Die Apotheker - Sven Böttcher - E-Book

Die Apotheker E-Book

Sven Böttcher

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Beschreibung

Pharmavertreter Patrick Hillert, gemeinsamer Freund des Apotheker-Ehepaares Bea und Hannes Hertz, stirbt jäh und unerwartet mit 54 Jahren eines natürlichen Herztodes. Kein Fall für die Behörden — aber man wird doch wohl mal privat nachfragen dürfen. Denken Die Apotheker. Und täuschen sich gewaltig. Denn im Lichtkegel ihrer neugierigen Ermittlungen findet sich etwas ganz anderes, als sie vermutet hatten: Freund Patrick war nicht der, der er zu sein schien. Viel gefährlicher aber ist, was sich am Rande des Lichtkegels verkrochen hat, unsichtbar und finster entschlossen, endgültig für Grabesruhe zu sorgen…

Zu Risiken und Nebenwirkungen stelle man besser nicht die falschen Fragen — schon gar nicht als Apotheker, der seine Big-Pharma-Pappenheimer aus dem Effeff kennt.

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Für C & F

Und wieder strahlte die Maisonne Wunder hervor. Beatrice Hertz betrachtete die Jungpflanzen, die bereits vor den Eisheiligen aus dem Gewächshaus ins Freie gewandert waren und es nun, nach kurzer Eingewöhnungszeit, offenbar eilig hatten, in reinem Licht und reiner Luft so rasch wie möglich groß und stark zu werden. Bis zum Spätsommer würden diese zarten Pflanzen zu zwei Meter hohen Bäumchen heranwachsen, siebenblättrig, üppig grün und fruchtbeladen. Beziehungsweise üppig beladen nur mit harzigen Blüten. Und genau deshalb war Bea nicht annährend so begeistert wie der Gärtner selbst, ihr alter Freund Albert.

„Albert. Das ist nicht dein Ernst.“

„Was?“

„Das geht nicht, im Freien.“

„Wieso? Die ganze Reihe links sind doch Tomaten, das fällt nicht auf.“

„Kein Mensch verwechselt Northern Lights mit Tomaten.“

„Doch, doch, die meisten. Die Blätter sehen sich zum Verwechseln ähnlich.“

„Aber nicht die ausgewachsenen Pflanzen.“

Albert fuhr den Arm aus und beschrieb mit nach oben gewandter Handfläche ein Panorama – sein kleines kultiviertes Reich inmitten des wilden Hektars: 300 Quadratmeter, eingefasst von einem eins fünfzig hohen Wildzaun.

„Brombeeren. Himbeeren. Wuchernd wie verrückt, Sichtschutz bis zwei Meter Höhe, ab Ende Mai. Die Tomatenstauden binde ich eh hoch, die Rankstangen sind extralang. Nach vorn die Pflaumen, nach rechts das Gewächshaus. Erkenntnisgefahr von außen droht mithin nur, wenn ein fremder Kurier, von vorn kommend, das Haus mit seinem Röntgenblick durchdringt. Aber selbst dieser Superheldenkurier würde im Leben nicht erkennen, dass da ein bisschen Hanf zwischen den Tomaten wächst.“

„Zwanzig Pflanzen sind nicht ‚ein bisschen Hanf‘.“

„Dreißig.“

„Danke. Eins fünfzig hoch, und …“

„Zwei Meter. Brennnesselboden, stark stickstoffhaltig, dazu die effektiven Mikroorganismen und die Düngung mit extra Brennnesseljauche…“

„Genau. Und ab der Blüte erkennt das sowieso jeder Blinde. Sogar jeder Blinde mit ’ner Wäscheklammer auf der Nase.“ Bea deutete nach vorn, über den halb zugewachsenen Graben. Direkt dahinter bot sich ein völlig anderes Bild als der Albert’sche Wildwuchs: Apfelbäume, gestutzt auf zwei Meter Höhe, Fruchtsoldaten im Spalier. Bis zum Horizont.

„Lässt Werner immer noch den Kindergarten da durchwandern?“

„Kinder wissen nicht, wie Gras riecht.“

„Kindergärtnerinnen auch nicht?“

„Nein. Sollten sie jedenfalls nicht, kiffende Kindergärtnerinnen wären ein Fall fürs Jugendamt.“

„Du weißt, dass die Mindeststrafe für so was ein Jahr Haft ist, ohne Bewäh…“

Albert legte Bea die Hand auf den Unterarm, beruhigend, und unterbrach sie. „Bea, weißt du, was mir wirklich Sorgen macht?“

„…?“

„Die Nacktschnecken.“

„Albert.“

„An Noahs Stelle hätte ich die nicht an Bord gelassen. Die ersten Kohltriebe, angezüchtet im Gewächshaus? Trotz Schneckenkorn schon im späten Januar, trotz Kupferband und Schnexagon um die Hochbeete, alles weg, ratzekahl. Aber weißt du, was de facto absolut faszinierend ist?“

„Dein Talent, mitten im Satz das Thema zu wechseln?“

„Die Schnecken erkennen bio.“

„…?“

„Ernsthaft. Die Biopflanzen sind sofort weg. Die Vergleichsgruppe aus dem Baumarkt hingegen – lassen die Schnecken erst mal stehen.“

„Faszinierend“, sagte Bea.

Albert schaffte es mühelos, die Ironie zu überhören. „Nicht wahr? Und was für ein Beleg für meine Theorien! Selbst die gemeine spanische Nacktschnecke erkennt, dass sich das manipulationsfreie Gemüse in vitalerem Photonenzustand befindet als die degenerierte Variante vom Obi!“

Bea Hertz war eine höfliche Frau. Meistens. Besonders älteren Menschen gegenüber. Und Albert war mit seinen 65 Jahren nun mal 13 Jahre älter als sie, eindeutig volljährig. Konnte also meinen und machen, was er wollte. Grundsätzlich. Nur konnte Bea nicht ausblenden, wem das Stück Land gehörte, auf dem sie und Albert gerade standen – nämlich ihr und ihrem Mann Johannes. Und dass Albert die mitten auf dem Stück Land stehende umgebaute Obstscheune ohne Mietvertrag bewohnte, inoffiziell. Offiziell also gehörte die werdende Cannabisplantage des verrückten Ex-Wissenschaftlers – ihr. Und Hannes.

Bea einigte sich daher abschließend mit sich selbst auf einen Kompromiss. Lahm, aber höflich.

„Albert. Wehe, du und Hannes macht hier Quatsch.“

„Wir? Ich? Hannes! Nie im Leben!“

Albert unterstrich seine Versicherung mit einer entschiedenen Geste. Hand aufs Herz. Bea sah darüber hinweg.

„Wo ist eigentlich deine Ernte vom letzten Jahr?“

„Oh. Geraucht hab ich die nicht. Rauchen ist total ungesund. Oh, du lieber Gott, das hab ich ja völlig vergessen!“

„Was?“

„Das Geburtstagsgeschenk! Übermorgen! Versprochen! Sag Hannes das bitte, und nimm ihn von mir in die Arme! Rehrücken! Hängt aber noch bei Werner in der Stallgasse.“

Bea nickte. Es war ja offensichtlich komplett sinnlos, dem Gärtner noch weiter Vernunft nahebringen zu wollen.

„Du kommst übermorgen zu uns?“

„Aber nein, ihr kommt zu mir. Hat Hannes dir das nicht gesagt?“

Bea schüttelte lächelnd den Kopf. „Wo denkst du hin? Aber Danke für die Einladung.“

Johannes Hertz hatte die maskierte Kundin noch nie gesehen, die eben in seine Apotheke getreten war und ihn nun schnurstracks und wortlos mit einem ausgefüllten Rezept bedrohte. Ihm war aber auch ohne Worte bereits klar, dass hier kein Beratungsbedarf bestünde. Nicht nur, weil die Neukundin etwa 120 Kilo wog, eine geräumige McDonald’s-Tüte in der Linken hielt und aus der ALDI-Tüte in ihrer Rechten zwei Großpackungen Erdnussflips ragten. Nichts davon war eindeutig. Dafür aber der Blick der Dame, eine ernste Mischung aus Misstrauen und Warnung.

„Guten Tag“, sagte Hannes.

Die Maske sagte „Hmpf“, auffordernd. Hannes sah auf das Rezept. Ein Betablocker, ein Cholesterinsenker, ein ACE-Hemmer. Alle drei Präparate nach seiner Ansicht nicht die besten bei offensichtlich diagnostiziertem metabolischem Syndrom, aber alle drei zwischen Herstellern und Kassen im Rahmen von Rabattverträgen als empfehlenswert ausgehandelt. Stammkunden wies Hannes auf diesen Sachverhalt hin, gelegentlich. Neukunden nicht, denn jeder Neukunde war ein potenzieller Denunziant, ein Testkäufer.

Hannes wies den Komissionierautomaten via Bildschirm an, die verordneten Präparate auszulagern, und stellte sie vor der Maskierten auf den Handverkaufstisch.

Die Maske gab einen Laut von sich, den Hannes optimistisch als Zustimmung wertete. „Und Wiedersprint.“

Hannes korrigierte ihre Aussprache nicht, denn im Großen und Ganzen lag sie ja richtig. Seiner Einschätzung nach war die Frau allerdings nicht wohlhabend, deshalb konnte er sich die Frage nicht verkneifen.

„Wenn Ihr Arzt einen Vitamin-B12-Mangel festgestellt hat, ließe sich der auch mit einem anderen Präparat ausgleichen. Sogar besser, wenn Sie das B12 sublingual einnehmen.“

Der Blick der Kundin wurde noch etwas misstrauischer, aber Hannes hatte die hilfreiche Übersetzung von sublingual bereits ausgesprochen.

„Zum Lutschen.“

Der Kontext spielte jetzt keine Rolle mehr. Hannes entnahm dem Blick seiner Kundin, dass sie ihn für gefährlich hielt.

„So weit kommt das noch.“

„B12 wird über die Mundschleimhaut…“

„Das dürfen Sie doch gar nicht.“

„Was?“

„Hier was anderes verschreiben als Doktor Willert.“

„Ich verschreibe gar nichts. Aber Sie müssen das selbst zahlen, und mein Vorschlag kostet Sie nur halb so viel wie der von Doktor…“

„Wiedersprint.“

„Ja. Sehr gern.“

Hannes musste sich nur umdrehen. Das gewünschte Produkt stand prominent in der Sichtwahl. Wie alle Produkte, die Apotheker und Hersteller glücklich machten.

Die Kundin zahlte mit Karte. Wortlos.

Hannes verabschiedete sie freundlich. Sie nahm es wohl zur Kenntnis, aber ihrem Blick nach zu urteilen vermutete sie auch hinter Hannes’ „Einen schönen Tag noch“ eine Falle.

Glücklicherweise stand nun Frau Engler vor Hannes, als nächste Kundin. Und Hannes freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Er begrüßte sie, indem er ihr seine behandschuhten Hände hinhielt, Frau Engler nahm den Gruß mit beiden bloßen Händen auf, lächelnd.

„Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke, Frau Engler.“

„Sechzig?“

„Dem Ausweis nach, ja.“

„Den können Sie ja ignorieren.“

„Problemlos.“

Betont sanft hielt Hannes weiter die fragilen Hände der 82-Jährigen, die er nun schon seit fast einem Jahrzehnt kannte, schätzte und begleitete. Marianne Engler hatte mehrmals dem Krebs getrotzt, zuerst mit Mitte vierzig, dann wiederholt mit Mitte und Ende siebzig. Nach der verheerenden letzten Chemotherapie vor vier Jahren hatte sie sich entschlossen, die Chemie abzusetzen und dem Leben seinen Lauf zu lassen. Ihre Ärzte hatten ihr versichert, sie werde binnen drei Monaten tot sein.

Hannes hatte damals keine Prognose gestellt. Er hatte lediglich zu Frau Englers Entscheidung genickt, als sie ihn informiert hatte, sie werde keine weitere Chemo machen. Und er war vorsichtig gewesen, als sie ihn höflich gefragt hatte, was sie denn jetzt noch tun könne oder solle: Er war ja kein Arzt. Sondern Apotheker. Mochten seine biologisch-medizinischen Fachkenntnisse auch hundertmal weiter reichen als die jedes Arztes – er durfte niemanden behandeln. Im Grunde durfte er nicht einmal beraten, auch wenn viele seiner Kunden das irrtümlich annahmen. Die Formulierung „fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ war auf geschickte Weise irreführend gewählt, denn vor dieser Anweisung stand ja ausdrücklich: „Zu Risiken und Nebenwirkungen“. Und eben nicht „Zu Wechselwirkungen und Studienergebnissen“. Erst recht stand da nicht „Fragen Sie Ihren Apotheker, ob er das Medikament für geeignet hält, ihre gesundheitlichen Probleme zu lindern“, geschweige denn „Fragen Sie Ihren Apotheker, ob er die Diagnose Ihres Arztes für richtig hält“.

Nichts davon war Hannes gestattet, kein Kommentar, kein Hinweis, keine Antwort, selbst wenn man ihn fragte. Er durfte tatsächlich nur Auskunft geben zu „Risiken und Nebenwirkungen“, also dem fragenden Kunden den Beipackzettel vorlesen. Äußerte er sich weitergehend, verstieß er gegen alle Regeln und Gesetze und riskierte seine berufliche Existenz.

Marianne Engler hatte ihn damals, vor vier Jahren, nach Cannabis gefragt. Ihm flüsternd, aber offen und ehrlich mitgeteilt, sie habe damit in jungen Jahren gute Erfahrungen gemacht und wolle das letzte Stück ihres Weges lieber ohne Schmerzen und mit guter Laune zurücklegen als mit Schmerzen und schlechter Laune. Mit dem ausdrücklichen Zusatz, sie sei – auch wenn sie nicht so aussehe – bereits volljährig und kenne die langfristigen Risiken und Nebenwirkungen des Marihuanakonsums, mache sich jedoch keine allzu großen Sorgen, abhängig zu werden und dann binnen ihrer kommenden zwanzig Lebensjahre allmählich zu verblöden.

Hannes hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Und da sie nun schon mal da war, direkt in seinem Herzen, hatte er auch ihr Problem lösen können. Vernünftig, wie es generell seine Art war, aber auch vollständig illegal, wie es generell seine Art war, wenn Vernunft und Gesetzeslage kollidierten. Diesbezüglich war Hannes unheilbar. Stieß sein gesunder Menschenverstand auf ein Verbotsschild, zog das Schild den Kürzeren. Er hatte durchaus versucht, auf Beas Wunsch, sich diesbezüglich selbst umzuerziehen, aber es war ihm nicht gelungen. Er brachte es einfach nicht über sich, nachts an einer roten Ampel, auf leeren Straßen bis zum fernen Horizont, vor Rot stehen zu bleiben. Als verantwortungsvoll handelnder Erwachsener nahm er das Rot als Warnhinweis gern entgegen, entschied dann aber selbstredend richtig und fuhr weiter. Ebenso konnten und durften nach seiner Ansicht seine alljährlich etwa 30.000 erwachsenen Mitbürger entscheiden, sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte die Leber tödlich mit Alkohol zu ruinieren und daran zu sterben. Ebenso zulässig erschien es ihm aber auch, wenn ein geistig gesunder Erwachsener mit terminalem Krebs entschied „Ich möchte jetzt gern sterben“ und um eine Einschlafhilfe bat. Oder eben verkündete: „Ich kiffe mich jetzt zu, bis ich vor Lachen tot umfalle.“ Diese Form der Selbstbestimmung lehnten indes etwa achtzig Prozent seiner Mitmenschen ab, als Kollektiv, als „Staat“ formuliert und durchgesetzt mittels drakonischer Gesetze. Diese achtzigprozentige Ablehnung der Selbstbestimmung empfand Hannes überaus respektlos und lehnte sie seinerseits ab. Natürlich respektvoll.

Für Marianne Engler war es ihm leichtgefallen, die rote Ampel zu ignorieren, also das bestehende Betäubungsmittelgesetz zum Zeitpunkt ihrer Anfrage. Damals nämlich hatte die Industrielobby noch nicht begriffen, dass „Medizinalhanf“ ein Riesengeschäft sein würde, und vor der Verschreibung und Abgabe an Patienten hatten gewaltige juristische Hürden gestanden. Den Gang zum Bahnhofsdealer aber hatte Hannes Frau Engler nicht zumuten wollen, also hatte er ihr Problem unbürokratisch gelöst. Mit Alberts freundlicher Unterstützung.

Marianne Engler hatte es ihm leicht gemacht, vernünftig zu handeln. Erst recht, da die von der Medizin aufgegebene Gesundheitskundin ja nicht nur nach Gras verlangt hatte, sondern in jeder Hinsicht selbst Verantwortung übernommen hatte, im Wissen, dass ihre Überlebenschance – nach Ansicht ihrer Ärzte – bei null lag. Im Wissen, dass es schiefgehen konnte. Dass sie in Lebensgefahr schwebte.

Englers verschwörerisch geflüsterte Worte von damals hatte Hannes nicht vergessen. „Herr Hertz, sagen Sie das hier bloß keinem, aber wir schweben alle immer, jeden Tag, in Sterbensgefahr.“

Danach war alles sehr leicht gewesen. Denn wer vor dem Sterben keine Angst mehr hat, den schreckt im Leben nichts mehr.

Vier Jahre später sah Frau Engler immer noch sehr lebendig aus. Und sehr vergnügt. Beim damals festgelegten Codewort war es geblieben.

„Meine Baldriansalbe geht zur Neige.“

Hannes nickte.

„Stelle ich heute noch her und schicke Ihnen einen Kurier. Wann sind Sie denn morgen zu Hause?

„Oh. Nach dem Ausritt, vor dem Tennis. Danach muss ich ruhen, mich ankleiden lassen und abends auf einen Ball. Also, zwischen 14 Uhr und 14 Uhr 30 wäre ich verfügbar.“

Hannes lächelte.

„Nein“, sagte Frau Engler. „Ich bin den ganzen Tag da. Aber wenn Sie einen Kurier schicken, sagen Sie dem bitte, dass der Kleine nicht empfangsberechtigt ist.“

„Selbstverständlich. Macht er Ihnen weiter Kummer?“

Engler lächelte und seufzte gleichzeitig. „Ach, Kummer, nein. Doch eher Sorgen.“

Sie sah nach links, zum Ausgang der Apotheke, Richtung Fußgängerzone, und Hannes ließ ihrem Blick seinen eigenen folgen.

Marianne Engler war früh Mutter geworden, und der Kleine, Hartmut, der draußen wartete, hatte inzwischen wieder seine Geburtsfrisur – ein bisschen Flaum links und rechts, dazwischen viel Glanz.

„Wenn ich’s nicht besser wüsste“, sagte Engler, „würde ich an Eides statt versichern: Der ist nicht von mir. Kleinlich, gnatzig, kulturlos, verzagt.“

„Er schlägt wohl mehr nach dem Vater?“

„Der hat noch nie nach irgendwas geschlagen.“

Hannes nickte mitfühlend, weiterhin in Hartmut Englers Richtung schauend. Hartmut, maskiert und behandschuht draußen am Rand des Passantenstromes stehend, fand offenkundig keine rechte Einstellung zum von ihm zu beaufsichtigenden Rollator seiner Mutter. Er wechselte stetig zwischen beidhändig, wenn Menschen mit Migrationshintergrund sich näherten, und größtmöglicher Distanz zur Gehhilfe, sobald Frauen unter vierzig sich ihm näherten. Wegen des starken Publikumsverkehrs stellte das offenkundig eine stressige Herausforderung dar.

„Vielleicht kommt das ja noch“, sagte Hannes, „wenn er erwachsen wird, die Freude, die Gelassenheit, die Weisheit.“

„Er ist 56.“

„Geben Sie die Hoffnung nicht auf.“

„Herr Hertz, ich bitte Sie! Das Reihenhaus ist fast bezahlt, die Mutter durchaus wohlhabend mit überschaubarer Restlebenserwartung, dazu mehrere Rentenansprüche gegen Betrieb, Staat und private Versicherer – und doch bleibt er beherrscht von stetiger, alltäglicher Angst. Seit Covid schaut er sich sogar Haus des Geldes nur noch mit Maske an.“ Sie seufzte tief. „Ach, Gott. Und ich dachte damals, in seinen ersten Lebensjahren, irgendwann legt sich das mit dem ‚Hose voll‘. Ein Jammer.“

„Seien Sie nicht so streng.“

„Wann, wenn nicht jetzt?“

Hannes sah abermals zum bedauernswerten Hartmut. Dessen Miene sich in diesem Augenblick aufhellte. Den Grund erkannte Hannes eine Sekunde später, ohne Hartmuts Freude teilen zu können. Denn zu dem gesellte sich jetzt ein zweiter Vermummter, nämlich Wolfram Adler, Besitzer der direkt gegenüber der Hertz-Apotheke gelegenen Konkurrenz, der Adler-Apotheke. Und dieser Adler war einer der nur sehr wenigen Menschen, die Hannes von Herzen widerwärtig fand.

Marianne Engler sah missbilligend zu ihrem Sohn. Dann sah sie Hannes an, entschuldigend.

„Ich bedaure“, sagte sie. „Das sind Altlasten in Hartmuts Köpfchen, der Herr Adler hat ihm ja von klein an die meisten Zuckerbonbons geschenkt, das prägt.“

„Ich erkläre Hartmut gern in Ruhe, was einen guten Apotheker ausmacht. Im äußersten Notfall sogar im Beisein seines schlechten Apothekers.“

Marianne Engler tätschelte Hannes’ Hand, tröstend. „Überlassen Sie das mal mir. Ich vergraule den schon. Und da ich erst meine halbe Gehstrecke für heute verbraucht habe, müssen Sie mich auch nicht zu meinem Fahrzeug begleiten.“

„Die Freude lasse ich mir doch nicht nehmen.“

Hannes trat um den HV-Tisch herum und bot Marianne Engler seinen Arm an. Sie lächelte, hakte sich ein und setzte sich an seiner Seite in Bewegung. Würdevoll, beherrscht, als bereitete es ihr keinerlei Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hannes bewunderte sie. Schritt für Schritt.

Als sie aus der Apotheke traten, sahen Hartmut und Adler in ihre Richtung. Hartmut verängstigt, wie stets, Adler hingegen, anders als sonst, lächelnd. Das irritierte Hannes, denn er hatte Adler noch nie lächeln sehen. Viel Übung schien er damit auch nicht zu haben, denn das Lächeln war schief und unerfreulich.

„Guten Morgen, die Herren“, sagte Hannes und setzte ein Strahlen auf. „Geht es Ihnen gut, Adler?“

„Blendend“, sagte Adler.

„Gottseidank“, sagte Hannes, mit einem dezenten Fingerzeig auf Adlers verbogenes Lächeln. „Ich hatte schon einen leichten Schlaganfall befürchtet.“

„Keine Chance“, sagte Adler. „Egal, wie sehr Sie mir auf die Nerven gehen.“

„Oh, Sie verkennen meine Absichten. Ich wünsche Ihnen nur das Beste, ohne chancenlose Konkurrenz würde ich mich doch sehr langweilen.“

Adler arbeitete weiter an seinem Jokerlächeln. Er hatte noch ein gutes Stück Weg vor sich, aber er bemühte sich.

„Als Komiker machen Sie sicher auch keine Karriere.“

„Habe ich auch nicht vor. Ich bleibe gern Apotheker.“

„Genießen Sie’s, so lange es dauert.“

„Oha. Das klingt gefährlich. Haben Sie mich wieder angezeigt?“

Hannes sah Marianne Engler und ihren Sohn an und nickte dabei in Adlers Richtung. „Das ist sein Hobby. Seiner Rechtsauffassung nach ist Wettbewerb illegal.“

Adler sah ebenfalls die Englers an. „Die Rechtsauffassung von Herrn Hertz kennen wir ja alle, er steht souverän über den Gesetzen.“

Marianne Engler beantwortete seine Andeutung mit einem tatsächlich souveränen Lächeln, aber Hannes verstand, weshalb ihr Kleiner auch zukünftig keinesfalls die Baldriansalbe-Lieferungen in die Finger bekommen durfte.

„Lieber Herr Adler“, sagte Hannes. „Ich verstehe Ihren Zorn. Aber es ist noch immer nicht illegal, Desinfektionsmittel zum Einkaufspreis abzugeben. Solidarität ist weiterhin nicht verboten, und ich zwinge Sie doch nicht, sich bei Ihrer Preisgestaltung nach mir zu richten.“

Das war natürlich glatt gelogen. Denn Hannes präsentierte sein Sterilium- und Maskenangebot höchst prominent direkt am Eingang seiner Apotheke, dekoriert mit „%“-Schildern in Neonfarben.

„Nein“, sagte Adler. „Es ist noch immer nicht verboten, sich und andere aus niederen Motiven zu ruinieren, da haben Sie recht. Aber das kann ja noch kommen, das Verbot.“

„Oh. Spekulieren Sie weiter darauf, dass mit Covid-20 alle nicht systemtreuen Apotheker eingesperrt werden?“

„Nein. Aber sicher wird man nicht vergessen, wer Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt hat und Menschenleben gefährdet.“

„Man?“

„Man.“

„Mann, Mann. Die Partei oder die Stasi?“

Adler hörte nicht auf zu lächeln. Auch Hannes hörte nicht auf zu lächeln. Aber er musste sich ein bisschen mehr Mühe als vorher geben. Normalerweise wich Adler ihm grimmig blickend aus, sofern sie sich zufällig trafen, einen Auftritt wie diesen hatte er Zeit ihrer Bekanntschaft nicht hinbekommen. Und ein Lächeln schon gar nicht.

Marianne Engler räusperte sich. „So, Hartmut, dann kutschiere doch bitte deine Mutter nach Hause, die Herren Gladiatoren müssen sich ja jetzt auch zurückstürzen in die Konkurrenzkampfarena.“

Lächelnd legte sie Hannes ihre Linke auf den Unterarm.

„Und Sie grüßen bitte Ihre Frau, herzlich. Auch wenn sie mir zuvorgekommen ist – ich kann sie wirklich gut leiden.“

Hannes und Adler nickten ihr und Hartmut zum Abschied zu. Hannes sah der tapferen Frau Engler zu, die Hartmut mit einer kleinen, aber eindeutigen Geste verbot, ihr beim Gehen behilflich zu sein. Er spürte Adlers Blick auf seinem Gesicht und sah hin.

Adler lächelte immer noch.

„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Hannes. „Es hat was von einem Schlaganfall.“

„Machen Sie sich mal keine Sorgen“, sagte Adler. „Jedenfalls nicht um mich.“

Er wandte sich ab. Und ging.

Hannes sah ihm nach. Schüttelte den Kopf. Und wandte sich dann ebenfalls ab. Trat wieder in den Eingangsbereich vor seiner Apotheke und sortierte die Sterilium-Flaschen unter dem „%“-Schild so, dass niemand das Angebot übersehen konnte. Jeder Passant, der aus dieser Richtung die Fußgängerzone betrat, würde mit Sterilium und Masken eingedeckt sein, bevor er oder sie Adlers zwanzig Meter weiter links gelegene Apotheke erreichte. Und sollte Adler darauf reagieren, indem er die Laufkundschaft mit Bonbons zu bestechen versuchte, würde Hannes seinen Preis eben weiter senken, notfalls unter seinen eigenen Einkaufspreis, denn Treffer gegen Adler waren schlicht unbezahlbar.

Ein Räuspern von links beendete seine taktischen Überlegungen.

Hannes drehte sich halb um, zur Quelle des Räusperns. Vor ihm stand Marlene, seine 23-jährige Pharmaziepraktikantin. Mit müdem Blick, verständlicherweise, denn nachdem sechs der neun Angestellten der Harburger Hertz-Filiale wegen einer gemeinsam erworbenen Lebensmittelvergiftung seit vier Tagen fehlten, schoben Marlene, Philipp und das Ehepaar Hertz Doppel- und Dreifachschichten.

„Errmm“, sagte Marlene.

„Ja?“

Ihr junger Blick war nicht nur müde, sondern auch schuldbewusst. „Das ist hinten runtergefallen.“

Hannes verstand nicht. Erst als sie die Hand hob, begriff er, dass sie etwas Konkretes meinte, nichts im übertragenen Sinn. Marlene hielt ihm einen Umschlag hin.

„Hinter den Schreibtisch. Sorry.“

„Macht doch nichts.“

Hannes nahm den Umschlag, der schon auf den ersten Blick Eindeutiges signalisierte, mittels schwarzen Randes rundherum. Hannes drehte den Umschlag und sah erleichtert, dass kein Absender dort angegeben war. So standen die Chancen gut, dass die Harburger Filiale lediglich zufällig auf der tausend Adressen langen Liste eines einflussreichen Verstorbenen gelandet war, mit dem er oder Bea rein zufällig vor zehn oder zwanzig Jahren zu tun gehabt hatten. Als lebenslang erfolgreicher Apotheker und Unternehmer erhielt man ja nicht nur haufenweise Geburtstagsgrüße von lauter Leuten, die man kaum oder gar nicht kannte. Sondern eben oft auch unerfreulichere Mitteilungen.

Hannes öffnete den Umschlag.

Und war aufrichtig entsetzt.

Bea parkte ihren zehn Jahre alten Mini erst um kurz nach 21 Uhr vor dem Haus im Sülldorfer Kirchenweg. Sie war froh, endlich zu Hause zu sein, nach einem buchstäblich zerfahrenen Tag. Wegen der anstehenden Frühjahrswerbeaktionen und -umbauten hatte sie Gespräche vor Ort führen müssen mit den Leiterinnen von gleich vier ihrer Apotheken, in Winterhude, Eppendorf, in der Hafencity und in der Innenstadt. Zwischen den Stationen zwei und drei hatte sie obendrein mit einer jungen Redakteurin des Regionalfernsehens telefonieren dürfen, wegen der Location für einen kleinen Film über Hannes, zu dessen eigenem Jubiläum und dem 75. Geburtstag der Hertz-Apotheken. Man einigte sich rasch auf den Drehort Harburg – der Redaktion erschien das passend, ließ sich doch Harburg als sozialer Brennpunkt immer gut verwenden, unter dem Arbeitstitel „Ein Her(t)z für alle Schichten“. Bea fand das sehr nett. Auch wenn sie selbst kreuzfroh war, ihrem prekären Geburtsort Harburg heil entronnen zu sein.

Das letzte ihrer Gespräche hatte ihr allerdings bevorgestanden. Sie hatte inständig gehofft, alle Probleme hätten sich unterwegs in Luft aufgelöst, aber das war nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil. Ilona Mager, Filialleiterin der Hertz-Apotheke in der City, hatte sich nämlich im Verlauf des Gesprächs mit Bea förmlich selbst gefeuert. An grundlosem Selbstbewusstsein hatte die Mittdreißigerin schon immer gelitten, nun aber hatte sie obendrein beschlossen, einen Vierjährigen zu verklagen, der mit seinem Dreirad ihren nagelneuen SUV angekratzt hatte. Angeblich. Erkennen konnte den Schaden nämlich nur der Lackierer, und der musste ein Mikroskop eingesetzt haben. Indem Mager nun in Beas Beisein, vor versammelter Belegschaft, den Jungen und dessen tapfere alleinerziehende Mutter als „Hartzer Roller“ bezeichnete und darüber selbst am lautesten und längsten lachte, verpasste sie sich eigenhändig einen Freifahrtschein für den Arbeitsmarkt. Denn Bea hatte sie schon in der Vorwoche gewarnt, von ihrem absurden Plan abzusehen, aber Mager hatte das offenbar nur für einen unverbindlichen Vorschlag gehalten, nicht für einen Befehl. In derartigen Fällen von Beklopptheit handelte Bea grundsätzlich höchst besonnen. Sie stellte den oder die Bekloppte einmalig freundlich zur Rede, und wenn der oder die Bekloppte nicht Vernunft annahm, beendete sie die Bekanntschaft. Ganz gleich, ob es sich bei dem Bekloppten um einen Lieferanten, einen Beamten, einen Steuerberater oder eine Filialleiterin handelte.

Aber das endgültige Kündigungsgespräch mit Mager konnte warten. Anderes hatte derzeit eindeutig Vorrang. Bea war um halb sechs aufgestanden, um halb sieben von Blankenese in die Harburger Filiale gefahren und hatte dort bis zur Öffnung Rezepturen hergestellt, Salben, Tinkturen, Kapseln. Früher Kerngeschäft von Apothekern, boten die meisten ihrer Kollegen diesen Service gar nicht mehr an, aus Effizienzgründen. Für Bea kam es aber nicht in Frage, diesen Dienst am Kunden einzustellen. Auch wenn man damit nichts oder nur wenig verdiente: es gehörte einfach dazu. Zudem hatte sie nicht Pharmazie studiert, weil ihr nach dem Abitur nichts Besseres eingefallen wäre, sondern weil sie die Biochemie mochte und hochspannend fand. Weil sich bei Kenntnis biochemischer Zusammenhänge tatsächlich etwas bewirken ließ. Nicht auf dem eigenen Konto, wohl aber hinsichtlich der Gesundheit jener, die ihren Rat suchten. Und Bea schätzte es, sich nützlich zu machen: zu wirken, zum Wohl anderer.

Deshalb war sie weiterhin Apothekerin. Neben Sperling oben in Eißendorf die letzte im Harburger Stadtgebiet, die noch selbst herstellte. Aber anders als Sperling arbeitete sie nicht nur bekannte Rezepturen ab, sondern hatte in ihr Harburger Labor beträchtlich investiert, von Abzug bis Reinraum-Technik bis halbautomatischer Kapselmaschine, und versuchte sich gelegentlich auch an Verbesserungen bestehender Formulierungen – jedenfalls dann, wenn diese bestehenden Formulierungen unerwünschte Nebenwirkungen mit sich brachten. Daraus resultierten indes keine marktfähigen neuen Medikamente, denn natürlich musste Bea sich auf die Galenik beschränken, also die Bearbeitung von ärztlich verordnungsfähigen Wirkstoffen mit Substanzen, die uneingeschränkt eingenommen werden durften. Dass außer ihr niemand so etwas machte, wunderte sie nicht. Denn es erforderte viel Zeit, es brachte etliche Fehlschläge mit sich, und hatte man am Ende tatsächlich einen Weg gefunden, die Zusammensetzung von Kapseln verträglicher zu gestalten, konnte man die Entwicklungskosten niemandem in Rechnung stellen. Dass die Hertz’schen Eigenproduktionen inzwischen tatsächlich Gewinne abwarfen, nachdem sich deren Qualität in immer größeren Kreisen herumgesprochen hatte, war Beas alleiniges Verdienst – Ergebnis ihres Fleißes, ihrer Hartnäckigkeit und, wie Hannes ihr gern attestierte, ihres vorhandenen Genies im Umgang mit den unscheinbarsten Substanzen.

Eine von denen fehlte Bea allerdings an diesem Morgen, und das war überaus ärgerlich. Normalerweise hielt sie in jeder ihrer Hamburger Apotheken immer einen Defektur-Vorrat an Fumarsäurekapseln gegen Schuppenflechte bereit, denn eben jene hatten sich im Lauf der Jahre tatsächlich zu einem Dauerbrenner entwickelt, den sie und Hannes inzwischen sogar in großen Mengen an Kollegen in ganz Europa versandten, gegen Rezepte. Dass die Kapseln in Harburg fehlten, war ungewöhnlich, aber vor lauter Personalmangel hatten Bea und Hannes offenbar vergessen, neue herzustellen. Dies nachzuholen erwies sich jetzt aber als unmöglich, weil im Labor, hinter der verschlossenen Tür zur Kammer mit den Chemikalien, das Regal mit der Fumarsäure gähnend glänzte. Leer.

Bea hatte in Winterhude angerufen und um Nachschub gebeten. Winterhude hatte aber ebenfalls keine Kapseln mehr gehabt. Eppendorf hatte. Eppendorf schickte einen Kurier. 400 Kapseln, der Rest. Die Fumarsäure fehlte auch dort. Also hatte Bea um kurz nach neun ihren Chemikalien-Großhändler angerufen und für sämtliche Filialen Nachschub bestellt, 5.000 Gramm Dimethlyfumarat 1.000 Gramm Calcium Monoethylfumarat, 500 Gramm Magnesium Monoethylfumarat, per Express.

Man hatte ihr bedauernd mitgeteilt, das sei nicht möglich.

„Dann eben per Kurier.“

„Nein, wir können Sie nicht beliefern.“

„Sie beliefern mich immer.“

„Wir haben keinen Lagerbestand an Fumarsäureestern.“

„Das ist schlecht, denn die braucht ja nun jeder.“

„Richtig. Aber es besteht ein Lieferengpass.“

„Bis?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Sie werden ja wohl Ihren Lieferanten gefragt haben.“

„Ja. Die Antwort steht aus. Seit vier Wochen.“

„Dann rufen Sie da doch bitte direkt noch mal an. Und dann rufen Sie mich an und nennen mir einen Liefertermin binnen der nächsten Woche. Ich möchte nämlich nicht zu ihrer Konkurrenz wechseln, Sie beliefern mich ja schon seit zwanzig Jahren.“

„Vielen Dank für Ihr Verständnis.“

Nachdem Bea aufgelegt hatte, fragte sie sich unwillkürlich, weshalb das immer alle sagten oder unter Briefe und emails schrieben: Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis. Sie hatte doch gar kein Verständnis. Allenfalls hatte sie Nachsicht. Oder Geduld. Aber eigentlich nicht mal das.

Nach ihrem einstweilen verhinderten Versuch, die Vorräte für ihre von Schuppenflechte geplagten Kunden wieder aufzufüllen, hatte Bea den Rest des Vormittags als Akkord-Verkäuferin zugebracht, im pausenlosen Gespräch. Einen Kaffee trinken? Fehlanzeige. Tief durchatmen? Auch Fehlanzeige. Hannes hatte sie dann mittags nur kurz gesehen, im Vorbeihasten, als er sie abgelöst hatte, war von Harburg aus die 45 Minuten zu Albert gefahren, ins Alte Land, von dort aus nach Winterhude, in die City, in die Hafencity und von dort aus zurück nach Hause.

Und jetzt reichte es. Bea freute sich auf einen Tee. Auf Ruhe. Und ihr Bett.

Begrüßt wurde sie direkt nach dem Öffnen der Wohnungstür von einem Fluch. Der allerdings nicht ihr gelten konnte, kam er doch aus dem Wohnzimmer, leise, aber eindeutig aus Hannes’ Mund. Bea schob die Doppeltür vorsichtig auf und konstatierte, innerlich seufzend, dass sie vor dem Zubettgehen noch würde aufräumen müssen, denn anders als Hannes konnte sie Chaos nicht ertragen. Und im Wohnzimmer herrschte Chaos in Reinkultur.

Zu seinem runden Geburtstag hatte Hannes wahre Berge von Grußkarten, Glückwünschen und Geschenken erhalten. Sein Freundes- und Bekanntenkreis war groß, der Kreis der Mitarbeiter, Zulieferer und kooperierenden Pharmahersteller noch wesentlich größer, und schon die gratulierend gelieferten Wein- und Champagnerlieferungen hätten wohl ausgereicht, um einen eigenen Laden zu eröffnen. Dankenswerterweise hatte Hannes aber Beas Vorschlag akzeptiert, die gesammelten Präsente auf und unter dem Tisch zwischen Kamin und Südfenster zu arrangieren, teilweise entpackt, größtenteils noch verpackt, zur späteren koordinierten Würdigung.

Dieser Plan war offenkundig explodiert. Das Wohnzimmer sah aus wie die Geschenkeabteilung von Karstadt nach einem Bombenanschlag, und mittendrin, zwischen sehr, sehr viel Papier und Karten, Flaschen, Bildern, Drucken, Büchern, Teetassen, Handtüchern, Nippes, Kisten, Körbchen, Kästchen, Blumen und sonderbaren Gegenständen, saß Hannes, mit einem Holzelefanten in der Rechten, einer Grillschürze in der Linken, und fluchte.

Bea trat zu ihm, beugte sich vor und küsste ihn auf die lichte Stelle am Hinterkopf.

„Und wie war dein Tag?“

„Woher soll ich wissen, was von Patrick ist?“

Hannes hob den Elefanten und die Schürze etwas höher, mit ratlos vorwurfsvollem Blick.

„Das weiß ich natürlich auch nicht. Und wie war dein Tag sonst so?“

„Unerfreulich“, murmelte Hannes in Richtung Elefant und Schürze. „Wie jeder Tag, an dem ich von dir getrennt bin.“

„Du bist ein Schatz.“

„Ja. Aber warum sollte Patrick mir einen indischen Elefanten schenken?“

Hannes stellte den Elefanten weg und fing auf allen Vieren an, sich durch Papier und Geschenke Richtung Kamin zu arbeiten, suchend, prüfend, verwerfend. „Oder ein handgeschnitztes Würfelspiel. Oder eine Handyhülle. Buddha? Immer gut, aber der sieht Patrick nicht ähnlich, oder Max Bruch? Karten für die Elbphilharmonie? Eine Großpackung Aspirin, ah, nee, Scherzartikel, Chillo-Pillo? Na, wer’s braucht … die Perücke ist lustig, die ist garantiert von Astrid, guck, nur für meinen Helikopterlandeplatz … Schinken? Wieso schenkt mir jemand Schinken? Patrick hatte doch gar keinen Bezug zu Schinken, oder?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Bea. „Hannes?“

„Ja?“

„Bist du so lieb und hilfst mir mal?“

„Man soll so was einfach nicht verschieben!“

„Aha.“

„Du würdest so was nicht verschieben. Du bist konzentriert, ordentlich…“

Bea nickte ins Chaos.

„Organisiert“, sagte Hannes.

„Du bist auch organisiert, nur eben an hundert Stellen gleichzeitig.“

„Das stimmt, aber es rächt sich eben.“

Hannes hatte diverse weitere Geschenke aus dem Papiermeer gewühlt, betrachtete sie kurz und warf alles zurück ins Knisternde. Er griff nach einer Papprolle, entfernte den Deckel, zog den Inhalt heraus, einen auf Seide gemalten etwa einen Meter langen Kranich, und machte sich nicht die Mühe, das Geschenk wieder zusammenzurollen.

„Nichts für ungut, Schatz, aber was suchst du?“

„Patricks Geschenk.“

„Aha. Und warum?“

„Weil ich seine Karte nicht verstehe. Auf dem Kamin. Oh! War das dieser UPS-Kurier, Paket aus der Schweiz?“

„Weiß ich nicht.“

Bea war bereits aufgestanden und fand nach kurzem Suchen auf dem Kaminsims die Karte, auf die Patrick Hillert seinen Geburtstagsgruß geschrieben hatte: Lieber Hannes, ich wünsche dir nur das Beste. Für alles. Oooommmm. Im Wissen, dass du weißt: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Herzlich P.

„Wo ist das Paket?“, sagte Hannes, mit Blicken suchend. „Was war da drin?“

„Weiß ich nicht. Was ist mit der Karte? Ist doch nett.“

„Ja. Aber welches Geschenk gehört dazu?“

„Himmel, Hannes! Ruf ihn doch an und frag ihn.“

Hannes stellte das Suchen und Scannen ein und sah Bea vorwurfsvoll an.

„Wie denn? Das geht doch nicht mehr.“

„Wieso das denn nicht?“

„Ach so. Patrick ist tot.“

Bea versuchte schweigend, das zu verstehen. Nickte kurz. Bewegte denn verneinend den Kopf nach links und nach rechts, nickte dann wieder, und sagte: „Was?“

„Ja“, sagte Hannes. „Entschuldige, du hast recht. Das konntest du ja nicht wissen. Auf dem Küchentisch.“

Bea setzte sich in Bewegung. Und versuchte auf dem Weg zum Küchentisch, Schritt für Schritt eine Erklärung zu finden. Denn Hannes musste sich doch irren. Patrick Hillert war nur zwei Jahre älter als sie. War. Nicht war gewesen, denn mit 54 war man nicht tot, sondern lebendig. Erst recht als Jogger, Nichtraucher, Freizeitsegler und Vater zweier wunderbarer Kinder. Selbst wenn man sich vielleicht einen Hauch unbeliebt gemacht hatte beim Schicksal, als Pharmareferent. Aber Patrick Hillert war ja ein netter Referent gewesen. Also auch in der Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung.

Patrick konnte nicht tot sein.

Leider stand aber sein Name auf der Karte. Mit Geburtsdatum. Und Sterbedatum. Vor einer Woche. Und es standen die Namen seiner Frau und seiner Kinder und seiner Eltern drauf. Deren Herzen gebrochen waren, weil das Herz ihres geliebten Mannes, Sohnes, Vaters jäh und unerwartet versagt hatte.

Bea schüttelte noch eine Weile kaum merklich den Kopf, dann drehte sie sich um zu Hannes, der immer noch im Geschenkpapier verzweifelte.

„Das ist schlimm.“

„Ganz schlimm. Es trifft immer die Falschen. Die Netten sterben, die Gemeinen werden hundert.“

„Ja, fies hält gesund. Aber das ist doch trotzdem … ach, Gott, schrecklich.“

Hannes kramte weiter.

„Hannes, was ist denn so … wichtig an Patricks Geschenk? Nichts für ungut, aber du kannst dich doch eh nicht mehr bedanken?“

„Schlimm genug. Und doppelt schlimm, nein, tragisch! Entsetzlich! Nie! Nie gehe ich mit niemand im Streit auseinander!“

Bea ließ ihm das doppelte nie durchgehen. Es stimmte ja. Selbst wenn sie sich mal stritten, was allenfalls zweimal pro Jahrzehnt vorkam – er war derjenige, der die Versöhnung herbeiführte, umgehend. Hannes war noch nie im Streit eingeschlafen.

Bea stutzte. „Wieso im Streit?“

Hannes kramte. Verwarf Geschenke.

„Hannes?“

„Na ja, Streit ist sicher zu viel gesagt. Unsere Meinungen sind als Freunde auseinandergegangen.“ Er gestikulierte vage in Richtung der Karte von Hillert, die irgendwo in den Papierbergen steckte. „Deshalb ja auch die Versöhnung, ‚die Wahrheit liegt in der Mitte‘, Patrick war doch genauso harmoniesüchtig wie ich. Oder fast.“

„Worüber habt ihr euch denn … gestritten?“

„Über dich.“

„Bitte?“

Hannes kramte ein Buddelschiff aus dem Papier und betrachtete forschend die Aufbauten des in die Flasche bugsierten Schiffes.

„Lass das mal“, sagte Bea. „Bitte.“

Hannes sah sie an.

„Über mich?“

„Nein. Ja. Über deine Kapseln. Du kennst doch Patrick.“

„Äh. Ja. Nein, und?“

„Gut, er hat in den letzten Jahren, auch wegen uns, also weil wir ja oft geredet haben … Geht uns ja auch so, man profitiert ein Leben lang von diesem Krankensystem und wird wohlhabend, aber irgendwann will man doch auch mal was zurückgeben.“

„Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.“

„Bei aller Nettigkeit … Patrick war nun mal Verkäufer. Und hat jeden Tag gesehen, bei uns, bei den Ärzten, auf seinem Konto, welche Margen sich da einfahren lassen mit den dämlichsten Medikamenten. Und mit den richtigen Medikamenten sowieso. Ohne die fiesen und besonders die chronischen Diagnosen, Krebs, Diabetes und Konsorten würden wir ja garantiert nicht in Blankenese wohnen.“

Bea wartete.

„Patrick hat uns für bescheuert erklärt, weil wir deine Fumarsäurekapseln nicht gescheit vermarkten.“

„Tun wir doch.“

„Nein, gescheit im Sinne von ‚mit einem großen Partner‘. Also, logisch, seiner Firma, BBOS. Er hatte irgendeine Idee, mit einem Schweizer Partner, wie man das Geld für die Zulassung zusammenbekommt, Risikokapital, und meinte, dass wir damit bestimmt richtig verdienen können.“

„Kann ja sein, aber das wollen wir doch gar nicht.“

„Das hab ich ihm ja auch gesagt.“

„Und?“

„Und das fand er doof. Vorsichtig formuliert. Er hat es nicht so vorsichtig formuliert. Sondern uns attestiert, wir müssten was am Kopf haben. Denn wir könnten ja wohl vernünftig sein, die Gewinne machen und mitnehmen und dann seinetwegen alles nach Afrika spenden. Aber so eine halbe Million einfach liegenzulassen, nein, damit war er nicht einverstanden.“

„Mh. Hast du mir gar nicht erzählt.“

„Nein. Weil ich das ärgerlich fand. Und unangemessen von ihm. Er hat es ja als Kompliment verpackt – und ohne Frage war er genauso begeistert von deinem Präparat wie ich. Aber dabei hätte er es ja auch belassen können. Da muss man doch nicht gleich von Millionen phantasieren und Risikokapital und hastenichtgesehen. Und schon gar nicht muss man uns dann doof nennen, nur weil wir nett sind.“

Bea überlegte eine ganze Weile. So lange, dass Hannes seufzte und halbherzig wieder anfing, im Papier zu kramen. Dann sprach sie ihre Frage aber doch noch aus, obwohl sie ahnte, dass sie damit Öl ins Feuer goss.

„Wann war denn das? Euer Streit?“

„Ph. Zwei Wochen her. Vielleicht drei. Er war ja danach auf Reisen.“

„Aber er hatte nicht mit seinen Leuten darüber gesprochen?“

„Nein. Weiß ich nicht. Wieso?“

„Wir haben keine Fumarsäure mehr. Und Harder sagt, wir bekommen auch erstmal keine. Lieferschwierigkeiten. Keine Termine genannt.“

Hannes saß da wie vom Donner gerührt. Bea sah, wie es in seinem Gehirn ratterte, und schritt direkt ein.

„Nein“, sagte sie. „Das wollte ich damit nicht sagen. Sondern nur: Wir sollten vielleicht mal bei BBOS fragen, ob Patrick damit was zu tun hatte. Denn auch wenn er, wie du ganz zurecht sagst, ein netter Kerl war, er war ja nun mal auch ein Verkäufer.“

„Ausgehend von meiner Prämisse ergibt sich aber was anderes.“

„Ja, das hab ich befürchtet, aber das…“

„Ausgehend von der Prämisse Patrick Hillert war ein guter Mensch, ist hier ein guter Mensch, topfit, jäh und unerwartet verstorben, nachdem er seinem Big-Pharma-Mafia-Auftraggeber nicht die gewünschte Million beschaffen konnte. Das nennt man Strafe. Und um den Deal jetzt sowohl ohne Patrick als auch ohne uns zu machen, schneidet die Mafia uns die Versorgung ab.“

„Das ist weit hergeholt.“

„Das ist eine Arbeitshypothese. Penicillin war auch weit hergeholt.“

„BBOS ist nicht die Mafia.“

„BBOS ist die Pharmaindustrie, das ist schlimmer.“

„Unbestreitbar. Wenn es um etwas geht. Aber hier geht es um nichts