Die Augen des Habichts - Arndt Matthias Heigl - E-Book

Die Augen des Habichts E-Book

Arndt Matthias Heigl

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Beschreibung

Die Piloten des schnellsten Spionage-Jets der Welt glauben, ihre provokanten Missionen im Auftrag der CIA unentdeckt fliegen zu können. Radar-Experten der Luftverteidigung verfolgen das gefährliche Treiben der Blackbird SR-71 und die aggressiver werdenden Täuschungsmanöver aus ihrem geheimen Bunker heraus. Wird es dem jungen Offizier Arndt Tanner rechtzeitig gelingen, effektive elektronische Systeme gegen überlegene Angriffsmittel zu installieren? Werden die USA den geplanten Enthauptungsschlag ausführen? 1986 bis 1989 hielten die Insider den Atem an. Öffentlich wurden die Details dieser hochexplosiven Phase erst nach 30 Jahren.

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Seitenzahl: 561

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Arndt Matthias Heigl

Die Augen des Habichts

Roman

© 2021 Arndt Matthias Heigl

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlaggestaltung: Sebastian Vogel

Foto PRW-13: Ognyan Stefanov (210919)

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-23508-3

Hardcover:

978-3-347-23509-0

e-Book:

978-3-347-23510-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

www.augen-habicht.com

Für Kathrin

„Eine geheime Vorliebe für das, wofür wir einstmals gekämpft und gelitten haben, bleibt in unserem Herzen.“

Heinrich Heine

Prolog

„Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“

Ronald Reagan

Seit Monaten tobte er nun schon wieder mit unverminderter Wucht - der Kalte Krieg.

1975 war in Ost und West Zuversicht aufgekeimt, dass eine friedliche Welt möglich werden könnte. In der Schlussakte von Helsinki hatten sich immerhin 35 Staaten zum Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt und zur Unverletzlichkeit der Grenzen verpflichtet.

Neben Helmut Schmidt für die BRD und Erich Honecker für die DDR unterzeichneten Leonid Breschnew für die UdSSR und Gerald Ford für die USA das Dokument.

Fünf Jahre später waren die meisten Hoffnungen wieder zunichte. Der frisch gewählte US-Präsident Jimmy Carter signierte 1980 die Presidential Directive 59. Er wollte damit endlich einen Atomkrieg führbar machen.

US-Planspiele gingen seitdem von einer brandgefährlichen Kernthese aus: Die USA müssen die Fähigkeit besitzen, einen Atomkrieg rational zu führen!

Dieser Atomkrieg sollte „den Tod des Sowjetstaates“ zum Ziel haben. Offen wurde nun in der NATO im Zusammenhang mit der Neutronenwaffe, neuen Missiles und Pershings ein nuklearer Enthauptungsschlag gegen die Staaten des Warschauer Vertrags geplant.

Aktuelle Militäroperationen hatten den Amerikanern gezeigt, dass vor allem eine frühe Luftüberlegenheit für den Sieg entscheidend war. Alle Militärmanöver folgten inzwischen exakt dem Szenarium, zuerst möglichst schnell den gegnerischen Luftraum zu beherrschen.

Im Eindruck dieser angespannten Lage und eines brüchigen internationalen Vertragswerks traf der Nationale Verteidigungsrat der DDR konsequente Entscheidungen. So sollte zum Schutz der Hauptstadt rund um Berlin ein Verband mit Flugabwehrraketen unterschiedlicher Reichweiten aufgestellt werden. Der zentrale Führungsbunker dieser Brigade sollte nördlich Bernau entstehen.

Inzwischen war aber auch aufgeklärt worden, dass die NATO im Kriegsfall mindestens drei Atomsprengköpfe gegen Ziele um Bernau bei Berlin einsetzen würde. Diese Erkenntnis hatte Einfluss auf Planung und Bau der Bunkeranlagen. Die weitreichenden defensiven Flugabwehr-Raketen würden ihre abwehrende Wirkung nur entfalten, wenn der Gefechtsstand nach dem erwarteten ersten NATO-Luftschlag noch handlungsfähig sein konnte. 1986 wurde der beeindruckende Bunker des Gefechtsstands fertiggestellt und kurz darauf war die neue Brigade in der Lage, große Teile der DDR gegen Angriffe aus der Luft zu verteidigen.

Wie weit die US-amerikanische Kriegsrhetorik im Angesicht der vermeintlichen eigenen Überlegenheit durch Atomwaffen zeitgleich bereits salonfähig geworden war, zeigte der Inhalt einer legendären Tonprobe des US-Präsidenten Ronald Reagan:

“My fellow Americans, I’m pleased to tell you today that I’ve signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.”

„Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“

Dass die sowjetische Staatsführung angesichts dieses makabren Einblicks in die Denkweise des aktuellen amerikanischen Präsidenten nicht amüsiert war, lässt sich nur vermuten.

Beide Seiten hegten ohnehin tiefes Misstrauen gegeneinander. Spionage und Gegenspionage in beide Richtungen lieferten den Verantwortlichen in Ost und West die jeweils passenden Erkenntnisse und nährten eine permanent wuchernde Paranoia.

Die 41. Fla-Raketenbrigade mit den unterstellten Flugabwehr-Raketen und Jagdfliegerkräften sowie den effektiven Radarstationen wurde in diesem Kontext Mitte der 1980er-Jahre schnell zum umkämpften Spionageziel.

Von Beginn an im Fokus des Interesses stand dabei der Gefechtsstand GGS 41/8, die moderne und leistungsfähige Nervenzentrale im Gefechtsbunker bei Ladeburg.

Glossar ab Seite 495

1. Kapitel

„Kein größeres Verbrechen gibt es, als nicht kämpfen wollen, wo man kämpfen muss.“

Friedrich Wolf

Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Die Kiefern verströmten in der Vormittagshitze ihren intensiven aromatischen Duft. Ein Eichelhäher stieß zum dritten Mal seinen rau schnarrenden Warnruf aus. Arndt Tanner nahm von alledem nichts wahr. Er kauerte seit Minuten hinter den Resten einer Kiefer, die einer der heftigen Stürme des letzten Herbsts umgeworfen hatte. Das Wurzelgeflecht des Baumes hielt jede Menge Sand der Barnimer Jungmoräne umklammert und bildete so einen akzeptablen Sichtschutz im sonst lichten und sonnendurchfluteten Wäldchen.

Sprungbereit beobachtete der 22-Jährige den amerikanischen Jeep, der zehn Meter vor ihm im Unterholz abgestellt war. Eine handliche Parabolantenne neben der Beifahrertür zeigte genau in die Richtung, aus der in der Ferne Geräusche zu hören waren. Es waren Geräusche großer Radaranlagen, die der junge Offizier nur zu gut kannte. Seine Beine schmerzten vom langen Kauern. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Vielleicht sind die Räder eine Möglichkeit?

Er tastete nach der linken Tasche seiner Uniformhose, umfasste das kleine Messer, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Den Reifen des Jeeps würde die Klinge nichts anhaben können!

Inzwischen hatte der seichte Wind gedreht. Die Geräusche aus der Technischen Zone wurden nun immer deutlicher wahrnehmbar. Er musste versuchen, die Parabolantenne am Jeep zu erreichen, sie unbrauchbar machen. Vielleicht gelang es ihm ja, das Beweisstück zu ergattern. Auf alle Fälle musste er die Messung verhindern!

Drei, zwei, eins!

Arndt Tanner schnellte aus der Deckung hoch, dann ging alles blitzschnell: Ein Knacken hinter ihm, ein schmerzhafter Schlag gegen die rechte Schulter, ein gedämpftes „Aua!“. Tanner wich nach links aus, rollte sich ab, parierte den nächsten Hieb und traf den Angreifer dabei mit voller Wucht ins Gesicht. Der taumelte jaulend zurück und fasste sich an die Nase. „Scheiße, mach doch wat!“

Dieser herausgepresste Ausruf hatte zwei Botschaften: Der Angreifer war mit Sicherheit kein Ami und er hatte einen Komplizen! Letzterer handelte schneller, als Tanner sich der neuen Situation bewusst werden konnte: Ihn durchzuckte ein kurzer stechender Schmerz, diesmal links. Dunkelheit!

Zwei Männer in Schwarzkombi schleiften ihr Opfer in Richtung Waldrand. Einer wischte sich dabei wiederholt mit dem Ärmel übers Gesicht.

„Scheiße“, nuschelte der blutende Schwarzkombiträger, „wat wollte dieser verfluchte Amateur, Klaus?“

„Was fragst Du mich? Ich weiß nur: Diesmal gibt es Ärger, richtig Ärger!“

Als das ungleiche Trio den Rand des Kiefernwäldchens erreichte, war Tanner immer noch im Dunkeln. Nur der harzige Duft der Kiefern drang bis zu ihm durch.

2. Kapitel

„Intelligenz ist die Fähigkeit, seine Umgebung zu akzeptieren.“

William Faulkner

„Nein, Genosse Hauptmann, ich darf Sie nicht mitnehmen in die Kabine!“ Mit gleichmütiger Miene stand Unteroffizier Peters am Fuße des Gefechtshügels. Nur das prägnante Geräusch der Hydraulikpumpe, die eine riesige Paraboloid-Antenne monoton auf- und abschwenkte, war zu hören. Die Morgensonne stand noch tief genug, um über das Gesicht des vorgesetzten Offiziers jede Sekunde einen Schatten huschen zu lassen, den Schatten der Hauptantenne. Das Gesicht von Hauptmann Michael Schäfer war inzwischen rot angelaufen. Es lief immer rot an, wenn er vor Wut gern aufstampfen würde. Und Schäfer stotterte, wenn er in Rage geriet. „Ich ko-komme mit in die Ka-ka-kabine!“

Peters schielte auf seine Uhr. Noch vier Minuten und das Nicken der Antenne würde aufhören. Mehrere Tage im Diensthabenden System waren dann geschafft. Für die Station stand ein Wartungstag an. In wenigen Minuten würde er seine Besatzung dafür einteilen. Udo hatte das Aggregat zu überprüfen, Filter zu wechseln und die russischen Stahlgewindebolzen der Kabelverschraubungen gegen nagelneue Messingstifte auszutauschen. Konrad und Olaf waren für den Sichtgerätehänger zuständig. Selbst musste er heute die Sende-Empfangs-Kabine übernehmen. Die war normalerweise das Reich vom Chef.

Peters fühlte sich etwas unwohl. Die Abstimmarbeiten der empfindlichen Technik in dem 20-Tonnen-Koloss da oben auf dem steilen Hügel waren kompliziert. Noch vor Wochen lief der PRW, wie die russische Abkürzung für die Radarstation lautete, ziemlich instabil. So gut wie kein Tag verging ohne Ausfall. Oft hatte der Chef jede einsatzfreie Minute in der Kabine für Reparaturen genutzt oder er war in der Nacht von zu Hause geholt worden, weil die Technik schon wieder bockte. Glücklicherweise lief der PRW-13 nun seit fast einem Monat stabil.

Das soll möglichst so bleiben!

„Rühre nur Dinge an, die Du hundertprozentig beherrschst“, hatte ihm Leutnant Tanner eingeschärft, „und denke daran, dass niemand etwas in der Kabine zu suchen hat, außer Dir und mir!“

Jörg Peters hatte genickt. Wer, außer dem Stationsleiter und ihm sollte denn auch Lust verspüren, da auf den Hügel zu klettern, um sich in der Enge und Hitze zwischen den surrenden Apparaturen aufzuhalten? Ein kleiner Bedienfehler konnte tagelange Reparaturen nach sich ziehen! Peters hatte Respekt vor der sensiblen Technik in der Sende-Empfangs-Kabine.

Die Antenne wippte ein letztes Mal gen Himmel, um dann langsam nach unten auszuschwingen. Die Hydraulik verstummte und auch die Lüfter gaben endlich Ruhe. Dies waren die abschließenden Handlungen der 24 Stunden andauernden letzten DHS-Schicht, ausgeführt in mehr als 150 Metern Entfernung tief unter der Erde.

Dort, im modernsten Gefechtsbunker der NVA, hatte Olaf Hübner die Schalter am Bedienpult in die Stellung выключить (ausschalten) umgelegt und die Station beim Diensthabenden abgemeldet. Die Wartung konnte beginnen!

„Ich bestehe darauf, die Wartung zu ko-ko-kontrollieren!“

Da war es wieder, das zentrale Problem des heutigen Morgens. Natürlich war Schäfer der deutlich ranghöhere Vorgesetzte. Als derzeit kommissarisch eingesetzter Stellvertreter für Technik und Ausrüstung zeichnete er streng genommen für die Einsatzbereitschaft verantwortlich – und zwar für alle fünf Radarstationen und die zwei Automatisierten Objekte der Funktechnischen Abteilung.

Doch da gab es noch das ungeschriebene Gesetz, dass besonders sensible Systeme nur von den Stationsleitern persönlich angefasst werden sollten. Dazu kam, dass Schäfer nie selbst auf einer Radarstation gedient hatte. Ihm wurde krankhafter Ehrgeiz nachgesagt. Die übrigen Offiziere mieden den schmächtigen Hauptmann, wo es nur irgend ging.

„Zu Befehl, Genosse Hauptmann!“ Peters hatte es aufgegeben, sich zu widersetzen. „Ich übernehme die Kabine noch auf örtlichen Betrieb. Sie können in fünf Minuten nachkommen.“

Peters erklomm die Anhöhe mit schnellen Schritten und kletterte über die Lafette in den drehbaren Technikraum.

Unaufgefordert steckte Hauptmann Schäfer schon bald seinen Kopf durch den Einstieg. „Wir beginnen mit der Ko-ko-kontrolle der Reservefrequenz!“

Peters zuckte zusammen. Die Sendefrequenzen des PRW-13 wurden durch leistungsstarke Magnetrone erzeugt. Die Sendeleistung eines einzigen PRW war dreißigfach stärker als die UKW-Leistung des RIAS Berlin. In Friedenszeiten arbeiteten die PRW-13 in den Staaten des Warschauer Vertrags mit dem Magnetron „Z“. Dessen Frequenz war der NATO durch die vielen Einsatzstunden im Diensthabenden System natürlich nur zu gut bekannt. Im Kriegsfalle würde genau diese Wellenlänge massiv mit Störungen belegt werden, da waren sich die Fachleute einig. Auch deshalb gab es je PRW vier Reservemagnetrone mit anderen Werten. Drei davon lagerten im Panzerschrank der VS-Stelle, eines war in der Kabine im Kanal II eingebaut. Auf Befehl stand es sofort einsatzbereit zur Verfügung.

„Worauf warten Sie? Schalten Sie auf Kanal II!“.

Natürlich wusste Peters, wie sich der Sender auf die Kriegsfrequenz umschalten ließ. Sein Chef hatte ihn erst vor wenigen Wochen eingewiesen. „Im Ernstfall ist ja nicht garantiert, dass ausgerechnet ich als Stationsleiter überlebe. Wieso sie euch das auf der Unteroffiziersschule nicht beibringen, weiß der Geier!“.

Den Hebel umgelegt hatte aber auch der Leutnant nicht. „Das Umschalten erfolgt ausnahmslos auf Befehl! Zweimal im Jahr wird das Reservemagnetron formatiert. Den Termin erfahre auch ich aus Sicherheitsgründen frühestens zwölf Stunden vor der Wartung. Die Antenne wird dann in einer festgelegten Richtung auf den tiefsten Punkt geschwenkt und fixiert. Die Sendeenergie geht nicht nach draußen. Sie wird in einer gekühlten Röhre, dem sogenannten Äquivalent, in Wärme umgewandelt.“

Der Leutnant hatte auf den schwarzen Zylinder sowie den Umschaltmechanismus gezeigt und gewarnt: „Die Energie ist so hoch, dass immer noch ein Teil den Weg über den Hohlleiter zur Antenne findet und draußen gemessen werden kann. Deshalb sichern angeblich Spezialisten der Verwaltung 2000 das Gelände Kilometer im Umkreis, genau weiß ich das aber auch nicht.“

Hauptmann Schäfer, der sich hinter der zentralen Drehsäule verschanzte, wurde unruhig. Dreimal hatte er in den letzten zwei Minuten auf seine etwas überdimensionierte WOSTOK geschaut, auf die Uhr mit der Gravur im Edelstahlboden, die er irgendwann als Auszeichnung bekommen hatte, damals, als mit seiner Karriere noch alles im Lot schien. „Schalten Sie endlich um. Wir haben keine Zeit mehr, Genosse Unteroffizier!“ Diesmal stotterte er nicht, doch die Stimme hatte einen leicht hysterischen Beiklang.

Peters wusste, dass auf Verstöße gegen die Geheimhaltung harte Strafen standen: Schwedt, das Militärgefängnis oder noch Schlimmeres! In einem Jahr wollte er sein Elektronikstudium beginnen und mit seiner Manuela zusammenziehen, vielleicht eine Familie gründen. Das hier brauchte er überhaupt nicht! Mit Schweiß auf der Stirn unternahm er einen letzten Anlauf: „Die Frequenzen dürfen nur auf Befehl umgeschaltet werden, Genosse Hauptmann!“

„Dann befehle ich jetzt: Frequenzwechsel!“

Trotz der Hitze in der Kabine fühlte sich der Hebel kühl an. Mit einem Schmatzen zog die Feder die Hohlleiterweiche über den Totpunkt: klack! Das Magnetron im Kanal II sendete.

---

„Zwei Verletzte, angeblich Schlägerei zwischen den Objekten A und D, ein Leutnant Tanner und dann noch ein Hauptmann, der nicht sagen will, wer er ist. Der Leutnant ist noch nicht ansprechbar.“ Stabsarzt Hoffmann nickte nachdenklich und legte den Hörer auf das graue Telefon zurück. Die Abwechslung kam willkommen. Zügig verließ er das Stabsgebäude durch die Hintertür.

Die Politschulung wird trotzdem ganz sicher ein grandioser Erfolg werden - wie immer!

Der stämmige Militärarzt mit dem etwas zu langen Haar lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein.

In Polen und Ungarn steht alles kopf. Gorbatschow hat Glasnost und Perestroika ausgerufen und die Genossen Politoffiziere referieren munter weiter über den Sozialismus in den Farben der DDR!

„Weit sind wir gekommen und jetzt kloppen sich Offiziere schon am Vormittag!“, murmelte Hoffmann und schlenderte durch die offenstehende Tür in sein Reich, den Med.-Punkt der Fla-Raketenbrigade.

Als er Minuten später den Streifen mit dem roten Millimeterpapier aus dem EKG-Gerät zog, brummte er: „Ein paar Rhythmusstörungen, sonst sieht das hier jedenfalls erst mal ganz gut aus. Wo ist eigentlich der andere Patient, der mit der Nase?“

Sanitätsfeldwebel Helm hatte Atropin aufgezogen, ohne auf eine entsprechende Anweisung zu warten. Er und Hoffmann kannten sich schon Jahre. Beide waren keine Männer großer Worte.

„Der andere Typ sieht ziemlich übel aus. Ich tippe auf Nasenbeinbruch!“

„Ok, was sonst noch?“, wollte Hoffmann wissen, während er mit einer kleinen Taschenlampe die Pupillen seines Patienten untersuchte.

Helm musste kurz nachdenken. „Also, das hier ist jedenfalls Leutnant Arndt Tanner. Der kommt drüben von den Blauen.“

„Von welchen Blauen?“, gab Hoffmann leicht genervt zurück. Ihn interessierte so gar nicht, ob jemand die blauen Litzen der Flieger an der Uniform trug oder die hellgrauen der Fla-Raketentruppen. Er hatte sowieso fast immer den weißen Kittel drüber und sah sich eher als Arzt, denn als Offizier.

„Wer dieser andere ist, war noch nicht rauszukriegen, kein Wehrdienstausweis, keine sonstigen Papiere!“ Helm zog nun demonstrativ die Schultern hoch. „Der Dritte ist gleich mit dem Auto wieder weg. Irgendein Postfach, von dem ich noch nie gehört habe, will sich bei uns melden.“

---

Schäfer war endlich weg. Jörg Peters schüttelte es immer noch, wenn er an die letzte Viertelstunde zurückdachte. Fünf Minuten hatte er das Reservemagnetron zuschalten müssen, genau fünf Minuten nach Schäfers Armbanduhr. Dann wollte der Hauptmann ganz plötzlich weg. „Sie beginnen jetzt mit der planmäßigen Wartung! Übrigens ist die Reservefrequenz geheim. Zu niemandem ein Sterbenswörtchen, auch keine Protokolleintragung!“ Diese Sätze sprudelten, wie auswendig gelernt, aus des Hauptmanns Mund. Auch stotterte Schäfer diesmal nicht.

Mit einer oft geübten Bewegung überwand Unteroffizier Peters die Distanz zwischen der Schwelle der Sende-Empfangs-Kabine und der Betonplatte auf dem Gefechtshügel, dabei nutzte er die ausgeklappten Stützen der Lafette. Von hier aus waren es genau 120 Schritte über den steilen Plattenweg hinab zu den massiven Splitterschutztoren. Hinter den Toren standen die übrigen zwei Hänger des Höhenmessers PRW-13 aufgebockt. Die Drucktore waren heute nur angelehnt, trotzdem kostete es gehörig Kraft, einen der reichlich acht Tonnen schweren Flügel in eine Drehbewegung zu versetzen. Drin warteten Udo, Konrad und Olaf auf ihre Aufgaben.

„Was wollte denn der Hilfs-T-T-T-A?“, äffte Udo das Stottern Schäfers nach. Udo Roloff war Aggregatewart und Kraftfahrer, ein sonniges Gemüt! Der Unteroffizier arbeitete im Zivilleben als Busfahrer bei den Berliner Verkehrsbetrieben, wollte nicht studieren und diente trotzdem drei Jahre. „Wenn ich gebraucht werde, dann mach ich das!“, soll er die Musterungsoffiziere verblüfft haben. Nun war er Mitglied der PRW-Besatzung Tanner, hatte noch zwei Jahre zu dienen und würde heute die beiden 30-Kilowatt-starken Dieselaggregate warten.

Peters hatte keine Lust, sich mit Udo über den Auftritt des Hauptmanns auszutauschen. Er verteilte die Aufgaben laut Wartungsplan und verzog sich auf den Hügel. Im Schutz der Kabine konnte er nachdenken. Von hier aus schweifte sein Blick bis Ladeburg und das dahinter liegende Bernau, bis nach Rüdnitz und nach Lobetal. Dazwischen duckten sich größere Nadelwälder. Zumindest sah das von hier oben so aus. Kumpels aus der Unteroffiziersschule hatten es da deutlich schlechter getroffen! Die meisten Funktechnischen Kompanien lagen weitab jeglicher Zivilisation. Ausgang lohnte sich da überhaupt nicht.

Obwohl, wie lange liegt noch mal der letzte Ausgang zurück? Verfluchtes DHS und dann noch der Spuk mit dem Schäfer!

„Ich werde mit dem Leutnant reden!“, murmelte Peters schon zum dritten Mal vor sich hin. Er würde alles erzählen.

Doch, was ist, wenn der Schäfer abstreitet? Wieso wurde der Stationsleiter überhaupt so plötzlich irgendwohin abkommandiert, wo doch der heutige Wartungstag schon lange geplant war?

---

Der betongraue dreistöckige Neubaublock der Funktechnischen Abteilung wirkte wie ein Fremdkörper. Alle anderen Gebäude im Stabsbereich der Fla-Raketenbrigade lagen, von Wald umschlossen, scheinbar willkürlich verstreut im Kasernenobjekt. Zur Tarnung waren die Fassaden mit grünen, gelben und braunen Flecken überzogen. An der Beton-Ringstraße reihten sich Stabsgebäude, Unterkünfte, Med.-Punkt, verschiedene Versorgungseinrichtungen, ein kleiner Laden und Hallen des Fuhrparks in loser Formation aneinander.

Gleich nach dem Kontrolldurchlass am Eingang des Objektes zweigte hinter der MHO-Gaststätte ein Fahrweg nach links ab. Früher war dies lediglich die Zufahrt zur Bekleidungskammer gewesen. Seit einigen Monaten prangte hier wie ein Eindringling der Neubau der FuTA, der Block 70. Als Kommandeur der Funktechnischen Abteilung war vom ersten Tag an Oberstleutnant Finke eingesetzt.

Norbert Finke stand am Fenster und beobachtete fasziniert ein rostbraunes Eichhörnchen und dessen Weg über das spärliche Grün auf dem schmalen Streifen vor dem Gebäude. Die einzelnen Grashalme taten sich schwer, auf dem Sandboden zu überleben. Vor Monaten angesät, hatten sie sich offenbar noch nicht entschieden, tiefere Wurzeln zu entwickeln. Die Umgebung gab sich abweisend, wenn nicht gar feindlich. Finke schüttelte unmerklich den Kopf. Er fühlte sich heute unsicherer denn je, ob er die Entscheidung, sich nach Ladeburg versetzen zu lassen, nicht schon bald bereuen würde.

„Ich erwarte Ergebnisse! Lösen Sie diesen Schlendrian auf! Sie sind nicht mehr bei den Funktechnischen Truppen! Hier weht ein anderer Wind!“, hatte sich Oberst Rockstroh in Rage geredet. Es war wie so oft gewesen, zur heutigen Besprechung im Stab. Erst kamen die aktuellen Probleme bei der Aufstellung der weitreichenden Fla-Raketensysteme S-200 zur Sprache. Danach wurde an der schleppenden Einführung der neuen Technik zur automatisierten Gefechtsführung herumgenörgelt. Zum Schluss war Finkes FuTA dran: „Die Haare Ihrer Soldaten sind genau so viel zu lang, wie das Gras an Ihren Gefechtshügeln!“.

Einer der Stabsoffiziere neben Finke wollte gerade laut auflachen, fing sich aber unter Rockstrohs eisigem Blick innerhalb einer halben Sekunde.

„Die Grußerweisung ist jämmerlich! Man würde Ihre Leute auch ohne die lächerliche blaue Litze auf 100 Meter Entfernung erkennen. Ihre Abteilung ist eine Schande für die gesamte Brigade!“, hatte Rockstroh seine Schimpftirade dann irgendwann beendet.

Finke hatte die Hände an die Hosennaht gelegt. „Zu Befehl, Genosse Oberst!“

Rockstroh war daraufhin mit leicht schräg geneigtem Kopf noch röter angelaufen, als ohnehin schon. Drei lange Sekunden waren in Grabesstille vergangen. „Kollmeder: Sie bleiben hier. Rest: wegtreten!“.

Das hatte sich vor einer reichlichen Stunde abgespielt. Major Kollmeder, der als Politoffizier in Finkes Abteilung eingesetzt war, hatte sich bis jetzt noch nicht aus dem Stab zurückgemeldet. Finke stand die ganze Zeit am Fenster, unfähig, sich zu lösen, unfähig, den Stapel Unterlagen auf seinem Schreibtisch in Angriff zu nehmen. Auf der Stirn des athletischen Mittvierzigers zeichneten sich deutliche Zornesfalten ab, die sich von Minute zu Minute tiefer eingruben. Er wusste nur zu gut, dass auch Rockstrohs heutiger Wutausbruch keinerlei Nachwehen haben würde. Was ihn beunruhigte, war die neue Rolle Kollmeders.

Was will Rockstroh ausgerechnet von diesem Schreibtischhengst? Wo bleibt der Kollmeder? Verdammt!

Draußen sprintete das Eichhörnchen zur nächsten Kiefer, kletterte drei, vier Meter in nur wenigen Sätzen nach oben und hielt dann inne. Um den Baum herum spähte es aufmerksam in Richtung Ringstraße. Von dort trabte eine Gestalt in Schwarzkombi heran. Finke glaubte, geflochtene Offiziersschulterstücke zu sehen. Allerdings war es keiner von seinen eigenen vier Majoren. Er riss sich vom Fenster los und war mit wenigen Schritten draußen. So stand er bereits auf dem Flur, als seitlich die Eingangstüren aufgestoßen wurden. Ein Flügel schrammte dabei hörbar über die Terrazzoplatten.

Verdammter Baupfusch!

Die Gestalt in Schwarzkombi bog links ab und verschwand hinter einer grauen Gittertür, die den Flur absperrte. Finke spürte schon wieder diese Beklemmung in sich aufsteigen, er fühlte sich beobachtet, gegängelt, eingezwängt. Seit seinen ersten Tagen in Uniform hatte er immer selbst entscheiden können. Er hatte Funktechnische Posten geführt, dann eine Funktechnische Kompanie. Die vorgesetzten Stäbe waren stets weit weg gewesen. Er konnte selbst Verantwortung übernehmen, ohne ständige Gängelei. Solange die Aufgaben erfüllt wurden, ließ man die Kompaniechefs in Ruhe, aber hier in Ladeburg fühlte sich das an wie im Kindergarten. Der Brigadestab war nur einen Steinwurf entfernt und dann hatte man ihm auch noch diese Wanzen in den Bau gesetzt.

Das braucht wirklich keiner: Die Verwaltung 2000 gastiert auf dem eigenen Flur!

Obwohl ihm das Gebäude unterstand, war er noch nie hinter der Gittertür gewesen.

Vielleicht auch besser so!

Als Verwaltung 2000 firmierte einer der Arme des Ministeriums für Staatssicherheit, der Militärgeheimdienst. Die Mitarbeiter dieser Einheit waren hier normalerweise in Offiziersuniform der Fla-Raketentruppen gekleidet, um im Objekt nicht aufzufallen.

Weiß der Kuckuck, was der heutige Auftritt in Schwarzkombi nun wieder bedeuten soll!

Finke hatte seine Augen immer noch nicht von der Gittertür gelöst, als diese erneut aufgerissen wurde und der vorgebliche Major mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang verschwand. Dabei würdigte er den Abteilungskommandeur mit keinem Blick. In dem kurzen Moment, den die schwere gepolsterte Holztür hinter dem Gitter brauchte, um ins Schloss zu fallen, war eine überschnappende Stimme zu hören, die irgendetwas Unverständliches brüllte. Dann war Stille.

---

„Welch angenehme Überraschung!“, freute sich Stabsarzt Hoffmann über den unerwarteten Besuch aus dem Stab. Oberfähnrich Katja Engler, zierlich, blond, ein Lächeln auf zwei höchst attraktiven Beinen, eilte quer über den Rasen auf die Raucherecke am Med.-Punkt zu. In ihrer rechten Hand schwenkte sie einen dünnen, grauen A4-Umschlag über dem Kopf.

„Bringst Du mir die Einladung zu einem Stelldichein, Katjuscha?“, scherzte der sonnengebräunte Stabsarzt im Aufstehen.

„Ich glaube nicht, dass Du heute auch nur irgendein Stelldichein haben wirst, eher irgendwelche Probleme!“

Katja Engler hielt ihm die Kladde mit dem Quittungsstreifen und einen Kuli unter die Nase. „Quittieren, öffnen, lesen, vernichten!“

„Was soll das? Ist die Pest ausgebrochen?“ Hoffmann drehte und wendete den Umschlag. Katja hatte nicht gelacht, wünschte ihm noch „Viel Glück!“ und war schon wieder aus der Sichtweite entschwunden.

Sanitätsfeldwebel Helm beobachtete seinen Chef durch eines der Fenster. Er selbst stand an der Liege des geheimnisvollen Patienten mit dem Nasenbeinbruch, der abwechselnd vor Schmerzen wimmerte und Flüche ausstieß.

An der offenen Zimmertür schoss der Stabsarzt vorbei.

„Soll ich die Dosis noch mal erhöhen?“, wollte Helm wissen. Doch Hoffmann war schon in seinem Dienstzimmer verschwunden. Schnell hatte er den Umschlag aufgerissen.

FERNSCHREIBEN +++ GVS +++ R+++

FERNSEHPROGRAMM 526

LTN. TANNER UND WEITEREN PATIENTEN

VONEINANDER UND VON ANDEREN PERSONEN

ISOLIEREN AUFZEICHNUNGEN VERNICHTEN

STRENGSTE GEHEIMHALTUNG

WEITERE BEFEHLE ABWARTEN

+++ 12.15++++

OVAL 520

Hoffmann drehte das Papier vorsichtig um, als könnte auf der Rückseite noch die Auflösung des Ganzen zu finden sein. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er diese ganz sicher nie erfahren würde.

„Kann ich die Dosis nun erhöhen?“, platzte Helm ins Dienstzimmer. „Der Gorilla wird immer …“, verschlug es ihm angesichts der skurrilen Szene die Sprache. Sein Chef hielt gerade ein Feuerzeug unter ein Blatt Papier, das in Flammen aufging und nach fünf Sekunden als graue Asche im Waschbecken verschwand.

„Holen Sie die Aufnahmebögen der beiden Kampfhähne her und schließen Sie die Behandlungszimmer ab!“

„Aber…!“

„Nichts aber! Ausführung!“

So ernst hatte Helm seinen Chef selten erlebt, nicht mal damals, als das Ding mit dem medizinischen Alkohol aufgeflogen war und er degradiert werden sollte. Hoffmann hatte ihm seinen Stern gerettet, das Verlesen der Missbilligung mit einem kaum merklichen Augenzwinkern abgeschlossen und in dem Feldwebel einen dankbaren und loyalen Unterstellten gewonnen.

Der musste die Schlüssel erst noch suchen. Es war nicht üblich, Patienten einzuschließen.

Vielleicht sollen die beiden lädierten Offiziere auch nur getrennt werden, damit sie sich nicht wieder an die Gurgel gehen?

Helm verwarf diesen Gedanken. Schließlich hätte der Stabsarzt dann nicht auch noch die Papiere verbrennen müssen!

„Zu niemandem ein Sterbenswörtchen über all das hier! Zu niemandem!“ Hoffmann blickte Helm konzentriert an. Sein Ton ließ keine Spielräume für Interpretationen, egal welcher Art. „Sie sichern die Außentür und melden mir sofort, wenn sich was tut!“ Hoffmann bedachte die beiden Beige gestrichenen Türen zu seiner Linken mit einem Nicken. „Ich sehe jetzt mal nach den beiden Kampfhähnen.“

Den Stabsarzt, der sich in den sechs Jahren, die er hier im Wald zwischen Ladeburg und Biesenthal schon diente, an die Langeweile in einem Regiments-Med.-Punkt gewöhnt hatte, beschlich Panik. Er fühlte, dass er schweißige Hände bekam. Ein Fernschreiben aus dem Stab der Division! So etwas gab es nur, wenn einmal jährlich die Impfdosen für die Teilnehmer am Gefechtsschießen in Aschuluk angekündigt wurden. Allerdings war das dann Routine.

„R,S,T!“ Hoffmann zog den Blechtrog der Hängeregistratur der G-Bücher mit den Namen Riemer bis Turner heraus. Mittel- und Zeigefinger eilten über die A5-Heftchen mit den dunkelbraunen Deckeln. „Sommer… Tacke… Tröger, zu weit, Tanner!“ Hoffmann richtete sich auf.

„Tanner, Arndt, 1963 in Meißen geboren. Neben diesen Angaben fand sich ein durchgestrichener Dienstgrad „Offz. - Schüler“, ersetzt am 26. August 1985 durch „Leutnant“. Das Heftchen wurde durch einen Aktendulli zusammengehalten. Die ersten Blätter waren schon stark vergilbt und stammten von der Musterung, die noch keine zehn Jahre zurücklag. Auf der letzten Seite erkannte Hoffmann seine eigene Handschrift. Auch dieses Blatt schien schon Jahrzehnte gealtert. „Wehrmachtsbestände“ hatte Icke, der Fähnrich von den Rückwärtigen, gescherzt, als er die Formulare für die Jahresgrunduntersuchung vorbeibrachte. Die Tinte aber glänzte frisch. Hoffmann hasste es, seinen Füller über dieses raue Papier zu quälen. Er überflog seine Notizen auf dem Blatt. Arndt Tanner, 178 cm, 71 kg, Puls 68, Blutdruck 120/75, Sehstärke links 110, rechts 105.

„Werte wie aus dem Katalog für Elitekämpfer“ hätte der Professor an seiner Uni in Greifswald in so einem Falle wohl ausgerufen.

Auch die wenigen übrigen Seiten brachten nichts Auffälliges zutage. Der Abschlussbericht einer Luftfahrtmedizinischen Untersuchung in Königsbrück: „bedingt tauglich“, stand dort, datiert auf 1980 und war später durchgestrichen.

Da war Tanner ja gerade mal 16 gewesen!

Hoffmann wollte die kleine Mappe schon zuklappen, da fiel ihm ein weiterer Zettel mit seiner eigenen Handschrift auf. „Verdacht auf Sialolithiasis bestätigt.“

Sofort hatte er die Situation plastisch vor Augen. Es war Sonnabend gewesen und natürlich kein Zahnarzt in der Kaserne. Ein Leutnant stellte sich nach seinem Bunkerdienst mit starken Zahnschmerzen vor und hatte riesiges Glück. Der Dentist hätte ihm sicher erst mal drei Backenzähne gezogen. So hatte eine Zitrone genügt! Hoffmann erinnerte sich an einen freundlichen, zurückhaltenden und sehr dankbaren Patienten. Fast zwei Stunden hatten sie sich unterhalten: Bernau als Standort, die Umstellung von der Offiziershochschule auf die Truppe und Macken von Vorgesetzten. Der Leutnant hatte sich als ein sehr offener Gesprächspartner gezeigt, war aber immer dann wortkarg geworden, wenn Hoffmann Fragen zum Dienst oder zur Technik anschnitt.

Dieser sympathische Offizier sollte den Gorilla aus Zimmer B-04 grundlos attackiert und sich einer Straftat schuldig gemacht haben, wie es dieser andere Kerl in der Schwarzkombi angeblich behauptet hatte? Hoffmanns Misstrauen war geweckt. Nachdenklich schob er die Registratur zu. Das braune G-Buch wanderte in die mittlere Schublade des beige gestrichenen Blechschrankes mit den zwei abschließbaren Glastüren. Hoffmann fiel auf dem Deckel noch ein eingekreistes Kürzel auf. „E-K-SB“ stand da in einem nicht ganz geschlossenen Kringel.

„Wie ist die Lage?“

„Ohne Befund, Genosse Hauptmann!“, versuchte Helm hinter dem Schiebefenster der Aufnahme einen Scherz, blickte aber sofort wieder zur Eingangstür. Von dort drohte Unheil, daran gab es inzwischen keinerlei Zweifel mehr.

Knirschend drehte sich der einfache Schlüssel in dem Schloss an der Tür zu B-06. Hoffmann drückte die Klinke aus schwarzem Bakelit vorsichtig nach unten. Durch die zwei großen Barackenfenster flutete das Licht der Sommersonne im Übermaß in den spartanisch eingerichteten Raum. Die Helligkeit schmerzte nach der dämmrigen Atmosphäre des Flurs. Der Stabsarzt zog die eine Gardine zu, die andere fehlte, soweit er sich erinnern konnte, schon immer.

„Danke!“ Sobald die gleißende Helligkeit weg war, ließen die Kopfschmerzen nach. Leutnant Tanner lag bereits seit zwei Stunden hier auf dieser Pritsche. In seinem Kopf drehte eine Dampflok mal langsamer und mal wieder schneller ihre Runden. Manchmal pfiff sie auch kurz, dann konnte er nicht anders, als sein Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen. Die Wirkung der Spritze hatte nachgelassen. Die Gedanken wurden etwas klarer und die Schmerzen meldeten sich der Reihe nach zurück, zuerst unter der Schädeldecke, dann in den Schultern und nun noch am Hals. Tanner hatte versucht, seine Lage zu verändern, das aber schnell aufgegeben. Er blickte in das Gesicht des „Wunderdoktors“, der ihn schon einmal von fiesen Schmerzen befreit hatte.

Damals hatte ein Speichelstein regelrechte Krämpfe im Kiefergelenk verursacht. Er hatte seinen 24-Stunden-Dienst im Bunker trotzdem durchgezogen und sich innerlich schon auf die Zange des Zahnarztes vorbereitet.

Da hatte dieser Arzt, der jetzt im Stehen den Puls kontrollierte, sich aus der Küche eine Zitrone bringen lassen und diese quälend langsam aufgeschnitten. „Schauen Sie mir genau zu. Genießen Sie den Schmerz, der ist ein gutes Zeichen!“

Tanner waren damals bei der Beobachtung des zeitlupenhaften Sezierens der Zitrone die Tränen in die Augen geschossen. Der Schmerz hatte sich noch mal deutlich verstärkt und war dann plötzlich wie weggeblasen gewesen. Aus Tränen des Leidens waren Freudentränen geworden. In tiefer Dankbarkeit hatte er sich mit dem sympathischen Arzt noch lange unterhalten. So hatte er auch erfahren, dass dieser seine Dissertation über den Einsatz der Sonografie bei Erkrankungen der Speicheldrüsen geschrieben hatte. Den Speichelstein des Leutnants hatte er aber ganz ohne Ultraschall erkannt und mit dem Aufschneiden der Zitrone ausgetrieben.

„Ihr Puls ist normal, der Blutdruck hat sich auch wieder erholt“, hörte Tanner seinen Arzt sagen. Die Worte wurden von einem permanenten schrillen Ton überlagert, der nun schon seit Minuten zwischen den Ohren pendelte.

„Sie waren mindestens eine Viertelstunde ohne Bewusstsein!“ Mit beiden Händen hielt der Arzt Tanners Kopf von hinten umfasst und bewegte ihn langsam nach rechts und links. „Ein starker Bluterguss am Hals rechts. Den Wirbeln ist nichts passiert. Die Schultermuskulatur wirkt gezerrt, noch ein Bluterguss!“ Der Arzt stand an der mit blauem Kunstleder bezogenen Liege und versuchte einen Scherz. „Bis zur Hochzeit ist das alles wieder gut!“

„Hoffentlich!“, kam es leise über Tanners Lippen.

„Kann ich Ihnen helfen? Was ist dort draußen passiert? Mit wem haben Sie sich da angelegt?“, sprudelten flüsternd die Fragen. Hoffmann lief es beim Gedanken an das Fernschreiben noch mal kalt über den Rücken.

„Ich - weiß - es - nicht!“, brachte Tanner jetzt ebenfalls flüsternd hervor.

„Zumindest haben Sie einem Gorilla das Nasenbein gebrochen!“, wollte Hoffmann seinem Patienten auf die Sprünge helfen und deutete dabei auf die Wand mit dem Spiegel über dem Waschbecken.

Tanner begann, den Kopf zu schütteln, ließ das aber schnell, als ein stechender Schmerz aus der Halsgegend wie ein Pfeil bis hinauf zur Schädeldecke schoss. „Ich wollte doch nur die MVM stoppen.“

„Die MVM?“

„Ja, die amerikanische Militär-Verbindungs-Mission!“

„Hier bei uns?“

„Zwei Mann in einem Jeep, einem Messfahrzeug im Wald zwischen Objekt A und D. Ich hatte 24-Stunden-Dienst im Bunker. Gestern kam dann der Befehl, dass ich mich heute bis 12.00 Uhr an einem anderen Standort melden soll, um dort die technische Wartung an einer P…, an einer Station durchzuführen. Das war allerdings aus mehreren Gründen merkwürdig!“

„Erzählen Sie!“

„Kann ich nicht!“

„Gut!“

„Da mir wenig Zeit blieb, bin ich gleich nach der Dienstübergabe aufs Rad. Am Abzweig Richtung Ladeburg sah ich weit drin im Wald irgendetwas blinkern.“

„Dort ist doch Sperrgebiet?“

„Genau, und Waldbrandwarnstufe IV außerdem. Ich habe mein Rad abgestellt und versucht, näher ranzukommen. Hinter einer Wurzel konnte ich in Deckung gehen, bevor die mich entdeckt haben.“

„Wer?“

„Ich hatte vermutet, die Amis. Es war ein grüner Range Rover!“

„Kann es nicht auch ein UAZ von den Freunden gewesen sein?“ Hoffmann kannte sich mit den Fahrzeugmodellen etwas aus. Er wusste, dass die Militärfahrzeuge der Amis genauso altertümlich aussahen wie die russischen.

„Nein, es war eine MVM der Amerikaner - Amiflagge und die 26 oder 28 auf dem Kennzeichen.“

„Ok und dann?“

„Die hatten als Messantenne einen Parabolspiegel aufgebaut. Sie wollten meinen P…, meine Station ausspionieren!“

Hoffmann strich sich über sein etwas groß geratenes Kinn. Das tat er immer, wenn er zweifelte, aber aus gutem Grund nicht den Kopf schütteln wollte. Erst vor zwei Stunden hatte er sich gleich mehrfach übers Kinn gestrichen. Der Politnik hatte ausgiebig über die Gefahren konterrevolutionärer Elemente in den Bruderstaaten referiert und die Vision eines „Sozialismus in den Farben der DDR“ als zwingend siegreich gepriesen.

So gern er dem Häufchen Elend da auf der Pritsche auch glauben wollte, es gelang ihm nicht. Er wusste nicht viel über das, was im sogenannten Objekt D vor sich ging, aber spannender als diese Funktechnische Abteilung waren doch allemal die neun Standorte mit den Raketen. War es nicht in Badingen gewesen, wo ihm ein Sanitäter unter vier Augen ausgeplaudert hatte, es würden dort SS-20 stationiert?

Das sind doch eher hochwertige Spionageziele als die Radaranlagen! Obwohl, der Bunker….

Leutnant Tanner zog seinen rechten Unterarm auf den Brustkorb hoch. Schmerzen durchzuckten sein Gesicht. „Ich bin mir ganz sicher. Mehr kann ich dazu nicht sagen!“

„Ok, wir kennen uns lange genug. Was passierte dann?“

„Ich hatte überlegt, wie ich den Jeep an der Flucht hindern könnte. Dazu fiel mir nichts ein, was wirklich funktioniert hätte. Die einzige Chance wäre ein Überraschungsangriff gewesen. Ich wollte die gut 15 Meter vorsprinten und hatte gehofft, dass sie mich erst spät bemerken und ich die Chance habe, die Messantenne zu erbeuten. Damit hätten sie keine Ergebnisse gehabt und die Antenne wäre ein Beweis für die Spionage der Amerikaner gewesen!“

„Aber die waren schneller?“

„Ich weiß nicht. Die saßen noch in ihrem Jeep, als ich aufgesprungen bin. Ich habe im selben Moment ein Geräusch hinter mir gehört und wollte mich gerade umdrehen, als eine schwarze Gestalt in meine Richtung sprang. Ich konnte mich kurz wehren, dann hat er mich zu Boden gerissen …“, Tanner zögerte nachdenklich, „und da war noch eine schwarze Gestalt, glaub ich!“ Er stöhnte kurz auf. „Dann weiß ich nichts mehr. Aufgewacht bin ich erst wieder hier. Wer war das?“

Hoffmann war kurz versucht, seinen Patienten in den Inhalt des geheimnisvollen Fernschreibens einzuweihen, verwarf den Gedanken aber sofort und zuckte stattdessen mit den Schultern. „Wenn Sie das nicht wissen!“ Er widerstand auch der Versuchung, über den zweiten Offizier, über den mit der Nase, zu plaudern. „Hören Sie, ich weiß nicht, was das hier alles bedeuten soll. Ich werde Ihnen aber helfen, soweit das in meiner Macht steht.“

Doch die Macht haben in dem Fall ganz gewiss andere!

3. Kapitel

„Grobe Fehler werden oft, wie dicke Seile, aus einer Vielzahl dünner Fäden gemacht.“

Victor Hugo

„Bis 13.00 Uhr wollen die Spezialisten versuchen, eine Strategie zu entwickeln, wie die Kuh wieder vom Eis kommt!“

Der dickliche Major Vetter beendete gerade sein unerfreuliches Telefonat mit seinem Vorgesetzten, als Mummert am Türrahmen des offenen Besprechungsraums anklopfte. Vetter fuhr herum, rot im Gesicht mit blutunterlaufenen Augen.

Er sieht heute aus, wie ein Stier!

Als dieser Gedanke Mummert durchzuckte, schnaubte Vetter schon los. „Sie Idiot, Sie dämlicher! Wie konnte so was nur passieren? Sind Sie Anfänger?“

Mummert, der in seiner Schwarzkombi mit hängenden Schultern immer noch im Türrahmen stand, straffte sich. Vetter lehnte an dem quadratischen Besprechungstisch mit der Sprelacartplatte. Hinter ihm auf einem der Alustühle hockte ein Oberleutnant, den Mummert noch nie gesehen hatte und dem die Szene offenbar recht peinlich war. Schräg über Vetter hing nicht wie üblich das Konterfei des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs, sondern eine nicht mehr ganz aktuelle Fotografie vom ewigen Chef, dem anderen Erich. Mummert wusste immer noch nicht, weshalb die Aktion von heute Morgen einen derartigen Zornesausbruch heraufbeschwor.

„Verschwinden Sie! 13.00 Uhr, Cottbus!“, presste Vetter heraus, um sich dann auf einen der Stühle fallenzulassen. Sein rundes Gesicht verfärbte sich jetzt ungesund violett. Der Oberleutnant blickte immer noch betreten auf seine nicht vorhandenen Notizen. Mummert trat grußlos ab.

Das kommt von dieser verdammten Geheimniskrämerei!

Klaus Mummert könnte platzen vor Wut. Er straffte sich in seiner ungewohnten Verkleidung und wollte nur noch weg hier. Ein übereifriger Kontrollposten verlangte sogar die Rückseite des Ausweises zu sehen und blickte dem merkwürdigen Major nach, bis dieser bereits umständlich seinen Lada bestiegen hatte und vom Parkplatz rollte. Klaus Mummert musste sich beeilen.

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„Wir sollen zwei Verletzte überführen, einen Leutnant Tanner und einen Patienten, der mit ihm gemeinsam eingeliefert wurde, dazu alle Papiere.“ Der schlaksige Feldwebel überragte Helm um einen reichlichen Kopf. Er hatte eng stehende Augen und den Anflug eines Dreitage-Bartes.

Lass Dich so nur nicht von Rockstroh erwischen, sonst gehst Du in den Bau, dachte Helm, sagte aber: „Ich hol gleich mal den Stabsarzt!“

„Den Namenlosen können Sie mitnehmen. Papiere gibt es eh keine.“

„Und der Leutnant, Genosse Hauptmann?“

„Leutnant Tanner bleibt hier, der ist nicht transportfähig!“, und im Davoneilen, „Helm, Sie helfen beim Verladen, damit hier wieder Ordnung einzieht!“

Unschlüssig tappte der fremde Feldwebel hinter Helm her. Er würde gern telefonieren, sich absichern, doch das hatte irgendwie so endgültig geklungen: „…nicht transportfähig!“

„In welches Krankenhaus fahrt ihr eigentlich?“, wollte Helm wissen, um überhaupt etwas zu sagen.

„Krankenhaus? Nee, Cottbus - vergiss es!“

Helm fragte nicht weiter. Er half dem Namenlosen noch bis in den grünen Wartburg, der direkt vor dem Med.-Punkt auf der ausgetrockneten Wiese parkte. Der Gefreite hinter dem Lenkrad startete. Der Feldwebel warf etwas ungelenk die rechte hintere Tür zu und kletterte auf den Beifahrersitz. Noch eine Tür wurde geräuschvoll geschlossen und schon war der Spuk vorüber.

Hoffmann zog sich den weißen Kittel über die Uniform, fingerte in der rechten Tasche aus der halb leeren Schachtel eine leicht geknickte F6 heraus und schlurfte gedankenverloren zum Raucherplatz.

4. Kapitel

„Wenn der Mensch wüsste, wohin er fallen würde, so streute er vorher Stroh hin.“

Russisches Sprichwort

„Was hast Du gemacht? Bist Du wahnsinnig?“ Oberst Brandner war längst aufgesprungen und kreiste um seinen schweren Schreibtisch sowie den Stuhl, der direkt davorstand. Auf diesem Stuhl hing wie ein Häufchen Elend sein alter Weggefährte Till, Tillmann Schuster. Seit gut zehn Minuten brüllte Brandner auf den etwa gleichaltrigen Kollegen ein. „Du zerstörst mein Lebenswerk. Auf den letzten Metern machst Du alles kaputt! Und Du willst so etwas wie mein Freund sein?“

Beim letzten Satz rutschte Schuster noch weiter in sich zusammen. So wütend hat er Otto bisher nie erlebt. Der war immer der Ausgeglichene des ungleichen Paars gewesen. Kennengelernt hatten sie sich beim Aeroklub, wollten Jagdflieger werden, die junge Republik vor ihren Feinden verteidigen. Und obwohl die Republik sie schon bald mit ganz anderen Aufgaben und vor allem an völlig verschiedenen Orten betraute, hatten die beiden sich nie aus den Augen verloren.

Seit geraumer Zeit dienten Sie nun wieder in der gleichen Dienststelle, dem Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung in Strausberg. Brandner hatte vor zehn Jahren nach einem Studium an der 8. Fakultät in Kalinin die kleine Abteilung für Strategische Beschaffung SB LSK/LV übernommen. Schuster aber war seit vier Jahren Mitarbeiter der Elektronischen Kampfführung FEK. Privat hatten die beiden Freunde die letzte Zeit genossen, ihre gemeinsamen Angelausflüge, die Grillabende an Brandners Bungalow. Dienstlich hatten sie, obwohl ihre Schreibtische im selben Stabsgebäude standen, so gut wie nichts miteinander zu tun, doch das hatte sich am heutigen Morgen schlagartig geändert.

„Was hat Dich geritten, ausgerechnet meinen wichtigsten E-K zu verbrennen, den einzigen, von dem überhaupt noch was zu erwarten ist?“ Brandner ließ sich erschöpft in seinen Bürosessel fallen und atmete hörbar aus. Fast klang es wie ein Seufzen.

„Otto, das konnte ich doch nicht wissen“, meldete sich Schuster zu Wort und versuchte, sich aufzurichten, „außerdem bin ich doch hier, um gemeinsam mit Dir nach einer Lösung zu suchen!“

Brandner winkte resigniert ab. „Erst lässt Du ihn heute halb tot schlagen…“

„Das war die Verwaltung 2000!“

„… und dann schaust Du auch noch zu, wie er nach Cottbus verfrachtet wird!“

„Auch das ist das Werk der Verwaltung 2000! Aber, lass uns lieber überlegen, wie wir weiteren Schaden verhindern!“, versuchte Schuster das Gespräch in eine konstruktive Richtung zu drängen. „Wir sollten versuchen, Deinen E-K aus Cottbus rauszubekommen, eh die Genossen vom „Schild und Schwert der Partei“ noch mehr Schaden anrichten können!“

„Till, Till!“ Brandner schüttelte ein letztes Mal vorwurfsvoll den Kopf, wischte sich mit dem Rücken der rechten Hand, in der er den Hörer seines Telefons hielt, den Schweiß von der Stirn und tippte dann mit dem Zeigefinger eine dreistellige Nummer ein.

Brandner hörte konzentriert den Wählgeräuschen der gesicherten Leitung hinterher. Er fischte einen Bleistiftstummel aus dem russischen Teeglas, das vor ihm stand, um dann den karierten Block zurechtzulegen, obwohl es sicher kaum etwas zu notieren geben würde.

„Apparat 512, Irmscher!“, meldete sich eine jungenhafte Stimme.

„Geben Sie mir mal Ihren Chef! Hier ist Brandner, Oberst Brandner, SB LSK/LV.“

Mehrmals war ein leises Klicken zu hören.

„Hallo Otto!“

„Schönen guten Tag wünsche ich Dir, Wolfgang!“

„Einen wunderschönen guten Tag!“

Brandner sah das Grinsen Wolfgang Hentschels förmlich vor sich. „Zur Sache, Wolfgang. Ich bin inzwischen im Bilde. Ihr habt heute früh einen meiner wichtigsten Leute außer Gefecht gesetzt. Ihr konntet das ja nicht wissen.“

Obwohl ihr ja sonst alles wisst!

„Bitte, Wolfgang, nehmt ihn nicht zu sehr in die Mangel. Ich würde ihn gerne sofort bei euch abholen und dafür sorgen, dass das ganze Thema unter Verschluss bleibt!“ Brandner trug die Bitte mit fester Stimme und dennoch fast beiläufig vor, hatte in Wirklichkeit aber kaum Hoffnung, dass der alte Fuchs sich auf diesen Kuhhandel einlassen würde.

„Du kannst ihn haben …“, tönte es immer noch gut gelaunt aus dem Hörer, „musst ihn Dir allerdings selber in Ladeburg abholen!“ Hentschel schien heilfroh zu sein, diesen Beifang von heute früh so elegant loszuwerden. Er würde nun doch noch den erfolgreichen Verlauf von „Pingpong“ melden können, ohne die stümperhaft abgelaufenen Details überhaupt erwähnen zu müssen! „Ich habe einen gut bei Dir!“, trompetete er noch in die Sprechmuschel. „Досвидания (Auf Wiedersehen), alter Freund!“

Brandner schaute zur Decke und kippte dabei den grauen Hörer in der rechten Handfläche ungläubig hin und her.

Sollte sich das Problem wirklich so einfach in Luft auflösen?

Tillmann Schuster rutschte schon geraume Zeit auf seinem Stuhl herum und räusperte sich dann deutlich. „Was hat er gesagt, Otto? Wie gehts jetzt weiter?“

„Ich kann ihn mir selber abholen in Ladeburg!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte er hinzu: „Da stimmt doch was nicht!“

„Sollten wir nicht dort im Med.-Punkt einfach mal anrufen?“ Tillmann Schuster ging die Stille auf die Nerven.

„Das bringt nichts! Ich rede mit dem Finke, der ist Kommandeur der FuTA und muss ja irgendwann sowieso eingeweiht werden.“

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Endlich! Der Politnik kam von der Ringstraße direkt in Richtung des FuTA-Gebäudes geschlendert. Finke mochte diesen Typ Offizier nicht. Für konkrete Dinge waren die kaum zu gebrauchen, sonst hätten sie ja nicht die Politlaufbahn einschlagen müssen. Permanent hielten die den Rest der Truppe von wirklichen Aufgaben ab, wenn es aber konkret wurde, waren sie weg! Jetzt hatte sich dieser Major Kollmeder wohl auch noch zu Rockstrohs Werkzeug machen lassen! Finke war sich in diesem Punkt absolut sicher.

Der Major schlenderte auf den Eingang zu. Dass er dabei von seinem Kommandeur beobachtet wurde, bemerkte er nicht.

„Sogar zu blöd zum Laufen!“, quetschte Finke durch die Zähne. Kollmeder hatte zu lange Arme. Weil er immer etwas gebückt ging, schienen diese locker bis zu den Knien zu reichen. Außerdem lief der Major im Passgang. Das war der Albtraum jedes Exerzierausbilders!

Finke wollte zur Tür, um seinen Stellvertreter für Politische Arbeit abzufangen, bevor dieser in seinem Dienstzimmer verschwinden konnte. Als seine Hand schon auf der Klinke lag, klopfte es zaghaft.

„Ja!“

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Hauptmann Schäfer, der kommissarische TA, wich wieder etwas in den Flur zurück, als er seinen Kommandeur gleich direkt hinter der Schwelle wahrnahm. „Ge-genosse Oberstleutnant, ge-gestatten Sie, dass ich Sie in einer dienstlichen Angelegenheit spreche?!“, brachte er mühsam hervor.

„Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu!“ Finke war erkennbar verärgert. Er ertrug die unterwürfige Haltung dieses Hauptmanns nur schwer. Früher war es ungeschriebenes Gesetz, dass ein Stellvertreter für Technik und Ausrüstung Erfahrungen als Stationsleiter einer Rundblickstation oder eines PRW haben musste. Dieser Schäfer, der den Posten kommissarisch ausfüllen sollte, kannte nur die Automatisierten Objekte und versuchte nun, seine Inkompetenz durch Anbiedern und Krümelkackerei wettzumachen.

„Was gibts, Hauptmann?“

„Ein be-besonderes Vorkommnis, Ge-genosse Oberstleutnant!“ Lang und breit erläuterte Schäfer, dass die Funktechnische Kompanie 611 in Müncheberg heute Wartungstag der P-18 hätte und der zugehörige Stationsleiter ausgefallen sei. Deshalb hätten die Genossen angefragt, ob man helfen könne. Er, Schäfer, habe deshalb Leutnant Tanner abgestellt, der sei aber nie in Müncheberg angekommen.

„Rockstroh hat recht!“, wetterte Finke sofort los. Unfähigkeit ist das Markenzeichen dieser Abteilung und meine Stellvertreter mischen ganz vorne mit! Was soll das? Sie schicken ausgerechnet einen PRW-Stationsleiter zur Wartung einer Meter-Rundblickstation? Habe ich Tanner nicht gestern im Bunker gesehen? Hatte der nicht bis heute früh Dienst? Wofür war der Tanner ursprünglich eingeteilt?“

„Wartung 6752!“, kam es kleinlaut über Schäfers Lippen.

„Wa-as?“ Finke war kurz versucht, laut loszubrüllen. Stattdessen zischte er resigniert und kaum hörbar: „Raus, ganz schnell raus hier!“

---

Stabsarzt Hoffmann hatte einen Entschluss gefasst: „Helm, es gab heute Vormittag keine Patienten. Es wurde niemand eingeliefert und es wurde auch niemand abgeholt! Verstanden?!“ Hoffmann konnte sich der Loyalität seines Sanitäters, der jetzt mit Fragezeichen im Gesicht eifrig nickte, sicher sein.

„Sie hatten den ganzen Vormittag mit dem Steri zu tun, ok?“

„Geht klar, Chef!“

„Gut und nun: Bestecktasche fassen und ab zum Mittag! Ich halte hier solange die Stellung.“ Hoffmann wartete noch, bis die Eingangstür ins Schloss fiel, ehe er Zimmer B-06 öffnete.

Leutnant Tanner saß auf der Pritsche und sah deutlich vitaler aus, als noch vor einer Stunde. „Nun, wie gehts uns?“

„Die Schulter schmerzt noch, der Kopf ist wieder ok!“

Hoffmann schloss das kleine Schränkchen mit den Glastüren auf und suchte eine Aluverpackung heraus. „Das ist ein starkes Schmerzmittel. Sie werden es brauchen, maximal drei Stück pro Tag!“ Hoffmann streckte die Hand aus. „Versuchen Sie mal eine Runde um die Pritsche!“

Tanner tapste im Uhrzeigersinn durch den kleinen Behandlungsraum. „Funktioniert!“

„Gut!“ Hoffmann übergab die Tabletten. „Sie waren nie hier. Es gibt keine Eintragung im G-Buch. Sie sind gesund!“

Der Leutnant reichte dem Arzt die Hand. „Danke, auch wenn ich immer noch nicht weiß, was das alles soll!“

Müde und angeschlagen verließ Arndt Tanner die Baracke mit dem etwas ausgeblichenen Tarnanstrich.

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Finke hatte es immer noch nicht geschafft, seinen Politstellvertreter zu dessen Audienz beim Brigadekommandeur zu befragen. Gleich nach dem Abgang von Hauptmann Schäfer meldete sich das graue Telefon. Ein alter Bekannter aus Akademiezeiten, von dem er ewig nichts gehört hatte, war nun schon das zweite Mal am Apparat. Finke erinnerte sich: Vor einem knappen Jahr hatte ihn Otto nach überschwänglicher Freude über den Kontakt nach so langer Zeit und der Neuigkeit, dass er jetzt für die Strategische Beschaffung im Kommando zuständig sei, mit einer wichtigen Information versorgen wollen.

„Bekomme ich nun doch noch die geplante NEBO oder wenigstens eine KABINA?“, hatte Finke damals scherzhaft gefragt und den Oberst damit an frühere Pläne erinnert.

Für die Abteilung war ursprünglich schwere Technik zur Fernaufklärung vorgesehen. Nicht umsonst hatten die Baupioniere neben den Bunkern die notwendigen gedeckten Garagenkomplexe und die drei massiven Gefechtshügel ins Gelände geklotzt. Die KABINA war das weitreichende Allzweckmittel gegen Ziele in allen Höhenbereichen. Das System NEBO sollte eine 3-D-Station mit hohem Automatisierungsgrad sein, die in der NVA bisher nur vom Hörensagen bekannt war.

Seit mehr als drei Jahren galt es als sicher, dass die NATO bei Kriegsbeginn massenhaft Marschflugkörper einsetzen würde, die in wenigen Metern Höhe angriffen und von der herkömmlichen Radartechnik kaum aufgefasst werden konnten. Der Arbeiter- und Bauernstaat hatte aber schlicht und ergreifend nicht mehr genug Geld, um all die sinnvolle und notwendige Technik anzuschaffen. In der Volkswirtschaft der DDR zeigten sich zunehmend Probleme, die sozialpolitischen Maßnahmen, das Wohnungsbauprogramm und die Aufwendungen für die nationale Verteidigung innerhalb der geplanten Zeiträume zu stemmen. Alle wussten das! Finke, der seine Jugend - und inzwischen schon mehr als 20 Jahre - dem Schutz dieses Landes gewidmet hatte, sah das ein. Was er nie akzeptieren würde, war die zunehmende Übermacht der Schwätzer aus der Politabteilung.

Die konstruieren für jeden Missstand eine Erklärung, die der klassenbewusste Genosse gefälligst mittragen soll!

Erst letzte Woche hatte der Politnik behauptet, die DDR-Volkswirtschaft würde die gesteckten Ziele zu Ehren des 37. Jahrestags weit überflügeln.

Ehrlicher wäre gewesen, er hätte aufgerufen, die Landesverteidigung rund um Berlin mit teils veralteter und aus Reserven zusammengesuchter Technik heldenhaft zu gewährleisten, damit erhöhte Verteidigungsausgaben die Wirtschaft nicht noch weiter ins Trudeln brachten. Stattdessen wurden erneut Phrasen gedroschen!

Finke kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass die Politoffiziere in der NVA die gleiche ambivalente Wirkung entfalteten wie die Pfaffen in den Kriegen der Vorzeit.

„Finke, Sie haben doch wirklich alles bekommen, was möglich war“, hatte Brandner damals gefleht, „eine P-37, eine P-18, eine P-15 mit AMU und sogar zwei PRW-13!“. Natürlich hatte auch er gewusst, dass diese Aufzählung vor zehn Jahren jeden Chef einer Funktechnischen Kompanie in der zweiten Reihe stolz gemacht hätte. Für den zentralen Standort einer neu aufgestellten Fla-Raketenbrigade war dieses Sammelsurium bestenfalls eine Notlösung. Das Gespräch war im Frühjahr ´85 gewesen. Damals wurde gerade die Technik für die nagelneue Brigade zusammengestellt. Es waren drei derartige Formationen vorgesehen. Sanitz an der Ostsee war schon arbeitsfähig, Sprötau in Thüringen für 1989 geplant und eben nun Ladeburg nördlich Berlin.

„Zur Sache, Kommandeur“, hatte Brandner den frisch ernannten Chef der Funktechnischen Abteilung damals aufs eigentliche Thema zurückgebracht, „Sie haben in Ihrem Kader ein paar erfahrene Kämpfer…“

„…die woanders weggelobt wurden!“, hatte Finke geknurrt.

„Das stimmt nicht bei allen - und das wissen Sie!“ Brandner war ärgerlich geworden.

Finke hatte beschwichtigt: „Sie haben recht. Zumindest hab´ ich einen guten Kompaniechef!“

„Das will ich wohl meinen!“, bejahte Brandner, „Wichtiger sind aber die Absolventen, die Sie bekommen! Sie haben die fast einmalige Chance, eine Truppe aus jungen Leuten zu formen!“

Finke wusste, was Brandner meinte. Viel zu oft war der Offiziersnachwuchs auf den eingefahrenen Gleisen des Alltags in den Funktechnischen Kompanien ins Leere gelaufen und nach wenigen Jahren völlig desillusioniert. Finke hatte sich vorgenommen, dies in seiner Einheit nicht zuzulassen.

„Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns!“ Brandners sonore Stimme war deutlich leiser geworden. „Mir liegt besonders E-K Tanner am Herzen. Wir hier haben da große Hoffnungen, auch wenn Sie und ich die Früchte vielleicht nicht mehr alle ernten werden!“

Finke hatte sich an die Auswahlgespräche in Kamenz erinnert, die damals erst ein paar Tage zurücklagen. Ja, dieser Offiziersschüler war ihm in positiver Erinnerung. Beim Durchblättern der Kaderakte war ihm sehr wohl das Kürzel E-K/SB aufgefallen und auch der hervorragende Notendurchschnitt, der einen Einser-Abschluss bereits sicher versprach. Mit offenem Blick hatte dieser Fast-Offizier auf Finkes Fragen geantwortet. Nein, eine Lehrtätigkeit an der Offiziershochschule würde ihn nicht reizen. Er habe sich für Sprötau gemeldet, da ihn die dortige Technik und deren Möglichkeiten im Truppenpraktikum begeistert hätten. Fast hatte es Finke leidgetan, diesem jungen Menschen erklären zu müssen, dass es nach erfolgreichem Studium nun nicht nach Thüringen, sondern nach Bernau gehen würde. Ja, er hatte sich damals überhaupt gewundert, weshalb die ihm einen der sehr raren Einser-Absolventen zugeteilt hatten. Durch den ersten Anruf Brandners war zumindest klar geworden, dass die Strategische Beschaffung dahintersteckte.

Finke hatte Gedanken an diesen Anruf, der nun ein Jahr zurücklag, lange verdrängt. Die täglichen Aufgaben verdichteten sich seit der Aufstellung seiner Abteilung immer weiter. Der junge Leutnant war bisher nicht groß aufgefallen. Er löste die neuen Anforderungen in der Truppe ohne Probleme, soweit man das aus der Position des Kommandeurs einschätzen konnte. Aber auch Kompaniechef Krüger schien zufrieden zu sein. Dieser hatte Tanner schließlich bereits nach wenigen Wochen zu seinem Stellvertreter gemacht.

Nun also ein erneuter Anruf! Brandner klang diesmal weit weniger überschwänglich als vor einem Jahr. Er bat um ein persönliches Gespräch, welches keinen Aufschub dulde. Er würde sich mit Finke gern noch am Abend treffen, außerhalb der Dienststelle. Finke schlug den „Waldkater“ vor, eine Gaststätte zwischen Bernau und Wandlitz.

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Der Standortausweis steckte noch in der linken Tasche der blaugrauen Uniformbluse, der Wehrdienstausweis mit der Alu-Erkennungsmarke auch. Arndt Tanner betrachtete sich im mannshohen Spiegel am Kontrolldurchlass KDL, während der Posten den Schein mit dem Dienstsiegel des Kommandeurs kontrollierte. Bluse, Stiefelhosen, Chromlederstiefel. Ein Lächeln zuckte über das Gesicht des jungen Offiziers. Diesen Aufzug fand Kathrin immer besonders sexy!

„Danke, Genosse Leutnant!“, salutierte der Posten.

Arndt Tanner zuckte sofort der Schmerz durch die rechte Gesichtshälfte. Die Schulter brannte barbarisch beim ruckartigen Hochreißen des Arms zur Grußerweisung.

Während der zweihundert Meter zwischen Kasernentor und Zufahrt zur Hauptstraße Ladeburg - Biesenthal vollführte er ein paar Lockerungsübungen, kreiste ausgiebig mit beiden Armen, bis der größte Schmerz vertrieben war. Zur Not wartete ja noch das kleine Alupäckchen mit den Tabletten in der linken Hosentasche.

Während seine Hand suchend durch den Uniformstoff fühlte, erreichte er die Straße. Zur Objekttarnung gehörte es, dass das Kasernentor von hier aus nicht zu sehen war. Mit dem Fahrrad war der kleine Umweg durch den Wald kein Problem. Zu Fuß nervte das.

Auf der anderen Straßenseite gab es ebenfalls nur Wald.

Natürlich mit Kiefern. Was anderes wächst hier doch nicht!

Rechts standen die größeren Exemplare. Zwischen den beiden Waldstücken hatte es früher bereits einen befestigten Weg gegeben, der jetzt mit zwei Spuren aus Betonplatten belegt war, Platten, deren grüner Anstrich sich teilweise schon wieder abgenutzt hatte. Wer hier immer noch zweifelte, dass dies die Zufahrtsstraße zu einem weiteren militärischen Objekt war, den warnten gleich zwei Schilder:

„Achtung! Sperrgebiet - Betreten verboten!“

Von vorn näherte sich ein LO. Schon war das jaulende Geräusch des unermüdlichen Transportfahrzeugs deutlich zu hören. Immer wenn der Pritschen-Lkw mit einem Vorderrad durch ein Schlagloch rumpelte, klapperten die Metallspriegel auf der Ladefläche gleich mehrfach in den U-Eisen ihrer Verankerung.

Der Leutnant suchte Deckung hinter zwei massiven Kiefern, die sich wie ein siamesisches Zwillingspaar eine Wurzel teilten. Er wollte nicht gesehen werden, nicht zu Fuß und nicht um diese Zeit.

Der LO fuhr klappernd vorbei und bremste hinter einer leichten Kurve an der Hauptstraße. Die letzten 500 Meter hatte Tanner die Plattenstraße für sich allein. Kurz vor dem Biesenthaler Weg wurde seit ein paar Wochen im Wald gebaut. Angeblich sollte hier die Hundestaffel der Bernauer Volkspolizei untergebracht werden, doch wovor wollte man die Hunde mit einer derart massiven Zaunanlage schützen? Der Leutnant hatte keine Zeit, weiter über die wahrscheinliche Verwendung des Objekts nachzudenken. Ohnehin war zwischen Ladeburg, Biesenthal und Wandlitz der gesamte Wald von geheimen Bereichen nur so durchzogen. Das hatte er bei der Suche nach Pilzen schon vor Wochen bemerkt.

Rechts, drei Meter abseits im Gebüsch glänzte ihm der verchromte Lenker seines 28er Diamant-Fahrrads entgegen. Von seinen Angreifern war logischerweise nichts mehr zu sehen. Dass auch die Amis längst weg waren, bekam er beim Herausschieben des Rads noch mit. Dreihundert Meter ging es nun schnurgerade zwischen Feldern in Richtung Lobetal. Der befestigte Weg schlängelte sich an ein paar Obstbäumen weiter geradeaus, doch die Fahrspuren bogen rechts ab. Sie waren mit sorgfältig dunkelgrün gestrichenen Platten belegt. Offenbar waren die Tarnspezialisten der Meinung, der Ernstfall würde im Frühsommer stattfinden, wenn auch die Felder dunkelgrün waren.

„Danke, Genosse Leutnant!“ Der Posten öffnete nach dem eingehenden Studium der Karte, die zum Betreten des Objekts D und weiterer Bereiche berechtigte, das grau gestrichene Gittertürchen.

Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung, auf den zweiten auch, fand Tanner. Die Nachmittagssonne ließ die Luft flirren. Über der Plattenstraße verschwamm alles.

So sollen in der Wüste die Fata Morganen entstehen!

Links zweigte der Weg ab, der zum Haupteingang des modernsten unterirdischen Gefechtsstandes führte. Dort hatte Tanner die letzte Nacht verbracht, eine unruhige Nacht!

Rechts waren zwei Bauarbeiter dabei, die neue Treppe zum kleineren Mannschaftsbunker zu zerstören. Der Beton wehrte sich gegen den Presslufthammer. Wegen dieser Treppe, die von der Plattenstraße hinauf zum Bunkereingang führte, hatte es heftige Diskussionen gegeben. Der Bauleiter wollte nicht einsehen, weshalb eine minimale Differenz bei der Stufenhöhe korrigiert werden sollte. Kompaniechef Krüger hatte angedroht, einen Soldaten abzustellen, der die Aufgabe hätte, alle, aber auch wirklich alle Maße des Mannschaftsbunkers nochmals zu kontrollieren. Schließlich ginge es um Leib und Leben seiner Unterstellten. Im Bunker würden viele Funkorter die meisten Tage ihres Wehrdienstes verbringen, im Ernstfall vor gegnerischen Antifunkmessraketen Schutz finden und in völliger Dunkelheit die Treppe nutzen müssen, hatte der Kompaniechef gewettert.

Ob der Bauleiter für das Scheitern der Luftverteidigung der Hauptstadt die Verantwortung übernehmen wolle, war letztlich die Frage, in der Krügers pathetischer Vortrag kulminierte. Der Vertreter von Spezialbau Bernau hatte seinen weißen Helm abgenommen, um sich am Kopf zu kratzen und dann die Nachbesserung an der Außentreppe versprochen.

Dem sternförmig aufgebauten Mannschaftsbunker schloss sich das Wasserwerk an. Von hier aus wurde das gesamte Objekt mit Kühlwasser versorgt. Nach dem Wasserwerk zweigte eine Fahrspur nach rechts ab und verschwand hinter den Gefechtshügeln. Sie führte zu den beiden kleinen Rundblickstationen P-15 und P-18, die nach Westen freie Sicht brauchten.

Direkt am Rundweg begann die erhabene Hügelkette. Drei massive Erhebungen waren hier aufgeschüttet worden, um den drei Zentimeterwellen-Funkmessstationen einen freien Blick in alle Richtungen zu verschaffen. In den Fuß der Hügel waren jeweils gewaltige splittergeschützte Großgaragen eingelassen. Über die Hügel führten Beton-Plattenwege, auf denen schwere Lkw die Lafetten mit den Sende-Empfangs-Kabinen ziehen konnten.

Auf dem mittleren Berggipfel stand die P-37, eine Rundblickstation mit 450 Kilometern Reichweite. Die beiden äußeren Hügel waren den PRW, den Höhenmessern vorbehalten. Während die Rundblickstation einen Überblick über die Bewegungen im Luftraum darstellen konnte, musste als dritte Koordinate die Höhe mit den PRW bestimmt werden. Dazu schwenkten die eindrucksvollen Antennen der Höhenmesser permanent auf und ab.

An Tanners PRW-13 war die Wartung offenbar schon abgeschlossen und es lief die Luftraumaufklärung. Das wunderte den Leutnant. Er konnte die typischen Bewegungen der hinteren Kabine erkennen. Bei konstantem Auf und Ab hielt die Drehbewegung kurz inne. Es folgten drei bis vier Nickbewegungen, dann drehte sich der Koloss in Richtung des nächsten Ziels, erneute drei bis vier Nickbewegungen, um die Höhe abzulesen und so weiter. Das Ganze erfolgte ohne hektisches Hin und Her.

Da sitzt ein erfahrener Funkorter mit guter dreidimensionaler Vorstellungskraft am Drehsteuerblock, der Gefreite Damm!

Der PRW wurde aus dem Innern des Gefechtsbunkers gesteuert, deshalb waren die schweren Splitterschutztore des dritten Unterstandes geschlossen und hydraulisch verriegelt. Das sah der Leutnant auch aus der Entfernung. Heute fiel im strahlenden Sonnenlicht besonders auf, dass die schweren Tore noch immer im zarten Hellgrau des Rostschutzanstrichs strahlten.

Hat hier das Tarnkonzept versagt, oder ist lediglich die Farbe knapp?

Die Torflügel am vorderen Komplex standen einladend offen. Das 400-Hertz-Summen des Frequenzumformers drang herüber. Die Sende-Empfangs-Kabine duckte sich mit offener Tür bewegungslos auf den ersten Hügel. Soweit Tanner das von hier aus erkennen konnte, kauerte Stationsleiter Frank Meisner im Halbdunkel vor dem Empfängerschrank.

„118,119…!“

Mit genau 120 Schritten war der Weg vom Fuß des Hügels hinauf zur Kabine zu schaffen. Das hatte Tanner schon zigmal ausprobiert. Dabei stellte er immer wieder stolz fest, dass er durch den kurzen Sprint nicht außer Atem geriet.

„Frank brauchst Du Hilfe?“, übertönte Tanner das Geräusch der Lüfter und das Summen der vielen 400-Hertz-Trafos in den Modulen der Kabine.

Diese Frage hatte er seinem Freund in den letzten Monaten schon oft gestellt. Wenn es irgendwie möglich war, hatte der das Angebot abgelehnt. Frank besaß einen starken Willen, gelegentlich bis zur Sturheit. Dabei musste er sich aus vielen Gründen nicht schämen, Hilfe anzunehmen. Die beiden jungen Offiziere trugen zwar denselben Abschluss, hatten sogar am selben Lehrstuhl studiert, doch war Frank schon früh in einen anderen Zug versetzt worden. Er hatte die Spezialisierung für den kleineren PRW-16 durchlaufen. In der Truppe wurde er dennoch Stationsleiter eines PRW-13, dessen Besonderheiten er sich nun mühsam nachträglich erarbeiten musste. Als Hilfsmittel standen ihm nur ein paar Fotoabzüge und Lichtpausen von handgezeichneten russischen Schaltbildern zur Verfügung. Diese gehörten, in zwei Segeltuchtaschen eingeschlagen, zur Ausrüstung der Station. Einige Hefte mit russischen Anleitungen lagerten aus Gründen der Geheimhaltung in der VS-Stelle.