Die Autobiographie - Agatha Christie - E-Book

Die Autobiographie E-Book

Agatha Christie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jeder kennt die skurrile, aber stets freundliche Miss Marple und den exzentrisch-pedantischen Poirot, jeder kennt den Namen ihrer Schöpferin Agatha Christie, doch wer war der Mensch hinter der Schreibmaschine? Zu Lebzeiten öffentlichkeitsscheu, gab Agatha Christie keine Interviews und verriet nichts über ihr Privatleben. Erst posthum brach die Queen of Crime ihr Schweigen. Ein Jahr nach ihrem Tod wurde ihre Autobiographie veröffentlicht, in der sie von ihrer Kindheit, zwei Ehen und zwei Weltkriegen erzählte, von ihrem Leben als Autorin und von den archäologischen Expeditionen ihres zweiten Ehemannes Max Mallowan. Eine Autobiographie, die ebenso spannend und lebendig erzählt ist wie ihre Romane.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1010

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agatha Christie

Autobiographie

Roman

Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner

Atlantik

Vorwort aus der englischen Neuausgabe von 2010

Meine Großmutter hat uns immer erzählt, dass sie es als ausgesprochenen Luxus empfand, an ihrer Autobiographie schreiben zu können. Besonders der erste Teil ihres Buches war wohl eine Herzensangelegenheit. Agatha hatte eine sehr glückliche, unvergessliche Kindheit, und es machte ihr große Freude, davon zu erzählen – so sehr, dass sie kaum mehr aufhören konnte. Allerdings wurde sie jedes Jahr gedrängt, ihren »Christie for Christmas« zu schreiben, wie der Verlag ihre Romane nannte, und bis das erledigt war, hatte sie keine Zeit, sich um anderes zu kümmern.

Die fünfziger Jahre, in denen meine Großmutter Stück für Stück ihre Autobiographie zusammentrug, waren für sie besonders arbeits- und ertragreich. Von großen Ereignissen wie der Adaption von Die Mausefalle und Zeugin der Anklage für die Londoner Bühne oder der Werbekampagne für ihre immer beliebter werdenden Erzählungen – wie für ihr fünfzigstes Buch Ein Mord wird angekündigt im Jahre 1950 – ließ sie sich nicht ablenken. All das lief weiter, aber jedes Jahr setzte sie sich hin, um ein paar tausend Worte ihrer Lebensgeschichte zu Papier zu bringen und sie dann – vermutlich recht widerstrebend – beiseitezulegen und wieder zu ihrer »richtigen Arbeit« zurückzukehren. Es war ein mühseliges, langwieriges Geschäft. Viele meiner Bekannten waren von ihrer Autobiographie so gefesselt, dass sie das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnten, sie haben es vermutlich in ein, zwei Wochen durchgelesen, während meine Großmutter fünfzehn Jahre gebraucht hat, um es zu schreiben.

Wenn ich »schreiben« sage, habe ich wohl immer gewusst, dass sie ihre Lebensgeschichte diktiert, nicht aber, wie sie das praktisch bewerkstelligt hat. Und dann fand ich, als wir kurz nach dem Tod meiner Mutter das Haus meiner Großmutter in Greenway, Devon, ausräumten, unter den zahllosen Büchern, Manuskripten und sonstigen Unterlagen in dem von uns sogenannten Fax-Zimmer ganz oben im Haus einen alten Pappkarton mit einer altmodischen Grundig-Memorette-Diktiermaschine und vielen Bändern in Schächtelchen, die offenbar per Post zwischen meiner Großmutter und ihrer Sekretärin hin- und hergegangen waren. Mein erster Gedanke war, dass wir nicht viel mit ihnen würden anfangen können – sie waren gut und gern fünfzig oder sechzig Jahre alt – und es uns nie gelingen würde, das Gerät noch einmal zum Laufen zu bringen. Andererseits wusste ich, dass wir sehr wenige Beispiele von Agatha Christies Stimme auf Band besaßen. Nur eine Handvoll Aufnahmen waren bekannt – unter anderem ein Interview für die BBC von 1955 und eine Aufnahme für das Tonarchiv des Imperial War Museum von 1974 über ihre Erfahrungen in einer Feldapotheke im Ersten Weltkrieg, wo sie so viel über die Gifte erfuhr, die später in ihren Büchern vorkommen sollten. Als absoluter technischer Laie konnte ich mir nicht vorstellen, dass jemand aus dieser alten Kramschachtel etwas Spannendes würde herausholen können. Zum Glück ist ein Freund von mir, Eurion Brown, ein technisches Genie. Er nahm alles mit und versprach, so lange herumzubasteln, bis man die Bänder würde abspielen und übertragen können. Ein paar Wochen war Funkstille, dann rief er mich an einem Freitagvormittag an und sagte: »Ich glaube, ich hab’s geschafft.« Ich eilte in meine Heimatstadt Cowbridge – und nach fünfzig oder sechzig Jahren erklang wieder die Stimme meiner Großmutter.

Ich kann nicht beschreiben, wie tief mich dieser Augenblick bewegte. Ich hatte meine Großmutter sehr gern, und jetzt plötzlich wieder ihre Stimme zu hören war fast gespenstisch. Sie hatte kleine Angewohnheiten, ein leichtes Hüsteln mitten im Satz etwa, die ich ganz vergessen hatte – ihr Tod lag schließlich über dreißig Jahre zurück –, und alle Erinnerungen wurden wieder wach. Plötzlich hörte ich mitten im Text dieses leise »wuff«, als ihr Hund bellte, und es war, als würde ich wieder in Wallingford sein.

Ich habe Auszüge aus den Bändern verschiedenen Menschen vorgespielt, die Agatha Christie kannten, und sie waren sich alle darüber einig, dass es für die Wertschätzung ihrer Biographie sehr wichtig ist, sie selbst von diesen Dingen sprechen zu hören. Viele sind erstaunt, denke ich mir, wenn sie hören, wie viel Leidenschaft zuweilen in den Worten meiner Großmutter lag. Einer meiner ersten Zuhörer war mein Sohn James, der zu jung war, um noch wesentliche Erinnerungen an seine Urgroßmutter zu haben. Ich halte ihn nicht für einen besonders gefühlsbetonten Menschen, aber er sagte: »Großer Gott, ist dir überhaupt klar, was du da ausgegraben hast?«

Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, seit jener Entdeckung ist über ein Jahr vergangen. Ein wenig traurig ist nur, dass meine Großmutter nicht alle Bänder aufgehoben hat. Als sparsame Frau hatte sie wohl nur eine bestimmte Anzahl, die tippte ihre Sekretärin ab und schickte sie zurück, und meine Großmutter benutzte sie erneut und löschte damit die früheren Kapitel. Deshalb gibt es nur Aufnahmen vom letzten Viertel des Buches. Ihr zuzuhören, wie sie ihre Erinnerungen zu Gedrucktem werden lässt, ist etwas Besonderes, obwohl das Gerät nie dazu gedacht war, professionelle Archivaufnahmen herzustellen, und trotz des Alters der Aufnahmen und der schlechten Tonqualität.

So ist dies ein Buch, das – wie so viele Dinge im Leben – mit dem Alter immer besser wird.

 

Mathew Prichard

Pwllywrach, Dezember 2009

Vorwort aus der Originalausgabe von 1977

Agatha Christie begann dieses Buch im April 1950; als sie es  fünfzehn Jahre später abschloss, war sie fünfundsiebzig. Jedes Werk, das sich über eine so lange Zeitspanne erstreckt, enthält zwangsläufig Wiederholungen und Widersprüche, die in dieser Ausgabe ausgeräumt wurden. Wichtiges aber wurde nicht ausgelassen, im Wesentlichen ist dies die Autobiographie, die sie sich gewünscht hatte.

Mit fünfundsiebzig machte sie Schluss mit dem Schreiben, weil es, wie sie es ausdrückte, der richtige Moment zum Aufhören war. »Denn was mein Leben angeht, gibt es nichts mehr zu sagen.« Die letzten zehn Lebensjahre bescherten ihr noch etliche Höhepunkte – die Verfilmung von Mord im Orientexpress; den phänomenalen Langzeiterfolg der Mausefalle; den Jahr für Jahr steigenden Absatz ihrer Bücher weltweit und einen Platz in den Bestsellerlisten der USA, den sie in Großbritannien und im Commonwealth schon seit Langem behauptete; die Ernennung zur Dame of the British Empire im Jahr 1971. Doch für sie waren das nur noch ein paar Lorbeerblätter mehr für Leistungen, die aus ihrer Sicht schon hinter ihr lagen. 1965 konnte sie wahrheitsgemäß schreiben: »Ich bin zufrieden. Ich habe getan, was ich habe tun wollen.«

Auch wenn der vorliegende Band eine Autobiographie ist, die, wie es sich gehört, mit dem Anfang beginnt und bis zu dem Zeitpunkt reicht, an dem sie das Schreiben einstellte, hat sich Agatha Christie nicht allzu streng in die Zwangsjacke der Chronologie einschnüren lassen. Der Reiz dieses Buches liegt vor allem auch darin, dass sie sich nach Lust und Laune im Text bewegt – sich hier unterbricht, um über die unbegreiflichen Gewohnheiten von Dienstmädchen oder die Entschädigungen des Alters zu sinnieren, und dort nach vorn springt, weil ein Wesenszug einer ihrer kindlichen Romanfiguren sie lebhaft an ihren Enkel erinnert. Auch fühlt sie sich nicht verpflichtet, alles aufzunehmen. Etliche Episoden, die für manche Leser wichtig sein mögen – das berühmte Verschwinden zum Beispiel –, werden nicht erwähnt, auch wenn in diesem Fall an anderer Stelle der Hinweis auf eine frühere Amnesie-Attacke den Schlüssel zu dem wahren Hergang liefert. Im Übrigen schreibt sie selbst: »Ich denke, dass ich mich an das erinnert habe, woran ich mich erinnern wollte«, und auch wenn sie die Trennung von ihrem ersten Mann mit bewegender Würde schildert, sind es doch meist die freudigen oder lustigen Ereignisse in ihrem Leben, auf die sie sich konzentriert. Intensiver oder vielseitiger haben wohl wenige Menschen das Leben genossen, und dieses Buch ist vor allem ein Loblied auf die Lebensfreude.

Hätte sie dieses Buch noch im Druck erlebt, hätte sie sicherlich viele Menschen geehrt, die dazu beigetragen haben, ihr diese Lebensfreude zu verschaffen, vor allem natürlich ihren Ehemann Max und ihre Familie. Und so ist es vielleicht nicht unangebracht, wenn auch wir als ihr Verlag sie würdigen und ehren. Fünfzig Jahre lang hat sie uns tyrannisiert, gescholten und beglückt. Dass sie stets auf das höchste verlegerische Niveau beharrte, war für uns eine ständige Herausforderung. Ihr Humor und Optimismus brachten Wärme in unser Leben. Dass sie große Freude am Schreiben hatte, ist unübersehbar. Und alle, die mit ihr zu tun hatten, wissen, dass die Arbeit mit ihr nicht nüchtern geschäftsmäßig, sondern immer ein großes Glück war. Fest steht, dass Agatha Christie als Autorin wie auch als Persönlichkeit einzigartig ist und bleibt.

Einleitung

NIMRUD, IRAK, 2. April 1950

Nimrud ist der heutige Name des alten Kalach, der militärischen Hauptstadt der Assyrer. Unser Expeditionshaus ist aus Lehmziegeln gebaut. Es macht sich auf der Ostseite des Grabungshügels breit und besitzt ein Wohn- und Esszimmer, eine Küche, einen kleinen Dienstraum, ein Arbeitszimmer, ein Zeichenbüro, einen großen Lagerraum für die archäologischen Funde und eine winzige Dunkelkammer (wir schlafen alle in Zelten). Aber in diesem Jahr ist noch ein weiterer Raum dazugekommen; er misst etwa drei Quadratmeter, hat einen gepflasterten Fußboden, Binsenmatten und zwei grobe, bunte kleine Teppiche. An der Wand hängt das Bild eines jungen irakischen Malers: zwei Esel, die durch den Souk spazieren – das Ganze eine verwirrende Vielfalt heiter getönter Kuben. Ein Fenster geht nach Osten auf die schneebedeckten Berge Kurdistans hinaus. An der Außenseite der Tür ist ein Kärtchen befestigt, auf dem in Keilschrift BEIT AGATHA (Agathas Haus) zu lesen steht.

Das also ist mein »Haus«, in dem ich die Möglichkeit haben soll, völlig ungestört zu arbeiten und mich ernsthaft dem Geschäft des Schreibens zu widmen. Mit dem Fortgang der Ausgrabungen wird mir jedoch vermutlich keine Zeit mehr dazu bleiben. Die einzelnen Gegenstände werden gesäubert und repariert werden müssen. Man wird sie fotografieren, etikettieren, katalogisieren und verpacken müssen. Aber in den ersten ein, zwei Wochen sollte mir doch eine gewisse Zeit der Muße vergönnt sein.

Ich muss erwähnen, dass meiner Konzentration Grenzen gesetzt werden. Auf dem Dach über mir springen arabische Arbeiter herum; sie sind guter Dinge, unterhalten sich lautstark und verändern emsig den Standort schwankender Leitern. Hunde bellen, Truthähne schlingen schmatzend ihr Futter herunter. Das Pferd des Polizeibeamten rasselt an seiner Kette, Fenster und Tür wollen nicht geschlossen bleiben und springen abwechselnd auf. Ich sitze an einem relativ festen Holztisch, auf dem eine phantasievoll bemalte Blechdose steht, wie sie Arabern als Reisetasche dient. Dahinein beabsichtige ich, die maschinegeschriebenen Blätter meines Manuskripts zu tun.

Eigentlich sollte ich einen Krimi schreiben, doch der natürliche Drang des Schriftstellers, alles zu Papier zu bringen, nicht nur das, was er sollte, erweckt ganz unerwartet in mir das Verlangen, meine Autobiographie zu schreiben. Dieses Verlangen, so wurde mir versichert, überkommt früher oder später jeden. Jetzt hat es plötzlich mich überkommen.

Wenn ich es recht bedenke, ist Autobiographie ein viel zu großartiges Wort. Es erweckt die Vorstellung einer zielbewussten Erforschung des eigenen Lebens. Es setzt die Aufzählung von Namen, Zeitpunkten und Orten in ordentlicher, chronologischer Folge voraus. Ich aber habe nur vor, in einen Glückstopf zu greifen und eine Handvoll ganz verschiedener Erinnerungen herauszuziehen.

Das Leben scheint mir aus drei Teilen zu bestehen: aus der packenden und zumeist auch erfreulichen Gegenwart, die von Minute zu Minute mit schicksalhafter Schnelligkeit auf uns einstürmt; aus der nur schwach erhellten, ungewissen Zukunft, für die man jede Menge interessanter Pläne – je kühner und unwahrscheinlicher, desto besser – ersinnen kann und auch seinen Spaß daran haben sollte, weil es ja doch immer ganz anders kommt, als man erwartet; und drittens aus der Vergangenheit, den Erinnerungen und Wirklichkeiten, auf denen unser gegenwärtiges Leben beruht, aus jener Vergangenheit, die uns plötzlich durch einen Duft, durch die Form eines Hügels, durch ein altes Lied wieder nahegebracht wird, durch irgendetwas an sich Belangloses, das uns veranlasst, mit sonderbar wehmütiger und fast unerklärlicher Freude die Worte zu sprechen: »Ich erinnere mich …«

Erinnerungen … Sie gehören zu den Entschädigungen des Alters und ganz gewiss auch zu dessen Freuden.

Bedauerlicherweise hegt man oft nicht nur den Wunsch, sich zu erinnern, sondern über das, woran man sich erinnert, auch zu reden. Und das, man darf es nicht vergessen, langweilt andere Menschen. Warum sollte sie interessieren, was letztlich dein Leben ist und nicht das ihre? Wenn junge Menschen dir gelegentlich zuhören, bist du für sie oft nur ein Gegenstand, der ihr historisches Interesse weckt.

»Sie erinnern sich ja wohl noch an die Zeit des Krimkriegs?«, erkundigt sich ein wohlerzogenes junges Mädchen.

Ein wenig gekränkt erwidere ich, dass ich nun so alt auch nicht bin. Desgleichen verwahre ich mich mit Entrüstung dagegen, beim Indischen Aufstand dabei gewesen zu sein. Wohl aber gebe ich zu, dass mein Gedächtnis bis zum Burenkrieg zurückreicht – denn schließlich hat mein Bruder daran teilgenommen.

Das erste deutliche Bild, das in meiner Erinnerung auftaucht, ist das eines Markttags, an dem ich mit meiner Mutter durch die Straßen von Dinard gehe. Ein Junge mit einem großen, vollen Korb rennt in mich hinein, schürft mir die Haut am Arm und stößt mich beinahe um. Es tut weh. Ich fange an zu weinen. Ich bin, glaube ich, etwa sieben Jahre alt.

Meine Mutter, die Wert auf Haltung in der Öffentlichkeit legt, weist mich zurecht: »Denk an unsere tapferen Soldaten in Südafrika!«

»Ich will kein tapferer Soldat sein«, plärre ich. »Ich will viel lieber feige sein!«

Was bestimmt die Auswahl von Erinnerungen? Das Leben zieht vorbei wie Bilder auf einer Leinwand. Schnipp! Hier bin ich, ein Kind, das an seinem Geburtstag Eclairs isst. Schnapp! Zwei Jahre sind vergangen, ich sitze auf Großmutters Schoß, werde feierlich zurechtgemacht wie ein Huhn vor dem Braten und kann mich kaum halten vor Lachen über diesen spaßigen Vergleich.

Es sind nur Augenblicke – dazwischen liegen lange Zeiträume von Monaten oder sogar Jahren. Wo war man damals? Ich muss an Peer Gynts Frage denken: »Wo war ich, ich, der ganze Mensch, der wahre Mensch?«

Den ganzen Menschen lernen wir nie kennen, doch ahnen wir gelegentlich, in einem kurzen Augenblick, den wahren. Und diese Momentaufnahmen, glaube ich, sind die, die unsere Erinnerungen ausmachen, denn mögen sie auch unbedeutend scheinen, so stellen sie doch der Seele Innerstes und das wahre Ich dar, wie es wirklich ist.

Ich bin heute der gleiche Mensch wie jenes ernste kleine Mädchen mit den flachsblonden Ringellocken. Das Gehäuse, in dem unser Geist herbergt, wächst und entwickelt Instinkte, Neigungen, Empfindungen und intellektuelle Fähigkeiten, aber ich, die wahre Agatha, bin die Gleiche. Die ganze Agatha kenne ich nicht. Die kennt, so glaube ich, nur Gott allein.

Da sind wir also alle, die kleine Agatha Miller, die große Agatha Miller, Agatha Christie und Agatha Mallowan; wir gehen unseren Weg – wohin? Das weiß man nicht – und natürlich ist es gerade das, was unser Leben so spannend macht. Ich habe das Leben immer spannend gefunden und finde es heute noch so.

Weil wir so wenig davon wissen – nur die eigene kleine Rolle –, kommt man sich wie ein Schauspieler vor, der im ersten Akt bloß ein paar Sätze zu sprechen hat. Er hat nur einen maschinegeschriebenen Text mit den Stichworten; mehr weiß er nicht. Er hat das Stück nicht gelesen. Warum sollte er auch? Er hat nichts weiter zu sagen als: »Die Pferde sind gesattelt, Madam.« Dann fällt er der Vergessenheit anheim.

Wenn sich am Tag der Vorstellung der Vorhang hebt, hört er das ganze Stück, und mit den anderen tritt auch er am Schluss an die Rampe und dankt für den Applaus.

Teil zu sein von etwas, das man überhaupt nicht versteht, ist, so meine ich, einer der faszinierendsten Aspekte des Lebens.

Ich lebe gern. Ich bin manchmal völlig verzweifelt, fürchterlich unglücklich und von Leid gequält gewesen, aber ich habe dennoch immer das sichere Gefühl gehabt, dass schon allein am Leben zu sein eine großartige Sache ist.

So habe ich nun also vor, die Freuden der Erinnerung zu genießen und, ohne mich zu beeilen, hin und wieder ein paar Seiten zu schreiben – eine Arbeit, die vermutlich Jahre dauern wird. Aber warum spreche ich von Arbeit? Es ist die Befriedigung eines Wunsches. Ich sah einmal eine alte chinesische Schriftrolle, die mir sehr gut gefiel. Ein Mann war darauf zu sehen, der unter einem Baum saß und mit Bindfaden Figuren formte. Die Überschrift lautete: »Alter Mann, die Freuden der Muße genießend«. Ich habe es nie vergessen.

Nachdem nun klargestellt ist, dass ich die Freuden der Erinnerung zu genießen gedenke, sollte ich vielleicht beginnen. Und obwohl ich nicht glaube, dass es mir möglich sein wird, streng chronologisch vorzugehen, kann ich wenigstens versuchen, am Anfang anzufangen.

Erstes Kapitel

Eine glückliche Kindheit

1

O! ma chère maison; mon nid, mon gîte

Le passé l’habite … O ma chère maison

Eine glückliche Kindheit zu haben, ist eines der wertvollsten Dinge, die einem im Leben passieren können. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Ich hatte ein schönes Zuhause und einen Garten, den ich liebte; eine weise und geduldige Kinderfrau; einen Vater und eine Mutter, die einander vergötterten, eine ausgezeichnete Ehe führten und wunderbare Eltern waren.

Wenn ich zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass unser Haus ein wirklich glückliches Haus war. Das lag vornehmlich an meinem Vater, denn er war ein sehr liebenswürdiger Mann. Die Eigenschaft der Liebenswürdigkeit wird heutzutage nicht sonderlich hoch eingeschätzt. Die Leute wollen eher wissen, ob ein Mann klug und fleißig ist, ob er zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, ob er in der Ordnung der Dinge »zählt«.

Nach heutigen Vorstellungen würde man wohl keine sehr hohe Meinung von meinem Vater haben. Er war ein Nichtstuer. Zu seiner Zeit privatisierte man, und wenn man über ein eigenes Vermögen verfügte, arbeitete man nicht. Zudem vermute ich stark, dass Arbeit meinem Vater nicht besonders gelegen hätte.

Jeden Morgen verließ er das Haus in Torquay und begab sich in seinen Klub. In einer Kutsche kehrte er zum Mittagessen zurück. Anschließend eilte er abermals in den Klub, spielte den ganzen Nachmittag Whist und war rechtzeitig wieder daheim, um sich zum Dinner umziehen zu können. In der Sommersaison verbrachte er seine Tage im Cricket Club, dessen Präsident er war. Gelegentlich organisierte er auch Liebhaberaufführungen. Er besaß eine ungeheure Zahl von Freunden und liebte es, sie als Gäste bei sich zu sehen. Wir hatten jede Woche eine große Dinnerparty daheim, und für gewöhnlich dinierten er und Mutter zwei- oder dreimal in der Woche auswärts.

Erst später wurde mir klar, wie beliebt er war. Nach seinem Tod kamen Briefe aus aller Welt. Und die Handwerker der Stadt, Kutscher, Angestellte – immer wieder trat irgendein alter Mann auf mich zu und sagte: »Ach, ich erinnere mich noch gut an Mr Miller. Ich werde ihn nie vergessen. Heutzutage gibt es nicht mehr viele wie ihn.«

Dabei hatte er keine hervorstechenden Eigenschaften. Er war nicht besonders intelligent. Ich denke, er hatte ein schlichtes und gutes Herz und zeigte echtes Interesse an seinen Mitmenschen. Er besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor, und es fiel ihm leicht, die Leute zum Lachen zu bringen. Es war nichts Niedriges an ihm, er kannte keinen Neid, und er war unglaublich großzügig. Er besaß natürliche Fröhlichkeit und heitere Gelöstheit.

Meine Mutter war ganz anders: eine fesselnde, nicht leicht zu durchschauende Persönlichkeit, zielbewusster als mein Vater, überraschend originell in ihrer Denkweise, in quälende Hemmungen verstrickt und im Grunde ihres Herzens, glaube ich, von einer angeborenen Schwermut befangen.

Dienstboten und Kinder waren ihr herzlich zugetan und gehorchten ihrem leisesten Wink. Sie hätte eine ausgezeichnete Erzieherin abgegeben. Was immer sie sagte, für uns war’s sogleich packend und bedeutsam. Wiederholungen langweilten sie, und sie sprang in einer Weise von einem Thema zum anderen, dass sich die Fäden eines Gesprächs zuweilen verwirrten. Vater pflegte ihr vorzuwerfen, sie hätte keinen Humor. Dann protestierte sie in gekränktem Ton: »Nur weil ich gewisse Geschichten von dir nicht komisch finde, Fred …«, und Vater brüllte vor Lachen.

Sie war etwa zehn Jahre jünger als er und hatte ihn schon als zehnjähriges Kind hingebungsvoll geliebt. In der Zeit, da er als flotter junger Mann zwischen New York und Südfrankreich hin- und herflatterte, war sie, ein schüchternes, stilles Mädchen, daheim gewesen, hatte an ihn gedacht, hin und wieder ein Gedicht in ihr Poesiealbum geschrieben und eine Brieftasche für ihn bestickt. Übrigens behielt Vater diese Brieftasche sein Leben lang.

Eine typisch viktorianische Liebesgeschichte, hinter der aber eine reiche Fülle tiefer Gefühle steckte.

Ich interessiere mich für meine Eltern nicht nur, weil sie meine Eltern waren, sondern auch, weil sie etwas überaus Seltenes zustande brachten: eine glückliche Ehe. Bis zum heutigen Tage habe ich nur vier wirklich erfolgreiche Ehen gesehen. Gibt es ein Rezept für diese Art von Erfolg? Ich glaube kaum.

Meine Mutter, Clara Boehmer, hatte selbst keine sehr glückliche Kindheit. Bei einem Sturz vom Pferd erlitt ihr Vater, ein Offizier im Argyll Highlanders Regiment, tödliche Verletzungen, und meine Großmutter, eine reizende junge Witwe von siebenundzwanzig Jahren, blieb mit vier Kindern und einer bescheidenen Witwenpension zurück. Ihre ältere Schwester, die kurz zuvor einen reichen Amerikaner als dessen zweite Frau geheiratet hatte, schrieb ihr und bot ihr an, eines der Kinder zu adoptieren und als ihr eigenes großzuziehen.

Dieses Angebot glaubte die bekümmerte junge Witwe, die verzweifelte Anstrengungen unternahm, mit Näharbeiten das Nötige dazuzuverdienen, um ihre vier Kinder zu ernähren und aufzuziehen, nicht ausschlagen zu können. Von den drei Jungen und dem Mädchen fiel ihre Wahl auf das Mädchen. Meine Mutter verließ daher Jersey und kam in ein ihr fremdes Haus im Norden Englands. Ich glaube, dass ihr Groll, das schmerzliche Gefühl, unerwünscht zu sein, ihre Einstellung zum Leben beeinflusste. Sie begann an sich selbst zu zweifeln und der Zuneigung ihrer Umgebung mit Misstrauen zu begegnen. Ihre Tante war eine liebenswürdige Frau, gutmütig und großherzig, jedoch außerstande, sich in die Empfindungen eines Kindes einzufühlen. Meine Mutter genoss alle die sogenannten Vorteile eines behaglichen Daheims und einer guten Erziehung – doch was sie verlor und was sich durch nichts ersetzen ließ, das war das sorglose Leben mit ihren Brüdern in ihrem eigenen Heim. In Leserbriefen in Zeitungen habe ich zu wiederholten Malen Anfragen besorgter Eltern gesehen, ob sie ein Kind »wegen der Vorteile, die ich ihm nicht bieten kann – wie etwa eine erstklassige Erziehung« –, der Obhut anderer Menschen anvertrauen sollten. Immer wieder drängt es mich, ihnen zuzurufen: »Tut es nicht!« Das eigene Heim, die eigene Familie, Liebe und das Gefühl, dazuzugehören – was ist dagegen die beste Erziehung der Welt?

Meine Mutter war todunglücklich in ihrem neuen Leben. Nacht für Nacht weinte sie sich in den Schlaf, wurde immer dünner und blasser und schließlich so krank, dass die Tante den Arzt kommen ließ. Er war ein älterer, erfahrener Mann, und nachdem er die Kleine untersucht und mit ihr gesprochen hatte, ging er zu ihrer Tante und sagte: »Das Kind hat Heimweh.« Die Tante war überrascht und wollte es nicht glauben. »Aber nein«, sagte sie, »das ist völlig unmöglich. Clara ist ein gutes stilles Kind, sie macht uns nie Ärger, und sie ist sehr glücklich.« Aber der alte Arzt ging zu dem Mädchen zurück und sprach noch einmal mit ihm. Sie hatte Brüder, nicht wahr? Wie viele? Wie hießen sie? Es dauerte gar nicht lange, und sie brach in bittere Tränen aus, und die ganze Wahrheit kam an den Tag.

Da sie sich nun den Kummer von der Seele geredet hatte, löste sich die Spannung, doch das Gefühl, »nicht erwünscht zu sein«, blieb. Ich glaube, sie hat es meiner Großmutter bis zu ihrer letzten Stunde angekreidet. Sie schloss sich eng an ihren amerikanischen »Onkel« an. Er war damals schon ein kranker Mann, hatte aber Zuneigung zu der stillen, kleinen Clara gefasst. Sie pflegte zu ihm zu kommen und ihm aus ihrem Lieblingsbuch Der König vom Goldenen Fluss vorzulesen. Doch die einzigen wirklichen Lichtblicke in ihrem Leben waren die regelmäßigen Besuche des Stiefsohns ihrer Tante – ihres sogenannten »Vetters« Fred. Er war damals ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren und immer besonders freundlich zu seiner kleinen »Base«. Eines Tages, als sie knapp elf war, hörte sie, wie er zu seiner Stiefmutter sagte: »Was für schöne Augen Clara hat!«

Clara, die sich immer für furchtbar unansehnlich gehalten hatte, ging nach oben und musterte sich im großen Spiegel des Toilettentisches ihrer Tante. Vielleicht waren ihre Augen wirklich ganz hübsch? Sie fühlte sich unendlich ermutigt. Von diesem Tag an gehörte ihr Herz für immer Fred.

»Fred«, sagte ein alter Freund der Familie drüben in Amerika zu dem lebenslustigen jungen Mann, »eines Tages wirst du deine kleine englische Base heiraten.«

»Clara?«, erwiderte er erstaunt. »Sie ist doch nur ein Kind!«

Aber er empfand immer eine besondere Zuneigung zu dem Mädchen, das ihn so schwärmerisch verehrte. Er bewahrte ihre kindlichen Briefe auf, die Gedichte, die sie ihm schickte, und nach einer langen Reihe von Liebeleien mit amüsanten Mädchen und schönen Frauen der New Yorker Gesellschaft (darunter auch Jenny Jerome, die spätere Lady Randolph Churchill) kehrte er nach England in die Heimat zurück und bat die stille, kleine Base, seine Frau zu werden.

Es ist typisch für meine Mutter, dass sie ihn ohne Zögern abwies.

»Warum eigentlich?«, fragte ich sie einmal.

»Weil ich rundlich war«, gab sie mir zur Antwort.

Ein außergewöhnlicher, aber für sie durchaus triftiger Grund.

Mein Vater ließ es sich nicht verdrießen. Er kam ein zweites Mal, und bei dieser Gelegenheit überwand meine Mutter ihre Zweifel und willigte, wenn auch zögernd, ein, seine Frau zu werden – nicht ohne die Befürchtung zu äußern, er würde »von ihr enttäuscht« sein.

So heiratete sie also, und auf dem Hochzeitsbild, das ich besitze, ist ein ernstes, liebreizendes Gesicht mit dunklem Haar und großen haselnussbraunen Augen zu sehen.

Bevor meine Schwester geboren wurde, gingen sie nach Torquay, damals ein elegantes Seebad, das jenes Ansehen genoss, zu dem später die Riviera gelangte, und mieteten dort möblierte Zimmer. Mein Vater war von Torquay begeistert. Er liebte das Meer. Einige seiner Freunde lebten in Torquay, andere, Amerikaner, verbrachten dort den Winter. Meine Schwester Madge wurde in Torquay geboren, und bald danach schifften sich meine Eltern nach Amerika ein, wo sie ihren ständigen Wohnsitz zu nehmen gedachten. Vaters Großeltern lebten noch, und er hing sehr an ihnen. Sie konnten es kaum erwarten, seine Frau und sein Töchterchen zu sehen. Während ihres Aufenthalts in Amerika wurde mein Bruder geboren. Einige Zeit später beschloss Vater, nach England zurückzukehren. Kaum war er dort eingetroffen, riefen ihn geschäftliche Schwierigkeiten wieder nach New York. Er schlug Mutter vor, in Torquay ein möbliertes Haus zu nehmen und da auf seine Rückkehr zu warten.

Also ging Mutter sich möblierte Häuser in Torquay ansehen. Sie kam wieder und verkündete triumphierend: »Fred, ich habe ein Haus gekauft.«

Vater wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Er hatte immer noch die Absicht, in Amerika zu leben.

»Aber warum hast du das getan?«, fragte er.

»Weil es mir gefallen hat«, antwortete Mutter.

Wie sich herausstellte, hatte sie etwa fünfunddreißig Häuser besichtigt, doch nur eines gefiel ihr. Die Besitzer wollten es aber nicht vermieten, sondern verkaufen. Daraufhin wandte sich Mutter, die von ihrem Stiefvater zweitausend Pfund geerbt hatte, an meine Tante, die ihr Sachwalter war, und zusammen kauften sie unverzüglich das Haus.

»Aber wir bleiben doch nur ein Jahr«, stöhnte Vater, »allerhöchstens!«

Mutter, von der wir immer behaupteten, sie besäße hellseherische Fähigkeiten, antwortete, dass sie es ja wieder verkaufen könnten. Aber vielleicht ahnte sie schon, dass ihre Familie noch viele Jahre in diesem Haus wohnen bleiben würde.

»Ich war gleich in das Haus verliebt, als ich es betrat«, rechtfertigte sie sich, »es hat eine wunderbar friedliche Atmosphäre.«

Das Haus gehörte einer Familie namens Brown. Es waren Quäker, und als Mutter Mrs Brown zögernd ihr Bedauern darüber aussprach, dass sie das Haus nun verlassen müssten, in dem sie so lange Jahre gewohnt hatten, sagte die alte Dame in sanftem Ton: »Der Gedanke, dass du und dein Kind hier leben werden, macht mich glücklich, meine Tochter.« Es klang, sagte Mutter, wie ein Segensspruch.

Ich glaube wirklich, dass ein Segen auf diesem Haus ruhte. Es war eine ganz gewöhnliche Villa und stand nicht im eleganten Viertel von Torquay – nicht in den Warberrys oder den Lincombes –, sondern am anderen Ende der Stadt im älteren Teil von Tor Mohun. Damals führte die Straße, an der es stand, fast ohne Übergang in die üppige Landschaft Devons mit ihren Feldern und Pfaden. Die Villa trug den Namen »Ashfield« und ist mit Unterbrechungen mein Leben lang mein Zuhause gewesen.

Denn Vater ließ sich am Ende doch nicht in Amerika nieder. Torquay gefiel ihm so gut, dass er beschloss, dazubleiben. Mit seinem Klub, seinem Whist und seinen Freunden richtete er sich häuslich ein. Mutter hasste es, an der Küste zu leben, gesellschaftliche Veranstaltungen waren ihr zuwider, und sie beherrschte kein einziges Kartenspiel. Dennoch lebte sie glücklich im Hause Ashfield, gab große Dinnerpartys und übernahm gesellschaftliche Pflichten. An ruhigen Abenden pflegte sie Vater mit ungeduldigem Verlangen über Neuigkeiten aus der Stadt zu befragen und was sich heute im Klub ereignet hatte.

»Nichts«, antwortete Vater mit heiterer Miene.

»Aber Fred, irgendwer muss doch irgendetwas Interessantes gesagt haben!«

Vater zerbricht sich den Kopf, um ihr gefällig zu sein, aber es fällt ihm nichts ein. Schließlich erzählt er, dass M. immer noch zu knausrig ist, um sich eine Zeitung zu kaufen. Er kommt in den Klub, liest dort sein Leibblatt und kann es nicht lassen, die Neuigkeiten an die anderen Mitglieder weiterzugeben. »He, Freunde, was sagt ihr dazu? An der indischen Nordwestgrenze …« Man ist sehr verärgert, denn M. ist eines der reichsten Mitglieder.

Mutter, die das alles schon einmal gehört hat, ist nicht zufriedengestellt. Vater verfällt wieder in stille Beschaulichkeit. Er lehnt sich in seinen Sessel zurück, streckt die Beine dem Kaminfeuer entgegen und kratzt sich am Kopf (ein Zeitvertreib, der ihm untersagt ist).

»Woran denkst du, Fred?«, erkundigt sich Mutter.

»An nichts«, antwortet mein Vater wahrheitsgetreu.

»Aber du kannst nicht an nichts denken!«

Seine Antwort gibt Mutter immer wieder Rätsel auf. Für sie ist das unvorstellbar. Gleich fliegenden Schwalben schießen ihr die Gedanken durch den Kopf. Weit davon entfernt, nichts zu denken, denkt sie für gewöhnlich an drei Dinge zur selben Zeit.

Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass die Vorstellungen meiner Mutter stets ein wenig von der Wirklichkeit abwichen. Sie sah das Universum viel farbiger, als es tatsächlich war, die Menschen besser oder schlechter, als sie schienen. Vielleicht weil sie in ihrer Kindheit ausgeglichen und verhalten gewesen war und ihre Gefühle nicht an die Oberfläche hatte gelangen lassen, neigte sie dazu, die Welt als Kette dramatischer, wenn nicht gar melodramatischer Ereignisse wahrzunehmen. Ihre schöpferische Vorstellungskraft war so stark, dass sie nie imstande war, die Dinge als alltäglich oder gewöhnlich anzusehen. Auch hatte sie intuitive Momente; sie wusste plötzlich, was ein Mensch gerade dachte. Als mein Bruder ein junger Mann war und in der Armee diente, geriet er einmal in finanzielle Schwierigkeiten, von denen die Eltern nichts wissen sollten. Wie er nun eines Abends mit sorgenvoller Miene dasaß, musterte sie ihn plötzlich und sagte: »Hör mal, Monty, du warst bei einem Geldverleiher. Denkst du daran, ein Darlehen auf das Testament deines Großvaters aufzunehmen? Das solltest du nicht. Es wäre besser, du gingest zu Vater und redetest mit ihm.«

Mit dieser ihrer Gabe überraschte sie die Familie immer wieder von Neuem. Meine Schwester sagte einmal: »Wenn ich etwas habe, das Mutter nicht wissen soll, wage ich nicht, auch nur daran zu denken, wenn sie im Zimmer ist.«

2

Es ist schwer, sich auf seine erste Erinnerung zu besinnen. Ich erinnere mich genau an meinen dritten Geburtstag. Die Wichtigkeit meiner Person beherrschte mein Bewusstsein. Wir tranken Tee im Garten – in jenem Teil des Gartens, wo später zwischen zwei Bäumen eine Schaukel hin- und herschwingen sollte.

Ich sehe einen Teetisch, bedeckt mit mancherlei Kuchen und meiner Geburtstagstorte, komplett mit Zuckerglasur und Kerzen in der Mitte. Drei Kerzen. Und dann eine aufregende Episode: eine winzige rote Spinne, so klein, dass ich sie kaum sehen kann, läuft über das weiße Tischtuch. Und Mutter sagt: »Es ist eine Glücksspinne, Agatha, eine Glücksspinne zu deinem Geburtstag …« Und dann verblasst die Erinnerung bis auf die bruchstückhafte Reminiszenz eines endlosen Disputs über die Frage, wie viele Eclairs mein Bruder essen dürfte.

Die wunderschöne, sichere und doch so aufregende Welt der Kindheit. In meiner war es vielleicht der Garten, der mich mehr als alles andere gefangen nahm und mir von Jahr zu Jahr mehr bedeutete. Schon in meiner frühesten Vorstellung bestand er aus drei verschiedenen Teilen.

Da war zunächst der Gemüsegarten – umschlossen von einer hohen Mauer, die an die Straße grenzte –, der mich nur insofern interessierte, als er Himbeeren und grüne Äpfel lieferte, die ich in großen Mengen verzehrte. Es war der Gemüsegarten und nicht mehr. Er besaß nichts, was mich hätte bezaubern können.

Dann gab es den eigentlichen Garten – eine Rasenfläche, die sich talwärts senkte und über die eine Anzahl höchst interessanter pflanzlicher Gebilde verstreut war: eine Steineiche, eine Zeder, ein besonders hoher Mammutbaum sowie zwei Tannen, die, ich weiß nicht mehr wie, etwas mit meinen Geschwistern zu tun hatten. Ich erinnere mich auch noch an einen von mir sogenannten Terpentinbaum, der einen klebrigen, stark riechenden Saft absonderte, den ich sorgsam auf Blättern sammelte und für einen »sehr kostbaren Balsam« hielt. Und schließlich, als alles überbietende Pracht, die Rotbuche – der größte Baum im ganzen Garten und der liebenswürdige Spender von Bucheckern, die ich mit Vergnügen verspeiste.

Der dritte Teil war das Wäldchen. In meiner Vorstellung war es und ist es heute noch so groß wie ein richtiger Wald. Ein Pfad schlängelte sich durch das Gehölz, das hauptsächlich aus Eschen bestand und alles besaß, was zu einem Wald gehört: geheimnisvolles Dunkel, Schrecknis, heimliches Entzücken, Unzugänglichkeit und weite Ferne …

Der Pfad führte zum Tennis- oder Krocketplatz, der sich auf einem Plateau vor dem Speisezimmerfenster befand. Sobald man aus dem Wäldchen kam, war der Zauber dahin. Man war in die Welt des Alltags zurückgekehrt. Die Röcke hochgerafft und mit einer Hand festgehalten, spielten die Damen Krocket oder, Strohhüte auf den Köpfen, Tennis.

Wenn ich die Wonnen des »im Garten Spielens« ausgekostet hatte, kehrte ich in die Nursery, ins Kinderzimmer, zurück, wo mich Nursie, ein Fixpunkt meines Daseins, erwartete. Vielleicht spielte ich meine Spiele darum nur neben ihr und um sie herum, nie aber ganz mit ihr, weil sie eine alte Frau war und Rheuma hatte. Ich schuf mir eine eigene Welt und erfand mir meine eigenen Spielgefährten. Die erste Gruppe – die mir nur mehr als Name erinnerlich ist – war die der »Kätzchen«. Ich weiß heute nicht mehr, wer die »Kätzchen« waren und ob ich selbst dazugehörte. Eines hieß Klee, ein anderes Schwarznase, und es gab noch drei andere. Ihre Mutter hatte ich auf den Namen Mrs Benson getauft.

Nursie war viel zu klug, um mit mir über sie zu reden oder auch nur zu versuchen, sich an den gemurmelten Gesprächen zu beteiligen, die zu ihren Füßen geführt wurden. Wahrscheinlich war sie froh, dass es mir so leichtfiel, mich allein zu unterhalten.

Und doch war es ein ganz furchtbarer Schock für mich, als ich eines Tages die Treppe vom Garten heraufkam, um meinen Tee zu trinken, und das Hausmädchen Susan sagen hörte:

»An Spielsachen scheint ihr nicht viel zu liegen, stimmt’s? Womit spielt sie denn nun wirklich?«

Und Nursies Antwort: »Ach, sie stellt sich vor, sie ist ein Kätzchen und spielt mit anderen Kätzchen.«

Das Wissen, dass jemand – Nursie nicht ausgenommen – über meine Kätzchen Bescheid wusste, traf mich bis ins Innerste. Ich nahm mir vor, bei meinen Spielen nie wieder ein Wort laut werden zu lassen. Die Kätzchen waren meine Kätzchen und gehörten nur mir allein.

Natürlich muss ich Spielzeug gehabt haben. Ich muss sogar eine ganze Menge gehabt haben, denn ich war ein Kind, das zärtlich geliebt und sehr verwöhnt wurde. Ich erinnere mich an einige Puppen: an Phoebe, die ich nicht allzu sehr mochte, und an eine andere, die Rosalind hieß oder Rosy. Sie hatte lange goldblonde Haare, und ich fand sie ganz wunderschön, aber ich spielte nicht viel mit ihr. Die Kätzchen waren mir lieber.

Nach den Kätzchen kam Mrs Green. Mrs Green hatte hundert Kinder, und die für mich wichtigsten hießen Pudel, Hörnchen und Baum. Diese drei begleiteten mich bei allen meinen Heldentaten im Garten. Sie waren keine richtigen Kinder und keine richtigen Hunde, sondern eine nicht näher zu beschreibende Mischung aus beiden.

Wie alle guterzogenen Kinder musste auch ich einmal am Tag »einen Spaziergang machen«. Das tat ich höchst ungern. Insbesondere war es mir zuwider, dass ich mir die Stiefelchen zuknöpfen musste – eine leider unerlässliche Prozedur. Ich trödelte und ließ die Füße schleifen und stand es überhaupt nur durch, wenn Nursie mir Geschichten erzählte. Es waren insgesamt sechs Geschichten, die ihr Repertoire ausmachten und die all die Kinder der verschiedenen Familien, bei denen sie gedient hatte, in den Mittelpunkt stellten. Ich habe keine im Gedächtnis behalten, aber ich weiß noch, dass eine mit einem Tiger in Indien zu tun hatte, eine andere mit Affen und eine dritte mit einer Schlange. Es waren sehr aufregende Geschichten, und ich durfte mir aussuchen, welche ich hören wollte. Nursie wiederholte sie immer wieder, ohne das geringste Zeichen von Überdruss erkennen zu lassen.

Manchmal – und das war eine besondere Vergünstigung – durfte ich Nursie ihre schneeweiße Rüschenhaube abnehmen. Irgendwie verlor sie damit ihren offiziellen Status und wurde zur Privatperson. Mit größter Vorsicht knüpfte ich ihr dann ein breites blaues Seidenband ins Haar – mit angehaltenem Atem, denn für eine Vierjährige ist es keine leichte Sache, eine Schleife zu binden. Dann trat ich einen Schritt zurück und rief begeistert: »Oh, Nursie, du bist wunderschön!«

Worauf sie lächelte und mit ihrer sanften Stimme erwiderte: »Bin ich das, mein Schätzchen?«

Nach dem Tee wurde ich in ein gestärktes Musselinkleid gesteckt und ging in den Salon hinunter, um Mutter Gelegenheit zu geben, mit mir zu spielen.

Der Reiz von Nursies Geschichten lag darin, dass es immer dieselben waren, sodass Nursie das beständige Element in meinem Leben darstellte, während Mutter mich damit bezauberte, dass sie immer neue Geschichten erzählte und dass wir fast nie dasselbe Spiel zweimal spielten. Eine Geschichte, erinnere ich mich, handelte von einer Maus namens Hellauge. Hellauge hatte verschiedene Abenteuer zu bestehen, aber eines Tages teilte Mutter mir zu meinem Leidwesen mit, dass es keine Geschichte von Hellauge mehr zu erzählen gab. Ich war den Tränen nahe, als Mutter sagte: »Aber ich werde dir eine Geschichte von einer sonderbaren Kerze erzählen.« Ich bekam zwei Kapitel von der »sonderbaren Kerze« zu hören – eine Art Detektivgeschichte, wenn ich mich recht entsinne –, als wir unglücklicherweise Hausgäste bekamen, sodass Spiele und Geschichten vorübergehend in Vergessenheit gerieten. Als die Besucher wieder gingen und ich das Ende der Geschichte zu hören begehrte – sie war im aufregendsten Moment unterbrochen worden, als der Bösewicht gerade Gift in die Kerze rieb –, sah Mutter mich verständnislos an und schien die Sache völlig vergessen zu haben. Diese Fragment gebliebene Geschichte geht mir immer noch im Kopf herum.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine Geschwister, was vermutlich damit zusammenhängt, dass sie im Internat waren. Mein Bruder war in Harrow, meine Schwester in Brighton in der Miss Lawrences’ School. Mutter wurde als äußerst fortschrittlich angesehen, weil sie ihre Tochter in ein Pensionat schickte, und Vater als äußerst großzügig, weil er es gestattete. Aber Mutter liebte es, Experimente anzustellen.

Ihre eigenen Experimente hatten hauptsächlich mit Fragen des Glaubens zu tun. Ihr war, glaube ich, eine von Natur aus mystische Sinneshaltung zu eigen. Um ein Haar wäre sie in die katholische Kirche aufgenommen worden, vollzog dann eine Schwenkung zum Unitarismus (was die Tatsache verständlich macht, dass mein Bruder nie getauft wurde), wandelte sich in der Folge zu einer angehenden Theosophin, fasste aber eine Abneigung gegen Mrs Besant, als sie sie predigen hörte. Nachdem sie sich kurz, aber intensiv mit dem Zoroastrismus beschäftigt hatte, kehrte sie, zu Vaters großer Erleichterung, in den sicheren Hafen der englischen Staatskirche zurück. Auf ihrem Nachttisch stand ein Bild des heiligen Franz, und in der Nachfolge Christi las sie Tag und Nacht. Das gleiche Buch liegt auch immer neben meinem Bett.

Vater war ein strenggläubiger Christenmensch von harmlosem Gemüt. Er sprach jeden Abend seine Gebete und ging jeden Sonntag zur Kirche. Seine Einstellung zur Religion war von Sachlichkeit und Nüchternheit geprägt und von keinerlei weltbewegenden Zweifeln getrübt – aber wenn Mutter schmückendes Beiwerk vorzog, sollte ihm auch das recht sein. Wie ich schon sagte: er war ein sehr liebenswürdiger Mann.

Ich glaube, er fühlte sich erleichtert, als Mutter noch rechtzeitig in den Schoß der englischen Staatskirche zurückkehrte, um es möglich zu machen, mich in der Pfarrkirche taufen zu lassen. Ich erhielt die Namen Mary nach meiner Großmutter, Clarissa nach meiner Mutter und – einer Überlegung in letzter Minute folgend – Agatha. Eine Freundin von Mutter machte ihr diesen Vorschlag auf dem Weg zur Kirche, sie meinte, es wäre ein hübscher Name.

Meine eigenen religiösen Ansichten übernahm ich hauptsächlich von Nursie. Sie war Bibelchristin, ging daher nicht zur Kirche und las ihre Bibel daheim. In meiner Überzeugung, der göttlichen Gnade teilhaftig geworden zu sein, legte ich eine geradezu unerträgliche Überheblichkeit an den Tag. Ich weigerte mich, am Sonntag zu spielen, zu singen oder auf dem Klavier zu klimpern, und sorgte mich ganz furchtbar um das Seelenheil meines Vaters, der an Sonntagnachmittagen bedenkenlos Krocket spielte und unbeschwert Witze über Geistliche machte – einmal sogar über einen Bischof.

Mutter, einst leidenschaftliche Verfechterin einer Ausbildung für Mädchen, hatte jetzt, in einer für sie charakteristischen Kehrtwendung, die entgegengesetzte Stellung bezogen. Bis zu seinem achten Lebensjahr sollte es keinem Kind erlaubt sein zu lesen; das wäre besser für die Augen und auch für den Verstand.

Aber was mich betraf, scheiterten ihre Pläne. Wenn mir eine Geschichte vorgelesen wurde und sie mir gefiel, bat ich um das Buch und studierte die Seiten, die, zunächst unverständlich, dann allmählich doch einen Sinn ergaben. Wenn ich mit Nursie spazieren ging, fragte ich sie, was die Aufschriften auf Ladenschildern und Plakatwänden bedeuteten. Und eines Tages stellte ich fest, dass ich ein Buch – Der Engel der Liebe hieß es – recht gut allein lesen konnte, was ich Nursie sogleich mit lauter Stimme demonstrierte.

»Ich fürchte, Ma’am«, teilte Nursie Mutter am nächsten Tag mit, »Miss Agatha kann lesen.«

Mutter war sehr bekümmert – aber was sollte sie tun? Ich war noch keine fünf, und die Welt der Geschichtenbücher lag offen vor mir. Von da an waren Bücher meine liebsten Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke.

Da ich nun lesen konnte, sollte ich auch schreiben lernen, meinte Vater. Das war nicht annähernd so vergnüglich. Immer noch tauchen abgegriffene Hefte in vergessenen Schubladen auf, voll Schnörkel und Schlingen oder wackligen Bs und Rs, die zu unterscheiden mir offenbar große Schwierigkeiten bereitete, weil ich lesen gelernt hatte, indem ich mir Worte, nicht Buchstaben, einprägte.

Dann sagte Vater, ich könnte genauso gut auch rechnen lernen, und so setzte ich mich jeden Morgen nach dem Frühstück auf die Fensterbank im Speisezimmer und hatte wesentlich mehr Spaß mit Zahlen als mit den widerspenstigen Buchstaben des Alphabets.

Vater war mit meinen Fortschritten zufrieden und stolz auf mich. Er überreichte mir ein kleines Büchlein mit »Problemen«. Ich liebte die »Probleme«. Es waren nur Rechenaufgaben – einfach, aber in faszinierender Verpackung. »John hat fünf Äpfel, George hat sechs; wenn John George zwei Äpfel wegnimmt, wie viele wird George am Abend noch haben?« Und so weiter. Wenn ich heute an diese Frage denke, drängt es mich, zu antworten: »Hängt davon ab, ob George gern Äpfel isst.« Damals aber schrieb ich eine Vier hin und hatte das Gefühl, ein schwieriges Problem gelöst zu haben. »Und John wird sieben haben«, fügte ich aus eigenem Antrieb hinzu. Dass mir das Rechnen solchen Spaß machte, wunderte Mutter, die, wie sie offen zugab, nie mit Zahlen zurechtgekommen war.

Das nächste große Ereignis in meinem Leben war die Ankunft eines Kanarienvogels. Er hieß Goldie und wurde sehr zahm. Er hüpfte im Kinderzimmer herum, saß manchmal auf Nursies Haube und auch auf meinem Finger, wenn ich ihn rief. Er war nicht nur mein Vogel, er brachte mich auch auf die Idee zu einer neuen heimlichen Heldensage. Ihre Hauptfiguren hießen Dickie und Dicksmistress. Sie ritten auf Streitrossen durch das Land (den Garten), hatten große Abenteuer zu bestehen und entkamen den bösen Räubern stets nur mit knapper Not.

Eines Tages aber brach die Katastrophe herein. Goldie verschwand. Das Fenster war offen, die Tür des Käfigs aufgeklinkt. Offenbar war er fortgeflogen. Ich weinte den ganzen Tag. Der Käfig wurde vor das Fenster gestellt und ein Stück Zucker zwischen die Gitterstäbe geklemmt. Mutter und ich gingen im Garten herum und riefen: »Dickie, Dickie, Dickie!« Dem Hausmädchen wurde die sofortige Entlassung angedroht, weil sie grinsend äußerte: »Den hat bestimmt schon die Katze gefressen«, und damit bei mir einen frischen Tränenstrom auslöste.

Ich war schon zu Bett gebracht worden, lag da, zog immer noch hin und wieder die Nase hoch und hielt Mutters Hand fest umklammert, als ein munteres kleines Piepsen ertönte. Dickie kam von der Gardinenstange heruntergeschwirrt. Er flog einmal im Zimmer herum und hüpfte dann in seinen Käfig. Oh, welch unendliches Entzücken! Den ganzen Tag – diesen ganzen nicht enden wollenden, trauervollen Tag – hatte Dickie auf der Gardinenstange gesessen.

Nach den Gepflogenheiten jener Tage nutzte Mutter die Gelegenheit.

»Siehst du nun«, sagte sie, »wie dumm du warst? Du hast ganz umsonst geweint. Weine nie über etwas, bevor du ganz sicher bist.« Ich versprach ihr, dass ich das nie wieder tun würde.

3

Die überragende Gestalt in meiner frühen Kindheit war Nursie. Und unser beider Welt war das Kinderzimmer.

Ich sehe die Tapete noch vor mir – malvenfarbige Schwertlilien, die sich die Wände hochrankten. Ich pflegte im Bett zu liegen und sie im matten Schein von Nursies Öllampe auf dem Tisch zu betrachten. Ich fand das Muster wunderschön. Ich habe mein Leben lang eine Schwäche für Mauve gehabt.

Nursie saß am Tisch und nähte oder flickte. Rund um mein Bett stand ein Paravent, und ich sollte längst schlafen, aber ich war meistens wach, bewunderte die Schwertlilien, versuchte herauszubekommen, wie genau sie sich ineinander verflochten, und dachte mir neue Abenteuer für die Kätzchen aus. Um halb zehn brachte Susan das Tablett mit dem Abendessen für Nursie herauf. Susan war ein großes, breitschultriges Mädchen, schwerfällig und tapsig in ihren Bewegungen, und neigte dazu, Dinge umzuwerfen. Sie führte mit Nursie ein kurzes Gespräch im Flüsterton, und als sie gegangen war, kam Nursie und guckte über den Paravent.

»Ich dachte mir doch, dass du noch wach sein würdest. Du willst wohl ein Stück kosten, nicht wahr?«

»Ach ja, bitte, Nursie.«

Ein köstlicher Bissen saftigen Steaks wurde mir in den Mund gesteckt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Nursie jeden Tag Steak zum Nachtmahl hatte, aber in meiner Erinnerung ist es immer Steak.

Eine andere wichtige Persönlichkeit im Haus war Jane, unsere Köchin, die mit der gelassenen Überlegenheit einer Königin über ihr Reich herrschte. Sie war Küchenmädchen gewesen, als sie, eine schlanke Neunzehnjährige, zu meiner Mutter kam. Sie blieb vierzig Jahre bei uns und wog mindestens fünfundneunzig Kilo, als sie uns verließ. In dieser ganzen Zeit ließ sie nie eine Gefühlsregung erkennen, doch als sie endlich dem Drängen ihres Bruders nachgab, nach Cornwall zu kommen und ihm den Haushalt zu führen, rollten beim Abschied dicke Tränen über ihre Wangen. Sie nahm einen Koffer mit – vermutlich den gleichen, mit dem sie gekommen war. In all diesen Jahren hatte sie keine Besitztümer erworben. Sie war, aus heutiger Sicht gesehen, eine wunderbare Köchin, aber Mutter klagte gelegentlich darüber, dass sie keine Phantasie hätte.

»Ach, du liebe Zeit, was wollen wir denn heute Abend zum Nachtisch machen? Schlagen Sie doch etwas vor, Jane.«

»Wie wäre es mit einem schönen Steinpudding, Ma’am?«

Steinpudding war das Einzige, was Jane jemals vorschlug, aber aus irgendeinem Grunde reagierte Mutter allergisch darauf und sagte: Nein, das wollten wir nicht haben, lieber etwas anderes. Ich weiß bis heute nicht, was ein Steinpudding ist. Mutter wusste es auch nicht – sie meinte, es klänge einfach fade.

Als ich Jane »kennenlernte«, war sie schon massig – die dickste Frau, die ich je gesehen habe. Sie hatte ein glattes Gesicht und trug ihr Haar in der Mitte gescheitelt – schönes, natürlich lockiges Haar, im Nacken zu einem Knoten gerafft. Ihre Kinnbacken waren ständig in Bewegung, weil sie immer etwas aß – einen Tortenrest, einen frischen Teekuchen, ein Plätzchen. Sie kam mir vor wie eine große sanftmütige Kuh, die unermüdlich wiederkäute.

In der Küche wurde herrlich geschmaust. Nach einem reichlichen Frühstück gab es um elf einen köstlichen Kakao und dazu eine Schüssel mit frischen Plätzchen und Korinthenbrötchen oder vielleicht heißem Marmeladegebäck. Das Mittagessen begann, nachdem wir das unsere beendet hatten, und bis drei Uhr war die Küche tabu. Mutter gab mir die strikte Anweisung, die Küche unter keinen Umständen zu betreten, wenn dort gegessen wurde: »Die Zeit gehört ihnen, und wir dürfen sie dabei nicht stören.«

Das Personal leistete unglaublich viel Arbeit. Für Jane gehörte es zur täglichen Routine, für sieben oder acht Personen Mahlzeiten mit fünf Gängen zu kochen. Bei großen Dinnerpartys für zwölf oder mehr Gäste gab es für jeden Gang eine Alternative – zwei Suppen, zwei Fischgerichte etc. Das Hausmädchen putzte etwa vierzig Silberrahmen, dazu silberne Toilettengarnituren, füllte und leerte ein tragbares »Sitzbad« (wir hatten zwar ein Badezimmer, aber Mutter empfand es als Zumutung, eine Wanne zu benutzen, die schon andere benutzt hatten), brachte viermal im Tag heißes Wasser in die Schlafzimmer, machte im Winter in den Schlafzimmern Feuer und besserte nachmittags die Bett- und Tischwäsche aus. Das Stubenmädchen reinigte unvorstellbare Mengen von Silbergeschirr und wusch die Gläser mit liebender Sorge in einer Schüssel aus Papiermaschee; überdies bediente sie bei Tisch.

Trotz dieser schweren Pflichten waren die Dienstboten, glaube ich, mit ihrem aktiven Leben zufrieden und glücklich, wohl weil sie wussten, dass sie geschätzt wurden – als Experten, die die Arbeit von Experten verrichteten. Als solche genossen sie Prestige, auf Ladenangestellte und ihresgleichen blickten sie mit Verachtung herab.

Wäre ich heute ein Kind, würde mich, glaube ich, der Mangel an Dienstboten am meisten stören. Für ein Kind waren sie der farbigste Teil des Alltags. Kindermädchen speisten es mit Plattitüden ab, die Dienstboten lieferten dramatische Episoden, Unterhaltung und jede Art von nicht weiter spezifiziertem, aber amüsantem Wissen. Sie waren alles andere als Sklaven, im Gegenteil, häufig waren sie viel eher Tyrannen. Sie kannten, wie man damals sagte, ihren Platz, aber damit war nicht Unterwürfigkeit gemeint, sondern Stolz, der Stolz des Professionals. Im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts besaßen die Dienstboten ein ausgedehntes Fachwissen. Stubenmädchen mussten groß sein, nett aussehen, gute Zeugnisse vorweisen können und die richtige Stimme haben, um »Rheinwein oder Sherry?« zu murmeln.

Ich bezweifle, dass es heute noch so etwas wie einen richtigen Dienstboten gibt. Vielleicht humpeln noch ein paar Siebzig- und Achtzigjährige herum, aber sonst kennt man ja nur mehr die Tagesmädchen, die Aufwärterinnen, die Hausgehilfinnen, die Raumpflegerinnen und die charmanten jungen Frauen, die sich ein bisschen was dazuverdienen wollen – stundenweise, wie es ihnen passt, und so, dass sie ihre Kinder nicht zu vernachlässigen brauchen. Sie alle sind liebenswerte Amateure, sie erweisen sich oft als Freunde, aber nur selten erwecken sie in uns die Bewunderung, die wir unserem Hauspersonal entgegenbrachten.

Dienstboten waren natürlich kein besonderer Luxus – nicht nur die Reichen konnten sich welche leisten; der Unterschied bestand lediglich in der Anzahl. Sie verfügten über Butler und Lakaien und Hausmädchen und Stubenmädchen und Kammerzofen und so fort. Wenn man die Wohlstandsleiter herabstieg, erblickte man früher oder später jenes Wesen, das Barry Pain in seinen reizenden Büchern Eliza und Elizas Gatte so trefflich beschrieben hat: »das Mädchen«.

Unsere Dienstboten haben für mich weit mehr Wirklichkeit als Mutters Freundinnen und meine entfernten Verwandten. Ich muss nur die Augen schließen, um Jane zu sehen, wie sie majestätisch, mit gewaltigem Busen, mächtigen Hüften und einem gestärkten Band, das ihre Taille umschloss, die Küche durchschreitet. Ihre Fettleibigkeit schien ihr nie irgendwelche Beschwerden zu machen, nie schmerzten sie die Füße, die Knie oder die Knöchel, und falls sie erhöhten Blutdruck hatte, wusste sie bestimmt nichts davon. Soweit ich zurückdenken kann, war sie niemals krank. Sie war von olympischer Verfassung. Vielleicht hatte sie Gefühle, aber sie zeigte sie nicht. Weder mit Koseworten noch mit Zeichen des Unwillens ging sie verschwenderisch um; nur an Tagen, da sie mit der Vorbereitung einer großen Dinnerparty beschäftigt war, schien eine leise Erregung sie ein wenig aus der Ruhe zu bringen: eine leichte Röte überzog dann ihre Wangen, sie presste die Lippen zusammen, und eine dünne Falte grub sich in ihre Stirn. Das waren auch die Tage, da ich mit Entschiedenheit aus der Küche verbannt wurde. »Nein, Miss Agatha, heute habe ich keine Zeit – ich habe eine Menge zu tun. Da hast du eine Handvoll Rosinen, und jetzt geh schön in den Garten und quäl mich nicht länger.« Von Janes Worten wie immer sehr beeindruckt, zog ich sofort ab.

Janes hervorstechendste Eigenschaften waren Verschwiegenheit und Zurückhaltung. Wir wussten, dass sie einen Bruder hatte, sonst aber war uns nur wenig über ihre Familie bekannt. Sie sprach nie von ihren Verwandten. Sie kam aus Cornwall. Sie nannte sich Mrs Rowe, doch das war nur ein Höflichkeitstitel. Wie alle guten Bediensteten kannte sie ihren Platz – der gleichbedeutend war mit ihrem Befehlsbereich. Und sie machte allen, die im Hause arbeiteten, klar, dass sie das Kommando führte.

Jane muss sehr stolz gewesen sein auf die köstlichen Speisen, die sie für uns zubereitete, aber sie zeigte es nicht und sprach nie darüber. Wenn man ihr Komplimente machte, nahm sie diese ohne Zeichen von Genugtuung entgegen, aber ich glaube doch, dass es ihr Freude machte, wenn Vater am Morgen nach einem Dinner in die Küche kam und ihr zu ihrer Kunst gratulierte.

Ich erinnere mich auch noch an Barker, eines der Hausmädchen, das mir wieder einen anderen Ausblick auf das Leben eröffnete. Ihr Vater war ein besonders strenggläubiger Plymouthbruder und sie sich ihrer Sündhaftigkeit, wenn sie vom rechten Wege abwich, wohl bewusst. »Verdammt in alle Ewigkeit werde ich sein, das ist mal sicher«, erklärte sie mit fast heiterem Sinn. »Ich weiß nicht, was mein Vater sagen würde, wenn er wüsste, dass ich in einem Gottesdienst der englischen Staatskirche war. Das Schlimmste ist, mir hat es gefallen. Die Predigt des Vikars hat mir gefallen und das Singen auch.«

Eines Tages hörte Mutter, wie ein Kind, das zu Besuch gekommen war, geringschätzig zum Stubenmädchen sagte: »Pah! Du bist ja nur ein Dienstbote!« Prompt stellte sie es zur Rede.

»Ich will nie wieder hören, dass du so zu einem Dienstboten sprichst. Dienstboten müssen mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt werden. Sie verrichten mit viel Geschicklichkeit Arbeiten, die du nicht ohne lange Lehrzeit ausführen könntest. Und denke immer daran, dass sie dir nicht widersprechen dürfen. Du musst immer höflich sein zu Menschen, deren Stellung es ihnen nicht erlaubt, zu dir unhöflich zu sein. Wenn du unhöflich bist, werden sie dich verachten, und mit Recht, denn dein Betragen ist nicht so, wie man es von einer Dame erwartet.«

Dass man »eine kleine Dame« zu sein hatte, wurde einem in jenen Tagen unermüdlich eingebläut. Unter anderem auch mit folgenden kuriosen Ermahnungen:

»Lass immer einen kleinen Rest auf deinem Teller zurück!« – »Trink nie mit vollem Mund!« – »Denk daran, dass du einen Brief nicht mit zwei Halfpenny-Marken frankieren darfst, außer es ist eine Rechnung für einen Handwerker!« Und natürlich: »Zieh dir saubere Unterwäsche an, wenn du auf eine Reise gehst. Es könnte sein, dass du einen Unfall hast.«

Der Nachmittagstee in der Küche hatte oft die Form eines gesellschaftlichen Beisammenseins. Jane hatte unzählige Freundinnen, und fast jeden Tag kam die eine oder andere zu Besuch. Jane holte Tablette mit heißen Plätzchen aus dem Ofen. In meinem ganzen Leben habe ich keine solchen Plätzchen mehr bekommen, wie Jane sie produzierte. Sie waren knusprig und glatt und voller Korinthen und schmeckten himmlisch. Trotz ihrer geistig ein wenig trägen Art gebärdete sich Jane zuweilen als richtiger Zuchtmeister. »Ich bin noch nicht fertig, Florence«, sagte sie, wenn eine ihrer Freundinnen vorzeitig vom Tisch aufstand, und Florence setzte sich wieder und murmelte verlegen: »Tut mir leid, Mrs Rowe.«

Köchinnen in höherem Alter wurden mit »Mrs« angeredet, und von Stubenmädchen erwartete man, dass sie »passende Namen« hatten, wie zum Beispiel Jane, Mary oder Edith. Namen wie Violet, Muriel, Rosamund usw. galten nicht als passend, und die Dame des Hauses erklärte rundheraus: »Solange Sie bei uns im Dienst stehen, werden Sie ›Mary‹ heißen.« Stubenmädchen, die ein gewisses Alter erreicht hatten, wurden mit ihrem Zunamen gerufen.

Reibungen zwischen »Küche« und »Kinderzimmer« waren nichts Ungewöhnliches. Aber Nursie, wenngleich sie auf ihren Rechten bestand, war ein friedliebender Mensch und wurde von den jüngeren Mädchen respektiert und oft auch zurate gezogen.

Ich weiß nicht, wie alt Nursie war, als sie zu uns kam, und was Mutter bewog, eine so bejahrte Frau in ihre Dienste zu nehmen, aber sie sagte immer: »Von dem Augenblick an, da Nursie ihre Arbeit begann, brauchte ich mir keine Sorgen mehr um dich zu machen. Ich wusste, du bist in guter Hand.«

Als die Volkszählung kam, musste Vater Namen und Alter aller Personen, die im Hause wohnten, in eine Liste eintragen.

»Eine peinliche Sache«, meinte er verdrießlich. »Die Dienstboten haben es nicht gern, wenn man sie nach ihrem Alter fragt. Und was mache ich mit Nursie?«

Nursie wurde gerufen. Die Hände vor ihrer schneeweißen Schürze gefaltet, stand sie da und richtete ihre sanften, alten Augen fragend auf Vater.

»Also sehen Sie«, sagte er, nachdem er ihr mit wenigen Worten erklärt hatte, was ein Zensus ist, »ich muss von allen das Alter angeben. Äh … was soll ich bei Ihnen hinschreiben?«

»Was Sie belieben, Sir«, antwortete Nursie höflich.

»Ja schon, aber … äh … ich muss es wissen.«

»Was Ihnen angebracht scheint, Sir.« Nursie ließ sich nicht in die Enge treiben.

Da sie seiner Schätzung nach mindestens fünfundsiebzig war, riskierte er einen Vorschlag: »Äh äh … neunundfünfzig? Stimmt das so ungefähr?«

Ein schmerzlicher Schatten flog über ihr runzliges Gesicht. »Seh ich denn wirklich schon so alt aus, Sir?«, fragte sie bangend.

»Nein, nein … aber was soll ich denn nun hinschreiben?«

Nursie hielt die Stellung. »Was Sie für richtig befinden, Sir«, antwortete sie würdevoll.

Worauf Vater die Zahl Vierundsechzig hinschrieb.

 

An meinem fünften Geburtstag bekam ich einen Hund. Es war das beseligendste Ereignis meines Lebens. So rauschhaft war meine Freude, dass ich kein Wort hervorbrachte. Ich konnte nicht einmal danke sagen. Ich konnte meinen wunderschönen Hund kaum ansehen. Ich wandte mich sogar von ihm ab. Ich musste unbedingt allein sein, um mit dieser unglaublichen Glückseligkeit ins Reine zu kommen. Ich zog mich, glaube ich, in die Toilette zurück – genau der richtige Ort, um in Ruhe nachzusinnen. Toiletten waren in jenen Tagen bequeme und sehr geräumige Anlagen. Ich klappte den schweren Mahagonideckel zu, setzte mich drauf, starrte blinden Auges auf den Stadtplan von Torquay, der an der Wand hing, und überließ mich meinen Vorstellungen.

Ich habe einen Hund … einen Hund … es ist ein Hund, der mir gehört … mein eigener Hund … es ist ein Yorkshireterrier … mein Hund … ganz allein mein Hund …

Mutter erzählte mir später, dass Vater sehr enttäuscht gewesen war über die Art, wie ich sein Geschenk in Empfang genommen hatte.

»Ich dachte, das Kind würde sich freuen«, sagte er. »Sie scheint sich überhaupt nichts aus dem Tier zu machen.«

Meine stets verständnisvolle Mutter meinte, dass ich ein wenig Zeit brauchte. »Sie kann es noch nicht so richtig fassen.«

Der vier Monate alte Yorkshireterrier war mittlerweile traurig in den Garten hinausgewandert, wo er sich unserem Gärtner, einem brummigen Mann namens Davey, anschloss. Der Hund war von einem Gelegenheitsgärtner gezüchtet worden, und als er sah, wie ein Spaten in die Erde getrieben wurde, kam er zu der Überzeugung, dass hier ein Ort war, wo er sich zu Hause fühlen konnte. Er setzte sich auf den Gartenweg und sah dem Graben aufmerksam zu.

Hier fand ich ihn ein wenig später, und hier knüpften wir unsere Bekanntschaft an. Wir waren beide schüchtern und konnten uns nur zögernd entschließen, einander entgegenzukommen. Aber noch bevor die Woche zu Ende ging, waren Tony und ich unzertrennlich. Tony war ein wunderbarer Hund für ein Kind; er war gutmütig, liebevoll und für alles zu haben. Ihm wurde die Auszeichnung zuteil, in meine neue heimliche Heldensage aufgenommen zu werden. Zu Dickie (Goldie, der Kanarienvogel) und Dicksmistress (ich) gesellte sich nun Lord Tony.

 

In diesen ersten Jahren erinnere ich mich weniger an meine Schwester als an meinen Bruder. Meine Schwester war nett zu mir, während mein Bruder mich mit Gör titulierte und von oben herab behandelte – sodass ich natürlich seine Gesellschaft suchte, wann immer er es mir erlaubte. Ganz deutlich erinnere ich mich noch, dass er weiße Mäuse hielt. Ich wurde Mr und Mrs Mäuserich und ihrer Familie vorgestellt. Nursie rümpfte die Nase. Sie stänken, sagte sie. Natürlich stanken sie.