Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos - E-Book

Die Angst der Schweigenden E-Book

Nienke Jos

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Beschreibung

Tragfähigkeitsannahmen, Berechnungsmodelle, Zahlen: Inna ist Statikerin. In ihrem Leben gibt es keine Zufälle. So ist auch der eisige Wind nur ein kalkulierbarer Vorbote, der sich im Laufe des Tages zu einem Schneesturm kumulieren soll. Ein gewaltiger Schneesturm, der Inna eine ganze Nacht lang festhält, in einer alten Fabrikhalle weit außerhalb der Zivilisation. Mit Igor. Igor, der plötzlich auftaucht und behauptet, vom Unwetter überrascht worden zu sein …

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Nienke Jos

Die Angst der Schweigenden

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © FrauG / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6564-2

 

 

1

Nicht pünktlich, nicht zu spät, sondern viel zu früh.

Schon mit ihrer Geburt, knapp sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin und eine ganze Stunde bevor ihr Vater überhaupt im Kreißsaal eingetroffen war, war sie mit dem ersten Schrei an seiner Enttäuschung vorbeigerauscht, hatte ihn abgehängt, bei jeder Gelegenheit und mit leichtem Gemüt, während ihm das gestohlene Erlebnis ihrer Geburt bis heute fehlte.

Oder auch nicht.

Vielleicht hatte Henri sie nie geliebt, weil er ihre Geburt verpasst hatte. Vielleicht hatte er ihre Geburt verpasst, weil er sie nie geliebt hatte.

Vielleicht.

Vielleicht war das Erlebnis ihrer Geburt vergänglich, so, wie Glück und Freude vergänglich waren. Und vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht, ihr Vater hätte sie trotzdem nicht geliebt. Nicht mit ihrem ersten Schrei, nicht mit ihrem letzten. Jetzt war Henri tot, und übrig blieb nur, dass Inna noch immer zu früh war und nichts früh genug sein konnte, auch nicht an diesem Morgen.

Sie tänzelte in die Küche, und obwohl es niemanden gab, den sie mit ihrer morgendlichen Geschäftigkeit stören konnte, bewegte sie sich lautlos, leichtfüßig, wendig. Sie öffnete die Kaffeedose, genoss den feinen Geruch gemahlener Bohnen, ihre Handgriffe sicher, geübt, routiniert. Trotz der Gänsehaut, trotz des beständigen Fröstelns. Wie ein hauchfeiner Überzug, der sie begleitete, warnte, zurückhielt. Der an ihr klebte wie getrocknetes Blut.

Inna wartete, bis die Maschine das Röcheln aufgegeben hatte, keinen Laut mehr von sich gab. Goss den heißen Kaffee in ihre Tasse, der Dampf drängelte sich an ihrer Nase vorbei, verschwand irgendwo und nirgendwo.

Wie Nebel, dachte Inna.

Sie huschte ins Bad, ihren Blick aus dem kleinen Fenster in die Dunkelheit gerichtet, die oberste Kante der Sonnenscheibe hatte sich noch nicht über den wahren Horizont erhoben.

Und dann hörte sie es wieder. Das kaum merkbare Rascheln.

Inna hielt die Luft an, ihre Arme hoch über dem Kopf verschränkt, das Haargummi an ihrem Handgelenk schnürte die Blutzufuhr ab. Sie ließ ihre Finger vorsichtig herausgleiten. Kein weiteres Geräusch, nichts, was Inna verdächtig vorkam, wenngleich ihr die Stille in der Wohnung plötzlich Unbehagen bereitete. Inna drehte sich rasch zur Tür. Die geheimnisvolle Ruhe künstlich, unnatürlich, beängstigend. Sie spürte einen Hauch, einen Luftzug aus der Ferne, der ihre winzigen Nackenhärchen aufstellte.

Wie empfindlich sie war, dachte Inna. Eine lästige Eigenschaft. Hin und wieder konnte sie über ihre Angst sinnieren, sie einfangen, sie belächeln. Heute Morgen nicht. Allein in ihrem Haus um halb fünf in der Früh, die Tiere im Wald schliefen noch, kam ihr die Angst unbändig vor. Ihr erschien die Luft wie zum Zerreißen gespannt, vielleicht rührte daher das Rascheln, sie hatte es sich eingebildet, nichts von echter Bedeutung, von welcher auch?

Sie rümpfte die Nase. Ihr Spiegelbild lächelte schief.

Bald würde der kleine Ort strebsam an seiner Geschäftigkeit arbeiten. Menschen. Hier und da Gedrängel. Weihnachtskäufe. Vielleicht sollte sich Inna daruntermischen. Dann konnten sich keine verdächtigen Geräusche über gespannte Nerven legen. Dann würde sie es nicht mehr hören, das Rascheln. Es würde einfach verschwinden.

Eins, zwei, drei.

Inna duschte, schob den Vorhang in unregelmäßigen Abständen zur Seite, den Flur im Blick. Dampf krabbelte hinauf, zur Hälfte war der Spiegel bereits beschlagen, es machte sie nervös. Sie drehte das Wasser ab, lauschte, hörte winzige Schaumbläschen zerplatzen. Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, ihre Bewegungen jetzt weniger grazil, eher hektisch. Sie wickelte sich das Handtuch um den Körper. Viertel vor fünf. Zeit, dass die Eichhörnchen in ihrem Garten erwachten und sie mit überschwänglichem Geräuschpegel empfingen.

Aus dem Kleiderschrank zog sie ihre graue Jeans hervor, dazu eine weiße Bluse. Sie ließ ihre Fingergelenke knacken, es lenkte sie ab, beruhigte sie, manövrierte ihre Angst zurück in die Mitte ihrer pragmatischen Einstellung.

Inna setzte sich an den Tisch, las Zeitung, schaute mehrmals auf, war unkonzentrierter als an anderen Tagen. Niemand hier, beruhigte sie sich. Da waren nur ihre geschärften Sinne.

Und trotzdem.

Etwas lag in der Luft.

Nicht nur das Rascheln. Noch etwas anderes. Etwas Unheilvolles.

Von wem bloß hatte sie diese Antennen?

Sie waren für nichts gut, fand Inna.

Schon damals nicht.

2

Jenke lief und lief, den Kopf eingezogen, sein Gesicht vergraben. Er eilte über gerostete Schienen und an Mauerresten vorbei. Er fror, dachte an den Tod. Tagein, tagaus. Daran zu denken, war eine Selbstverständlichkeit. Der Tod hatte seine Zuneigung, hielt ihn im Fahrwasser. Es war fast wie eine Schwärmerei, für die es sich zu leben lohnte.

Die Bänke zwischen den heruntergekommenen Wanderwegen verlassen und leer. Schienen getränkt in saftigem Moos und giftigem Farn. Eine raue und gefährliche Gegend, weitab von vorweihnachtlicher Stimmung, weitab von Glühweinbonbons und Räuchermännchen.

Jenke steuerte auf den alten Rostbahnhof zu. Es genügte ein kurzer Blick an dem Gebäude vorbei und er entdeckte, wonach er suchte: Der alte Mann lag dort in seine Decken gehüllt, neben ihm Tüten, Taschen, ein Rucksack. Ohne zu zögern, stürzte er sich auf ihn und drückte zu, während der Penner seine Augen aufriss und keinen Laut von sich gab. Nicht einmal ein Gurgeln oder Röcheln. Nichts. Der Alte zappelte und strampelte, aber Jenke war schwer und groß. Fasziniert von den weit aufgerissenen Augen kostete er den Moment aus, obgleich er wusste, dass er eine Straftat beging. Es war die stumme Begeisterung, mit der er dem Mann etwas schenkte, was er selbst so sehr begehrte.

Es dauerte.

Der Penner war betrunken.

Vielleicht lag es daran. Vielleicht aber auch daran, dass sich der Obdachlose eines Lebenswillens bediente, den er selbst nicht aufzubringen vermochte.

Endlich hörte der Penner auf zu atmen.

Stille.

Jenke ließ von ihm ab, richtete sich auf, schaute sich um. Niemand weit und breit. Nur die Dunkelheit.

Er betrachtete seine Hände.

Und den Toten.

Es vibrierte. In der Ferne leises Schrillen. Es kam näher, wurde lauter, er wollte es abschütteln, aber es ließ sich nicht verscheuchen. Er fiel, schreckte hoch. Das Telefon klingelte unablässig, er tastete danach, benetzte seine Lippen, räusperte sich.

»Ja?«, hauchte er in den Lautsprecher.

Es knackte. Jemand legte auf.

Er schaute auf die Uhr. Früher Abend, er musste dringend los. Auf allen vieren kroch er ins Bad, zog sich am Waschbecken hoch. Er sah müde aus. Vielleicht, weil er im Traum einen Penner erwürgt hatte.

Plötzlich tat ihm der Penner leid.

Er zog sich an, schnürte seine schweren Boots. Es hatte geschneit. Schnee machte die Menschen großzügig. Er würde heute viele Spenden sammeln. Es würde das letzte Mal sein.

Auf dem kleinen Adventsmarkt besorgte er sich Eierpunsch und beobachtete still die Flammen, die neben der aufgestellten Krippe in einer Feuerschale züngelten. Sie bildeten zuweilen groteske Fratzen, die ihm hämisch vorführen wollten, dass er die Fähigkeit zur Veränderung seiner eigenen Lebenssituation längst verloren hatte.

Jenke schloss die Augen, lauschte den Geräuschen und Stimmen um ihn herum. Sollten die Flammen doch alles verschlingen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Jenke würde es ihnen schon zeigen.

Er schlenderte über den Markt. Heiße Maronen und Anisbonbons, fettige Pommes, Würstchen und Waffeln schmiegten sich um seine Nase. Jenke lief über Holzraspel, vorbei an einem Stand mit handbemalten Schüsseln und Strohkörben. Menschengruppen drängelten zur Krippe, ein Pärchen küsste sich, eine Mutter schimpfte ihr Kind, weil Ketchup von seinem Brötchen auf die Jacke getropft war.

Er kaufte sich einen weiteren Eierpunsch, trank gierig, ließ sich durch die Menge schieben. Seine Hand hatte er in die Tasche gesteckt, nervös befühlte er das Messer und strich mit dem Daumen die glatte Oberfläche entlang.

»Geht es Ihnen gut?« Eine Frau mit Mütze sah ihn besorgt an. »Sie weinen ja«, stellte sie fest.

Er wischte die Tränen weg, schleppte sich zur Kirche, das kalte Bauwerk empfing ihn dunkel und herrisch. Er zog sich um, nahm die Spendendose aus dem Korb. Stahlblech mit lackiertem Außenmantel, verschlossen mit einer Plombe. Er taumelte los, stolperte die breiten Treppenstufen hinunter auf den kleinen Marktplatz. Er trank den Punsch in großen Schlucken. »Eine Spende bitte«, lallte er.

Nach zwei Stunden lehnte er sich müde und benommen an das Kassenhäuschen des Kinderkarussells und wartete. Ich muss zu Henri, dachte er wie ein Mantra in die Kälte hinein. Er schleppte sich vorwärts, hatte Schwierigkeiten, niemanden anzurempeln. Der Kircheneingang schwankte. Jenkes Gedanken wirbelten umher wie betrunkene Geister. Er schüttelte sie ab, drängelte sich durch den überfüllten Weihnachtsmarkt, die Dose schleppte er mit. Er konnte sie heute nicht mehr zurückgeben.

Jemand rempelte ihn an. »Scheiße.« Ein Mann hob abwehrend seine Hände. »Scheiße, was hast du denn da?«

Jenke schaute an sich herunter. Das Messer hielt er fest umklammert. Er entschuldigte sich und steckte es zurück in seine Tasche.

Er dachte angestrengt nach. Seine Gedanken kamen träge, mussten sich durch heillos viele Gänge schleppen, gerieten durcheinander.

Nur der gesellschaftliche Status eines erwachsenen Mannes, dachte er gekränkt. Über die vielen Jahre. Eine Nuance, die seinen Vater wie einen Phönix aus der Asche getragen hatte, während er darin erstickt war.

Er ließ sich aus der Menge schieben, schaffte es vom Weihnachtsmarkt auf die schmale Hauptstraße. Er trottete in den nahegelegenen Wald, am Trafohäuschen vorbei und von dort den steilen Pfad hinauf. Er rutschte aus, fiel. Seine Wange drückte sich in den Schnee. Er sah den Penner. Der Alte stand im Licht und weinte.

Er würde sein Versprechen halten. Der Glaube daran trieb ihn weiter durch die Kälte.

Zu Henri.

Zur Höhle.

Er würde nie mehr zurückkehren.

3

Schnee. Überall lag Schnee. Massen von Schnee, festgefahren und gefroren. Eisiger Wind fegte über den weißen Boden.

Inna parkte ihren Wagen, eilte zum Fabrikgebäude. Ein Backsteinbau mit schmalen grünen Sprossenfenstern. Erbaut 1880, umzingelt von dunklen Gestalten, die sich aus dem Wald zu ihr herüberschoben. Alte Bekannte.

Sie schaltete die Alarmanlage aus, das Licht ein. Niemand hier. Seit gestern waren alle im Urlaub, trafen Vorkehrungen für Weihnachten. Wenige Tage noch, dann würden Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen, dann würden die Familien am Tisch sitzen und gestopfte Gänse essen.

Inna nicht.

Sie wartete geduldig auf ihren Kaffee. Während der Automat die Bohnen mahlte, ließ sie ihren Blick durch Grunewalds große Halle schweifen. Die unverputzten Backsteinmauern wirkten stumpf und kalt. Im Herbst glänzte das Hirnholzparkett honigfarben, sobald kräftiges Sonnenlicht durch die Sprossenfenster fiel. Im Winter nicht. Im Winter war alles trist. Nicht einmal die überdimensional großen Glühbirnen an den eingehängten Laufkatzen konnten heute etwas ausrichten.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, rieb ihre Hände aneinander. Die alte Fabrikhalle war nicht leicht zu beheizen. Langsam laufende Ventilatoren drückten die aufsteigende Warmluft herunter. Immerhin.

Sie erschrak, als das Telefon schrillte. Es war nicht einmal 7 Uhr. Sie legte vorsichtig ihre Hand auf den Hörer, hob ab, lauschte.

»Ich bin’s.« Grunewald räusperte sich unbehaglich. »Ich habe etwas vergessen, etwas wirklich Wichtiges.«

»Ja«, nickte Inna erleichtert.

»Ein Freund von mir besitzt eine alte Halle. Er möchte sie umbauen lassen. Ich hätte gestern vorbeischauen und sie mir ansehen sollen.«

»Ja.«

»Ja? Heißt das, du fährst vorbei?«

»Nein.«

»Nein?« Grunewald stöhnte ungeduldig. »Du musst. Es ist wichtig. Ich habe es ihm versprochen. Fahr hin, wirf einen kurzen Blick drauf.«

Inna schwieg.

»Inna, ich muss meinem Freund …«

»Ich fahre vorbei.«

Grunewald seufzte erleichtert. »Und rufst mich anschließend an.«

»Nein.«

»Nein?«

»Es braucht keinen weiteren Anruf.«

»Also wirst du nicht vorbeifahren?«

»Die Adresse per E-Mail.«

»Ich habe nur die Koordinaten.«

»Dann eben die.«

Vielleicht würde Inna doch vorbeifahren, aus Neugier, auch wenn es fast kein Bauwerk in der Umgebung gab, das sie nicht schon kannte.

Sie öffnete Grunewalds E-Mail und übertrug die Koordinaten.

Grunewald räusperte sich ungeduldig. »Es ist dringend. Heute noch. Du musst heute noch hinfahren. Jetzt. Für den späten Nachmittag ist ein Schneesturm angekündigt, besser, du machst dich sofort …«

Inna legte auf.

Sie fröstelte.

Ihre gesamte Kindheit hatte aus dieser unheilvollen Gänsehaut bestanden. Nachmittags, wenn sie die dunklen Flure entlanggeschlichen war, hatte sie sich wie ein Kleidungsstück über ihre Haut gelegt. Allein in dieser riesigen Burg mit schweren Vorhängen und schwarzen Ecken. Allein mit den übergroßen Skulpturen, die nachts zum Leben erwachten, hervorgekrochen kamen und bedrohlich wisperten. Gierige Schatten, die nach ihr langten, sich geisterhaft durch die Gemäuer bewegten.

Inna schloss ihre Augen.

Geisterhaft.

Sie arbeitete bis zum späten Nachmittag, war so vertieft, dass sie den Wetterumschwung erst bemerkte, als sie die schwere Tür öffnete. Ihr schlug eine gewaltige Bö entgegen, warf Schnee vor ihre Füße. Inna hüpfte hinaus. Ihr Auto war eingeschneit, es hatte Unmengen Neuschnee gegeben. Sie zog ihren Kopf ein, schwere Schneeflocken wurden aus grauen Wolken geschüttelt. Inna hielt schützend die Hand vor ihre Augen, die Tannen verneigten sich tief in alle Richtungen. Sie kämpfte sich über den Parkplatz zu ihrem Auto, befreite das Schloss, weil die Funkfernbedienung nicht funktionierte, riss die Wagentür auf und quetschte sich umständlich auf ihren Sitz. Schnee fiel in ihren Schoß. Es war dunkel und still im Auto. Sie schaltete das Licht ein, sah ihre Atemluft in Intervallen weiß und hektisch herausströmen.

Inna startete den Motor, die Scheibenwischer gaben nur ein hilfloses Summen von sich. Mit klammen Fingern holte sie ihr Telefon hervor. Kein Empfang, nicht einmal ein einziger Balken zeichnete sich ab.

Sie ließ den Motor laufen, stapfte zur Fabrikhalle zurück, zwängte sich durch die schwere Tür. Ihre Füße waren nass und kalt, ihre Finger steif und ungelenk.

Etwas ließ sie stutzen.

Sie war denselben Weg hin- und wieder zurückgelaufen. Sie war sich sogar sicher, dass sie in dieselben Fußspuren getreten war. In ihre eigenen, in welche sonst, es hatte keine anderen gegeben.

Oder doch?

Inna trat hinaus, blinzelte ratlos, schaute sich um. Es dämmerte bereits. Niemand war zu sehen.

Aber da waren Fußspuren.

Fußspuren eben.

Von einem Spaziergänger. Jemandem, der Schutz gesucht, Licht gesehen hatte.

Was war schon dabei?

Inna schluckte nervös. Das ungute Gefühl von heute Morgen kroch in ihr hoch.

Sie hastete zu ihrem Wagen, kletterte auf den Sitz. Sie suchte hektisch nach dem Schalter für die Zentralverriegelung. Ihre steifen Finger wollten nicht gehorchen, sie drückte zweimal, ehe sie das vertraute Geräusch der sich schließenden Anlage hörte.

Sie berührte behutsam das Gaspedal.

Nichts.

Inna spürte es. Jemand war hier, ganz in ihrer Nähe.

Sie trat erneut auf das Gaspedal, getrieben, energisch, mit weniger Vorsicht. Das Heck des Autos rutschte und rutschte nach rechts und nach links, aber keinen Zentimeter vorwärts.

Sie stieg aus.

Und dann sah sie ihn.

Er stand da und starrte sie an. Mit weit aufgerissenen Augen.

Jenke hatte ihn geschickt.

So musste es sein, entschied Inna.

4

Es war dunkel, still, kalt um ihn herum. Das Einzige, was Jenke wirklich wahrnahm, waren seine Kopfschmerzen. Unaufhörlich pulsierte ein pochender Schmerz von seinem Hinterkopf bis zu den Schläfen.

Er versuchte, darüber nachzudenken, wer er war, wo er sich befand. Nasse Kälte kroch in seine Knochen.

Er entschied, sich nicht zu bewegen.

Schritte.

Ob er in seinem eigenen Urin lag?

5

Was auch immer es war, Marga hatte es heute Morgen zum ersten Mal entdeckt. Ganz hinten lag es auf dem eingeschneiten See und wirbelte ihr vertrautes Bild vom winterlichen Hof durcheinander.

Ein Stein.

Ein besonderer Stein.

Ein leuchtend roter Stein, der zuvor aufgestanden war und sich wenige Meter weiter zu den verschneiten Fichten bewegt hatte, ganz so, als wollte er dort Schutz suchen.

Marga stand regungslos vor dem Küchenfenster und blickte hinaus: Einen solchen Stein hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Sie kaute langsamer, als könnte sie damit hinauszögern, was ihr bevorstand. Keine Ausrede, auch wenn es ihr Bauchschmerzen bereitete, da konnte nicht einmal ein Honigbrötchen helfen.

Vielleicht Gisela? Hatte sie sich über das Eis gewagt und war dort eingeschlafen?

Marga verwarf den Gedanken.

Ein Dachs oder ein Fuchs?

Ein Wildschwein. Vielleicht. Vielleicht auch nicht, denn eigentlich kam ihr der rote Stein sehr groß vor.

So groß wie ein Mensch.

Marga holte ihren Wintermantel, Schneeboots, Mütze. Sie vergewisserte sich, dass der Stein noch an seinem Platz lag. Ihre Augen tränten, so sehr strengte sie sich an, in der Ferne etwas zu erkennen.

Und ihre Eltern?

Schliefen.

Was sollte Marga auch sagen?

»Sehr weit draußen auf dem See liegt ein Stein.«

»Ist gut, Marga, und jetzt geh wieder schlafen«, würde Mama gähnen.

»Der Stein hat sich bewegt. Er ist rot.«

»Es hat diese Nacht unaufhörlich geschneit. Da ist nichts, Marga, bestimmt nicht.«

Sie könnte die Polizei rufen.

Marga schüttelte den Kopf. Herausfinden, was da draußen lag, musste sie schon selbst.

Sie beeilte sich, die Haustür zu öffnen. Beißende Kälte verschlug ihr den Atem. Gestern war sie noch die Stufen hinunter und über gefrorenes Gras gelaufen. Die Halme hatten knirschend nachgegeben. Wie dünne Glasstäbchen, die unter ihren Tritten zerbrachen. Sie war über tiefe Traktorspuren gehüpft, in denen das Wasser zu Eis gefroren war. Erdklumpen hatten sich daruntergemischt, hässlich und dreckig. Gräser hatten schlaff und träge über die Oberfläche gehangen, abgebrochene Zweige, die zur Hälfte herausragten, gefrorene Blätter unter der Eisdecke.

Heute nicht.

Heute gab es überall nur Neuschnee. Weiß, weiß, weiß. Alles war weiß.

Sie verengte ihre Augen, schützte sie vor der scharfen Kälte, hörte eine Krähe, erst laut, dann immer leiser. Der schwarze Vogel verschwand im Fichtenwald. Marga fröstelte. Dicht und müde lauerten die schweren Äste, beugten sich wie trauernde Halbtote unter der schweren Last des Schnees.

Sie hörte Gisela. Mit den kurzen Beinchen kam sie aus ihrer Hütte gelaufen.

»Du kannst nicht mit«, bedauerte Marga. Das Bentheimer Landschwein musste warten. Warten, bis sie wieder zurück war.

Sie stapfte los.

Die Schneedecke hatte alles unter sich begraben, auch den See, der unterirdisch schlummerte, lautlos schlief, wie alle anderen.

Wie alle anderen.

Alle.

Nur Marga nicht. Marga war unterwegs auf einer Mission mit ungewissem Ausgang und lief an gepuderten Spinnweben vorbei.

Sie musste verrückt sein.

Plötzlich bewegte sich der Stein wieder. Sie blieb stehen, horchte. Ein ungewöhnlich idyllischer Moment, wären da nicht der graue Himmel und die beißende Kälte.

Wäre da nicht ihr Unbehagen.

Sie lief weiter, und je näher sie ihrem Ziel kam, desto sicherer war sie. Der Stein war kein Stein und auch kein Dachs. Der Stein war kein Wildschwein, erst recht kein Fuchs. Das, was da hinten auf dem See lag und in der Kälte zu erfrieren drohte, war ganz eindeutig ein Mensch.

Marga stapfte weiter.

Nicht sehr entschlossen.

Sie verlangsamte ihr Tempo, tastete sich vorsichtig heran. Der rote Samtanzug sah schwer und vollgesogen aus. Die schwarzen Stiefel ragten aus dem Schnee wie glänzende Steine.

Es war unwürdig, den Weihnachtsmann mit dem Fuß anzustoßen, aber sie hatte keinen Stock, wollte den nassen Stoff nicht mit den Händen berühren.

»Hallo?«, flüsterte sie.

Sie schlurfte um den regungslosen Körper herum, kam sich schäbig vor, als sie sich weit über ihn beugte und ein schleimiger Pfropf aus ihrer Nase auf seine Schulter tropfte.

Plötzlich gab der Mann ein stöhnendes Husten von sich. Marga erschrak. Sie trat hastig einen Schritt zurück, hektisch lief sie los, schaute sich um. Sie hatte Angst, der Weihnachtsmann würde hinter ihr herkommen, sie lautlos verfolgen, aber er lag dort.

Wie tot.

Es hatte erneut zu schneien begonnen. Harte kleine Flocken wirbelten in Margas Augen. Nirgendwo Fußspuren, die verrieten, aus welcher Richtung er gekommen war.

Und wenn er Hilfe brauchte?

Sie blieb stehen, horchte angespannt. Ein Geräusch. Ein leises Knistern. Es schlich sich heran, wurde lauter, zog sich wie ein peitschendes Gummiband an ihr vorbei zum Ufer des gefrorenen Sees. Auf das Knacken der brechenden Eisdecke folgte ein ungeheuerlicher Knall.

Marga hielt die Luft an, konnte nicht glauben, dass sie das kalte Wasser überleben würde. Sie würde sterben. Genauso elend, wie der Weihnachtsmann sterben würde. Oder wie Kater Otto gestorben war. Oder das Katzenbaby.

Weihnachten würde ausfallen.

Für immer und ewig.

6

Groß. Eine große, dunkle Gestalt.

Inna hastete zurück auf ihren Sitz, verriegelte die Türen. Sie keuchte angespannt. Da war niemand. Niemand, der sich hierher verirrt hatte. Die Gestalt existierte nur in ihrer Fantasie, emporgestiegen aus der Essenz ihrer Ängste, ihrer feinen Sinne.

Ihr Auto wackelte. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen, hob ihren Wagen an, ließ ihn fallen, klopfte an ihre Seitenscheibe. »Machen Sie auf!«, schrie er.

Inna traute sich nicht, blieb erstarrt in ihrem eingeschneiten Auto sitzen, die Verbindung zur Außenwelt nahm mit jeder weiteren Schneeflocke ab.

Es klopfte erneut an die Scheibe. Energischer. Lauter. Eher ein Hämmern. »Machen Sie auf!«, schrie der Sturm. »Bitte, machen Sie die Tür auf!«

Inna hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie schmeckte Blut.

»Nicht wegfahren! Bitte, reden Sie mit mir!«

Reden Sie mit mir.

Reden.

Sie dachte an Grunewald.

»Kannst du dich überhaupt unterhalten, Inna? Kannst du? Mal hier und da ein wenig plaudern? Eine verdammte Konversation führen? Ist gut für die Geschäfte«, hatte er vor vielen Jahren lamentiert.

»Ich arbeite. Das ist gut für die Geschäfte.«

Grunewald hatte den Kopf geschüttelt. »Menschen können sehr nett sein. Man kann mit ihnen reden. Der gemeine Mensch …«

»Ich bin …«

»Du bist kein Mensch. Du bist Statikerin«, hatte Grunewald sie unterbrochen.

»Ich …«

»Versuch’s doch mal.«

»Was denn versuchen?«, hatte Inna hilflos gefragt.

»Unterhalten. Versuch, dich mit anderen Menschen zu unterhalten.«

»Und worüber?«

»Über dich. Über dein Leben. Über andere. Über das Leben anderer.«

»Über das Leben? Über das Leben anderer?«

»Über Hobbys, Lieblingsfarben, Musikgeschmack. Man fragt sich, wie es geht oder was man am Wochenende vorhat. Man erzählt sich Geschichten aus der Kindheit. So macht man das!«

»Aus der Kindheit?« Inna hatte verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.

»Zum Beispiel.«

»Was denn für eine Kindheit?«

»Herrgott, Inna! Kindheit! Hattest du denn keine? Mit Fingerfarben malen, schwimmen gehen, Sandburgen bauen und von Mauern springen. Hat dir dein Vater nicht das Fahrradfahren beigebracht? Das nennt man Kindheit! Man spielt mit Steinen und malt Bilder, man spielt Verstecken, kriecht in Höhlen und …«

In diesem Moment hatte Inna ihm ins Gesicht geschlagen.

»Inna …«, hatte Grunewald entsetzt gestammelt und seine Wange gehalten. »Ich …«

»Es gibt keine Höhle. Gibt es nicht.«

Sie holte tief Luft, zögerte, drückte mit klammen Fingern den Knopf der Zentralverriegelung.

Reden.

Über das Wochenende. Über die Kindheit.

Es dauerte einen Moment, dann wurde die Beifahrertür aufgerissen. Der Fremde schob sich mühsam auf den Sitz. Die Autotür fiel zu. Der Knall wirkte bedrohlich, endgültig.

Kein Zurück mehr.

Stille. Noch mehr Stille, nur der Sturm heulte in der Eiseskälte wie ein wildes Tier um sein Opfer. Inna hielt den Atem an.

»Danke«, stöhnte der Mann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Reden.

Über das Leben. Über die Kindheit. Über das Wochenende.

»Was machen Sie am Wochenende?«, fragte Inna steif.

»Wie bitte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hier? Was machen Sie hier?«

»Ich war spazieren. Der Schneesturm hat mich überrascht.«

»Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«

»Sie auch nicht«, spottete der Mann. »Wir könnten die Fußmatten unter die Räder legen.« Der Fremde machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ehrlich gesagt …«

»Schnee«, sagte Inna schnell. »Sehr viel Schnee.«

Der Mann nickte. »Ich hatte überlegt zurückzulaufen, aber dann wäre ich drei Stunden unterwegs gewesen, wahrscheinlich länger. Der Sturm ist gewaltig, und es wird schon dunkel.« Er lachte nervös. »Ein Glück, dass Sie mir geöffnet haben.«

Inna presste ihre kalten Hände um den Lenker. Ein Glück. Ein Glück, dass sie ihm geöffnet hatte. Oder?

Der Mann lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme, als könnte er damit seine Körperwärme speichern. Er schloss zufrieden seine Augen.

»Gut«, begann Inna. »Wir schaufeln die Räder frei, wir machen das mit …« Sie fuchtelte mit ihren Händen Richtung Fußraum. »Wir machen das mit diesen Matten.«

»Und dann?«

»Und dann.«

»Wir schaffen es nicht einmal vom Parkplatz, und das hier ist erst der Anfang. Der Sturm wird weiter zunehmen und es wird noch mehr Schnee fallen.«

»Wir müssen es versuchen.«

»Wir stecken hier fest. Da hilft nur abwarten.« Der Fremde öffnete seine Augen. »Seien Sie nicht albern.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Geben Sie mir die Schlüssel zu Ihrer Fabrikhalle. Ich möchte nicht erfrieren.« Er räusperte sich. »Sie können ja im Auto bleiben.«

Inna presste ihre Lippen aufeinander, ihren Blick auf die Mittelkonsole gerichtet. Der Mann langte blitzschnell nach dem Schlüsselbund und stürmte hinaus.

Sie öffnete ihren Mund, kein Laut kam heraus, nur ihr Atem, der sich feige in die eiserne Finsternis verflüchtigte. Sie zog den Autoschlüssel ab, wartete. Wartete auf einen Impuls, die Tür aufzureißen und in die Kälte zu stürzen. Sie würde sich keuchend durch den Tiefschnee kämpfen, hier und da Gestalten sehen.

Etwas war ihr aufgefallen. An den Handgelenken des Mannes. Es hatte sie irritiert.

Der Sturm hämmerte erneut gegen ihre Scheibe. »Seien Sie nicht albern! Kommen Sie da raus, bitte!«, schrie er.

Kommen Sie da raus.

Inna nickte.

Kommen Sie da raus.

Wie gern wär’ sie damals aus der Höhle gekrochen. Einfach so.

Sie öffnete die Tür, ließ sich vom Sitz gleiten. Tobende Schneeböen empfingen sie. Der Mann packte ihren Arm, stieß die Tür zu. Sie bückte sich, schützte sich vor den gewaltigen Schneeflocken. Mit großen Schritten stapfte der Fremde durch den tiefen Schnee und zog sie hinter sich her. Wann immer sie stolperte, weil seine Schritte viel zu groß waren, riss er sie hoch und zog sie weiter. Ihr Arm schmerzte. Seine groben Hände bohrten sich durch ihre Jacke. Sie kniff ihre Augen zusammen.

»Rein hier!«, hörte sie ihn brüllen.

»Rein hier!«, hörte sie Jenke.

Inna öffnete ihre Augen einen Spalt, zwängte sich durch die schmale Türöffnung.

Der Mann stieß sie aus dem Weg, zog die Tür mit einer kräftigen Bewegung zu. Er klopfte seine schwere Jacke ab und stampfte auf den Boden. »Geschafft«, verkündete er erleichtert. »Haben Sie nasse Füße?« Er zeigte auf ihre Turnschuhe.

Inna wackelte mit den Zehen.

»Schön warm ist es hier«, bemerkte er.

Schön warm ist es hier.

Inna nickte wieder.

Der Mann zeigte in die Halle. »Viel angenehmer, als die ganze Nacht in Ihrem Auto zu verbringen. Wir haben es warm, wir haben …« Er schaute sich um. »Wir können uns setzen, wir haben einen Weihnachtsbaum.« Er lachte. »Vielleicht sind die Kugeln etwas groß, aber er passt in das spärliche Ambiente.«

Inna zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

Menschen.

Nette Menschen.

Nette Menschen fragt man nach ihren Hobbys. Oder danach, was sie am Wochenende vorhaben.

Er reichte ihr seine Jacke, lächelte dankbar. »Ich heiße Igor.«

Igor.

Igor hatte große, raue Hände. Arbeiterhände. Und dann sah sie erneut, was sie im Auto bereits irritiert hatte. Ein bläulicher Schatten um seine Handgelenke.

»Gibt es jemanden, der auf Sie wartet? Der Sie heute Nacht vermisst?«, fragte er.

Jenke. Jenke wartete auf sie.

Sie ging zu einem der Telefone, wählte Grunewalds Nummer. Kein Freizeichen. Nicht einmal ein Knacken. Sie schluckte. »Grunewald?«, fragte sie in den Hörer, klammerte sich am Schreibtisch fest. »Du musst herkommen.« Sie legte auf, räusperte sich. »Grunewald kommt.« Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Gleich«, log sie.

Igor lächelte. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.

»Dann …« Sie lief gezielt auf den Wasserkocher zu. »Sie wollen vielleicht einen Tee.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank. Während der Kocher das kalte Wasser erhitzte, starrte sie auf die Anrichte.

Fragen.

Fragen stellen.

Fragen beantworten.

Zum Beispiel über das Leben.

Sie öffnete eine Packung Christstollen.

»Wenn Sie ein Messer haben?« Igor streckte ihr erwartungsvoll seine Hand entgegen. »Dann kann ich ihn in Scheiben schneiden.«

Inna schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, zeigte auf das Sofa am Fenster. »Setzen Sie sich.« Weit genug weg. Bis Grunewald kam.

Ihr Herz klopfte.

Grunewald würde nicht kommen. Es gab keinen Grunewald, der sie abholen würde. Es gab überhaupt niemanden.

Igor schaute zu Boden. »Ich jage Ihnen Angst ein, oder? Nach einem Messer zu fragen, ist nicht sehr hilfreich.«

»Nein.«

»Nein«, lachte er. »Das verstehe ich.« Er schlenderte zum Sofa und setzte sich. »Sie heißen Inna.«

Sie schluckte trocken.

Und dann hörte sie es wieder. Das unheilvolle Rascheln.

Igor wusste also Bescheid. Bescheid darüber, dass Grunewald nicht kommen würde. Bescheid darüber, dass sie nicht hatte telefonieren können. Igor wusste Bescheid, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass die Telefonleitungen tot waren.

7

Marga hielt die Luft an.

Geisterhafte Stille. Nicht ein einziges Geräusch. Regungslos, wie erstarrt, stierte sie zum Hof. »Nicht auf den See, Marga«, hörte sie ihre Mama sagen.

»Aber ich muss nach den eingefrorenen Schildkröten gucken.«

»In ein paar Tagen.«

Marga hatte trotzig ihre Arme verschränkt. »Ich will Schlittschuh laufen.«

»Übermorgen.«

»Warum erst übermorgen?«

»Weil der See erst dann richtig gefroren ist.«

»Weil der See erst dann richtig gefroren ist«, hatte Marga sie nachgeäfft. »Du versaust mir meine ganzen Ferien. Meine ganzen!«

»Wenn du den See betrittst, sperre ich dich ein, hörst du, Marga?«

Marga presste ihre Augen zusammen. Jetzt würde sie einbrechen und erfrieren. Nur, weil sie nicht auf Mama gehört hatte.

»Mädchen?«, fragte jemand.

Ein Buchfink flatterte von einem der Fichtenzweige. Marga schaute sich vorsichtig um.

»Steh nicht so rum.« Der Mann hatte sich aufgesetzt. Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Hilf mir lieber.«

»Die Eisdecke«, flüsterte sie.

»Die Eisdecke hat sich nur vom Ufer gelöst.«

Marga nickte schwach. »Okay«, hauchte sie. »Und bist du wirklich der Weihnachtsmann?«

»Was bin ich?«

»Der Weihnachtsmann.« Sie zeigte auf seinen Anzug. »Wo ist dein Rentier? Und dein Schlitten? Und warum hast du keinen Bart?«

Der Mann hustete.

»Natürlich gibt es dich nicht, aber wie kommt ein normaler Mensch hierher, ohne Fußspuren zu hinterlassen? Du bist …«

»Bin ich nicht.«

»Und aus welcher Richtung bist du dann gekommen?« Sie breitete ihre Arme aus. »Und warum sieht man nichts davon?«

Der Mann ließ sich schnaufend auf den Rücken fallen, mit ausgebreiteten Armen lag er im Schnee, während um ihn herum weiße Flocken durch die Luft wirbelten und seine rote Jacke verzierten.

Marga zuckte mit den Schultern. Keine Diskussion mit dem Weihnachtsmann. »Und wirst du einfach da liegen bleiben?« Sie trat dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. »Bist du verletzt?«

Umständlich drehte sich der Mann auf die Seite.

»Ich kann meinen Papa holen. Er hat einen Unimog. Wir können dich …«

»Nein«, stöhnte er. »Mich darf niemand sehen.« Er zeigte zum Himmel. »Weihnachtsmänner sind geheim.«

»Gibt es denn mehrere?«, staunte Marga. Sie winkte ab. »Mein Papa wird nichts sagen.« Sie zögerte. »Außerdem würde er gar nicht glauben, dass du der Weihnachtsmann bist. In meiner Familie glaubt auch niemand an Gott.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Dein Papa darf nicht herkommen. Niemand darf das.«

Marga zuckte ratlos mit den Schultern. »Und was jetzt?«

»Ich muss mich eine Weile verstecken.«

»Verstecken?«

»Ich bin …« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Vom Himmel gefallen. Abgestürzt. Mich darf niemand sehen.«

Marga schaute verständnisvoll. »Und wie lange?«

»Ein paar Tage. Dann bin ich wieder …« Der Mann zupfte an seiner nassen Jacke. »Dann bin ich wieder unsichtbar.«

»Klar.« Marga nickte. »Ich helfe dir.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Wo willst du dich denn verstecken?«

Der Mann stützte sich ab. »Bei drei.« Er reichte ihr seine Hand. »Eins, zwei, …«

»Ich habe mich vertan«, unterbrach Marga und zog ihre Hand hektisch wieder zurück. »Du musst alleine aufstehen«, entschied sie. »Ich muss das auch immer. Mama sagt, es ist gut fürs Leben.«

»Oh Gott.«

»Gott gibt es nicht.«

Der Mann atmete geräuschvoll aus. »Ich muss mich trotzdem verstecken. Das hast du doch verstanden?«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass du der Weihnachtsmann bist.«

»Bin ich aber.« Er zeigte in den Fichtenwald. »Ich bin abgestürzt. Mit meinem Schlitten. Irgendwo da hinten.«

»Ist dein Rentier gestorben?«, fragte sie. »Bist du deswegen so schlecht drauf?«

Er hob angestrengt den Kopf und schaute sie feindselig an.

»Ich habe ein Meerschweinchen«, sagte Marga. »Im Sommer nehme ich es in einem Körbchen mit in den Wald. Manchmal fahren wir mit dem Fahrrad, da klemme ich es hinten auf den Gepäckträger. Einmal bin ich aus Versehen über eine Wurzel gefahren, da ist Anton aus dem Fahrradkorb vom Gepäckträger gefallen, obwohl er in ein Handtuch gewickelt war.«

»Was für eine Scheiße.« Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf, rieb sich mit beiden Händen seine Augen.

»Weinst du jetzt?«, fragte Marga vorsichtig. »Wegen deines Rentiers?« Vielleicht musste sie ihm doch aufhelfen. »Gut.« Marga holte tief Luft. »Ich helfe dir, aber erst muss ich dich trösten.« Sie stapfte vorsichtig um den Mann herum, und weil sie ihn nicht in den Arm nehmen konnte, kletterte sie auf ihn und presste sich an seinen Rücken.

Eine ganze Weile verging. Marga fragte sich, ob der Mann vielleicht eingeschlafen war.

»Du kannst jetzt wieder herunterrutschen«, forderte er sie auf.

»Hast du geschlafen?«

»Nein. Ich habe ausgehalten, dass du auf mir liegst.«

»Ich habe dich getröstet.«

»Ja, und jetzt musst du mir aufhelfen.« Er zeigte zum Hof. »Da wohnst du also, ja?«

Marga nickte. »Warum kannst du nicht alleine aufstehen? Jeder kann das. Es ist ganz einfach. Wenn man liegen bleibt, dann geht es nicht mehr weiter. Dann ist das Leben zu Ende.« Marga presste ihre Lippen aufeinander. Vielleicht hatte sie etwas übertrieben. »Man kann einen Moment weinen, aber dann muss man wieder aufstehen«, tadelte sie ihn und segelte von seinem massigen Körper hinunter in den Schnee.

Der Weihnachtsmann holte Schwung. Angespannt saß er da, den Rücken zu ihr gewandt. Er keuchte.

»Du hast es fast geschafft«, feuerte sie ihn an und tapste dabei hin und her. Als sie in sein schmerzverzerrtes Gesicht blickte, wurde sie ernst. »Du hast dir wehgetan, oder?«, fragte sie besorgt.

»Hör auf, Fragen zu stellen oder irgendwas zu quatschen. Wenn du mir nicht hilfst, dann gibt es dieses Jahr gar keine Geschenke, verstehst du? Nix, niente, absolutamente nada, aus, Ende, Peng. Kein Weihnachten.«

Marga kaute an ihrer Unterlippe und beobachtete sorgenvoll sein rot angelaufenes Gesicht. Bluthochdruck. Daran wäre Opa beinahe gestorben. »Ich bin auch oft wütend, wenn ich mir wehgetan habe. Mama tröstet mich dann trotzdem.« Sie schlang ihre Arme um seinen dicken Oberkörper. »Du bist komisch«, stellte sie fest. Die schwere Gürtelschnalle seiner Jacke drückte sich unangenehm an ihre Wange.

Der Weihnachtsmann schubste Marga weg. »Dann eben nicht.« Er legte sich wieder auf den Bauch, sein Gesicht ließ er in den Schnee fallen. »Dann eben kein Weihnachten.«

»Ist das nicht eiskalt?«, fragte sie besorgt. Eine Weile wartete sie ratlos. »Gut, ich helfe dir«, entschied sie. »Ich habe ein Versteck, wenn du willst.«

»Ich kann nicht laufen.« Der Mann zeigte auf sein Bein. »Verletzt.«

»Aber …«

»Mit deinem Schlitten.« Er zeigte zur Scheune. »Du holst deinen Schlitten.«

»Ich …« Sie schaute sich unglücklich um.

»Du hast doch einen Schlitten?«, fragte der Weihnachtsmann.

Marga nickte wieder.

»Dann hol ihn.«

»Mama erlaubt mir nicht, dass ich …«

»Mama darf’s nicht wissen! Mama nicht, Papa nicht und auch sonst niemand«, zischte er. »Hol deinen Schlitten. Du musst nur deinen Schlitten holen.«

»Und dann?«, fragte Marga skeptisch. Mama würde sie einsperren. Für immer.

»Und dann rettest du das Weihnachtsfest. Du ganz allein.«

Marga überlegte. »Ich darf nicht auf den See. Eigentlich. Erst übermorgen.«

»Mama wird enttäuscht sein, wenn Weihnachten dieses Jahr ausfällt. Erst recht, wenn du daran schuld bist.«

Marga schluckte.

»Das willst du doch nicht?«

»Nein«, flüsterte sie.

»Dann hol deinen Schlitten!« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Und beeil dich!«

Unbehaglich stapfte sie los.

8

»Tut gut«, schwärmte Igor und nippte an der heißen Teetasse. »Was sind Sie? Architektin?«

»Nein.«

»Nein.« Igor hob seine Augenbrauen. »Was dann?«

»Was dann?«

»Na ja, was sind Sie?« Er zeigte in den Raum. »Hier?«

»Statikerin.«

Er nickte knapp, deutete auf seine Hände. »Wonach sehen die aus?«

Inna wartete geduldig.

»Ich habe eine eigene Schreinerei.« Er zog seine Hände enttäuscht zurück. »Sie wollen sich gar nicht unterhalten, oder?«

Konversation. Sie lächelte schief.

»Ich möchte mich vergrößern.« Igor schaute sich um. »Ich habe auch so eine Fabrikhalle. Nicht so schön nostalgisch, aber ähnlich.« Er nahm sich eine Scheibe Christstollen, pulte umständlich das Marzipan heraus und schmierte es an den Rand seines Tellers. »Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen. Eigentlich hatte Grunewald versprochen, dass Sie heute Vormittag zu mir kommen, aber das sind Sie nicht.«

»Grunewald?«

»Grunewald.« Er räusperte sich. »Sie sind Inna Lies.«

»Ja.«

»Ja«, wiederholte Igor und lachte laut. »Ja. Ich mache ein paar Tage Betriebsferien. In dieser Zeit hätte Grunewald die Pläne machen sollen. Aber er hat es vergessen.«

»Ich verstehe Sie nicht.« Inna schob ihren Teller zur Seite.

»Grunewald hat mich heute Morgen angerufen. Er hat gesagt, Sie würden sich meine Fabrikhalle anschauen. Aber Sie sind nicht gekommen.«

»Die Koordinaten«, fiel es Inna ein. »Sie sind der Freund. Ihnen gehört das Gehöft.« Sie schloss erleichtert ihre Augen. »Ich …« Sie zeigte hilflos aus dem Fenster. »Ich habe mich umentschieden. Der Schneesturm. Ich habe nicht damit gerechnet, dass …«

»Sehr ärgerlich«, bedauerte Igor. »Aber jetzt bin ich ja hier.«

»Ihre Fabrikhalle aber nicht.«

»Sie sind witzig.«

»Das war kein Witz.«

»Nein.« Igor kaute. »Das war kein Witz.« Er musterte sie nachdenklich. »Nun ist es so.«

Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Grunewald wird gleich …«

»Grunewald wird nicht kommen«, unterbrach Igor sie mit vollem Mund. »Das haben Sie nur behauptet.« Er lachte. »Die Telefone funktionieren ja gar nicht.«

»Haben Sie …«

»Nein.«

»Nein?«

Igor schlürfte geräuschvoll seinen Tee. »Sie wollten fragen, ob ich etwas damit zu tun habe.«

Inna nickte vorsichtig.

»Natürlich nicht.«

»Natürlich nicht«, wiederholte sie heiser. »Woher wissen Sie dann, dass …«

»Weil ich versucht habe, eines Ihrer Telefone zu benutzen. Da saßen Sie noch im Auto.«

»Wen haben Sie versucht anzurufen?«

Er stopfte sich den Rest Christstollen in den Mund. »Kennen Sie Grunewald gut?«

Inna schüttelte den Kopf.

»Aber Sie sind in ihn verliebt.«

»Nein.«

»Sie wollten, dass er Sie rettet.«

»Nein.«

Igor grinste. »Sie haben so getan, als würde das Telefon funktionieren. Sie hätten jeden nehmen können, aber Sie haben sich für Grunewald entschieden.«

»Er war der Erste, der mir eingefallen ist.«

»Er ist der Einzige, den Sie kennen.«

»Warum haben Sie mich auflaufen lassen?«

»Mit dem Telefon?«

Inna knackte mit ihren Fingergelenken.

»Sie hätten mir unterstellt, dass ich etwas damit zu tun habe.«

»Das tue ich auch so.«

»Sehen Sie? Es macht also gar keinen Unterschied.« Er lächelte. »Können wir das nicht einfach lassen?«

»Das Gespräch?«

»Nein, dass Sie mir nicht trauen, dass Sie Angst vor mir haben.« Er fuchtelte genervt mit seiner Hand durch die Luft. Puderzucker flog in alle Richtungen. »Ich kann nichts für den Schneesturm. Ich habe ihn wohl kaum bestellt.«

»Nein?« Inna strich mit beiden Händen herausgelöste Haarsträhnen hinter die Ohren. Der Sturm hatte ihren Dutt durcheinandergebracht. »Heute Morgen gab es schon Vorboten eines Tiefausläufers vom Nordpolarmeer, die sich laut Wetterbericht im Laufe des Tages zu einem Schneesturm kumulieren sollten.«

»Und?«

»Sie wären nicht hier, wenn Sie den Wetterbericht gehört hätten.«

»Sie auch nicht.«

»Ich war in meine Arbeit vertieft.«

Igor erhob sich. »Dass Sie Angst haben, tut mir leid.«

»Angst wovor?« Vor dem Sturm, dachte Inna.

»Angst vor mir. Ich finde, das passt nicht zu Ihnen. Wo Sie sonst so pragmatisch sind.«

»Pragmatisch.« Inna lehnte sich zurück und verschränkte ihre Arme. Sie hörte den Sturm an den Fenstern zerren. Sie hörte Igor, der seine Finger nacheinander auf die Lehne fallen ließ.

»Sie sind knapp 50?«, fragte er.

»Nein.«

»Sehen Sie?«

Sehen Sie? Eine Frage. Inna verzog ihren Mundwinkel. »Was sehe ich?«

»Ihrem Pragmatismus geschuldet kümmern Sie sich nicht darum, wie alt ich Sie schätze.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Sie haben sich nicht gewehrt.«

»Und wogegen hätte ich mich wehren sollen?«

»Dagegen, dass ich Sie älter geschätzt habe, als Sie sind.« Igor lächelte. »Andere Frauen wären beleidigt.«

»Vielleicht bin ich 50.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind 39.«

Inna schaute sich um. »Das haben Sie gelesen. Wo?«

»Das finden Sie selbst heraus. Gibt es hier eine Toilette?«

Inna tat so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken. »Das finden Sie selbst heraus.« Sie schloss ihre Augen, hörte Igor ziellos durch die Halle laufen, bis er fand, wonach er suchte. Er verriegelte die Toilettentür.

Innas Herz klopfte hart in ihrer engen Brust. Sie schaute hinaus. Der Sturm. Unerbittlich und wütend. Die schwarzen Tannen vor den Fenstern verneigten sich tief, wurden nach oben gerissen und zur anderen Seite geschleudert. Inna schüttelte den Kopf. Sie musste bleiben. Hier mit Igor. Sich ablenken. Die Wände. Die Fenster. Das Mauerwerk. Der Sturm. Sie holte tief Luft. Der Sturm brachte alles durcheinander.

Immerhin. Henri war tot.

»Haben Sie geschlafen?«