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Sie kämpft für ihre Rechte, das Leben und die Freiheit.
Berlin, 1914. Dr. Amelie von Liebwitz hat es geschafft: Als erste Frau arbeitet sie als Chirurgin am Berliner Curias-Krankenhaus. Aber dann passiert ihr ein tödlicher Fehler. Sie zweifelt an ihrer Berufung zur Ärztin, doch ausgerechnet der Erste Weltkrieg scheint ihr einen Ausweg aus der Misere zu bieten. Amelie wird vom Militär für die medizinische Versorgung muslimischer Frauen in Bosnien engagiert. Plötzlich findet sie sich inmitten des Kriegsgeschehens wieder, in dem sie eines Tages auf ihre einstige große Liebe trifft: Ernst Szabo. Jahrzehnte später holt sie ein Geheimnis aus jener Zeit ein, das ihr gesamtes Leben auf den Kopf zu stellen droht ...
Allen Widerständen zum Trotz verfolgt die junge Ärztin Amelie von Liebwitz ihren Traum – authentisch und emotional erzählt.
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Seitenzahl: 578
Veröffentlichungsjahr: 2021
Berlin, 1914: Von nichts und niemandem lässt sie sich aufhalten – das hatte sich Dr. Amelie von Liebwitz einst geschworen. Doch als ihr im OP ein schwerer Fehler unterläuft, verliert sie den Boden unter den Füßen. Auf der Suche nach einem Neuanfang stößt sie auf eine Zeitungsanzeige, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges um Ärztinnen wirbt, die in Bosnien für die medizinische Versorgung von Musliminnen in den Feldbordellen gebraucht werden. Amelie meldet sich kurzentschlossen zum militärischen Dienst. Als immer mehr Schwerverletzte in das Lazarett in der Romanija transportiert werden, muss auch Amelie mit anpacken. Und eines Tages entdeckt sie unter den vielen verletzten Soldaten ein bekanntes Gesicht …
Sabine Fisch, geboren 1970, ist Medizinjournalistin. In ihrer Freizeit schreibt sie Romane und liest alles, was ihr unter die Augen kommt. Egal, ob historischer Roman, Thriller oder Horrorstorys – die Welt der Bücher ist ihre Leidenschaft. Sabine Fisch ist verheiratet und lebt und arbeitet in Wien.
Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Die Ärztin – Eine unerhörte Frau« erschienen.
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Sabine Fisch
Die Ärztin - Der Weg einer unerschrockenen Frau
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Prolog — Wien, September 1950
Kapitel 1 — Berlin 1914
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11 — Romanija, Bosnien 1914
Intermezzo — Wien, 1950
Kapitel 12 — Romanija, 1914
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15 — Romanija, zwei Monate später
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Intermezzo — Wien, Mai 1950
Kapitel 21 — In den Karpaten
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24 — An den Ufern des Dnjestr/Russland
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28 — Berlin, 1918
Intermezzo — Wien 1950
Kapitel 29 — Berlin, August 1918
Kapitel 30
Kapitel 31 — An den Ufern des Dnjestr, März 1918
Kapitel 32 — Berlin, Anfang September 1918
Kapitel 33
Kapitel 34 — Berlin, Ende Oktober 1918
Kapitel 35
Kapitel 36
Intermezzo — Wien, 1950
Glossar
Nachwort
Danksagung
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne...
Für meinen Seelengefährten
(und den besten Koch der Welt)
Walter, immer.
Für Renate Musil-van Oyen,
(m)eine Jahrhundertfrau.
Für Julia, eine sehr liebe und tapfere Freundin,
die sich von den Steinen, die ihr das Leben in den Weg schmeißt, nicht unterkriegen lässt. Respekt!
Wien, September 1950
Draußen versank an diesem wunderschönen Spätsommertag in Wien bereits die Sonne, als Dr. Amelie von Liebwitz sich zum berühmten Wiener Griechenbeisl aufmachte. Sie war vom Hotel Sacher zu Fuß gegangen, weil der Abend warm war. Aber die vielen Bombenschäden und der immer noch halb zerstörte Stephansdom hatten ihre Laune auf dem Weg ins älteste Gasthaus Wiens ein wenig getrübt. Die schöne Stadt, die Amelie von früheren Besuchen kannte, zeigte noch deutlich die Spuren der Zerstörung, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte. Versonnen schritt sie über den Fleischmarkt zu jenem mittelalterlichen Turm der Stadtbefestigung, der wie durch ein Wunder – trotz des Krieges – unversehrt geblieben war, auf das Griechenbeisl zu. Ernst hatte ihr erzählt, dass dieses Lokal schon im Mittelalter urkundlich erwähnt worden war und deshalb »Griechenbeisl« hieß, weil einst das ganze Viertel um den Fleischmarkt so benannt worden war. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal griechisch essen war«, hatte Amelie gesagt. Aber trotz seines Namens, so hatte Ernst ihr erklärt, wäre im Lokal seit seiner Eröffnung immer nur »Wiener Küche« serviert worden.
Die Gasträume des Lokals waren in einem Turm der mittelalterlichen Stadtbefestigung unter der Adresse Fleischmarkt 11 untergebracht.
»Ich hab im ›Mark-Twain-Raum‹ für uns reserviert«, hatte Ernst Szabo gesagt. »Da können wir uns in Ruhe unterhalten und ein Wiener Schnitzel genießen.«
Ernst Szabo, einst Amelies große Liebe, war inzwischen ein weltberühmter Komponist und Dirigent. Ganz zufällig hatte das Schicksal die beiden nun, fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in Wien wieder zusammengeführt. Während Ernst in den vergangenen drei Tagen mehrere Konzerte im wiederaufgebauten Konzerthaus dirigiert hatte, war Amelie nach Wien gekommen, weil sie als erste Frau auf den Lehrstuhl für Gynäkologische Chirurgie an der medizinischen Fakultät der Universität Wien berufen werden sollte.
In diesem Jahr war sie bereits das zweite Mal in der schönen Stadt an der Donau. Schon im Frühling hatte man sie anwerben wollen, letztlich hatte man sich aber für einen männlichen Bewerber entschieden. Da sich das allerdings als ganz schlechte Entscheidung herausgestellt hatte, hatte das Ministerium sie erneut gebeten, den Lehrstuhl einzunehmen. Amelie war nicht so schnell umzustimmen gewesen. Sie hatte sich Bedenkzeit erbeten, zumal ihr auch in Berlin eine Stelle offeriert worden war, und zwar an jenem Krankenhaus, an dem sie ihre Ausbildung zur Chirurgin absolviert hatte.
Als sie im Frühling in der Walzerstadt gewesen war, hatte sie Ernst Szabo wiedergesehen, der vor Jahrzehnten ihre erste große Liebe in Berlin gewesen war und den sie in den Wirren des ersten Weltkriegs im Lazarett wieder getroffen – und kurz darauf erneut verloren hatte.
Zu allem Überfluss hatte Ernst ihr auch noch während dieses letzten Wienaufenthalts einen Heiratsantrag gemacht. Amelie war sich nicht sicher gewesen, ob sie ihn annehmen sollte, ja, ob sie das überhaupt konnte. Denn zu Hause in den USA, genauer gesagt in Boston, gab es noch Katherine, ihre Lebensgefährtin. In ihrer Beziehung hatte es vor Amelies Abreise nach Berlin heftig gekriselt, dennoch konnte sie ihre langjährige Partnerin nicht einfach Knall auf Fall verlassen.
All dies hatte Amelie in tiefste Verwirrung gestürzt. »Ich bitte dich um Bedenkzeit«, hatte sie Ernst geantwortet. Er hatte sie verstanden. »Im August bin ich in Berlin«, hatte er gesagt. »Dann treffen wir uns wieder – und du sagst mir, wie du dich entschieden hast.«
Doch aus dem Treffen in Berlin war dann nichts geworden. Ernst hatte einer kurzen Konzertreise zugesagt, und Amelie war von einem Besuch Katherines in ihrem Elternhaus in Berlin überrascht worden. Es war keine schöne Zeit gewesen. Amelie hatte Katherine alles über ihre Liebe zu Ernst erzählt, hatte erklärt, sich verteidigt und war letztlich zu der Erkenntnis gekommen, dass sie Ernst immer noch liebte. Katherine hatte das – verständlicherweise – nicht sehr gut aufgenommen und war Hals über Kopf wieder nach Boston abgereist.
Die Entscheidung schien gefallen zu sein. Zumindest was Amelies Liebesleben betraf. Beruflich gesehen jedoch hatte sie noch immer die Qual der Wahl. Die Stelle in Berlin am Curias-Krankenhaus, Amelies »Heimatspital«, war auch sehr verlockend gewesen. Der neue Krankenhausdirektor wollte sie als Leiterin einer Station für gynäkologische Chirurgie einstellen, eine Abteilung, die sie eigenverantwortlich aufbauen und führen sollte.
Amelie hatte Tag und Nacht gegrübelt und überlegt. An einem Augustabend saß sie in ihrem Elternhaus im ehemaligen Salon ihrer Mutter und hatte es sich mit einer Tasse Kaffee und ihren Zigaretten auf der rotsamtenen Chaiselongue gemütlich gemacht. »Und wenn du beide Stellen annimmst?«, hatte ihr ihre innere Stimme zugeflüstert, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete. »Mit dem Flugzeug ist die Entfernung zwischen Wien und Berlin kaum der Rede wert – und wäre es da nicht möglich …« Ruckartig hatte Amelie sich aufgesetzt. »Das könnte wirklich die Lösung sein«, hatte sie gemurmelt. »Die in Wien wollen mich unbedingt, vor allem nach dem Fiasko mit der ersten Bestellung.«
Sie war aufgestanden und ruhelos im Salon auf- und abgewandert. Schließlich war sie in die Diele gelaufen, hatte den Hörer vom Telefon genommen und eine Verbindung nach Venedig verlangt, wo Ernst zu dieser Zeit gastierte. Verschlafen klang seine Stimme an ihr Ohr. »Ja, bitte?« Erschrocken blickte Amelie auf die Uhr, es war zwei Uhr morgens. »Entschuldige bitte, mein Liebster«, sagte sie leise. »Aber ich glaube, ich habe eine Lösung für meine Probleme gefunden.« Ernst hatte laut in den Hörer gegähnt. »Und welche wäre das? Und du weißt schon, wie spät es ist, oder?« Aber in seiner Stimme hatte ein Lächeln gelegen.
»Ja, tut mir leid, es ist spät, aber ich weiß nun, wie ich all meine potenziellen Verpflichtungen unter einen Hut bringen und mit dir zusammen sein könnte.«
Ernst lachte auf. »Aber das ist ja wunderbar.« Amelie hörte, wie er sich eine Zigarette anzündete, und ärgerte sich kurz, weil sie ihre eigenen Glimmstängel im Salon hatte liegen lassen. »Du, Amelie, ich gastiere Mitte September in Wien. Wollen wir uns dort treffen und alles besprechen?«
Amelie passte das gut. Sie würde ihren Termin mit dem Wiener Ministerium für diese Zeit verabreden und vorher noch ihre Bedingungen für die Annahme der Stelle in Berlin besprechen können. »Dann sehen wir uns in Wien!«
»Ich rufe dich später noch einmal an.« Sie hatte Ernst die Freude in seiner Stimme angehört. »Und heißt das jetzt, du willst mich heiraten?«
»Warte es ab«, hatte sie gelächelt, »das werden wir alles bereden, wenn wir uns in Wien treffen.«
Und nun war sie hier, in Wien. Es war Mitte September, es war ein lauer Spätsommertag und Amelie war auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Ernst – im Griechenbeisl –, um über ihre Zukunft zu sprechen. Ob es eine gemeinsame Zukunft sein könnte, würde sich noch herausstellen, hatte sie doch noch so einige Geheimnisse, die sie Ernst anvertrauen musste, bevor all dem nichts mehr im Wege stand.
Es war dämmrig im Eingang des Lokals, Amelie musste aufpassen, um nicht über die »Grube« zu stolpern, die dem lieben Augustin gewidmet war und sich unmittelbar beim Eingang befand.
»Werfen’s an Schilling in die Gruabn, gnä’ Frau«, erklang eine Stimme aus dem Schankraum, »des bringt eana Glück!« Amelie lächelte, kramte in ihrer Börse und entnahm ihr einen österreichischen Schilling, um diesen in der Grube des lieben Augustin zu versenken.
»Guten Abend, gnä’ Frau«, ertönte wieder die Stimme, die Amelie jetzt, da sie in den beleuchteten Schankraum getreten war, als die des Oberkellners identifizieren konnte. »Hama reserviert?«
»Guten Abend«, antwortete Amelie freundlich. »Ja, es müsste ein Tisch auf den Namen Szabo bestellt worden sein.« Das Kellnerlächeln wurde breiter. »Ah«, vernahm Amelie, »der Herr Dirigent Szabo, selbstverständlich, kommen’s mit, der ist schon da.«
Mit einer servilen Verbeugung winkte der befrackte Kellner tiefer in das uralte Lokal, um dann flink an ihr vorbeizuschlüpfen und ihr ins Mark-Twain-Zimmer vorauszugehen.
Der »Mark-Twain-Raum« im Griechenbeisl war etwas ganz Besonderes. An der Gewölbedecke des niedrigen Zimmers hatten sich viele Künstler mit ihrem Autogramm verewigt. Wer genau hinsah, erblickte etwa die Unterschriften von Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Rainer Maria Rilke, Otto von Bismarck oder Egon Schiele und dem namensgebenden Mark Twain.
In dem kleinen Raum fanden auf dem abgeschabten, dunklen Holzboden nur einige wenige Tische Platz, die mit sauberen weißen Leinentüchern gedeckt waren. An jedem Tisch standen zwei schöne alte Thonet-Stühle, mit dem typischen Geflecht in Lehnen und Sitzflächen. Man ließ sich nicht lumpen, es war edles Silberbesteck aufgelegt und das Porzellan trug das Wappen der lange versunkenen Habsburgermonarchie. Edle Kristallweingläser warteten auf den besten Tropfen, den das Haus zu bieten hatte.
Ernst sprang auf, als er Amelie den Raum betreten sah. »Meine Liebe«, begrüßte er sie. »Wie schön, dass du gekommen bist.«
»Derf i eana a Glasl Champagner bringan?« Der Kellner verneigte sich vor Ernst.
»Aber natürlich, Franz. Den besten des Hauses, wenn ich bitten darf.«
»Wird gemacht.« Der Kellner enteilte.
»Guten Abend, Ernst.« Amelie war an den schön gedeckten Tisch getreten. »Was ist das hier für ein zauberhafter Ort?« Ernst rückte Amelie den Stuhl zurecht, küsste ihr die Hand und setzte sich dann selbst. Der Raum mit seiner Gewölbedecke war nur schummrig mit vielen Kerzen erleuchtet. Von der Decke hing eine Öllampe, die einen Lichtkreis auf die vielen Autogramme warf. Amelie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und blickte hinauf. »Faszinierend«, murmelte sie und versuchte, die vielen verschiedenen Unterschriften von Künstlern aus aller Welt zu entziffern.
Der Kellner Franz riss sie aus ihren Bemühungen. Er hatte ein schneeweißes Leinentuch über dem Arm und schob ein kleines Tischchen, auf dem sich ein Eiskübel, der bestellte Champagner und zwei Sektschalen befanden. Mit einem lauten »Plopp!« löste er den Korken aus der Flasche, der hinauf zur Decke sprang und die Öllampe zum Schaukeln brachte. »Waun i des wü, schaff i des nie!«, gab der Kellner ungerührt von sich und schenkte die Gläser voll. »Wünschen die Herrschaften schon zu speisen?«
»Aber mit dem größten Vergnügen«, freute sich Amelie. »Bringen Sie uns doch bitte die Speisekarte.«
»Wollen wir auf unser Wiedersehen in der Walzerstadt anstoßen?«, fragte Ernst, seine Sektschale erhoben. Amelie hob nun ebenfalls ihr Glas und leise klangen die Schalen aneinander. Noch bevor sie mehr als einen kleinen Schluck trinken konnten, stand bereits wieder Franz am Tisch. »Hier bitte, die Herrschaften, die Speisekarten.« Er reichte ihnen zwei große, in dunkelgrünes Leder gebundene Karten. »Wir empfehlen natürlich das Schnitzerl«, sagte der Kellner. »Aber auch der Tafelspitz is heit wieder ganz vorzüglich.«
»Was ist denn ein Tafelspitz?«, fragte Amelie. Der Kellner blickte sie indigniert an. »Gnä’ Frau«, sagte er dann. »A Tafelspitz, des is des, was unser Kaiser Franz Josef jeden Tog z’mittag gessen hat.«
»Das ist ja schön«, meinte Amelie. »Aber ich weiß noch immer nicht, was das ist.«
Ernst beugte sich zu ihr, bevor Franz erneut das Wort ergreifen konnte. »Das ist ein Stück vom Rind, gekocht und mit Apfelkren serviert, schmeckt sehr gut!«
»Gut«, sagte Amelie. »Ich bin neugierig und bestelle also das kaiserliche Mittagessen.« Sie lächelte Franz freundlich an. »In Ordnung, gnä’ Frau, amoi Tafelspitz, und Sie der Herr?«
»Ich möchte ein Wiener Schnitzel«, antwortete Ernst. »Darauf habe ich mich heute den ganzen Tag gefreut.«
»Sehr wohl, amoi Schnitzl, amoi Tofelspitz«, sprach Franz und entschwand Richtung Küche.
»Ein lustiger Kerl«, Amelie blickte dem Kellner nach. »Und sein komischer Dialekt«, sie grinste. »Ja, das gefällt mir hier in Wien«, antwortete Ernst und nahm noch einen Schluck Champagner. »Die Sprache klingt ein bisschen wie Musik.« Er zückte seine silberne Tabatiére und bot Amelie eine Zigarette an, die sie dankend annahm. Mit dem dazu passenden Feuerzeug zündete er zuerst ihr und dann sich die Glimmstängel an.
»Sag«, fragte Amelie nach einem Schluck. »Was hat es eigentlich mit dieser Grube vor der Tür und dem Augustin für eine Bewandtnis? Ich wurde aufgefordert, einen Schilling in die Grube zu werfen, weil das Glück bringen soll?« Fragend hob sie die Stimme.
»Ach ja, der liebe Augustin.« Ernst griff nach seinem Champagner. »Das war ein Bänkelsänger im Mittelalter. Damals herrschte in Wien die Pest. Viele, viele Menschen starben und wurden in Massengräbern beerdigt. Und der Augustin, der dem Wein ausgesprochen zugeneigt war, machte sich eines Nachts auf den Heimweg und torkelte so vor sich hin, als er in eine solche Pestgrube fiel und einschlief.« Ernst legte eine dramatische Pause ein. »Ja, und als er am nächsten Tag aufwachte, stand er auf, als wäre nichts gewesen, und ging gesund und munter seiner Wege. Das ist die Legende vom lieben Augustin.«
Amelie lachte. »Eine gute Geschichte, und die Grube vor der Tür soll wohl die ›Pestgrube‹ darstellen?«
»Ganz genau.« Ernst warf einen Blick zur Tür, wo eben der schwer beladene Franz wieder den Raum betrat. »Ah, schau, da kommt unser Essen«, freute sich Ernst. Es begann himmlisch zu duften. Ganz klassisch wurde Amelies Tafelspitz in Rindssuppe, mit Erdäpfelschmarrn und Apfelkren serviert. Ernst erhielt ein Schnitzel, das von der Größe her auch für drei Personen gereicht hätte, und machte sich tapfer ans Werk. Auch Amelie nahm das schwere silberne Besteck in die Hände und schnitt sich einen Bissen vom Tafelspitz ab.
Eine Stunde später saßen sie, inzwischen bei Kaffee und Cognac angelangt, entspannt an ihrem Tisch und tauschten Erinnerungen aus. »Bitte entschuldige mich eine Minute«, bat Ernst schließlich und erhob sich. Amelie blickte ihm nach und bemerkte ein ganz leichtes Hinken, das ihr an ihm zuvor nicht aufgefallen war.
»Deine alte Beinverletzung plagt dich offenbar immer noch«, stellte sie fest, als er wieder Platz nahm.
»Je älter ich werde, desto mehr spüre ich die alte Narbe«, gab Ernst zurück. »Aber im Großen und Ganzen komme ich wunderbar damit zurecht – und das habe ich dir zu verdanken, mein Bein und mein Leben. Erinnerst du dich noch?«
»Meine Güte, das ist wirklich eine Ewigkeit her.« Amelie strich sich eine silberne Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. »Aber natürlich erinnere ich mich noch. Dieses Abenteuer werde ich wohl nie vergessen.« Versonnen blickte sie vor sich hin. »Das war eine schwere Zeit damals, aber ich hatte mich ja nicht davon abbringen lassen, im Großen Krieg als Ärztin zu arbeiten. Damals wollte ich einfach nur weg aus Berlin. Und das so schnell wie möglich.«
»Ich weiß ja kaum etwas über diese Zeit«, sagte Ernst. »Das Wenige, das du mir berichtet hast, als ich damals im Lazarett lag, hab ich schon längst vergessen.« Er lächelte. »Erzähl doch mal«, forderte er Amelie auf. Unbewusst tastete diese nach der Tabatiére, die auf dem Tisch lag, und entnahm ihr eine Zigarette. Ernst zückte sein Feuerzeug. Mit der Zigarette in der Hand lehnte Amelie sich zurück und begann zu erzählen. Früher oder später würde sie all ihre Geheimnisse ohnehin mit ihm teilen müssen, sollten sie tatsächlich eine gemeinsame Zukunft haben.
Berlin 1914
Amelie von Liebwitz war vierundzwanzig Jahre alt, hatte erst wenige Monate zuvor ihre Ausbildung zur Chirurgin am Berliner Curias-Krankenhaus abgeschlossen und arbeitete nun als Assistentin unter ihrem Chef und guten Freund Dr. Friedrich Görtz an der chirurgischen Abteilung des Curias, als ihr während einer Operation ein fataler Fehler unterlaufen war.
Sie war an diesem Tag unaufmerksam gewesen, weil ihr Vater, der nach dem Tod seiner geliebten Frau Luise zum Trinker geworden war, sie einmal mehr die ganze Nacht wachgehalten hatte. Er war mit der Schnapsflasche in der Hand gestolpert und hatte sich dabei beide Hände zerschnitten. Natürlich war sie sofort aus ihrer Wohnung ins Vaterhaus geeilt, hatte die Schnittwunden versorgt und die Hände verbunden. Hatte Blut und Scherben beseitigt und danach die ganze Nacht seinen selbstquälerischen Vorwürfen gelauscht, die er mit lallender Stimme vorgebracht hatte. Erst in den frühen Morgenstunden war er eingeschlafen, und sie hatte sich noch zwei Stunden auf der Chaiselongue im ehemaligen Salon ihrer Mutter ausruhen können.
Völlig übermüdet war sie um sieben Uhr im Curias angekommen, wo gleich die erste Operation des Tages anstand. Eigentlich ein Routineeingriff für Amelie. Der vierundzwanzigjährigen Patientin Lise Grund sollte der entzündete Wurmfortsatz am Blinddarm entfernt werden. Diese Operation hatte Amelie schon etliche Male durchgeführt. Diesmal aber ging alles schief. Und danach war nichts mehr so gewesen wie vorher. Wenn sie einen Operationssaal nur von Weitem sah, begannen ihre Hände zu zittern.
Noch beim Händewaschen hatte Friedrich Görtz sie angeblickt und gesagt: »Du siehst müde aus, ist alles in Ordnung?«
Amelie, die sich gerade die Finger schrubbte, hatte nur kurz aufgeblickt und gemurmelt: »Aber ja, alles in Ordnung, ich war nur die ganze Nacht bei meinem Vater, er hatte wieder viel zu viel getrunken und sich verletzt.«
»Amelie, das muss aufhören«, schalt Friedrich. »Du kannst nicht rund um die Uhr für deinen Vater sorgen. Stell doch bitte jemanden an, der sich um ihn kümmert. Geld hast du schließlich genug.«
Amelie hatte nur geistesabwesend den Kopf geschüttelt, sich die Hände mit einem sterilen Tuch abgetrocknet und war noch vor Görtz in den Operationssaal getreten. Tatsächlich war Amelie recht wohlhabend, was ungewöhnlich für eine Assistenzärztin war. Ihre Tante, Elisabeth von Radestock, hatte ihr zu ihrer Volljährigkeit einen Treuhandfonds zugänglich gemacht, der Amelie ein sorgenfreies Leben ermöglichte.
»Vater fremden Händen überlassen?«, fragte sie nun, als Friedrich ebenfalls den OP betrat. »Wie stellst du dir das vor? Er vertraut nur mir. Außerdem glaub ich nicht, dass irgendjemand es mit ihm aushalten würde.«
Isabella Haller, die jahrzehntelang als Haushälterin bei den von Liebwitz tätig gewesen war, hatte inzwischen frustriert das Haus verlassen, ebenso wie Else, das Hausmädchen, das nun bei Amelie ihren Dienst tat. Die unbeherrschten Wutausbrüche ihres ehemaligen Dienstherrn und sein unmäßiges Trinken hatten sie vertrieben. Schließlich hatte auch der Kutscher Robert das Handtuch geworfen. Michael von Liebwitz war letztlich also allein in dem hübschen gotischen Haus am Alexanderplatz zurückgeblieben.
»Aber Amelie, du siehst doch selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Du bist viel zu dünn, deine Augenringe sind beängstigend, und irgendwann wirst du, übermüdet und überfordert, wie du bist, einen Fehler machen.« Görtz ließ nicht locker.
»Schau«, sagte Amelie, die inzwischen Operationskittel, Mundschutz, Haube und Handschuhe angelegt hatte, »im Augenblick kann ich nichts anderes tun, als die vor uns liegende Operation durchzuführen. Lass uns später darüber reden!« Friedrich entging jedoch nicht, ganz gleich, wie entschlossen Amelie klang, wie erschöpft sie sein musste, und hatte sich vorgenommen, ihr bei der Blinddarmoperation genau auf die Finger zu schauen. Daraus wurde aber leider nichts. Gerade als Amelie den ersten Schnitt im rechten Unterbauch der Patientin setzen wollte, wurde die Tür zum Operationssaal aufgestoßen und der Kopf einer Krankenschwester war erschienen: »Dr. Görtz, Dr. Görtz, Sie müssen bitte sofort kommen. Soeben wurde ein Mann mit einem zerschmetterten Bein eingeliefert, er ist von einem Gerüst gefallen. Ich glaube, Sie müssen amputieren!«
Görtz hatte alarmiert aufgeblickt. »Amelie, kommst du hier zurecht?«
»Aber ja«, hatte sie geantwortet. »Es ist ja nicht die erste Appendektomie, die ich durchführe.«
Görtz eilte aus dem OP und Amelie betrachtete kurz das Gesicht der Patientin, die vor ihr lag. Lise Grund fürchtete sich vor dem Eingriff, und Amelie hatte sich, bevor Lise in Narkose gelegt wurde, über sie gebeugt und beruhigend gesagt: »Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Grund. Sie werden tief und fest schlafen und nichts spüren. Und wenn Sie aufwachen, sind Sie den lästigen Quälgeist los.«
Amelie setzte den ersten Schnitt, bis sie durch die Bauchmuskeln zum Appendix vorgedrungen war und den entzündeten Wurmfortsatz sehen konnte. Als sie eben beginnen wollte, den Blinddarmfortsatz zu präparieren, wurde ihr – wie aus dem Nichts – auf einmal schwindlig. Alles begann sich zu drehen. Mit der linken Hand suchte sie Halt am Operationstisch, doch es half nichts. Ihre rechte Hand, die das Skalpell hielt, rutschte plötzlich ab und traf die Arteria appendicularis. Blut, viel Blut spritzte aus der Wunde. Die OP-Schwester, die Lise Grunds Narkose überwachte, stieß einen leisen Schrei aus. »Der Blutdruck der Patientin sinkt, Fräulein Dr. von Liebwitz!«
Amelie versuchte verzweifelt, im Bauchraum der Patientin die angeschnittene Arterie zu finden. Es gelang ihr schließlich, und sie probierte, das blutende Gefäß mit den Fingern zu verschließen. Aber ihre Finger zitterten so sehr, dass immer weiter Blut aus der Wunde quoll. Amelie war leichenblass vom Operationstisch zurückgetreten, als die Narkoseschwester leise sagte: »Frau Grund ist soeben verstorben.«
»Was ist genau passiert?«, hatte Friedrich Görtz sie nach der katastrophalen Operation gefragt. Amelie saß wie ein Häuflein Elend auf ihrem Schreibtischstuhl im Ärztezimmer. »Ich …«, begann sie. »Weißt du, mir war auf einmal so schwindlig, wie aus dem Nichts ist das gekommen. Und dann war es schon passiert. Das Messer war abgerutscht und plötzlich war da so viel Blut.«
»Und was ist dann passiert?« Görtz wollte es ganz genau wissen.
»Ich weiß es nicht, in mir hat sich alles gedreht, ich hab noch versucht, die Arterie zu verschließen, aber da war so wahnsinnig viel Blut, ich habe überhaupt nichts gesehen. Und dann hat die Narkoseschwester gerufen, dass das Herz von Frau Grund nicht mehr schlägt.« Sie schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und blickte Görtz an. »Ich habe versagt«, stellte sie mit rauer Stimme fest. »Das ist passiert.«
Görtz erwiderte nichts. Was sollte er auch sagen? Der Tod der Patientin war Amelies Schuld. Da gab es nichts zu beschönigen. »Weißt du was?«, fragte er nun und nahm Amelies Hand. »Du gehst jetzt für ein paar Tage nach Hause, ruhst dich aus, dann sprechen wir noch einmal darüber.«
»Hast du es den Eltern schon gesagt?«, murmelte sie.
»Ja, ich habe ihnen erzählt, es hätte unvorhergesehene Komplikationen gegeben, an denen Lise verstorben wäre. Sie haben sich damit zufriedengegeben.«
»Wirklich?« Amelie war erstaunt, hob den Kopf und blickte Friedrich an.
»Ja«, antwortete Görtz. »Sie haben mir geglaubt und akzeptiert, dass wir nichts mehr für Lise tun konnten.« Amelie senkte den Kopf. Schon wieder kamen ihr die Tränen.
»Geh nach Hause, Amelie«, sagte Friedrich Görtz. »Ruh dich aus, in den nächsten Tagen will ich dich nicht hier sehen. Du musst endlich zur Ruhe kommen. Vorher lasse ich dich nicht wieder in den Operationssaal.«
Amelie schaute Friedrich traurig an. »Na, denkst du denn, ich will in den OP?«, fragte sie. »Damit ich noch mehr Patienten umbringen kann?«
Friedrich hatte nichts erwidert, also war Amelie aufgestanden und nach Hause gegangen.
Einige Stunden später weinte Amelie sich in ihrer Wohnung in der Bauhofstraße 7 in Berlin Mitte die Augen aus. Wie hatte ihr das nur passieren können? Und – noch schlimmer – was, wenn es wieder passierte? Wahrscheinlich wird es wieder passieren, wenn du so weitermachst, dachte sie bitter. Und das durfte einfach nicht sein. Die Stimme in ihrem Kopf ließ sie auch nicht in Ruhe: »So wie du zurzeit lebst, ist es fast folgerichtig, wenn so etwas wieder passiert.«
»Ach, halt doch die Klappe!«, schrie Amelie und hielt sich nun mit beiden Händen ihren schmerzenden Kopf fest. »Ich weiß doch auch nicht, was ich tun soll.«
Die Stimme blieb unbeeindruckt: »Na, wie wäre es dann mal mit ein bisschen mehr Schlaf, regelmäßigen Mahlzeiten und weniger Sorgen.«
»Ha!«, machte Amelie. »Du hast gut reden. Soll ich etwa meine Arbeitsstunden reduzieren, die Probleme mit meinem Vater vergessen und einfach dem Nichtstun frönen?« Sie ließ sich in einen ausladenden Sessel in ihrem Wohnzimmer fallen. Die Stimme schwieg nun endlich. Amelie war klar, dass es so auf gar keinen Fall weitergehen konnte. Sie schlief kaum, aß nur zwischendurch ein paar Bissen, lebte im Wesentlichen von Kaffee und Zigaretten und teilte ihre Zeit zwischen Krankenhaus und der Sorge um ihren Vater auf. So hatte sie sich die Arbeit als Chirurgin nicht vorgestellt. Aber was sollte sie denn nur tun?
Immer noch stand ihr das stille, weiße Gesicht der Patientin Lise Grund vor Augen, die sie – daran ließ sich nichts schönreden – umgebracht hatte. Weil sie einen Fehler gemacht hatte, weil sie unkonzentriert und überfordert gewesen war. Sie wusste das alles. Und sie ging hart mit sich ins Gericht. Stundenlang rang sie mit sich. Sollte sie den Eltern von Lise Grund sagen, was wirklich passiert war? Wie konnte sie jemals wieder einen Operationssaal betreten? Dabei waren gerade Chirurgen derzeit so gefragt wie nie zuvor. Der Krieg, der vor ein paar Monaten ausgebrochen war, brachte in die Spitäler Berlins praktisch täglich verletzte Soldaten, denen mit dem Skalpell geholfen werden musste. Aber was, wenn mir so etwas wieder passiert?, fragte sich Amelie. Wie soll ich mich wieder in den OP wagen, wenn ich mir selbst nicht mehr trauen kann?
Die Stimme in ihrem Kopf meldete sich wieder, leise diesmal: »Du musst etwas ändern! So kann es nicht weitergehen.«
»Na, vielen Dank«, sagte Amelie laut, »aber das weiß ich selbst.« Gedankenverloren schweifte ihr Blick durch ihr Wohnzimmer und fiel auf die Berliner Morgenpost, die auf einem Rauchtischchen neben ihr lag. Die Titelseite berichtete in großen Schlagzeilen, dass die deutschen Soldaten und ihre Verbündeten einen Sieg nach dem anderen errängen und beteuerten, dass es ohnehin nur noch eine Frage der Zeit sei, ehe dieser Krieg zu Ende gehen würde. Amelie ließ die Zeitung sinken. Oh ja, sie hatte sie noch gut im Ohr, die Parole, mit der vor einigen Wochen die ersten Soldaten aus Berlin marschiert waren. »Bis Weihnachten sind wir wieder zu Hause!«, hatten sie gerufen und waren mit Blumen im Haar in die Schlacht gezogen. Mittlerweile waren einige Wochen ins Land gegangen – und es gab erste Gerüchte, nach denen der Krieg wohl nicht ganz so schnell vorüber sein würde. Im Gegenteil. Amelie griff erneut zur Zeitung. Sie überflog nur die Schlagzeilen, während sie durch die Seiten blätterte, bis ihr Blick an einem Aufruf hängen blieb.
Aufruf! Ärztinnen, kämpft mit uns an der Front in Bosnien! Ihr werdet gebraucht, um Frauen und Kinder zu versorgen! Meldet Euch noch heute beim Militärkommando in der Leipziger Straße 5/Militärärztliche Abteilung! Kommt und kämpft wie unsere tapferen Soldaten!
Verwundert las Amelie den Aufruf gleich ein zweites Mal. Es gab keine Frauen beim Militär, sah man einmal von den Krankenschwestern in den Lazaretten und Verbandsplätzen ab. Von Ärztinnen, die im Krieg Dienst leisteten, hatte sie bislang noch nie etwas gehört, war dies doch ein reiner Männerberuf. Was sollte nun anders geworden sein? Sie legte die Zeitung zur Seite und lehnte sich zurück. Könnte das die Lösung sein?, fragte sie sich. Es schien ihr nicht so, als würde das Militär Chirurginnen suchen. Vielmehr suchte man offenbar Frauen- und Kinderärztinnen.
Was soll’s?, dachte sie, sprang entschlossen auf und eilte zu ihrem Sekretär, der vor dem Fenster des hübschen Zimmers stand. Sie nahm einen Bogen Briefpapier, elfenbeinfarben, mit ihrem Titel, Namen und ihrer Adresse links oben leicht erhaben aufgedruckt, und warf rasch einige Zeilen aufs Papier. Vor allem wollte sie wissen, wo Ärztinnen in Bosnien eingesetzt werden sollten, welche Aufnahmebedingungen es gab und wann, vorausgesetzt, sie würde angenommen, sie abreisen können würde. Sie versiegelte den Brief, adressierte ihn und läutete nach Else. Wie immer mit einem Lächeln betrat das Dienstmädchen das Zimmer. »Was kann ich für Sie tun, gnädiges Fräulein?«, fragte die kleine, rundliche Berlinerin, deren Gesicht von Sommersprossen übersät war und die ihr rotes Haar unter ihrem Häubchen ordentlich aufgesteckt trug.
»Bitte bring diesen Brief zur Post«, bat Amelie und reichte Else das Schriftstück.
»An die preußische Militärverwaltung«, las Else vom Kuvert ab. »Wieso schreiben Sie denn dem Militär?«
Else und Amelie waren praktisch gemeinsam in Amelies Elternhaus aufgewachsen, die beiden Frauen betrachteten sich als Freundinnen, auch wenn die eine diente und die andere befahl.
»Ach, weißt du«, begann Amelie. »Das erzähle ich dir, wenn ich eine Antwort erhalten habe.«
Nur zwei Tage später hielt Amelie das Antwortschreiben der Militärverwaltung in den Händen. Sie war tatsächlich tagsüber in ihrer Wohnung. Wie von Friedrich Görtz empfohlen, hatte sie sich für einige Tage krankschreiben lassen und in den vergangenen beiden Tagen viel nachgedacht, aber sich auch ausgeschlafen, gut gegessen, kaum Kaffee getrunken und weniger Zigaretten geraucht. Auch ihren Vater hatte sie nicht besucht. Sie hatte sich von allen isoliert, um sich in Ruhe zu überlegen, wie ihr Leben weitergehen sollte. Nun hatte eben der Postbote an der Wohnungstür geklingelt und ihr den Brief überreicht. Amelie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch. Automatisch griff sie nach einer Zigarette, brannte sie an und schlitzte dann das Kuvert mit dem Brieföffner auf.
Sehr geehrtes Fräulein Dr. von Liebwitz,
wir haben Ihren Brief gestern erhalten und freuen uns sehr über Ihr Interesse. Der Aufruf in der Berliner Zeitung war eine »Amtshilfe« für die k. u. k. Militärverwaltung in Wien. Die österreichischen Militärs, die derzeit in Bosnien stationiert sind und sich dort wacker schlagen, könnten Ihre Hilfe gut gebrauchen. Es ist ein delikates Problem, was es nicht einfach macht, Ihnen, sehr verehrtes Fräulein Doktor, den Sachverhalt zu erläutern. Kurzum, die tapferen kaiserlichen Streiter in diesem Landstrich brauchen in ihrer kargen Freizeit eine gewisse Unterhaltung, die zu besagten Problemen bei den dabei anwesenden Frauen führt.
Amelie ging ein ganzer Kronleuchter auf. Aha, dachte sie. Ihr habt also dort Prostituierte, und die sind wohl häufig geschlechtskrank. Laut sagte sie: »Das hebt die Moral der Soldaten wohl nicht gerade, wenn sie an Tripper oder Syphilis leiden.«
Die Frauen in dieser Gegend hängen dem muslimischen Glauben an und wollen sich deshalb nicht von männlichen Ärzten untersuchen lassen. Um des Problems Herr zu werden, hat die k. u. k. Militärverwaltung sich entschieden, weibliche Ärzte in die Romanija in Bosnien zu entsenden, die die betroffenen Frauen behandeln. Wenn Sie, liebes, verehrtes Fräulein Dr. von Liebwitz, an dieser Tätigkeit Interesse haben, wenden Sie sich bitte an die k. u. k. Militärverwaltung in Wien. Ich habe Sie Herrn Generalstabsarzt Dr. Leopold von Traun bereits avisiert. Er erwartet Ihr Schreiben.
Mit ausgezeichneter Hochachtung verbleibt Ihr Diener Generalstabsarzt Jochen von Ingelheim
Mit der Grußformel endete der Brief. Nur unter der Unterschrift des Generalstabsarztes war noch die Anschrift der Wiener Militärverwaltung angegeben, damit sie ihre Antwort an diese richten konnte.
Amelie lehnte sich in ihren Schreibtischstuhl zurück. Da soll sie also in den Krieg ziehen und geschlechtskranke Frauen behandeln. Warum eigentlich nicht? Sie sprang auf und fing an, in ihrem sonnendurchfluteten Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Operieren müsste sie da ganz sicher nicht, und die Frauen bräuchten jede Hilfe, die sie bekommen könnten. Amelie setzte sich wieder hin und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war kalt geworden, doch das war ihr gleichgültig. Probeweise sagte sie laut: »Ich gehe nach Bosnien und kümmere mich dort um kranke Frauen.« In ihren Ohren klang das richtig. Schon während ihres Studiums und in ihrer Ausbildungszeit im Curias-Krankenhaus hatte sie sich neben der Chirurgie auch immer für die Frauenheilkunde interessiert. Außerdem konnte sie den Gedanken kaum ertragen, was diese armen Frauen in der Etappe in Bosnien wohl durchzustehen hatten, wenn sie den Soldaten zu Diensten sein mussten. Bestimmt waren die Frauen nicht alle freiwillig zu Prostituierten geworden.
Das brachte die Entscheidung. Amelie holte, wie schon vor zwei Tagen, einen Briefbogen aus der Schreibtischschublade, nahm einen Füllhalter in die Hand und schrieb an den Wiener Generalstabsarzt Leopold von Traun. Sie zitierte aus dem Antwortschreiben des deutschen Generalstabsarztes und hielt fest, dass sie sehr gerne als Frauenärztin in der Etappe in der Romanija tätig sein wollte. Sie fragte nach den wichtigsten Daten wie Abreise, Gehalt und Unterbringung, versiegelte dann auch diesen Brief und machte sich diesmal selbst auf den Weg, um den Brief zur Post zu bringen.
Es war ein wunderschöner Spätsommertag in Berlin. Die Sonne lachte von einem wolkenlosen Himmel, auf den Straßen herrschte reger Betrieb. Die Kriegsbegeisterung war nicht zu übersehen, fast alle Häuser waren beflaggt. Überall fuhren Truppentransporte und mit großem Hallo wurden allenthalben Soldaten verabschiedet. Täglich wurden neu ausgehobene Truppen in die Schlachten gesendet – auch das machte sich im Stadtbild durch die fehlenden Männer bemerkbar. Amelie spazierte gemütlich in Richtung Postamt. Als sie den Brief mit dem Vermerk »eilig« aufgegeben hatte, spazierte sie langsam zurück in Richtung ihrer Wohnung, kam an einem hübschen Café vorbei, das Tische und Stühle aufs Trottoir gestellt hatte, und suchte sich einen gemütlichen Platz unter dem Sonnenschirm. Sie bestellte Kaffee, lehnte sich zurück, rauchte eine Zigarette und dachte zur Abwechslung einmal an gar nichts.
Ein paar Tage später, Amelie war gerade aufgestanden und saß an ihrem Esstisch beim Morgenkaffee, läutete es an der Haustür. Amelie hörte, wie Else die Tür öffnete und ein paar Worte murmelte. Kurz darauf klopfte es an der Tür und das Dienstmädchen trat ein. »Fräulein Amelie, ein Telegramm aus Wien!«, rief sie erstaunt und überreichte Amelie das Schreiben. »Die haben es aber wirklich eilig«, staunte Amelie, die sofort sah, dass das Telegramm von der k. u. k. Militärverwaltung kam. »Danke, Else«, sagte sie und riss das Kuvert mit einem Fingernagel auf.
Sehr geehrtes Fräulein Dr. von Liebwitz, erwarten Sie am 25. August in der Romanija, Frauenspital Katarina Kosača-Kotromanić in der Etappe. Stopp! Zugticket liegt bei. Stopp! Alles Weitere am Zielort. Stopp! Freuen uns sehr über Ihre Anfrage. Stopp! Sie werden dringend gebraucht. Stopp! Mit militärischem Gruß! Stopp! Generalstabsarzt Dr. Leopold von Traun
Der 25. August war bereits in einer Woche! Gut, dachte sie. Dann wollen wir uns mal ans Werk machen. Sie läutete nach Else und beauftragte sie damit, ihre Koffer vom Dachboden ihres Wohnhauses zu holen. »Wollen Sie verreisen, gnädiges Fräulein?«, fragte das Hausmädchen.
»Na, ohne Grund werde ich die Koffer nicht brauchen, oder?« Amelie war sehr aufgeregt, und in solchen Situationen neigte sie zum Sarkasmus. Else, die das schon kannte, sagte nichts mehr und lief, um die Koffer zu holen.
Während Else und Amelie anfingen zu packen, schellte es an der Wohnungstür. »Es ist Dr. Görtz, gnädiges Fräulein«, meldete Else kurz darauf.
»Friedrich?« Amelie war erstaunt. »Nun, dann bitte ihn ins Wohnzimmer und frage ihn, ob er etwas trinken möchte. Ich komme sofort.« Sie legte einen Stapel Unterwäsche in den Koffer, blickte sich kurz im Spiegel über ihrem Toilettentischchen an, fand ihr Äußeres für einen Besuch Friedrichs ausreichend und ging mit schnellen Schritten ins Wohnzimmer. Friedrich stand am Fenster und blickte auf die Straße.
»Friedrich«, begann Amelie. »Was um Himmels willen machst du denn hier?«
»Nun, es ist wohl nicht so überraschend, wenn ich eine sehr gute Freundin besuche, um mich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, oder?« Friedrich trat auf Amelie zu, küsste ihr die Hand und blickte ihr ins Gesicht. »Du siehst besser aus als zuletzt«, stellte er fest.
»Es geht mir auch besser. Ich habe Neuigkeiten.« Da Friedrich nun einmal hier war, wollte sie ihm gleich berichten, was sie vorhatte.
»Ich auch«, meinte Friedrich. »Magst du beginnen?« In diesem Moment klopfte es an der Tür. Else trat ein, brachte Kaffee und Kuchen und deckte mit raschen, geschickten Bewegungen den kleinen Esstisch unter dem Fenster. Die beiden nahmen einander gegenüber Platz und schwiegen, bis Else den Kaffee eingeschenkt und den Kuchen verteilt hatte. »Danke, Else«, sagte Amelie dann, »du kannst jetzt gehen.« Als sich die Tür hinter dem Hausmädchen wieder geschlossen hatte, blickte Amelie Friedrich erneut an. »Nein, ich möchte zuerst deine Neuigkeiten hören«, entschied sie. »Meine können noch ein wenig warten.«
»Ich habe nachgedacht«, begann Friedrich. »Dieser Zwischenfall im Operationssaal gibt mir immer noch sehr zu denken. Ich glaube, du solltest vorerst nicht operieren, sondern einer Tätigkeit nachgehen, die ein wenig anspruchsloser ist und dir die Möglichkeit gibt, die Sache mit deinem Vater zu regeln.«
Amelie seufzte. »Und wie soll das vonstattengehen?« Sie nahm einen Schluck Kaffee und eine Zigarette aus der silbernen Dose, die auf dem Tisch stand. Friedrich beeilte sich, Amelies Zigarette zu entzünden, nahm ebenfalls einen Schluck Kaffee und setzte erneut an. »Ich habe mit Oberschwester Renate gesprochen. Sie wünscht sich schon lange eine kompetente Ärztin als Lehrerin für ihre Schwestern. Du weißt ja, die Florence-Nightingale-Schule am Curias-Krankenhaus hat einen exzellenten Ruf, den sie unbedingt verteidigen will.«
Amelie lachte. »Ich soll Krankenschwestern unterrichten?« Nachdenklich zog sie an ihrer Zigarette. Der bläuliche Rauch stieg zur Decke empor. »Eigentlich gar keine so schlechte Idee.«
Friedrich lehnte sich erleichtert zurück. Er glaubte, Amelie bereits für seinen Plan gewonnen zu haben. Dennoch war er unsicher, so leicht ließ sich seine Kollegin normalerweise nicht überzeugen. Da kam doch sicher noch etwas nach. Und es kam.
»Du weißt«, fing Amelie an, »ich schätze Schwester Renate sehr. Als Oberin der Krankenpflegeschule leistet sie hervorragende Arbeit.«
»Und sie schätzt Ärztinnen«, unterbrach sie Friedrich. »Das ist durchaus nicht bei allen Krankenschwestern der Fall, zumal bei denen, die sich eine leitende Funktion erkämpft haben.«
»Das ist richtig«, antwortete Amelie, »aber Krankenschwesternschülerinnen zu unterrichten? Soll das meine Zukunft sein?«
»Natürlich nicht«, gab Friedrich rasch zur Antwort. »Aber es wäre eine Möglichkeit für dich, dein Wissen zu vermitteln und gleichzeitig ein wenig Erholung zu finden. Der Unterricht wäre nur an drei Tagen in der Woche von acht bis zwölf Uhr, das Gehalt ist in Ordnung, und du hättest viel Zeit für dich und deine Angelegenheiten.«
Amelie lachte leise. »Du hast wirklich an alles gedacht«, meinte sie. »Aber leider kann ich das nicht tun.« Energisch dämpfte sie die Zigarette im Aschenbecher aus, trank ihre Kaffeetasse leer und öffnete den Mund, um Friedrich zu erklären, dass sie in der nächsten Zeit mitnichten Krankenschwestern unterrichten, sondern bosnische Prostituierte in der Romanija medizinisch versorgen werde.
»Aber wieso denn nicht?« Auch Friedrich hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet und blies den Rauch aus den Nasenlöchern, was ihm den Ausdruck eines freundlichen Drachen verlieh.
»Die Idee ist ganz und gar nicht schlecht«, meinte Amelie. »Aber ich habe bereits andere Pläne.«
»Und welche Pläne könnten das sein?« Friedrich wurde misstrauisch. »Du weißt schon, dass du im Curias-Krankenhaus als Ärztin angestellt bist und von dort nicht einfach wegkannst, oder?«
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Amelie, die aufgestanden war und auf dem Perserteppich, der in der Mitte des Wohnzimmers lag, auf und ab spazierte. »Es gibt allerdings eine Ausnahme von dieser Regel.«
»Und was soll das sein?« Friedrich schwante Übles. Er kannte Amelies Wesen, er wusste, dass sie zu schnellen Entschlüssen neigte und dabei manchmal nicht gleich überblickte, welche Konsequenzen diese nach sich ziehen konnten.
»Ich ziehe in den Krieg«, sagte Amelie munter. »Ich gehe nach Bosnien. Dort gibt es ein Frauenspital in der Romanija, das ist in der Etappe, weißt du, und dort soll ich prostituierte Frauen im Feldbordell versorgen.« Amelie blickte ihm offen ins Gesicht. »Mir tun die Frauen leid«, erklärte sie. »Ich will ihnen helfen, sie lassen sich nämlich von männlichen Ärzten nicht behandeln. Und außerdem muss ich dort nicht operieren. Ich kann mich ganz und gar auf die Behandlung dieser Frauen konzentrieren. Und du weißt ja«, Amelie blieb stehen und holte tief Luft. »Die Frauenheilkunde hat mich schon immer interessiert.«
Friedrich blieb der Mund offen stehen. »Du willst was tun?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sag einmal, bist du etwa verrückt geworden?« Friedrich drehte sich auf seinem Sessel um, um Amelie anschauen zu können. »Du willst in den Krieg ziehen? Weißt du eigentlich, was …« Eine Sprachlosigkeit ergriff ihn.
»Ich bin nicht verrückt«, stellte Amelie als Erstes klar. »Ganz und gar nicht, aber ich habe nachgedacht, und dann ist mir dieser Aufruf in der Zeitung aufgefallen.«
»Was für ein Aufruf denn?« Friedrich hatte sich nun ebenfalls erhoben.
»Das preußische Militär – so habe ich geglaubt – suchte dort Militärärztinnen zur Arbeit in der Romanija. In der Nähe dieses Gebiets ist die Front, und es gibt dort ein Frauenspital.«
»So viel habe ich auch schon kapiert.« Friedrich hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Aber warum um Himmels willen willst du dich freiwillig in Gefahr begeben?«
»Ich begebe mich ja nicht in große Gefahr«, versuchte Amelie ihren Freund zu beruhigen. »Ich werde in der Etappe tätig sein und mit den Soldaten eher wenig zu tun haben.«
»Na, das ist ja beruhigend.« Friedrich schnaufte. »Kann ich vielleicht einen Cognac haben? Deine Neuigkeiten sind schwer verdaulich.«
»Aber natürlich.« Amelie ging zur Hausbar, entnahm ihr eine Flasche besten französischen Cognacs, goss ihn in einen bauchigen Schwenker aus Kristallglas und reichte ihn Friedrich. »Danke«, sagte dieser, setzte den Schwenker an und leerte das Glas in einem Zug.
»Langsam«, mahnte Amelie. »Du willst doch nicht am Vormittag schon betrunken sein.«
»Natürlich nicht«, antwortete Friedrich. »Aber du musst zugeben, dass deine Neuigkeiten schwer zu begreifen sind.«
Amelie zuckte nur mit den Schultern. »Ich kann mir vorstellen, dass das schwierig für dich ist. Aber wollen wir uns nicht lieber wieder setzen und alles in Ruhe besprechen?« Sie wies mit einer Hand auf den Kaffeetisch und begab sich zu ihrem Stuhl.
Friedrich dagegen wollte nichts weniger, als sich wieder setzen. »Nein, Amelie, ich will das alles nicht in Ruhe besprechen. Das ist doch eine Schnapsidee!«
Jetzt wurde auch Amelie ärgerlich. »Das ist ganz und gar keine Schnapsidee. Ich habe lange nachgedacht, na ja, für meine Verhältnisse lange. Man wird mich dort mit offenen Armen empfangen, ich komme für eine Weile weg aus dieser schwierigen Situation hier in Berlin und kann bedürftigen Menschen helfen. Das sind doch wohl genügend Gründe, meinst du nicht?«
Friedrich meinte nicht.
»Du kannst doch hier nicht einfach von einem Tag auf den anderen alles im Stich lassen? Wie stellst du dir das überhaupt vor? Was, wenn ich dich nicht gehen lasse, weil wir dich im Krankenhaus brauchen?«
»Leider, mein lieber Freund, kannst du da gar nichts tun.« Amelie verlor so langsam die Geduld. »Kriegsangelegenheiten haben Vorrang vor allem anderen. Ich kann also – wie du es nennst – alles im Stich lassen und nach Bosnien gehen.«
»Und deine Patienten?«, fragte Friedrich zunehmend verzweifelt. »Und dein Vater? Ich verstehe dich wirklich nicht, Amelie. Du könntest dort sterben, ist dir das überhaupt bewusst?« Friedrich hatte die Hände auf die Sessellehne vor sich gestützt und blickte Amelie ernst an.
»Sterben kann ich überall«, meinte diese flapsig. »Und wegen Vater werde ich heute Abend mit Elisabeth sprechen. Vielleicht weiß sie einen Rat. Das Beste wäre wohl, er würde eine Heilanstalt aufsuchen, um endlich seine Trinkerei in den Griff zu bekommen.« Amelies Stimme war mit jedem Wort kälter geworden.
»Du sagst das, als wäre dir das Wohlergehen deines Vaters vollkommen gleichgültig.« Friedrich konnte es nicht fassen.
Jetzt wurde Amelie wütend. »Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte sie laut. »Du weißt doch genau, wie ich mich in den vergangenen Monaten zwischen dem Krankenhaus und meinem Vater aufgerieben habe. Du bist ungerecht, Friedrich!«
»Ich bin ungerecht?« Auch Friedrich hatte nun seine Stimme erhoben. »Ich bin nicht ungerecht, ich möchte dir lediglich deine Schnapsidee ausreden, mit der du sehenden Auges ins Unglück rennst.«
»Weder ist das eine Schnapsidee, noch renne ich sehenden Auges in irgendein Unglück.« Amelie drückte bestimmt ihre Zigarette aus. »Es reicht mir, Friedrich. Ich möchte, dass du jetzt gehst. Ich hatte wirklich gedacht, du bist mein Freund, aber ich sehe jetzt, wie sehr ich mich in dir getäuscht habe.«
»Ein Freund bin ich also nur, wenn ich alle deine Ideen großartig finde und bejahe? Da kannst du lange warten! Ich halte für falsch, was du tust, und werde dich darin sicherlich nicht unterstützen. Guten Tag, Amelie.«
Laut mit der Tür schlagend verließ Friedrich den Raum. Nur wenig später knallte auch die Eingangstür. Amelie war wieder allein. Sie stand mitten im Wohnzimmer und starrte auf die Tür, die Friedrich soeben zugeschlagen hatte. Wütend war sie und traurig. Friedrich und sie waren schon lange Freunde, er hatte sie – als einer der wenigen Ärzte – während ihrer Ausbildung zur Chirurgin unterstützt. Tränen standen in ihren Augen, zu gleichen Teilen aus Wut und Trauer. Trotzig wischte sie sie mit dem Blusenärmel fort. »Ach, was soll’s?«, sagte sie laut. Sie hatte sich entschieden, und dabei bliebe sie.
Eilig machte sie sich wieder auf den Weg in ihr Schlafzimmer, um weiter zu packen. In diesem Augenblick schellte das Telefon. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«, stöhnte Amelie. Sie hielt Else, die bereits einen Schritt auf die Tür zu gemacht hatte, mit einer Handbewegung zurück. »Bleib hier, ich nehme selbst ab«, sagte sie und lief in die geräumige, lichtdurchflutete Diele ihrer Wohnung. Ein kleines Tischchen stand rechts neben der Eingangstür, auf ihm das schwere Telefon. Amelie ließ sich auf das Ledersofa neben dem Telefontischchen sinken und griff nach dem Hörer. »Hier spricht Dr. von Liebwitz«, meldete sie sich. »Wer ist da bitte?«
»Generalstabsarzt von Traun«, dröhnte ein tiefer Bass aus dem Hörer. »Guten Tag, Fräulein Dr. von Liebwitz, wie schön, dass ich Sie persönlich erreiche.« Amelie dankte kurz und fragte dann über das Knistern der Fernverbindung hinweg: »Was kann ich für Sie tun, Herr Generalstabsarzt?«
»Ich melde mich, weil ich erstens wissen wollte, ob Sie das Telegramm erhalten haben, und zweitens, um Ihnen einige Dinge mitzuteilen. Vor allem möchte ich Ihnen sagen, was Sie unbedingt zu Ihrem Einsatz mitbringen müssen.« Trauns Stimme klang verzerrt, die Verbindung war nicht besonders gut. Seit Kriegsbeginn war es schwierig geworden zu telefonieren.
»Ja, ich habe das Telegramm erhalten«, sagte Amelie in den Hörer und lehnte sich an die Rückenlehne des Sofas. Die Sonne schien zum darübergelegenen Fenster herein und wärmte ihr Gesicht.
»Und«, fragte Traun. »Werden Sie uns zur Verfügung stehen?«
»Ja«, antwortete Amelie. »Ich bin sogar gerade beim Packen meiner Sachen.«
»Großartig«, freute sich Traun und gab ihr eine Liste mit Dingen durch, die sie mitnehmen musste. Manches erschien ihr logisch und sie hatte selbst schon daran gedacht. Mit anderem, wie etwa einem Chininvorrat, wusste sie dagegen wenig anzufangen. Doch Traun erklärte sogleich: »Im Sommer besteht in der Romanija immer die Gefahr einer Malariainfektion. Das Chinin hilft dabei, die Auswirkungen zu mildern.« Von Traun machte eine kurze Pause. Dann fragte er: »Können Sie Medikamente und Verbandszeug mitbringen?«
»Natürlich«, antwortete Amelie. »Telegraphieren Sie mir eine Liste, dann sehe ich, was ich besorgen kann.«
»Das ist wunderbar.« Von Trauns Lächeln war durchs Telefon deutlich hörbar. »Wir brauchen so dringend Ärztinnen in Bosnien. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig die Rekrutierung ist.«
Na ja, dachte Amelie sarkastisch, hättet ihr uns früher studieren lassen, würde jetzt kein Mangel an Ärztinnen herrschen … Laut sagte sie das aber nicht.
Ihr Gesprächspartner fragte: »Kennen Sie sich aus? Brauchen Sie noch etwas von mir?«
»Im Großen und Ganzen ist mir alles klar, Herr Generalstabsarzt. Darf ich Sie noch einmal telefonisch kontaktieren, wenn ich Fragen haben sollte?«
»Aber selbstverständlich!« Von Traun gab sich leutselig und ihr seine Telefonnummer durch. »Ich telegraphiere die Liste mit den Medikamenten und dem Verbandszeug noch heute«, rief er noch in den Hörer, bevor er auflegte. Auch Amelie legte den schweren Telefonhörer ab und seufzte. Die Zeit bis zu ihrer Abreise schien wie im Fluge zu vergehen. Und sie hatte noch eine ganze Menge zu besorgen.
Für den Abend hatte sie sich bei ihrer exzentrischen Tante Elisabeth angesagt. Sie weilte ausnahmsweise mal wieder im Land und hatte Amelie zu einem opulenten Dinner eingeladen, bei dem sie ihr von ihren neuesten Abenteuern erzählen wollte. Gegen 18 Uhr, als Amelies Koffer bereits fast fertig gepackt waren, läutete schon wieder das Telefon. Else hob den Hörer ab, weil Amelie noch im Schlafzimmer beschäftigt war, und rief: »Gnädiges Fräulein, Ihr Herr Vater ist am Apparat!«
Amelie, die sich einen Augenblick aufs Bett gesetzt hatte, erschöpft von den Ereignissen des Tages, stöhnte laut auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, rief sie aus. »Was will er denn?«
Else, die den Hörer abgelegt hatte und inzwischen in der Schlafzimmertür aufgetaucht war, sagte: »Das weiß ich nicht, ich habe nicht gefragt.« Auch sie war müde, war sie doch von Amelie den halben Tag herumgeschickt worden, um noch Ausstehendes für ihre Reise zu besorgen, hatte gebügelt, beim Packen geholfen und schließlich noch das Kleid und die Schuhe für Amelies Abendbesuch bei ihrer Tante herausgelegt.
»Schon gut, ich gehe schon«, Amelie stand auf und lief in die Diele. »Guten Abend, Vater«, sprach sie in den Hörer. »Wie geht es dir?«
»Diese Reise an die Front ist wohl nicht dein Ernst.« Ausnahmsweise klang Michael von Liebwitz einmal nüchtern.
»Wer hat dir denn davon erzählt?«, fragte Amelie verblüfft. Sie stand am Fenster der Diele und schaute auf die belebte Straße.
»Na, was glaubst du denn?« Michael schnaufte empört. »Friedrich hat mich angerufen und mir von deiner Schnapsidee erzählt.«
Amelie verdrehte die Augen. »Friedrich hatte kein Recht dazu, dir davon zu erzählen. Aber ja, ich reise in einigen Tagen in die bosnische Romanija, um mich dort um kranke Frauen zu kümmern. Und von der Front kann keine Rede sein. Das Frauenspital befindet sich in der Etappe, mehrere Kilometer von der Front entfernt.« Sie war verärgert, weil sie sich nach dem Streit mit Friedrich nun auch noch mit ihrem Vater auseinandersetzen musste. »Vater, ich bin eine erwachsene Frau und Ärztin, ich kann mein Leben selbst bestimmen.«
»Erwachsene Frau, papperlapapp«, brummte es aus dem Hörer. »Das sieht man ja, wie erwachsen du bist, wenn du dich in eine solche Gefahr begibst. Jedenfalls möchte ich, dass du augenblicklich hier bei mir erscheinst, damit ich dir diese ungeheuerliche Idee ausreden kann.«
Amelie atmete tief durch. Sie wollte sich jetzt auf keinen Fall provozieren lassen. Schon gar nicht von ihrem Vater, der – seit ihre Mutter Luise gestorben war – jeden Halt im Leben verloren hatte. »Ich bin heute Abend bei Elisabeth eingeladen und gerade dabei, mich für das Dinner bei ihr fertig zu machen. Ich habe also leider keine Zeit, mir deine Ansichten anzuhören.«
Michael von Liebwitz schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Elisabeth, natürlich, die wird dich in deinen Flausen noch bestärken. Das passt nur zu gut.«
»Elisabeth ist scheinbar der einzige Mensch, der gutheißt, wie ich lebe und was ich tue. Aber ich brauche auch ihre Erlaubnis nicht.« Amelie sprach immer noch leise und beherrscht, kam aber langsam an die Grenzen ihrer Kraft. Deshalb fügte sie rasch hinzu: »Ich kann jetzt nicht länger mit dir sprechen, sonst komme ich zu spät zu Elisabeth. Ich werde morgen Nachmittag bei dir vorbeischauen. Auf Wiederhören, Vater.«
Mit diesen Worten legte sie auf. Dann seufzte sie tief und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich für ihre Einladung zum Dinner bei Elisabeth umzuziehen. Else hatte Wäsche, Kleid und Schuhe schon herausgelegt. Aber anstatt sich anzuziehen, ließ Amelie sich mit einem Seufzer auf ihr Himmelbett fallen und vergrub ihren Kopf im Kissen. Da war sie auch schon wieder, die Stimme, die in ihrem Kopf alles, aber auch wirklich alles kommentierte, was sie tat.
»Na – hast du dir das wirklich gut überlegt mit diesem Einsatz?«, fragte die Stimme. »Bist du da nicht ein bisschen voreilig gewesen?« Richtig naseweis klang sie. »Willst du wirklich einfach wegrennen und dich möglicherweise in Lebensgefahr bringen?«
Amelie drehte den Kopf auf dem Daunenkissen hin und her. »Ich weiß es doch auch nicht!«, stöhnte sie laut. »Bisher hat diese Aufgabe doch sehr gut geklungen. Ich kann weg aus Berlin und etwas Sinnvolles tun. Ich kann Frauen helfen. Dabei bringe ich mich doch nicht wirklich in Gefahr.«
Else war ins Schlafzimmer getreten und blickte Amelie an, die leise vor sich hin murmelte. Das Hausmädchen kannte das schon, Amelie sprach oft mit sich selbst. Sie wunderte sich schon lange nicht mehr darüber. Ebenso leise, wie sie erschienen war, trat sie wieder zurück.
»Wenn du aber so zufrieden mit deiner Entscheidung bist, wieso zweifelst du dann plötzlich daran?« Die Stimme klang lauernd.
»Ich zweifle doch gar nicht«, Amelie setzte sich auf. »Aber Friedrich und Vater machen es mir nicht gerade leicht.«
»Ach so, der Papa und der Chef, na dann musst du natürlich von deinem Plan Abstand nehmen.«
»Nein«, sagte Amelie laut. »Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde nach Bosnien gehen und Schluss und Aus!«
Elisabeth von Radestock war die Schwester von Amelies Mutter. Blutjung, mit sechzehn Jahren, hatte man sie mit einem um dreißig Jahre älteren Grafen verheiratet. Ihre Meinung war dabei nicht gefragt gewesen. Der Graf war sehr reich, galt als gute Partie, und die Eltern von Luise und Elisabeth hofften, ihre jüngere Tochter damit gut versorgt zu wissen. Bei Luise war ihnen das nicht gelungen. Sie hatte zwar auch in eine adelige, durchaus auch begüterte Familie eingeheiratet. Ihre Ehe mit Dr. Michael von Liebwitz, der als Armenarzt im Berliner Scheunenviertel tätig war, hatte allerdings dazu geführt, dass Luise Hebamme geworden war und ebenfalls in diesem verrufenen Viertel Berlins Dienst tat.
Elisabeth hatte sich gefügt, es war ihr auch nichts anderes übrig geblieben. Nur ein Jahr nach der Eheschließung allerdings war ihr Mann, Graf Radestock, bei einem Reitunfall verstorben. Die Ehe war bis zu diesem Zeitpunkt kinderlos geblieben und Elisabeth wurde die Universalerbin seines gigantischen Vermögens. Seitdem lebte sie einen exzentrischen Lebensstil, reiste um die ganze Welt, kleidete sich, wie es ihr passte, hatte unzählige Liebhaber und lebte nur wenige Wochen im Jahr in ihrer Villa in Berlin. Gerade erst war sie aus Argentinien zurückgekommen und hatte ihre Nichte sofort eingeladen, um ihr von ihren neuesten Abenteuern zu erzählen.
Das Stadthaus von Elisabeth lag im Grunewald, mitten in einem weitläufigen Park. Von außen war das Barockhäuschen eher unscheinbar. Die Inneneinrichtung in reinstem Jugendstil dagegen ließ keine Wünsche offen. Licht und offen präsentierte sich die Halle, die mit Wandfresken geschmückt war und von der eine breite Treppe ins Obergeschoss führte. Amelie war soeben von Elisabeths distinguiertem englischem Butler Fritz hereingebeten worden. Fritz stand seit vielen Jahren im Dienste Elisabeths, war die Verschwiegenheit in Person und leitete das Hauspersonal unaufdringlich und effizient. »Guten Abend, gnädiges Fräulein«, sagte er nun mit einer leichten Verneigung. »Gestatten Sie mir zu sagen, dass es schön ist, Sie wieder einmal bei uns zu sehen.«
»Ich gestatte«, lächelte Amelie. »Ich freue mich auch, Sie gesund und munter vorzufinden.«
Fritz nahm Amelies leichten Abendumhang von ihren Schultern und geleitete sie dann in den großen Salon im Erdgeschoss. »Ihre Frau Tante wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Darf ich Ihnen inzwischen ein Glas Champagner offerieren?«
Amelie nickte. »Das wäre schön.« Sie nahm auf einer geschwungenen, mit blauem Satin bezogenen Chaiselongue Platz, legte ihr Ridikül auf ein schlichtes Beistelltischchen und wartete auf ihre Tante. Sie nippte bereits an ihrem Champagnerglas, als sich die Wohnzimmertür schwungvoll öffnete und Elisabeth hereinschwebte. Wie immer war die Tante in die letzte Pariser Mode gekleidet: Sie trug ein fließendes, wasserblaues Kleid, das bis zu ihren Knöcheln reichte. Das tizianrote Haar war in einer komplizierten Frisur hochgesteckt, um ihren Hals lag eine filigrane Platinkette, die einen auffälligen, hellblauen Saphir hielt.
»Herzlich willkommen, liebe Nichte«, flötete sie. »Ich sehe, Fritz hat dich schon mit Champagner versorgt.«
»Guten Abend, Elisabeth«, antwortete Amelie, erhob sich von der Chaiselongue und umarmte ihre Tante. »Es ist so schön, dich wiederzusehen. Wann bist du denn zurückgekommen?«
»Ach, vor zwei Tagen«, antwortete Elisabeth und nahm ebenfalls ein Glas Champagner entgegen. »Ich werde auch nicht allzu lange bleiben. Berlin ist mir im Moment etwas zu kriegsbegeistert, das finde ich gar nicht schön.«
Elisabeth gehörte wie Amelie zu den wenigen Menschen, die sich von den Worten Kaiser Wilhelms II. zu Kriegsbeginn nicht hatten beeindrucken lassen. Am 1. August 1914, dem Tag der Kriegserklärung Deutschlands an Russland, hatte der Deutsche Kaiser – auf dem Balkon des Berliner Schlosses – die Einheit des deutschen Volkes beschworen. »Ich kenne keine Parteien mehr«, hatte der Kaiser verkündet. »Ich kenne nur noch Deutsche.« Zuletzt hatte er eindrücklich festgehalten: »Ich hoffe zu Gott, dass unser gutes deutsches Schwert siegreich aus diesem schweren Kampfe hervorgeht.« Als Amelie die Rede und die Reaktion der Zuhörer darauf im Berliner Tagblatt gelesen hatte, war ihr übel geworden. Sie konnte sich dieser Kriegsbegeisterung einfach nicht anschließen. Aus einem Impuls heraus hatte sie den Zeitungsausschnitt mit einem kurzen Brief an Elisabeths Haus im Grunewald gesendet. Die Tante war nur wenige Tage später in Berlin eingetroffen und hatte postwendend ein Telegramm an Amelie gesandt, das lediglich fünf Wörter enthalten hatte: Was für ein fürchterliches Unglück.
Die beiden Damen setzten sich. »Das Essen ist in einer Viertelstunde fertig, sagte mir Fritz.« Elisabeth stellte ihr Champagnerglas ab und zündete sich einen Zigarillo an, den sie in eine lange, elfenbeinerne Zigarettenspitze steckte. »Wie geht es dir denn dieser Tage?«
Amelie, die sich ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte, seufzte. »Mittelprächtig«, sagte sie dann. »Die letzten Wochen waren schwierig, aber jetzt habe ich eine Lösung für alle meine Probleme gefunden.«
»Ach wirklich?« Elisabeth zog eine Augenbraue hoch. »Welche Probleme? Und welche Lösung?«
Amelies Tante war ihr in den vergangenen Jahren zu einer engen Freundin geworden, die Freud und Leid mit ihrer Nichte teilte. Als Amelies beste Freundin Felicitas einige Jahre zuvor an einer foudroyanten Grippe verstorben war, hatte Elisabeth ihr Trost gespendet, sie auf eine Schiffsreise nach New York eingeladen, um sie auf andere Gedanken zu bringen, und ihr ermöglicht, bei einer Gallenblasenoperation am New Yorker Mount Sinai-Hospital zu assistieren. Die beiden Frauen waren durchaus nicht immer ein Herz und eine Seele, aber mittlerweile verband sie eine tiefe Freundschaft, auch wenn sie sich nur selten sahen.
Als Amelie eben ansetzen wollte, um Elisabeth vom Chaos der vergangenen Wochen zu berichten, klopfte es leise an der Salontür. Fritz trat ein und verbeugte sich leicht. »Das Dinner ist serviert.«
Die beiden Damen schritten ins nebenan gelegene Speisezimmer. Der lange Tisch war mit weißem Leinen gedeckt. An der Stirnseite und direkt daneben waren zwei schöne Gedecke aufgelegt. In der Mitte des Tisches thronte ein üppiger Tafelaufsatz aus Hortensien, Flieder und weißen Calla-Lilien. Elisabeth bat Amelie zu Tisch.
Als Horsd’œuvre wurden gratinierte Austern serviert. Zum Hauptgang ließen sich die beiden Ente mit Apfel-Calvados-Sauce schmecken und zum Mokka servierte Fritz Himbeer-Meringues. Als der Butler die Dessertteller abservierte und die Champagnergläser noch einmal vollgoss, lehnte Amelie sich in ihrem Stuhl zurück. »Kompliment an die Köchin, Fritz. Ich kenne in der ganzen Stadt niemanden, der so wundervoll kocht.«
Fritz nickte und sagte: »Das werde ich gerne ausrichten, gnädiges Fräulein. Wünschen Sie noch etwas, Frau Gräfin?«, richtete er das Wort dann an Elisabeth.
Diese schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Fritz, wir haben alles, was wir brauchen.«