedeit seist du unter den Päpsten, und gebenedeit sei die Frucht deines …«

»Das Kind«, sagte er. »Nicht vor dem Kind.«

In den folgenden Wochen bekam Gertruds Körper etwas Quecksilbriges, was bewirkte, dass sie von Zimmer zu Zimmer huschte und unablässig vor sich hin schwatzte oder Kirchenlieder sang, viermal so schnell, wie der Organist von St. Martin sie spielen konnte. Als ihr der Armgips abgenommen worden war, beschloss sie, das Haus zu renovieren. Leo machte sich zwar nichts aus der Tapete, die sie fürs Wohnzimmer ausgesucht hatte – spinnwebfeiner Farn auf braunem Grund –, aber ihr Bestreben, sich einen besonderen Raum innerhalb des Hauses zu schaffen, erleichterte ihn so sehr, dass er ihr beim Tapezieren half. Er zimmerte ihr einen hölzernen Ständer für zwei Tontöpfe mit Farnpflanzen und das ausgestopfte Eichhörnchen, das sein Großvater als Junge geschossen hatte, doch ehe er es geschafft hatte, die Holzflächen und -rahmen weiß zu streichen, damit das Zimmer heller wirkte, fing Gertrud wieder an, sich unter dem Haus zu verstecken, so, als hätte er dabei versagt, den einzigen Ort, an dem sie sich sicher fühlte, noch einmal für sie zu bauen.

Leo spürte sie dann auf, brachte sie nach oben und schloss – wie üblich – die Tür zum Nähzimmer von außen ab, nur war jetzt der Schlüssel mit einem abgewetzten Schnürsenkel an der Türklinke festgebunden, sodass er, selbst wenn es ihr gelang, ihn herauszustoßen, nicht auf den Boden fallen konnte.

Wenn Trudi mit ihr in diesem Zimmer war, unterbrach Gertrud ihr aufgeregtes Hin und Her zwischen der Tür und dem kleinen Fenster, durch das sich nicht einmal ein Kind hätte zwängen können. Stattdessen zeigte sie Trudi, wie man den Papierpüppchen Kleider anzog. Frau Simon hatte ihr eine satinbezogene Hutschachtel geschenkt, und darin bewahrte sie die Püppchen auf, wobei sie sie, ehe sie den Deckel schloss, jedes Mal auszog, als ob sie sie schlafen legte. Sie sang Trudi »Hänschen klein« vor und »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, und sie brachte ihr bei, an den Fingern und Zehen bis zwanzig zu zählen und den Takt zu »Backe, backe Kuchen« zu klatschen. Oft hob sie Trudi ans offene Fenster und zeigte ihr, wie weit man sehen konnte – über die Schreberstraße und am Kirchturm vorbei bis zu den Weizenfeldern, dem Kuhstall der Braunmeiers und dem Deich, der den Ort schützte, wenn im Frühjahr der Rhein über die Ufer trat.

Trudi hatte keine Angst vor ihrer Mutter, nie, nicht einmal, wenn sie Buchstaben in die Wände ritzte, immer wieder dasselbe Wort: Gefangene – wie eine dringliche Botschaft an einen geheimnisvollen Retter. Sie benutzte dazu Haarnadeln, einen Löffelstiel, ja, sogar die Fingernägel. Gefangene – es grub sich durch die Blümchentapete in den Putz und ließ hellen Staub die Wand hinunterrieseln. Gefangene: Es war ein Wort, das man auch lernen konnte, wenn man noch zu klein zum Schreiben war, ein Wort, das man im Herzen fühlte, wenn man die Buchstaben mit dem Finger nachfuhr.

Trudi war drei, als die Männer von Burgdorf aus dem Krieg zurückkehrten. Ein paar – so etwa Herr Abramowitz, der, wie die Leute sagten, zwei Reihen Zähne hatte und kein Hehl aus seinen linken Überzeugungen machte – waren verwundet heimgekommen, wie Trudis Vater. Viele weitere – darunter Herr Sturm, der Besitzer der Spielwarenfabrik und einer der reichsten Männer im Ort – wurden in Holzkisten heimgeschickt, und die Burgdorfer waren auf dem Friedhof zusammengekommen, wo sorgsam gepflegte Blumen auf Familiengräbern entfernt wurden, weil Platz für neue Särge ausgehoben werden musste.

Die meisten Männer kamen in geordneten Formationen, die sich rasch auflösten. Es war eine Zeit der kleinen Revolutionen: Lastwagen mit Gewehren und Pistolen tauchten auf, und die Waffen wurden an ganz normale Männer verteilt, die damit herumliefen, sogar am helllichten Tag, als hätte der Krieg zusätzliche Gliedmaßen aus ihren Leibern sprießen lassen.

Kinder, für die die Abwesenheit der Väter selbstverständlich geworden war, mussten sich wieder an deren Autorität und Zärtlichkeit gewöhnen, und Frauen mussten die Verantwortung abgeben, die sie während der Kriegsjahre übernommen hatten – was manche mit Erleichterung und viele mit Widerstreben taten. Wenn sie beim Bäcker, beim Metzger und im Lebensmittelgeschäft um ihre täglichen Einkäufe anstanden, sprachen sie nicht mehr über ihre Leistungen und Ängste, sondern darüber, was ihre Männer oder Väter gern aßen.

Nach der Rückkehr der Männer war es, als sei der Ort über Nacht geschrumpft: Die Straßen schienen schmaler, die Zimmer voller zu sein: Stiefel, die darauf warteten, von Töchtern oder Ehefrauen geputzt zu werden, okkupierten den Platz neben dem Küchenherd: Die beiden Wirtschaften – Potters Gasthof und die Traube – waren wieder voll; die Stimmen klangen lauter, und selbst die Kirchenglocken schienen tiefer zu dröhnen.

Herr Abramowitz öffnete seine Anwaltskanzlei wieder, staubte seine teure Kameraausrüstung ab und erwarb einen gebrauchten Mercedes, Baujahr 1908, mit einem Gepäckträger auf dem Dach und weißen Reifen. Sonntags kutschierte er seine Frau und seine beiden Kinder hinaus aufs Land, wo er sie vor Seen, Wäldern und Hügeln für unzählige Aufnahmen posieren ließ.

Als Anton Immers einem der heimkehrenden Offiziere – dem Tierpräparator Kurt Heidenreich, einem großzügigen, fröhlichen Mann – für zwanzig Pfund Wurst seine Uniform abgehandelt hatte, bat er Herrn Abramowitz, ihn darin zu fotografieren. Der Anwalt konnte das großspurige Gehabe des Metzgers zwar nicht leiden, lehnte aber niemals ab, wenn er gebeten wurde, jemanden zu fotografieren, da er sich als Fotograf und Chronist des Ortes sah. Der Metzger – der die ganze Zeit unter der Schmach gelitten hatte, abgewiesen worden zu sein, als er sich freiwillig meldete – hielt den schmerzenden Rücken so gerade, wie er irgend konnte, und starrte mit triumphierender Miene an der Kamera vorbei, als blicke er auf ferne Schlachtfelder, die niemand sonst erkennen konnte. Sechs Jahre vor Kriegsbeginn war eine Kuh beim Schlachten auf ihn gekippt und hatte ihm das Rückgrat gebrochen, und obwohl er nicht über den Unfall redete, sah man an der Art, wie er ging – leicht nach links gebeugt –, dass er ständig Schmerzen hatte.

Herr Immers ließ eine Vergrößerung der Aufnahme rahmen und hängte sie in der Metzgerei neben den Schutzheiligen der Metzger – St. Adrian, den heidnischen Soldaten, der sich zum Christentum bekehrt hatte und zu Tode gefoltert worden war –, und immer, wenn er darauf sah, konnte er sich vorstellen, dass er tatsächlich im Krieg gekämpft hatte, natürlich nicht als gemeiner Soldat, sondern als hochdekorierter Offizier. Im Lauf der Jahre glaubte er selbst an diese Fiktion, und es wäre sehr unklug von seiner Frau und seinen Kunden gewesen, ihn eines Besseren belehren zu wollen. Schließlich übernahm die ganze Stadt die Version des Metzgers, sogar der Tierpräparator, der ihm seine Uniform abgetreten hatte, und der nächsten Generation wurde die Illusion als geschichtliche Tatsache vermittelt.

So war es auch mit vielen anderen Geschehnissen, und es forderte Mut von den wenigen, die an der Wahrheit festhielten, nicht zuzulassen, dass ihnen die Fäden entschlüpften und unter dem Gespinst aus Schweigen und Einverständnis verschwanden, das die Leute – oft in bester Absicht – spannen, um sich gegenseitig zu schützen.

Trudis Vater, der schon viel länger wieder zurück war als die anderen Männer, wurde in eine inoffizielle Führungsposition gedrängt, da die heimkehrenden Soldaten von ihm erwarteten, dass er sie wieder in das Leben einführte, das sie hinter sich gelassen hatten. Seine still akzeptierende Art zog sie in die Leihbücherei, wo sie so kleine Portionen Tabak kauften, dass sie einen Vorwand hatten, am nächsten Tag wiederzukommen. Viele von ihnen konnten nicht begreifen, wie Deutschland diesen Krieg gegen die Welt hatte verlieren können, und schrieben die Schuld an ihrer schmählichen Niederlage Verschwörungen und heimtückischen Kräften zu. Die Gesichter starre Masken der Erschöpfung, wankten sie durch den Tag wie Schlafwandler, da sie nicht mehr wussten, wie man die ganze Nacht schlief, ohne nach dem Feind zu horchen. Leo brauchten sie nichts von ihren Träumen zu erzählen, von den gesplitterten Knochen und leeren Augenhöhlen, da er die Träume kannte, die einen aus dem flachen Schlaf rissen und die wüsten Erinnerungen über einem zusammenschlagen ließen, auch wenn man nur ein paar Monate Soldat gewesen war.

Während Leo die Hand über einer Schachfigur verharren ließ und den nächsten Zug erwog, hörte er den Männern zu, und auch wenn er nicht viel sagte, fühlten sie sich gestärkt, wenn sie gingen. Leo offenbarte sich nur wenigen Menschen – nicht, weil er schüchtern gewesen wäre oder sein Inneres hätte verbergen wollen, sondern deshalb, weil ihm der Wunsch, von anderen verstanden zu werden, unbekannt war. Dennoch wollten die Männer aus ihm herausbekommenen, was in Burgdorf passiert war, nachdem sie 1914 mit Blumen und Musik verabschiedet worden waren – gefeierte Helden, noch ehe sie je auf den Feind getroffen waren, als könnten sie die wahre Geschichte nur von einem anderen Mann erfahren.

Versteckt auf dem Schemel hinter dem Ladentisch, eingehüllt vom schweren Duft verschiedener Tabaksorten, sog Trudi die Worte auf, die ihr Vater wählte, um den Männern zu erzählen, was in ihrer Abwesenheit in der Stadt los gewesen war. Seine Warte war höher als die ihre, sein Blickwinkel weiter, und obgleich er von Dingen sprach, die sie auch erlebt hatte, wurden sie vielschichtiger und dann noch einmal angereichert, wenn sie sie – später, allein – mit ihren eigenen Beobachtungen verband.

Obwohl Leo Montag gern aß, war er extrem dünn, und seine Haut war so farblos, als erhole er sich gerade von einer langen Krankheit. Die Frauen aus der Nachbarschaft drängten ihn immer, Milch zu trinken oder Fleisch zu essen. Dabei war er erstaunlich kräftig und beweglich. Als Turner hatte er zahlreiche Trophäen gewonnen – blitzende Statuen von Männern, deren Muskeln, anders als seine, die bronzene oder silberne Haut dehnten und deren Körper in ihren verschiedenen Flugposen wirkten, als würden sie jeden Moment von dem Bord in der Leihbücherei abheben, wo er sie, stets auf Hochglanz poliert, aufbewahrte. Seinen Kunden fiel es von Jahr zu Jahr schwerer, diese prächtigen Figuren mit dem Mann in Verbindung zu bringen, der hinter dem Ladentisch herumhinkte und sich über das Eintragungsbuch beugte, um ihre Ausleihen zu registrieren.

Eines frühen Morgens im Oktober, als Leo gerade Apfelpfannkuchen buk, nahm Gertrud Trudi aus ihrem Bettchen und trug sie auf ihrer Hüfte in die Welt aus gedämpftem Licht, Spinnweben und Erdbeerkäfern. Silbriger Reif überzog die Grashalme, aber unter dem Haus war der Boden noch immer weich und formbar unter Gertruds Füßen. Es war etwas Drängendes in ihrer Berührung, etwas Hartes, fast Kneifendes in ihren Händen, und zum ersten Mal fürchtete sich Trudi vor ihr.

»Menschen sterben, wenn man sie nicht genügend liebt«, flüsterte ihre Mutter ihr zu, den langen Körper gegen die Erde geschmiegt, als hätte sie sich bereits ihre Grabstätte ausgesucht.

»Du stirbst nicht«, sagte Trudi.

Die Augen ihrer Mutter glitzerten im Dämmerlicht.

»Ich hab dich lieb genug«, sagte Trudi.

Ihre Mutter schob ihren Rock hoch und entblößte ihr linkes Knie. »Hier«, sagte sie und legte Trudis Hand auf ihre Kniescheibe. »Fühl mal.«

Trudi schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr Vater hatte das schlimme Knie. Manchmal konnte man die Kanten der Stahlscheibe durch den Stoff seiner Hose sehen.

»Fester.« Ihre Mutter presste Trudis Hand auf ihr Knie.

Tief unter der warmen Haut fühlte sie tatsächlich etwas – wie rohe Reiskörner, die sich unter ihren Fingern bewegten. Sie sah in die Augen ihrer Mutter; darin lag eine solche Qual, dass sie dachte, sie müsse wegschauen, aber sie konnte nicht.

»Das sind Steinchen«, flüsterte ihre Mutter. »Von dem Sturz … Emil Hespings Motorrad …«

Trudis Augen starrten ins Gesicht ihrer Mutter, lasen die Geschichte unter der Qual, obwohl ihre Mutter nur wenig sagte, aber diese wenigen Worte ließen die anderen Worte, die sie nie über die Lippen bringen würde, in ihre Augen springen. Die eine Hand auf dem Knie ihrer Mutter, fühlte Trudi das Geheimnis die Gestalt von Bildern annehmen, die durch ihre Haut drangen, Bilder voller Farbe, Bewegung und Wind – ja, Wind. Sie sah ihre Mutter auf dem Sozius eines Motorrads, die Arme um Herrn Hespings Taille geschlungen. Ihre Mutter war jünger, als Trudi sie je gekannt hatte, und sie trug ein kurzärmliges gelbes Sommerkleid. Das Motorrad zog eine Staubwolke hinter sich her, während es die Schlossstraße in Richtung Rhein hinunterraste, und ihre Mutter hielt sich noch fester, als das Vorderrad für einen Moment vom Boden abhob und die Maschine den Deich hinaufschoss und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. Haare peitschten ihr ins Gesicht, und als Emil Hesping das Motorrad unter einer Gruppe von Pappeln abstellte, war in dem breiten Ledersitz noch immer der warme Abdruck ihrer Schenkel. Er ließ die flache Hand einen Moment auf diesem Abdruck ruhen, und sie spürte plötzlich eine Hitze zwischen den Beinen, als berühre er ihre Haut. Als er sie umarmte, schloss sie die Augen vor der blendenden Sonne und vor der Angst, die sie seit dem Tag begleitete, an dem ihr Mann an die russische Front aufgebrochen war – der Angst, dass Leo nicht lebend zurückkommen würde.

»Wir sind weggerutscht … auf dem Heimweg … auf der anderen Seite des Deichs.« Trudi sah Emil Hesping schwerfällig von der rauen Straße aufstehen, sich den Staub von den Armen schlagen und an dem umgestürzten Motorrad vorbei zu der Stelle gehen, wo ihre Mutter lag. Ihr Gesicht war zerkratzt, Blut quoll rings um die Splittsteinchen hervor, die sich in ihr Knie gebohrt hatten, und lief ihre Wade hinunter in ihre weiße Sandale.

»Das gleiche Knie.« Ihre Mutter lachte dieses wilde Lachen. »Das gleiche Knie wie bei deinem Vater. Ihn hat es auch erwischt. Am selben Tag.« Sie zog Trudi zu sich und setzte sie in ihre Taillenbeuge wie ein viel kleineres Kind. »Meinetwegen«, sang sie und wiegte ihre Tochter, als wollte sie gutmachen, dass sie sie als kleinen Säugling so lange Zeit nicht gewiegt hatte, »meinetwegen ist er verwundet worden …«

»Gertrud?« Leo Montags Schatten fiel durch die Öffnung zwischen den Balken. Zwischen seinen Stiefeln glitzerte Sonne auf dem gefrorenen Gras. »Gertrud?«, rief er. »Trudi?«

Ehe Trudi antworten konnte, legte ihre Mutter ihr einen Finger auf die Lippen. Ihr Atem war warm auf Trudis Gesicht. Behutsam fuhr die Kleine mit den Fingern über das Knie ihrer Mutter. Es war glatt; die Haut hatte sich über den winzigen Wunden geschlossen wie die Oberfläche des Flusses, wenn man Steine ins Wasser geworfen hatte. Nur man selbst wusste, dass sie da waren.

Außer man erzählte es weiter.