Die Ausgeschlossene - Gitte Lindahl - E-Book

Die Ausgeschlossene E-Book

Gitte Lindahl

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Diana Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

William Falk sieht in einem Stockholmer Restaurant eine junge Frau, die seiner verstorbenen Geliebten wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Kurz darauf erhalten er und seine Frau Kristen einen Anruf: In ihrem Ferienhaus wurden zwei Menschen erschossen. Hat die Doppelgängerin etwas mit den brutalen Morden zu tun? Schon bald wird klar, dass alle Beteiligten Dunkles zu verbergen haben. Eine Fahrt in die Abgründe der Seele beginnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 366

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Der Roman

William Falk und seine Frau Kristen führen seit mehr als zehn Jahren eine gute Ehe und sind in der Stockholmer Gesellschaft ein angesehenes Paar. Kristen ist liebevoll, sein Ruhepol, gleichzeitig schätzt er ihre Energie. William ist als Schmuckdesigner ein kreativer Freigeist, der sich voll und ganz auf Kristen verlassen kann. Sie ist die treibende Kraft in seinem Unternehmen, das sie erfolgreich führt. Dass der Schein trügt, wird klar, als William im Restaurant einer jungen Frau begegnet, die seiner verstorbenen Geliebten täuschend ähnlich sieht. Kurz darauf erhalten die Falks einen Anruf der Polizei: In ihrem im Ferienhaus in Mölna seien sowohl der ortansässige Nachbar als auch Kristens beste Freundin erschossen worden. Kristen und Falk geben an, in der Mordnacht in Stockholm gewesen zu sein, doch bezeugen kann das niemand.

Was geschah in dieser Nacht wirklich? Welche Rolle spielt die junge Frau aus dem Restaurant? Und wer ist wessen Feind?

Die Autorin

Gitte Lindahl, geboren 1968, ist als Kind eines schwedischen Vaters und einer deutschen Mutter in Stockholm aufgewachsen. Seit dem Mauerfall lebt sie in Potsdam, arbeitet als Psycho- und Paartherapeutin und schrieb jahrelang als Ghostwriterin. »Die Ausgeschlossene« ist ihr spannendes Debüt.

GITTE

LINDAHL

Die

Ausgeschlossene

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 11/2018

Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anne Tente

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München, unter Verwendung von Motiven © Tim Daniels/Arcangel; Husjak/Shuttersock; Cepera/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-20671-0V002

www.diana-verlag.de

Für Dirk Janßen aus dem Norden,

dem ich viel zu verdanken habe

1

WILLIAM

1Wie der Schmerz, den William als Kind beim Griff in eine Steckdose erlitten hatte, durchfuhr ihn das plötzliche Tosen und Brennen, die Ungläubigkeit, aber auch die Unentrinnbarkeit eines verloren geglaubten Gefühls. Elektrisiert im wahrsten Sinn des Wortes betrat er das Restaurant Filetstuck.

Beim Eingang hingen Rippenstücke, Hinterschinken mit Knochen, eine ganze Schweinehälfte in jener gläsernen Kühlvitrine, die wie eine provozierende Kunstinstallation anmutete. Wer ins Filetstuck ging, wusste, er würde es mit Fleisch zu tun kriegen. Obwohl Williams Geschäftszentrale kaum hundert Meter entfernt lag, kam er selten hierher und nur dann, wenn ihn ein karnivorischer Heißhunger überfiel.

Beim Eintreten stellte sich ihm der Restaurantbesitzer in den Weg und präsentierte einen Korb mit prächtig roten Erdbeeren. »Hallo, Will. Die sind gerade frisch eingetroffen. Wie wär’s damit zum Dessert?«

Will versuchte, den Grund seiner plötzlichen Aufregung nicht aus den Augen zu verlieren. »Die sehen toll aus. Leider habe ich eine Erdbeerallergie.« Am Geschäftsführer vorbei lief er weiter ins Lokal hinein.

William, der Braungebrannte, der Beliebte mit dem elastischen Gang, von dem er hoffte, er möge ihm trotz beginnender Hüftarthrose noch lange erhalten bleiben, grüßte nach rechts und links. Von ihm wurde behauptet, dass er ein Mann sei, der mit dem Alter immer besser würde. Er fand diese Bemerkung lächerlich: Vierundfünfzig war doch kein Alter.

Bevor er entschied, ob er gegenüber der Frau mit dem Aperol Spritz Platz nehmen sollte oder lieber so, dass er sie durch den Spiegel beobachten konnte, fiel sein Blick auf das meterhohe Satellitenfoto an der Wand. Es zeigte eine Aufnahme des Stockholmer Stadtteils Kungsholmen, in dem sich auch das Filetstuck befand. Kungsholmen, die Königsinsel, war, obwohl im Zentrum gelegen, nicht Stockholms schönstes Viertel. Es gab hier vorwiegend Verwaltungsgebäude, Verkehrsknotenpunkte und Unternehmenssitze; auch William hatte sich hier angesiedelt. Nur im Westen, um den Sankt Göranspark, wo sein Wohnhaus lag, besaß der Bezirk Charme. Nach seiner Heirat vor elf Jahren war William in die Marienbergsgatan Nr. 16 gezogen. Für seine Frau Kristen stellte die Zahl Sechzehn ein gutes Omen dar, weil sie ihren Mann an einem sechzehnten Juni um Mitternacht zum ersten Mal geküsst hatte. Es war taghell gewesen. In einer jener weißen Nächte hatte sich Kristen in William verliebt.

Er beschloss, sich mit dem Rücken zu der jungen Frau zu setzen. Der Spiegel bot ihm die Möglichkeit, sie ausgiebiger zu betrachten, als wenn er verstohlen zu ihr hätte hinüberlinsen müssen.

Es gab keine zwei gleichen Menschen auf der Welt. Ähnlichkeiten existierten natürlich, gleiche Haartracht, ähnliche Zahnstellung, die Augenfarbe, ein bestimmtes Lächeln, eine besondere Art, sich zu bewegen, all das gab es. Aber so etwas nicht, so etwas auf keinen Fall.

Nachdem er Platz genommen hatte, versuchte William sich damit zu beruhigen, dass die Ähnlichkeit nur im Auge des Betrachters, also in seinem Auge lag. Dass William sich diese scheinbare Auferstehung so sehr gewünscht hatte, dass er nun auf sein eigenes Wunschbild hereinfiel. Nachdem er ein stilles Wasser und Salat mit Lammstreifen bestellt hatte, widmete er sich dem Anblick der Frau im Spiegel mit schwindender Aufregung und mehr Distanz.

Sie war nicht Madelaine, natürlich nicht, dafür war sie viel zu jung. Und doch hätte sie Madelaines jüngere Schwester sein können. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, da sie sich erstaunlich konservativ kleidete. Das Muster ihres figurbetonten Stretchkleides hatte einen Hauch von Versace, vielleicht Max Azria, ruhige Brauntöne, Ethno Bohemia, dachte William. Sie war auffallend schlank, hatte einen katzenhaft runden Kopf und langes welliges Haar, das man bei der spärlichen Beleuchtung für schwarz halten konnte, doch William entdeckte darin einen Stich ins Kastanienbraune. Sie trank in kleinen Schlucken, im Übrigen tat sie nichts. Sie schien auf niemanden zu warten, hatte auch nichts zu essen bestellt, da kein Gedeck vor ihr lag. Sie las nicht, sie beschäftigte sich nicht mit ihrem Smartphone; das Einzige, was sie sich für den Besuch im Filetstuck vorgenommen zu haben schien, war es, das Glas Aperol zu leeren. Bei jedem Schluck klirrten die Eiswürfel leise.

Wenn William eine bestimmte Geste Madelaines als unverwechselbar in Erinnerung hatte, war es das Zwirbeln ihres Haares. In nachdenklichen, selbstvergessenen Momenten hatte sie träge den linken Arm gehoben – Madelaine war Linkshänderin –, hatte die Hand in ihrer Haarpracht vergraben und begonnen, einen Kringel um den Mittelfinger zu drehen. Sie hatte mit diesem Kringel gespielt, ihn nach vorn gezogen und schließlich wieder zerfallen lassen. Die junge Frau im Spiegel tat nicht nur das Gleiche wie Madelaine, sie tat es vielmehr auf die exakt gleiche Art, mit der linken Hand. Sie tat es, als ob der Geist Madelaines in sie geschlüpft wäre und ihr, die dem Original so unglaublich ähnelte, aufzwang, sich auch zu bewegen wie Madelaine.

Als ob er ihr Spiegelbild dadurch deutlicher lesen könnte, beugte William sich vor. Der Schwung ihrer dichten Brauen, der helle Teint der Wangen, die vollen ungeschminkten Lippen, alles war so unfassbar ähnlich! William war verwirrt, verloren in diesem Anblick: Spielte das Schicksal gerade einen Film ab, in dem Madelaine die Hauptrolle verkörperte? Die Frau im Spiegel war schön wie Madelaine, leibhaftig wie Madelaine, verführerisch wie Madelaine. Durfte Will die Fügung, die ihn heute im Filetstuck hatte einkehren lassen, ungenutzt verstreichen lassen? Musste er nicht erfahren, wer sie war, ob sie in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Madelaine stand, oder ob diese Ähnlichkeit tatsächlich bloß eine Spielerei der Natur sein sollte?

William überlegte, wie er ein Gespräch mit ihr anfangen könnte, ohne dass sie es als Belästigung empfinden würde. Die Bemerkung: »Entschuldigung, aber Sie sehen jemandem zum Verwechseln ähnlich«, wäre natürlich zu plump.

Geräuschvoll öffnete er die Stoffserviette und versuchte, den Blick der Unbekannten auf sich zu ziehen. Sonderbar konzentriert hielt sie die Augen weiter auf ihr Glas gesenkt. Sollte er sie um den Salzstreuer bitten? Was für ein dummes Spiel, dachte er, er wollte ja nichts von dieser Frau, außer vielleicht Auskunft zu bekommen. Die einzig seriöse Möglichkeit lag darin, sich ihr vorzustellen und zu erklären, weshalb er nicht aufhören konnte, sie anzustarren. William legte die Serviette beiseite und schob den Tisch von sich.

»Hallo, Will. Du hast noch nicht gegessen, sehe ich«, sagte eine Stimme links hinter ihm.

Fast zu jeder Gelegenheit hätte er sich gefreut, seiner Bekannten Diana Mattsson zu begegnen, doch in diesem Moment kam ihm die TV-Moderatorin ungelegen. Sie durchkreuzte seine Hoffnung auf eine leichte, spontane Bekanntschaft mit der Unbekannten.

»Diana, wie nett«, sagte er überrumpelt.

»Ich leiste dir Gesellschaft.« Als von ihm keine Einladung kam, setzte sie sich unaufgefordert dorthin, wo sie William den Blick auf den Spiegel verstellte.

»Du nimmst deine Mittagspause heute ziemlich früh.« Er wollte sich seine Irritation nicht anmerken lassen und beugte sich nur unauffällig nach links. Die junge Frau öffnete gerade ihre Handtasche. Brach sie etwa auf?

»Im Sender geht es gerade drunter und drüber«, antwortete die Moderatorin. »Lauter Verrückte, alles Verrückte, sage ich dir. Da habe ich mich einfach aus dem Staub gemacht.«

Diana Mattsson war das Gesicht der Tagesnachrichten, ein bekanntes Gesicht in Schweden, und William brauchte bekannte Gesichter in seinem Business.

William Falk hatte das Juweliergeschäft seines Vaters geerbt, Falk-Juwelen hatten in Skandinavien einen erstklassigen Namen. Nach dem Ausscheiden seines Vaters hatte William als gelernter Schmuckdesigner dem Unternehmen seinen eigenen Stempel aufgeprägt. Der Durchbruch war ihm erst gelungen, als er den Namen Falk um die Geschäftsidee FOREVERNEWerweitert und trendige Designs online gestellt hatte. An der Traditionsadresse im Herzen Stockholms verkaufte William zwar immer noch Schmuck für Gutbetuchte, zugleich präsentierte sein Online-Unternehmen jedoch exquisite Kollektionen als Modeschmuck, den sich praktisch jeder leisten konnte. Das Ergebnis war ein beispielloser Erfolg. Um die Auftragsflut zu bewältigen, hatte William ein Loftgebäude in Kungsholmen gekauft, wo das Marketing und der Versand der Schmuckstücke vonstattengingen. Die Herstellung hatte er nach Estland und Polen ausgelagert, von wo täglich ein Flugzeug in Stockholm eintraf, das den Nachschub lieferte.

Williams Werbestrategie war es, Konzepte aus Kunst und Mode auf Schmuck zu übertragen. Sich ständig wandelnde, von High-Street-Fashion inspirierte Kollektionen schufen Begehrlichkeiten bei einer weltweiten Käuferschaft. William tanzte zwischen Beständigkeit und Wandel, er stillte den Wunsch der Menschen nach Abwechslung mithilfe erschwinglicher Kollektionen. Sein Markenzeichen wurde das Crossover zwischen Stil und Innovation.

Um sein Konzept besser an die Menschen heranzubringen, hatte er schon bald die Nähe von Celebrities gesucht, die sich bereitwillig mit seinem Schmuck behängen ließen, wenn sie zu Events, Preisverleihungen oder Filmbällen gingen. So eine bekannte Person war Diana Mattsson.

Da sich die Moderatorin nicht vorstellen konnte, dass William während seiner Lunchpause an irgendetwas mehr interessiert war als an ihr, plauderte sie munter auf ihn ein, kam von Neuigkeiten aus dem Sender auf den Filmball im kommenden Monat zu sprechen und folgerichtig auf den Schmuck, den William für sie ausgesucht hatte.

Währenddessen hoffte er inständig, dass die Frau am Nebentisch noch etwas zu essen bestellen würde. Doch seine Befürchtung bewahrheitete sich, der Kellner brachte ihr die Rechnung. Madelaines Ebenbild machte Anstalten, das Filetstuck zu verlassen, ohne William einen einzigen Blick geschenkt zu haben.

Während er sie im Spiegel aufstehen und näher kommen sah, irrlichterten Ideen durch seinen Kopf, wie er im letzten Moment noch Kontakt mit ihr aufnehmen könnte. Schon sah er das Muster ihres Stretchkleides neben sich auftauchen. Bevor sie mit langen Beinen zum Ausgang lief, erreichte William der schwache Anflug ihres Parfüms. Sie, mit der er nicht hatte sprechen können, mit der er keinen Blick getauscht hatte, sie, die unbekannt an ihm vorüberging und von der er überzeugt war, dass er sie nie wiedersehen würde, sie schenkte ihm ihren Duft.

William schnupperte. Das war – ja, wenn er sich nicht täuschte, war das Chloé. Das kräftige Parfüm sagte ihm nicht besonders zu, weil es zu bitter war, zu viele Anteile Moschus waren darin, und doch würde William seine Erinnerung an diese Frau ab jetzt an den Geruch von Chloé binden. Aus dem Augenwinkel sah er ihr nach. Beim Ausgang arrangierte der Restaurantbesitzer gerade die Kühlvitrine. William hoffte auf einen Gruß, eine hingeworfene Bemerkung, die ihm zeigen würde, dass die beiden einander kannten. Doch ohne innezuhalten, öffnete die Frau die Tür und trat ins Freie.

Während Diana Mattsson weiter auf William einredete, verdüsterte sich seine Laune mit jeder Sekunde. Er hatte sie gehen lassen. Warum in Gottes Namen hatte er sie nur gehen lassen?

2

KRISTEN

2Versonnen stand Will hinter der Glaswand, die den Kreativbereich vom Logistikbereich trennte. Dahinter schlossen sich die Aufenthaltsräume an, die Catering Lounge, der Fitnessraum und dort, wo das Loft an die Bahngleise grenzte, befand sich das Lager.

Bevor er durch die Glastür trat, genoss er den Moment, unbeobachtet zu beobachten. Kristen war eine energische Erscheinung, dabei feminin und zugleich verletzlich. Wenn es im Betrieb drunter und drüber ging, behielt Williams Frau stets die Ruhe. Sie konnte anpacken wie drei Männer. Bei Partys verwandelte sie sich in eine verführerische Gastgeberin; zu solchen Anlässen bevorzugte sie rückenfreie Kleider, die ihre sportlich trainierten Schultern zur Geltung brachten. Es gab aber auch Momente, in denen Kristen alles zu viel wurde, die nie endende Arbeit, die niemals abreißende Informationsflut, die sie mit drei Smartphones parallel zu bewältigen versuchte, und die Dinge, die sie organisieren und auf den Weg bringen musste: Aufträge, Events, Versteigerungen, Präsenz in den sozialen Netzwerken und Medienauftritte. Obwohl Will es nicht von ihr verlangt hatte, brachte sich Kristen in einem Maß in die Firma ein, dass sie unersetzbar geworden war.

Ihr anpackendes Wesen und ihr Perfektionismus hatten jedoch eine Kehrseite: Wenn die Wellen der Überbeschäftigung über ihr zusammenschlugen, wurde Kristen mutlos wie ein Kind, wurde aber auch ungerecht und launisch. Das tat ihr nicht gut, war aber auch gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern problematisch. Dann brachte William sie in einen Raum, der einen Blick aufs Wasser hatte. Sie setzte sich ans Fenster, und er servierte ihr ein Glas Alsterwasser. Deshalb hatte er Zitronenlimonade und Bier immer im Kühlschrank vorrätig. Das Getränk aus ihrer Jugend, die Erinnerung an die Heimatstadt Lübeck halfen ihr meistens. Und der Anblick des Wassers, der Wellen schien ihr zu sagen, dass sie jederzeit wieder nach Hause fahren konnte, über die Ostsee nach Travemünde und von dort ins Herz der alten Hansestadt. Kristen hatte ihre Heimat verlassen und war Will nach Schweden gefolgt. Auch wenn man nach elf Jahren nicht mehr von Heimweh sprechen konnte, tat ihr der Gedanke an den Ort ihrer Kindheit in herausfordernden Situationen besonders gut.

Im Augenblick war Kristen keine Spur überfordert. In sich ruhend und bestimmt, ohne autoritär zu sein, lief sie vom Chefprogrammierer zu den Webdesignern, beugte sich über Bildschirme, diskutierte, gab Anweisungen und erhielt respektvolle Antworten. Je nach Bedarf setzte sie ihre schmale Stahlbrille auf oder ab. Als sie William hinter der Glaswand entdeckte, verschwand die Brille. Ein Lächeln erschien in Kristens Gesicht, das auch nach elf Jahren ebenso frisch und liebevoll war.

Er hob die Hand zum Gruß. Sie betrachteten einander mehrere Sekunden lang. Es war Liebe. Nach all der Zeit liebte Kristen ihren William noch von ganzem Herzen, und ihm ging es genauso.

Als er das Büro betrat, drängte die Arbeit von allen Seiten auf ihn ein. Unterwegs zum Schreibtisch beantwortete William die Fragen seiner Mitarbeiter. Kam es ihm nur so vor, oder stellte sich Kristen jedes Mal, wenn die Frequenz der zu treffenden Entscheidungen zu hoch wurde, wie ein Leibwächter vor ihn? Wenn er bei FOREVERNEWder König war, stellte Kristen seinen treuesten Ritter dar.

»Das Preisausschreiben für das Armband Alohé ist bestens gelaufen. Die Klickrate ist sehr gut«, sagte sie zur Eventmanagerin. »Leider kann man das von der restlichen Kollektion nicht behaupten. Da musst du noch mal ran. Vor Feierabend zeigst du mir dann das Ergebnis.«

Zusammen gingen sie in Kristens Büro. Ihr schwarzer Cockerspaniel Jasper hob auf seiner Schlafdecke den Kopf, wackelte mit dem Stummelschwanz und ließ sich wieder auf die Seite fallen.

Kristen und Will besprachen die Tagesgeschäfte, unter anderem das Problem, dass Kunden auf Facebook die mangelhafte Verpackung der Ware beanstandet hatten.

»In der Auslieferung wird schlampig gearbeitet.« Kristen setzte sich auf das Fensterbrett, während er gewohnheitsmäßig an ihrem Schreibtisch Platz nahm. »Ich fürchte, dass die Praktikanten dafür verantwortlich sind.«

»Die Neuen sind erst ein paar Tage hier«, beschwichtigte er.

»Dann hätten sie besser eingeschult werden müssen. Ich übernehme das.«

»Du hast doch ohnehin schon zu viel zu tun. Du willst auch noch die Leute persönlich einschulen?«

»Warum nicht?«

»Aber nur, bis wir eine andere Lösung gefunden haben. Und sei behutsam mit ihnen.« Er wusste, dass er ein heikles Thema ansprach.

»Nur weil sie Ausländer sind?«

»Die meisten von ihnen sind Moslems.«

»Und wenn ein Moslem ein Schmuckstück nicht genauso sorgfältig verpackt wie ein Schwede, darf ich das dem Moslem nicht sagen?« Der Vorwurf war verschwunden. Ihre Miene verriet, dass sie verstand, woher sein Einwand kam. Jenes wunderschöne Leuchten trat in Kristens Augen, das Will als Erstes an ihr aufgefallen war. Ihre Energie und ihr Humor schossen in solchen Momenten in die Pupillen.

»Ich bitte dich nur um ein bisschen Fingerspitzengefühl«, erwiderte er lächelnd.

Kristen stand vom Fensterbrett auf. »Ich staune immer wieder, wie feinfühlig du ein Business handhabst, das du selbst kreiert hast.« Sie wollte sich auf seinen Schoß setzen.

William beugte sich nach rechts und tat, als ob er den zweiten Computermonitor einschalten wollte. Sie verstand seine Abwehr sofort und ließ sich auf die Tischkante sinken. William und Kristen schliefen kaum noch miteinander. Ihrem Sex fehlte die Zärtlichkeit, das Hingebungsvolle, jenes Gefühl, das sich ausschließlich auf den anderen bezog.

Warum hatte ihn ihre harmlose Zärtlichkeit so erschreckt? Die Begegnung von vorhin fiel ihm ein. Jenes mysteriöse Doppelbild Madelaines hatte ihn wohl so durcheinandergebracht. Sofort bedauerte er seine Reaktion Kristen gegenüber, doch nun war es nicht mehr zu ändern. Vielleicht hatte sie sein Zögern auch gar nicht bemerkt.

Nach einer halben Stunde, sie hatten das Wichtigste besprochen und Kristen wollte gerade mit dem Hund rausgehen, läutete das Telefon. Will erkannte die Vorwahl von Mölna, dem Dorf, wo sie ihr Wochenendhaus hatten. Wahrscheinlich war es der Ortsvorsteher, der die Falks zum alljährlichen Midsommarfest einladen wollte, was mit einer ansehnlichen Spende verbunden sein würde. William nahm an Kristens Apparat ab.

»William Falk hier.«

Der Anruf kam von der Polizei.

Auf die Frage des Beamten antwortete Will verblüfft: »Wann ich zuletzt …? Vergangenes Wochenende war ich draußen.« Er bedeutete Kristen, die bereits die Hundeleine in der Hand hatte, zu bleiben. »Nicht dass ich wüsste.« Er überlegte. »Moment. Meine Frau hat unserer Freundin Bonnie erlaubt, das Haus unter der Woche zu benutzen. Was ist passiert?«

Während der Hund Kristen wedelnd umtanzte und sie Will mit neugierigem Blick musterte, erhielt Will die Antwort.

»Bonnie?«, fragte er und schaltete gleichzeitig den Lautsprecher ein. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen.

»Bonnie Håkansson wurde in Ihrem Haus gefunden«, sagte die Frauenstimme.

»Was meinen Sie mit gefunden?« Will wusste, dass er keine angenehme Antwort bekommen würde.

»Wie schnell könnten Sie in Mölna sein, Herr Falk?«

»Sagen Sie mir zuerst, was mit Bonnie passiert ist.« Wills Augen wanderten zu Kristen. Sorge und Beunruhigung vertieften die Falte an ihrer Nasenwurzel.

»Wir haben zwei Beamte zu Ihrer Stockholmer Adresse geschickt«, lautete die ausweichende Antwort. »Sie müssten jeden Moment eintreffen.«

Will hob den Kopf.

Als ob sie nur auf ihr Stichwort gewartet hätten, tauchten zwei Uniformierte am anderen Ende des Lofts auf. Das Blau ihrer Mützen mit dem Emblem der drei Kronen gab ihrem Auftritt etwas Bedeutsames. Nebeneinander durchschritten die beiden das Großraumbüro und wurden von Williams Angestellten neugierig gemustert.

»Ja, sie sind da«, sagte er ins Telefon.

Die Beamten, ein Mann und eine Frau, klopften an Wills und Kristens Bürotür, traten ein und positionierten sich unauffällig so, dass niemand ohne ihre Genehmigung das Büro hätte verlassen können. Jasper verstand, dass sich die Sache mit dem Spaziergang noch verzögern würde, und machte enttäuscht auf seiner Schlafdecke Platz.

Wenn Gräuelnachrichten, Naturkatastrophen, Terroranschläge in den News auftauchten, zweifelte William meistens nicht an deren Glaubwürdigkeit. Dass in seinem Haus eine tote Frau liegen sollte, die ihm und Kristen eine liebe Freundin gewesen war, wollte keinen Eingang in sein Bewusstsein finden.

Garpegården, das wunderbare hundert Jahre alte Haus, war ihr Refugium. Auch wenn William es allein erworben hatte, war es Kristen gewesen, die es entdeckt hatte, kurz nachdem die alte Frau, die sechzig Jahre darin gelebt hatte, gestorben war. Kristen hatte Garpegården mithilfe ortsansässiger Handwerker renoviert und es praktisch allein eingerichtet. Der Garten war Williams Domäne. Er hatte Liguster, Feuerdorn und Kirschlorbeer gepflanzt, die wild wuchernden Bäume beschnitten und einen Beerengarten angelegt, der ihnen nun von Mai bis Oktober Früchte bescherte. Kristen und William fanden, dass Garpegården das hübscheste Haus in ganz Mölna war. Mit seinem ochsenblutroten Anstrich, dem unverwüstlichen Giebeldach, der anheimelnden Veranda war es, nur wenige Meter über dem Meer gelegen, ein Zufluchtsort, den beide von Herzen liebten. Ein Sandweg führte zum Landungssteg, wo in der warmen Jahreszeit Williams Jolle vor Anker lag, die er zärtlich Kristen getauft hatte.

Das Ehepaar musste erklären, wo es den vergangenen Abend und die Nacht verbracht hatte. Eine Standardprozedur, erklärte die Beamtin, die sie ihnen aber nicht ersparen könne. William gab an, im Kino gewesen zu sein und zwar in der Spätvorstellung. Er hasste es, mit vielen Menschen im Saal zu sitzen, und nahm die späte Anfangszeit in Kauf, um sich einen Film ungestört anzusehen. Gegen halb zwei sei er nach Hause gekommen. Kristen sagte, dass sie lange gearbeitet hätte, mit dem Hund spazieren gewesen und schließlich schlafen gegangen sei.

Darauf wurden die Falks im Polizeiwagen nach Mölna gebracht. Auf die Frage, weshalb sie nicht mit den eigenen Autos fahren dürften, versicherte man ihnen, dass die Polizei sie nach der Vernehmung wieder nach Stockholm zurückbringen werde.

Nach fünfundzwanzig Minuten erreichten sie Mölna, das malerische Dorf am Meer. Normalerweise freute sich William bei der Ortseinfahrt über die unregelmäßige Anordnung der Kiefern und Birken, zwischen denen sich die Häuser duckten, über die felsigen Hügel und Steinplatten, die, vom Wasser seit Jahrmillionen glatt poliert, zum Ufer führten. In einem Zustand nebelhafter Dumpfheit schaute er aus dem Seitenfenster und begegnete den neugierigen Blicken der Dorfbewohner, die das Wesentliche offenbar schon erfahren hatten und an ihren Gartenzäunen die Neuigkeiten diskutierten. Will grüßte die bekannten Gesichter mit einem ernsten Nicken. Neben ihm ließ der Hund sich den Fahrtwind um die Schnauze streichen. Kristen trug eine Sonnenbrille. Starr und unergründlich wie eine Sphinx saß sie da. Fast die ganze Strecke über hatte William ihre Hand gehalten.

Äußerlich war in Garpegården alles beim Alten. Am Eingang bogen sich die Zweige des Pfirsichbaumes unter der Last der Früchte. Die Bougainvillea umwucherte das schmiedeeiserne Tor. Die Polizei hatte beide Torflügel aufgestoßen, weshalb einige Triebe abgerissen waren. Wie eh und je war das Gras von Moos durchwachsen, auf der Wiese berührten die Birkenzweige den Boden. Das Winterbrennholz trocknete in der Sommersonne. Die Stare saßen im Kirschbaum und labten sich an den knallroten Früchten. Meistens hatten sie schon ganze Arbeit geleistet, bevor William dazu kam, auf den Baum zu steigen und die Kirschen zu pflücken. Alles wäre wie immer gewesen, hätten nicht zwei Autos mit kreisendem Blaulicht vor dem Haus gestanden – und ein weiteres Fahrzeug, das als Leichenwagen zu erkennen war.

William blieb im Auto, bis ihm die Beamtin die hintere Tür öffnete. Danach half er Kristen beim Aussteigen. Jasper schoss an ihnen vorbei und tollte über das Grundstück. Während Will und Kristen Hand in Hand auf das Haus zugingen, wurden Wills Knie plötzlich weich. Er hatte den Eindruck, als ob sich der moosige Boden unter ihm senkte und er in die Tiefe zu stürzen drohte.

»Hoppla, Vorsicht«, sagte eine sonore Frauenstimme, die nach zu viel Alkohol oder Zigaretten klang.

Die Person, die ihnen entgegentrat, strahlte jedoch robuste Gesundheit aus. Sie mochte Anfang vierzig sein, trug einen dunkelgrauen Hosenanzug und feste Schuhe. Sie hatte ihr mittelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Frau streckte Will die Hand entgegen, vielleicht um ihn vor dem Sturz zu bewahren, vielleicht nur, um ihn zu begrüßen.

»Ich bin Dagny Larsson, Mordkommission Stockholm.«

Einen Moment überlegte er, ob die Insel Lidingö, auf der Mölna lag, zum Zuständigkeitsbereich des Stockholmer Dezernats gehörte. Er schüttelte die feste und trotz der warmen Witterung trockene Hand. »William Falk. Das ist meine Frau.«

»Frau Falk. Es tut mir leid, dass ich Sie unter diesen Umständen hierherholen muss.«

»Dürfen wir endlich erfahren, was mit Bonnie passiert ist?«

Statt zu antworten, wandte sich die Kommissarin um. »Bitte nehmen Sie Ihren Hund an die Leine.«

»Warum?«

»Weil wir uns an einem Tatort befinden. Bevor die Spurensicherung fertig ist, darf nichts verändert werden.«

Ohne eine weitere Frage oder Bemerkung pfiff Kristen Jasper zu sich und nahm ihn an die kurze Leine. William und sie steuerten auf den Eingang zu.

Die Kommissarin trat ihnen in den Weg. »Wir gehen besser auf die Veranda.« Mit einer Geste bat sie die beiden zum seitlichen Treppenaufgang. Auf Kristens fragenden Blick sagte sie: »Ich möchte Ihnen den Anblick lieber ersparen.«

»Wunderschön haben Sie es hier«, sagte Dagny Larsson, als sie auf der Terrasse standen, von der man einen reizenden Blick über das stahlblaue Wasser und die angrenzende Bucht hatte. Dann setzte sie den beiden in nüchternen, respektvollen Worten auseinander, dass ihre Freundin Bonnie Håkansson vergangene Nacht im Haus erschossen worden sei. Tragischerweise sei auch der Nachbar der Falks, Herr Walter Dahlberg, gewaltsam ums Leben gekommen. Frau Håkansson und Herr Dahlberg seien mit derselben Waffe getötet worden, die man am Tatort sichergestellt hatte.

»O nein, bitte nicht«, murmelte Kristen. »Nicht Walter, der Wächter …«

»Der Wächter?« Die Ermittlerin fasste Kristen ins Auge.

»So haben wir ihn genannt. Zuverlässiger als jede Alarmanlage war Walter unsere Absicherung, dass im Haus alles in Ordnung war. Ob ein Ast aufs Dach gefallen oder ein Reh in den Garten eingebrochen war, Walter informierte uns über alles.« Kristen hatte die Sonnenbrille abgesetzt, doch da sie nun mit den Tränen kämpfte, setzte sie sie wieder auf.

»Hat Herr Dahlberg Sie gestern über etwas Ungewöhnliches informiert?«, fragte die Kommissarin. »Hat er bei Ihnen angerufen?«

William antwortete zuerst. »Ich war im Kino, da mache ich mein Telefon aus. Es war keine Nachricht auf meiner Mailbox.«

»Bei mir hat sich Walter auch nicht gemeldet.« Kristen zog zwei ihrer Smartphones hervor. »Ich will aber zur Sicherheit nachschauen …«

»Sie haben zwei Mobiltelefone?«

»Genau genommen sind es drei. In meinem Job …« Kristen hob die Schultern. »Nein«, sagte sie, während sie durch die Displays scrollte. »Keine Nachricht von Walter. Was ist Ihre Vermutung, Frau Larsson?«

»Frau Håkansson muss von jemandem aufgesucht worden sein. Wir wissen noch nicht, ob es ein Einbrecher war oder jemand, den sie kannte. Dahlberg muss dazugekommen sein, vielleicht weil er bereits einen Schuss gehört hatte. Möglicherweise ist er als unliebsamer Zeuge vom gleichen Täter erschossen worden.«

Die Kommissarin hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich die Haustür öffnete. Zwei Männer in Uniform trugen eine längliche Blechbox aus dem Haus. Jasper wollte daran schnuppern, Kristen hielt ihn fest.

»Ist das …?«

»Walter Dahlberg«, nickte Frau Larsson. »Die sterblichen Überreste von Bonnie Håkansson wurden bereits in die Gerichtsmedizin gebracht.«

»Ich möchte Bonnie noch einmal sehen.«

Erstaunt wandte sich William zu seiner Frau. »Du willst sie sehen?«

»Davon rate ich ab«, sagte die Kommissarin. »Der Schuss, der Ihre Freundin getötet hat …« Sie räusperte sich. »Es handelt sich bei der Tatwaffe um eine Schrotflinte.«

»Eine Schrot…?« William sah Kristen an.

»Walter hatte eine Schrotflinte«, sagte sie.

»Walter war hier berüchtigt für seine Schrotflinte«, setzte William nach. »Jeder kannte ihn, wenn er im Herbst auf Entenjagd ging. Kann ich das Gewehr einmal sehen?«

»Natürlich.« Die Kommissarin ging den beiden voraus.

Vor Kristen und William öffnete sich die Tür in ihr gemeinsames Haus, das über Nacht zum Tatort geworden war.

3

WILLIAM UND KRISTEN

3Kristen lag nackt im Bett, die Träger ihrer Unterwäsche hatten Abdrücke an den Schultern hinterlassen. Die Jalousien waren geschlossen, in Streifen drang das Licht durch die Lamellen. Will drehte sich auf die andere Seite.

Sie hatten miteinander geschlafen. Das schreckliche Ereignis, die Leere danach, die unfassbare Endgültigkeit hatten sie in einen seltsamen Zustand versetzt, in dem sie verzweifelt eine Bestätigung suchten, dass sie am Leben waren. Kaum hatten sie ihr Haus in der Marienbergsgatan betreten, war Kristen am unteren Treppenabsatz gestolpert. Will hatte sie aufgefangen. Merkwürdig leblos lag sie danach in seinen Armen, ohne sich zu bewegen, ohne ihm zu sagen, wohin er sie bringen sollte. Ihre Schlaffheit, die Entschlusslosigkeit der sonst so energiegeladenen Frau hatten ihn geradezu gezwungen, so fühlte es sich zumindest an, sie in den ersten Stock zu tragen und sie auszuziehen. Er hatte ihre nackte Haut berührt, ein mittlerweile ungewohntes Gefühl. Kristen hatte sich alles gefallen lassen. Williams Handgriffe waren fordernder geworden, und er hatte seine eigenen Kleider abgestreift. Ihr Sex war gedankenlos, spontan und wild gewesen, in blinder Lust waren sie übereinander hergefallen, nur zu Anfang fühlten sie sich kurz schuldig, in dieser Situation an Sex zu denken. Sie hatten sich in ihrer Trauer ineinander verkrallt und waren fast gleichzeitig gekommen. Nun lagen sie aneinandergeschmiegt nebeneinander.

»Ich weiß nicht, ob ich je wieder in Garpegården übernachten kann«, flüsterte Kristen.

»Ich weiß. Die Blutspritzer, die Einschüsse …«

»Ich will Bonnie doch lieber nicht mehr sehen.«

Er streichelte ihre Schulter. »Das sollst du auch nicht.«

»Gott, die Arme, die arme, arme Bonnie. Ich kann es einfach nicht fassen.«

»Weißt du, was merkwürdig ist. Bonnie und Walter waren so unterschiedlich, aber beide standen allein im Leben. Beide hinterlassen niemanden, der über ihren Tod trauern wird.«

»Walter hatte doch Kinder, oder?«

»Sein Sohn ist vor vielen Jahren gestorben. Das hat Walters Frau das Herz gebrochen, hat er mir erzählt. Sie starb kurz darauf.« Will schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist der Gastwirt in der Mölna-Bar der Einzige, der Walter vermissen wird.«

»Und Bonnie? Wer wird Bonnie vermissen?« Kristen richtete sich ein wenig auf.

»Bonnie war ihr Leben lang allein.«

»Seit ich sie kenne, hat sie mir die Ohren vorgeheult, wie einsam sie ist.«

»Sie war der typische Single: Viel zu wählerisch, wenn es um Männer ging, unfähig, Kompromisse einzugehen, und dadurch ein Leben lang unzufrieden.« William betrachtete Kristens aufgelöste Frisur, den Leberfleck auf ihrem Schlüsselbein.

»Ist das alles, was uns zu den beiden einfällt?«, fragte sie plötzlich erschrocken. »Dass es besser ist, wenn Bonnie und Walter nicht mehr leben?«

»Um Gottes willen, nein«, flüsterte William. »Niemand hat so ein Ende verdient.«

»Das Blut an der Wand …« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Nicht, komm, stell dir das nicht dauernd vor.« Als sie zu weinen anfing, schüttelte er sie sanft an der Schulter. »Lass gut sein, Liebling.«

»Wer hat das bloß getan?«

»Ein Einbrecher wahrscheinlich.«

»Glaubst du?«

»Die Polizei scheint es zu glauben.«

»Wie gut, dass du Walters Schrotflinte wiedererkannt hast.«

»Die Polizei hätte Walters Gewehr auch ohne meine Hilfe identifiziert.«

»Wenn es ein Einbrecher war, muss Bonnie ihn überrascht haben.«

»Wir sollten nicht weiter darüber sprechen. Es regt dich zu sehr auf.«

»Vielleicht hat Bonnie schon geschlafen und ist gar nicht mehr erwacht, bevor sie erschossen wurde«, setzte Kristen gegen seinen Rat fort.

»Man hat Bonnies Leiche im Wohnzimmer gefunden, sie trug einen Bademantel. Also muss sie wach gewesen sein.«

»Dann hat sie mit dem Einbrecher also gesprochen. Dann ist Walter dazugekommen und hatte wie immer seine Flinte dabei.« Kristen legte ihre Hand auf Williams Oberschenkel. »Der Einbrecher muss Walter die Flinte entrissen haben. Bloß warum hat der Einbrecher geschossen?«

»Wie meinst du – warum?«

»Ein Einbruch ist ein unbedeutendes Vergehen. Jedes Jahr passieren Hunderte Einbrüche in den Schären. Deshalb begeht man nicht gleich einen Doppelmord.« Kristens Lippen begannen zu zittern. »Ich werde heute Nacht davon träumen. Ich möchte das Licht brennen lassen, wenn es dir recht ist.«

Er küsste sie. William nahm Kristen in den Arm und hielt sie fest.

Als er erwachte, war sein Arm taub. Kristens Kopf hatte ihm die Blutzirkulation abgepresst. Behutsam löste er sich und machte eine kreisende Bewegung, bis seine Finger zu prickeln begannen. Er betrachtete die Schlafende, stand auf und schlüpfte aus dem Zimmer.

In der Küche erwartete Japser schwanzwedelnd sein Frauchen. Selbst nach Jahren war er enttäuscht, dass nur William die Treppe herunterkam. Das merkte er daran, dass sein Wedeln deutlich langsamer wurde, wenn er statt Kristen auftauchte. Er gab ihm zu fressen. Während Jasper sein Dosenfutter verschlang, schenkte Will sich einen Whisky ein. Wie sollten er und Kristen den heutigen Abend hinter sich bringen?, überlegte er. Auf keinen Fall durften sie nur über die Katastrophe diskutieren. Sie mussten etwas unternehmen, das sie ablenkte. Kochen zum Beispiel. Sie könnten zusammen einen Fisch zubereiten. Dafür musste man seine fünf Sinne zusammennehmen.

William wollte die Idee sofort in die Tat umsetzen. Es war schon spät, doch der Supermarkt hatte bis Mitternacht offen. Will machte eine Liste, was er an Zutaten brauchte. Danach saß er jedoch ein paar Minuten nur da und starrte in den halbdunklen Raum. Bonnie und Walter waren tot. Um Walter tat es ihm leid. Nach einem Leben voller Schicksalsschläge hatte er sich in der schönen Landschaft auf einen ruhigen Lebensabend gefreut. Nun hatte sich sein Abgang wie ein tragischer Paukenschlag vollzogen. Warum hatte er auch mit der Schrotflinte ins Nachbarhaus laufen müssen? Seine Wachsamkeit, die nur seiner Neugier entsprang, war ihm zum Verhängnis geworden.

Für Bonnie fand Will keinen pietätvollen Gedanken. Sie war ein verdammtes Ekel gewesen, eine verwöhnte, ewig nörgelige Ziege, die ihre mangelnde Attraktivität durch zu viel Kosmetik verschleiern wollte. Bonnie nannte sich Autorin, obwohl sie kaum je etwas geschrieben hatte. Hin und wieder eine Filmkritik oder die Synopsis für einen Roman, nichts Eigenständiges, immer nur parasitäres Zeug. Bonnie war ein Parasit gewesen. Sie hatte sich überall, wo es ihr nützlich schien, eingenistet. Unglaublich, aber wahr: Die sonst so sensible Kristen hatte Bonnie für ihre beste Freundin gehalten. Dabei hatte Bonnie Kristen ausgesaugt, sich ihrer bedient und sie mehrfach um Geld angeschnorrt. Ständig war Bonnie bei ihnen in Garpegården aufgetaucht, bis Will Kristen gebeten hatte, das abzustellen. Diplomatisch hatte sie ihrer Freundin daraufhin angeboten, sie könne das Haus unter der Woche nutzen, wenn sie beide nicht draußen seien. Doch statt den Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen, hatte Bonnie diese Möglichkeit weidlich ausgenutzt.

William schnaubte auf der Bank wütend durch. Bonnie hatte sich mehrmals an ihn rangemacht. Er hatte ihre Annäherungsversuche als schamlos und peinlich empfunden. »Erinnerst du dich nicht an den Spaß, den wir zusammen hatten?«, war ihre Replik gewesen, wenn sie eine neuerliche Abfuhr einstecken musste. Weshalb hatte Will das Kristen all die Jahre verschwiegen? Er wusste, warum. Er war nicht stolz darauf. Es war ein dunkler Fleck auf seiner Seele.

Er brachte das leere Glas in die Spülmaschine und ging nach oben, um sich anzuziehen. Kristen schlief mit regelmäßigen Atemzügen.

»Komm, Jasper, Spaziergang.« Er lockte den Hund mit der Leine.

Gelangweilt hob der Spaniel den Kopf und ließ ihn wieder sinken. Bis auf seltene Ausnahmen wollte Jasper nur von Kristen ausgeführt werden.

»Aber pinkle bloß nicht wieder auf die Küchenfliesen.«

Will hängte die Leine weg und verließ das Haus. Da es zum Supermarkt nur ein paar Blocks waren, ließ er den Wagen in der Garage und nahm das Fahrrad. Als er vor dem Shoppingcenter ankam, fiel ihm auf, dass er die Einkaufsliste vergessen hatte. Und wenn schon. Ihm würden die nötigen Zutaten aus dem Gedächtnis einfallen.

4

ICH BIN ALICE

4Alice fühlte sich, als ob sie in diesem Moment erst geboren worden wäre. Langsam hob sie die linke Hand, führte sie über den Kopf und ließ den Mittelfinger in ihrem Haar verschwinden. Das wilde Gewölk aus dunkelbraunen, rotbraunen, in allen möglichen Brauntönen changierenden Locken war das reinste Chaos. Ihr Finger erreichte den Scheitelpunkt und begann sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Nichts half Alice beim Nachdenken so zuverlässig wie das Kringeln ihres Haares. Nichts tat so wohl, als wenn die eingesponnenen Wirbel zu ziehen begannen, wenn der kreisende Mittelfinger losließ und ein Gefühl der Entspannung über die Kopfhaut zog. Es war ähnlich, wie wenn man nach einem langen Tag auf Skiern die Bretter abschnallte und die Skischuhe auszog.

Noch bevor der Spannungshöhepunkt erreicht war, ließ Alice den rotbraunen Kringel los, denn dort kam er. Dort trat er ein.

Sie hatte lange gezögert, etwas zu unternehmen, um in seine Nähe zu gelangen. Der Grund dafür war ihre Angst. Alice war ein Mensch, der sich vorwiegend über Angst definierte. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Angst abzulegen, Freude zu empfinden und anderen Menschen Empathie entgegenzubringen. In diesem Augenblick saß sie mit gesenktem Kopf vor ihrem Drink. Sie hatte sich das Getränk nicht selbst ausgesucht, der Kellner des gespenstischen Lokals hatte es ihr empfohlen. Gespenstisch war dieser Ort, weil in seiner Auslage Leichenteile hingen, abgehackte, ausgeblutete Teile von Tieren. Obwohl Alice sich davor ekelte, war sie ins Filetstuck gekommen, da sie wusste, dass der Mann, der ihre Ängste bändigen konnte, heute hier sein würde.

William Falk kam durch den Mittelgang. Wie gut er aussah, seit Jahren hatte er sich kaum verändert. Alice besaß drei Fotos von ihm, drei abgegriffene, tausendmal angestarrte Bilder. Sie gaben ihr in ihren düstersten Momenten Halt und Hoffnung. William grüßte nach links und rechts, er war beliebt, geachtet. Mehr als alles auf der Welt wollte Alice mit ihm sprechen und sich ihm offenbaren. Vielleicht würde es heute so weit sein.

Alice hoffte, er würde sich an den Tisch gegenüber setzen, so könnten sie ein paar vorsichtige Blicke tauschen und schließlich ein Gespräch beginnen. Die Ähnlichkeit würde ihm bestimmt auffallen. Doch William setzte sich mit dem Rücken zu ihr, das verstand sie nicht, es verwirrte und kränkte sie. Sie hatte ihr neues Kleid angezogen, das dunkelbraun gemusterte, sich zart geschminkt und ihr Haar gewaschen. Nur für ihn hatte sie sich schön gemacht, er aber setzte sich an eine Stelle, wo er nichts davon wahrnehmen konnte.

Der Kellner trat an Williams Tisch und nahm die Bestellung auf. Sollte sie sich jetzt umdrehen und William ansprechen? Sie konnte nicht, sie war zu sehr gefangen in ihrer Welt des Scheiterns. Während sie überlegte, welche Möglichkeit noch blieb, um auf sich aufmerksam zu machen, trat eine schöne, selbstbewusste Frau an Williams Tisch. Alice kannte sie, jedermann in Schweden kannte die Nachrichtensprecherin Diana Mattsson. Von ihr erfuhren die Schweden täglich, was in der Welt geschah. Sie war die Stimme Schwedens, und mit dieser Stimme begann sie auf William einzureden. Die Mattsson setzte sich sogar zu ihm und bestellte etwas zu essen. Sie würde also noch eine Weile bleiben. Alice dagegen konnte nicht bleiben, sie musste zurück an ihre unerfreuliche, schäbige Arbeit. Jemand, der so sehr von Angst durchdrungen war wie sie, fand nichts Besseres.

Sie gab den Plan auf, William heute kennenzulernen. Alice bemäntelte ihre Enttäuschung damit, dass sich vielleicht bald eine andere Gelegenheit ergeben würde. Beim nächsten Versuch würde sie ihm offener, furchtloser entgegentreten. Mit dem Gefühl, dass heute noch nicht aller Tage Abend sei, öffnete Alice ihre Tasche, winkte dem Kellner, bezahlte das bernsteinfarbene Getränk und verließ das Lokal mit dem unerträglichen Geruch nach verbranntem Fleisch. Traurig lief sie hinaus, verzagt wie ein Vogel, der sein hübsches Gefieder umsonst gespreizt hatte und nun wieder den Kopf unter die Flügel steckte.

5

ICH BIN WILLIAM

5Innerhalb von drei Tagen befand sich Will auf dem zweiten Trip zum Supermarkt. Sein erster Einkauf, in der Nacht, nachdem er und Kristen mit dem Verbrechen konfrontiert worden waren, und der anschließende Abend hatten sich in ein Fiasko verwandelt.

Gedankenverloren, bewegt von den Ereignissen, hatte er seinen Wagen an den Regalen entlanggefahren. Die Bilder des Tages hatten sich nicht verscheuchen lassen. Die Wände seines Wochenendhauses voller Blut, das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, das sein friedliches Grundstück in eine zuckende, beängstigende Welt verwandelt hatte, der alte Walter, der in einer Blechbox an Will vorbeigetragen worden war – aufgewühlt von den Erinnerungen, hatte Will kaum Aufmerksamkeit auf seinen Einkauf gewendet und beim Bezahlen festgestellt, dass er die Hälfte vergessen hatte. Bekümmert war er nach Hause gefahren und hatte dort einen Vulkanausbruch erlebt.

Heulend und zitternd war ihm Kristen entgegengetreten und hatte ihn angeschrien, wieso er sie so lange allein gelassen hätte. Sie an einem solchen Abend sich selbst zu überlassen, ohne Nachricht, unerreichbar, das sei der Gipfel an Herzlosigkeit. Obwohl William beteuerte, wie leid es ihm tue, Kristens Tränen wollten nicht versiegen. Jasper, der Konflikten stets aus dem Weg ging, verschwand unter dem Küchentisch. Will sagte, er habe sein Smartphone liegen lassen, deshalb hätte Kristen ihn nicht erreicht. Seine Erklärung, er habe ein Dinner vorbereiten wollen, steigerte Kristens Wut sogar. Wie er auf die Idee käme, dass sie auch nur einen Bissen hinunterkriegen würde, hatte sie geschrien und ihm Lieblosigkeit vorgeworfen, bis ihm schließlich auch die Hutschnur gerissen war. Er nannte sie hysterisch, ihr Streit steigerte sich ins Aberwitzige, bis William seine Bettwäsche schnappte und im Arbeitszimmer schlief. Am kommenden Morgen hatten sich beide für das Vorgefallene geschämt. Kristen hatte Williams Idee zu kochen süß gefunden und vorgeschlagen, die Sache zu wiederholen. Die Wahl war auf Freitag gefallen, und so war William, diesmal mit dem Auto, zum Einkaufen losgezogen.

Will suchte gerade eine Münze, um den Einkaufswagen loszuketten, als eine freundliche Weißhaarige ihm ihren Plastikchip überließ. Er bedankte sich, machte den Wagen los und rollte in die Halle.

Zuerst sah er sie nur von hinten und erkannte sie nicht. Als er den Wagen an ihr vorbeischob, erfasste ihn ein ganz bestimmter Geruch. Es war Chloé. William erkannte sie an ihrem Duft. Er blieb stehen.

»Hallo«, sagte er. Will sagte Hallo zu einer Frau, mit der er noch kein einziges Wort gewechselt hatte. »Wir kennen uns nicht. Entschuldigen Sie meine Direktheit, aber wir haben uns schon einmal gesehen. Das heißt, ich habe Sie gesehen, das war vor drei Tagen.«

Da die junge Frau nichts erwiderte, setzte Will seinen haspelnden Vortrag fort. »Es war im Filetstuck, wissen Sie noch? Sie haben Aperol getrunken, ich habe Lammfleisch gegessen. Es war Dienstag, erinnern Sie sich? Entschuldigen Sie, aber ich finde es unglaublich, Ihnen hier wiederzubegegnen.«

Ihr Gesicht, das auch im kalten Licht der Deckenfluter dem Gesicht Madelaines erstaunlich ähnelte, war während seiner Suada unbewegt geblieben. Kurz sah es so aus, als ob sie etwas erwidern wollte, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Erst als er mit seinem Monolog ins Stocken geriet, öffnete sie den Mund.

»Ich bin Ihnen gefolgt.«

Ich bin Ihnen gefolgt. Ein Satz, der auf mehrere Arten auszulegen war, als Geheimnis, als Teil eines Planes, als Ausdruck einer Belästigung. Nur als eines konnte der Satz unmöglich gedeutet werden: als Zufall. Bis jetzt hatte William an einen Zufall geglaubt, der ihm die junge Frau zum zweiten Mal über den Weg führte, doch ihre Worte bedeuteten das Gegenteil. Überrascht stützte er sich auf den Einkaufswagen, in dem sich nichts befand als eine Packung Maismehl. »Gefolgt sind Sie mir?«

Sie trug an diesem Abend nicht das Stretchkleid, sondern einen ausgebeulten Jogginganzug und Laufschuhe. Ihr Haar war nicht gelockt, sondern fiel gerade über die Schultern. Sie war ungeschminkt, William bemerkte ihren ungewöhnlich hellen Teint. Mit einer Haut wie dieser konnte sie sich bestimmt nur kurz der Sonne aussetzen. Es war das erste Merkmal, das nicht mit Madelaine übereinstimmte. Madelaine liebte die Sonne, sie hatte oft stundenlang am Strand zugebracht.

»Ich bin William Falk. Weshalb sind Sie mir gefolgt, wenn ich fragen darf?«

»Das kann ich Ihnen hier nicht sagen.« Sie sprach leise, als ob sie fürchtete, von anderen Kunden belauscht zu werden.

»Ist es denn so beunruhigend?« Er lächelte. »Sind Sie ein Profikiller, die auf mich angesetzt wurde?« Er wusste aus Erfahrung, dass sein Humor nicht von jedem verstanden wurde.

»Ich bin kein Profikiller«, antwortete sie todernst. »Ich bin Alice.«

»Hallo, Alice.« Arglos schüttelte er ihre erstaunlich kalte Hand. Madelaines Hände waren stets warm gewesen, durchdrungen von Leben.

»Wollen wir hinausgehen?«

»Sie sind noch beim Einkaufen.« Alice zeigte auf seinen Wagen.

»Das ist unwichtig«, beschwichtigte er, obwohl er wusste, dass Kristen auf die Lebensmittel wartete. Er ließ den Wagen stehen und trat zu Alice. In ihrem Korb entdeckte er Marshmallows, amerikanische Cookies, Reiswaffeln und eine Flasche Rotwein.

»Das ist nicht besonders ausgewogen, was Sie da kaufen.«

»Der reinste Mist«, bestätigte Alice. »Ich ernähre mich ungesund.« Auch sie ließ ihren Einkauf stehen. »Gehen wir.«

»Warum bringen Sie die Sachen nicht zur Kasse?«

»Gehen wir, William«, wiederholte sie drängend. »Sonst kann ich das nicht mehr.« Sie lief, nein, rannte zur Kasse, hob beide Arme, um zu zeigen, dass sie nichts gekauft hatte, schlüpfte neben den Wartenden in der Schlange durch und erreichte den Korridor zum Ausgang. Als William auf dem gleichen Weg durchschlüpfen wollte, erntete er einen misstrauischen Blick der Kassiererin. Sie behielt ihn im Auge, bis er die Elektroniksperre ohne Piepsen passiert hatte.