Die Bach runter - Uli Aechtner - E-Book

Die Bach runter E-Book

Uli Aechtner

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Überlegen ist alles! Schrecklicher Fund eines Wanderschäfers: In der Asche eines niedergebrannten Lagerfeuers hat jemand ein Baby abgelegt. Die Suche nach der Mutter führt Kommissar Christian Bär und seine Dauerfreundin Journalistin Roberta Hennig mitten hinein in die Prepper-Szene. Doch was hat diese Gruppierung, die sich dem Überleben verschrieben hat, mit dem Findelkind zu tun? Zwei Morde später ist Bär der Lösung keinen Schritt näher, dafür aber schwer verliebt – in eine Tatverdächtige. Kann das gut gehen?

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Seitenzahl: 343

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Uli Aechtner studierte Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaften in Bonn. Als Journalistin arbeitete sie für das französische Fernsehen TF1, für den Südwestrundfunk und für das ZDF. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt sie als freie Autorin in der Wetterau.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2019 Emons VerlagGmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Montage aus pixx/photocase.de, shutterstock.com/Videomatic Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-471-1 Originalausgabe

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Wenn die Wölfe kommen,

nahen Kälte, Krieg und Tod.

Überschrift eines Artikels von Eckhard Fuhr,

EINS

Er hatte die Tiere in den Pferch getrieben, nun schaltete er den Generator ein und setzte den dünnen Weidezaun, der die Herde umgab, unter Strom. Mit einem schrillen Pfiff rief er die Hunde herbei und ging ihnen zum Schäferwagen voraus. Ein Holzverschlag auf Rädern war das, grün angestrichen, so fiel er in der Landschaft kaum auf. Es befand sich kein Fenster darin, nur eine Tür. Mit Hilfe der Deichsel konnte er den Wagen überallhin karren. Drinnen gab es eine schmale Schlafstatt, hart und unbequem, aber brauchbar. Die Hunde konnten von außen in die Hütten kriechen, die knapp über der Deichsel eingelassen waren, eine hinten und eine vorn.

»Asta, Nielsen!«, lockte Matthäus.

Die beiden trotteten mit gesenkten Köpfen vor ihren jeweiligen Eingang und ließen sich anleinen. Sie waren müde. Am Vormittag hatten sie die Schafe mehrere Stunden lang über eine weite Wiese getrieben, am Nachmittag noch einmal über eine andere. Nur so hielt die Herde den Bewuchs kurz. Durften die Schafe frei grasen, fingen sie an zu naschen, labten sich an ihren Lieblingsgewächsen und ließen andere Pflanzen stehen, die sich dann umso ungestörter ausbreiteten. Für solche Schlamperei bezahlte niemand. Matthäus’ Schafe mussten die Flächen sauber halten, die man mit dem Mäher kaum erreichte: unebenes Gelände oder Streuobstwiesen, auf denen Bäume den Maschinen im Weg waren. Gemeinsam retteten sie die Landschaft vor der Verbuschung. Harte Arbeit war das, für Matthäus wie für jedes einzelne Tier.

»Nacht«, raunte er den Hunden zu und griff nach seiner Schäferschippe, deren langer Stiel für einen Besen gereicht hätte. Mit ihr konnte er im Stehen giftige Pflanzen ausstechen. Er fing kranke Schafe damit ein, indem er sie mit dem Haken, der sich seitlich an der kleinen Schaufel befand, am Bein packte. Er stützte sich mit beiden Händen am Stab ab, oder er lehnte seinen Rücken daran an, die zum Päckchen gefaltete Jacke als Polster zwischen Stielende und Wirbelsäule gesteckt, wenn sich das lange Stehen in seinen alten Knochen bemerkbar machte. Es hieß, dass mancher Schäfer in dieser Haltung schlafen konnte, Matthäus war es noch nie gelungen.

Aber vermutlich war das ohnehin nur ein Mythos.

Er freute sich auf sein warmes Bett. Im Schäferwagen übernachtete er nur, wenn er weitab von zu Hause hütete, sonst schlief er daheim. Über Nacht kamen die Tiere allein zurecht. Der Elektrozaun hielt die Schafe davon ab, sich zu zerstreuen. Und sollte sich jemand Unliebsames nähern, würden die Hunde anschlagen. Ihr Bellen und Knurren reichte oft schon aus, um selbst einen Wolf in die Flucht zu jagen. Bei dem Gedanken lächelte Matthäus zufrieden.

Er wandte sich zum Gehen, doch ein Zwacken in seinem unteren Rücken ließ ihn zögern. Die Hände in die Hüften gestemmt, bog er das Kreuz durch, atmete tief ein und blickte noch einmal zurück. Die Dämmerung kroch vom Wäldchen her über die Wiesen, die Schafe hatten sich im Pferch niedergelegt. Er konnte nur noch ihre Schemen erkennen, so nah, wie sie am Boden kauerten. Mit mahlenden Unterkiefern käuten sie nun wieder.

Und rülpsten.

Mit diesen vertrauten Lauten war er aufgewachsen. Sein Vater war Schäfer gewesen, sein Großvater ebenso. Schon als Kind hatte Matthäus Schafe gehütet. Ihnen die Hufe ausgekratzt, bei der Schur zugesehen. Er wurde nicht reich mit der Schafhaltung, Geld brachte nur der Verkauf der Lämmer. Aber er hatte sein Auskommen, war sein eigener Herr, soweit es die Versorgung der Tiere zuließ. Tagein, tagaus war er draußen in der Natur und dem Leben ganz nah. Und doch war er nicht wirklich allein. Die Leute in der Gegend mochten und achteten ihn, sie luden ihn zur Kirmes ein und selbst zu den Kaffeerunden im Anschluss an eine Taufe oder ein Begräbnis. Da tauschte man Neuigkeiten und Erinnerungen aus. Nach dem zweiten Schnaps wurde politisiert, nach dem dritten gelacht, und wenn Matthäus wieder zu seinen Schafen ging, war sein Bedürfnis nach menschlicher Nähe für Tage gestillt.

Asta gab ein leises Jaulen von sich. Vermutlich wunderte sich die Hündin, dass ihr Herr noch immer vor dem Pferch auf der Wiese stand.

»Bin ja schon weg«, rief Matthäus ihr halblaut zu. »Passt nur ja gut auf, ihr beiden.«

Drei Lämmer waren in den letzten Monaten spurlos verschwunden. Wölfe konnten sie nicht geholt haben, obwohl einige schon bis in die Gegend vorgedrungen waren. Ein Graupelz war in Frankfurt auf einer Schnellstraße überfahren worden, einen anderen hatte man in der Nähe von Marburg gesichtet. In der Lausitz und der Lüneburger Heide lebten etliche Rudel, die jungen Wolfsrüden setzten sich kilometerweit ab, um neue Familien zu gründen. So breiteten sie sich aus und kamen näher und näher. Doch wenn sie Lämmer rissen, hinterließen sie Vlies und Gerippe, nicht selten auch blutige Kadaver. Zuweilen begnügten sie sich mit den Innereien der Schafe, manche Wölfe nagten ihre Opfer nur an, ganz so, als wäre ihre Mordlust größer als ihr Hunger. Matthäus’ Schafe hingegen waren wie vom Erdboden verschluckt gewesen.

In der Gegend um Schotten waren Lämmer gestohlen worden. Die Diebe hatten sich so ungeschickt angestellt, dass die übrige Herde auseinandergestoben war und zwei Tiere sich im Zaun verfangen und verletzt hatten. Eine Weile war das Gerücht umgegangen, die Tat sei Geflüchteten zuzuschreiben. Die armen Leute hätten halt Hunger gehabt, meinten die Gutmenschen im Dorf. Andere berichteten, dass bei einer muslimischen Taufe ein Lamm geschächtet werde. Während es ausblute, spreche der Vater den Namen seines neugeborenen Sohnes aus. Matthäus wusste nicht, was davon stimmte, und es war ihm auch egal, solange man seine Lämmer in Frieden ließ.

Ins Grübeln geraten, setzte er sich langsamer als sonst in Bewegung. Mit jedem Schritt zog er den Geruch der Landschaft in die Nase, den herben Duft der Äcker und Weiden. Seinem gereizten Ischiasnerv nach würde es in der Nacht regnen, so was spürte er zuverlässiger, als es ein Wettermoderator verkünden konnte. Doch der Regen war ihm willkommen. Er ließ das Gras wachsen, und den Schafen machte er nichts aus.

Drei Steinwürfe entfernt huschte ein Schatten über die dämmrige Wiese. Ein streunender Hund, dachte Matthäus. Er verharrte. Asta und Nielsen hatten die Witterung noch nicht aufgenommen, von den beiden kam kein Laut. Der Wind blies den Geruch des fremden Tieres von ihnen weg. Matthäus kniff die Augen zusammen. Taxierte die hagere Gestalt, die langen Läufe, den dichten, struppigen Pelz. Als der Vierbeiner den Kopf senkte, wölbte sich über seinen Vorderläufen ein mächtiger Buckel.

Also doch! Ein Wolf.

Aber da war noch etwas. Da lag etwas auf der Erde. Der Wolf wollte mit dem Fang danach fassen, ließ es dann aber sein und schnüffelte nur daran. Aus der Distanz konnte Matthäus nicht erkennen, was es war.

»Ho, ho, ho!« Er klatschte in die Hände und lief auf den Wolf zu. Asta und Nielsen hörten ihn nun und unterstützten ihn mit ihrem Gebell.

Der Wolf legte den Kopf in den Nacken und antwortete mit lang gezogenem Geheul. Für Sekunden hob sich sein Schattenriss gegen den schwärzer werdenden Himmel ab. Dann duckte sich der Räuber und strich davon.

Matthäus fasste seinen Schäferstab fester und marschierte auf die Stelle zu, an der er den Wolf gesehen hatte. Er musste wissen, an was Isegrim sich hatte gütlich tun wollen. Wenn es nur keins seiner Lämmer war. Hatte er auf dem Heimweg übersehen, wie sich eins von der Herde entfernte?

Ein wenig ging es jetzt bergan, und er geriet ins Schwitzen. Für die Jahre, die er auf dem Buckel hatte, war er gut in Form, den ganzen Tag war er mit seinen Tieren zu Fuß unterwegs. Nur musste er gewöhnlich keine Anhöhen erstürmen, das erledigten Asta und Nielsen für ihn. Außer Atem kam er dort an, wo der Wolf gestanden hatte, und schaute um sich.

Kein Lamm, nirgends.

Da lag nur ein verdrecktes Bündel Stoff in einer ausgebrannten Feuerstelle. Seltsam. Er stützte sich an seinem Schäferstab ab, bückte sich und fasste vorsichtig in die Asche. Sie war noch warm.

Städter, dachte er verächtlich. Die meinten, sie könnten überall in der Natur ihre Würstchen grillen. Einfach so. Schade, dass er sie nicht erwischt hatte.

Er zog die Decke, die Stola oder was immer das sein mochte, ein wenig auseinander. Nun ragte etwas aus dem Stoffbündel heraus. Im nächsten Moment stieß Matthäus einen rohen Schrei aus. Was sich aus dem Bündel streckte, drohte vor seinen müden Augen mit der Dunkelheit zu verschwimmen, so wenig hob es sich von ihr ab. Dennoch gab es keinen Zweifel.

Es war ein winziger menschlicher Fuß.

***

Die Hitze des Tages hatte sich unter dem Dach gestaut. Mitte September herrschten draußen noch sommerliche Temperaturen, und dass Robertas Mansarde aus nur einem Raum mit Kochzeile bestand, machte es nicht besser. In dieser Enge half nicht einmal ein offenes Fenster. Im Kühlschrank suchte sie nach dem Hackfleisch und genoss für Sekunden die kühle Brise, die ihr entgegenströmte. Sie gab Öl in die gusseiserne Kasserolle auf dem Herd, dann stellte sie die Elektroplatte an. Mit wenigen Handgriffen schälte sie das Fleisch aus der Verpackung, warf es in die Kasserolle und zerdrückte es mit dem Pfannenheber.

»Ist der Topf denn schon heiß genug?«, fragte Christian Bär in ihrem Rücken. »Hast du überhaupt Fett reingetan?«

Roberta drehte sich um und sah, dass er ein Lachen unterdrückte. Er nahm sie mal wieder hoch. In gespielter Unschuld hob sie die Schultern. »Was denn? Du weißt doch, dass ich nicht kochen kann.«

»Ja, schon klar. Was soll das überhaupt werden?«

»Chili con Carne. Magst du doch.« Sie beugte sich über ihren Einkaufskorb, der vor der Kochzeile stand. »Ich hab vorhin extra noch Chilibohnen eingekauft. Warte mal, wo sind die denn?«

»Macht nichts, wenn du die Bohnen vergessen hast. Carne tut es für mich auch.«

»Gar nichts hab ich vergessen.« Roberta packte den Korb aus und hob einen Kopf Salat hoch. »Bio. Als Vorspeise vorweg, wegen der Vitamine. Und hier ist der Wein. Und…« Sie ließ die Hände sinken. »Die Bohnen sind weg. Die passierten Tomaten auch.«

»Wie jetzt? Den Tomaten ist was passiert?«, meinte Bär grinsend. Wenn er sie aufzog, sah er aus wie ein Student nach bestandenem Examen, kein bisschen wie Mitte dreißig.

Roberta ließ von ihrem Einkaufskorb ab. »Ein Fall für dich, Herr Kommissar. Irgendjemand klaut mir die Lebensmittel. Und zwar vornehmlich die Konserven.«

»Was du nicht sagst. Dann werde ich den Fall mal aufnehmen. Tathergang? Datum und Uhrzeit? Etwaige Zeugen?«

Roberta winkte ab. »Nein, jetzt mal im Ernst. Letzte Woche habe ich meine Einkäufe einen Moment unbeaufsichtigt im Flur stehen lassen. Auf der anderen Straßenseite war ein Anwohner-Parkplatz frei geworden, den wollte ich mir schnappen. Als ich zurückkam, fehlten zwei Dosen Thunfisch und ein Glas Mayonnaise.«

»Da hatte wohl jemand Hunger.«

»Hab ich auch erst gedacht. Ein Obdachloser, dem würde ich es ja noch gönnen.«

»Ob der auch einen Dosenöffner hatte?«

»Pff. Ich werde beim nächsten Einkauf einen in den Korb legen.« Roberta griff nach dem Salat und tat so, als wollte sie ihn nach Bär werfen. »Das war’s wohl mit meiner Essenseinladung.« Sie stellte den Herd aus, zog die Kasserolle zur Seite und ließ sich ihrem Gast gegenüber in den Sessel fallen. Er hatte es sich in der Mitte ihres Sofas bequem gemacht, die Arme auf der niedrigen Rückenlehne weit ausgestreckt, und nahm das ganze Möbel für sich ein.

Vor drei Jahren hatte er sie das erste Mal besucht und genauso dagesessen. Er war gekommen, um sie zurechtzuweisen, weil sie sich in seine Ermittlungen um einen Mord in einer Apfelweinkelterei eingemischt und ihre Mutmaßungen an die Presse verkauft hatte. »Kommentar« hatte sie es genannt, er bevorzugte »wilde Spekulationen und Behinderung der Polizei«.

So heftig, wie er damals seiner Ex nachgetrauert hatte, einer Barbie mit langen Beinen und blonden Haaren, hätte Roberta nie gedacht, dass ihm ihre Kurven und ihre roten Locken mal gefallen könnten. Aber Bär war flexibel. Nur ihr Rhythmus hatte nie gestimmt. Sein Interesse war erst erwacht, als sie mit ihren Gefühlen schon wieder woanders gewesen war, und seine Eifersucht war so groß geworden, dass er beruflich Mist gebaut hatte. Roberta wusste nicht, wie sie es geschafft hatten, halbwegs gute Freunde zu werden. Vermutlich hatten sie beide keine Lust auf weitere Dramen, waren aber bereits zu vertraut miteinander, um auf die Nähe des anderen verzichten zu wollen.

»Komm, wir gehen in die Kneipe.« Roberta sprang vom Sessel auf und schob den Einkaufskorb in die Ecke. Eine der Straußwirtschaften und Gaststätten unten am Schweizer Platz würde schon noch einen Katzentisch für sie haben.

»Und dafür bin ich fünf Treppen hochgelaufen.« Mit einem Stöhnen erhob sich Bär vom Sofa.

»Erzähl mir lieber, was du im Urlaub machst. Du hast doch ab morgen eine Woche frei. Wie sieht dein Plan aus? Last-minute-Flug in die Sonne? Einsame Insel?«

Bär lachte. »Ich habe Amelie den einen oder anderen Ausflug versprochen. Und am Wochenende will sie mit mir wandern gehen.«

»Deine kleine Nichte hat dich ganz schön im Griff. So richtig zünftig mit Jugendherberge und so?«

»Das stellt Amelie sich so vor. Aber vielleicht komme ich um eine Pritsche in der Herberge herum. Mal sehen, was ich daraus mache.«

»Da bin ich ja mal gespannt. Jedenfalls schön, dass du was mit ihr unternimmst.« Roberta war nicht umhingekommen, Amelie näher kennenzulernen, so oft, wie er in seiner Freizeit auf die Kleine aufpasste. Das freche Pferdeschwanzmädchen war mit der Zeit auch ihr ans Herz gewachsen.

Bär war nachdenklich geworden. »In ein paar Monaten wird sie schon zehn, das geht alles so schnell. Ich will nicht, dass sie mir eines Tages ihren Freund vorstellt und ich mich frage, wie zum Henker sie so rasch erwachsen werden konnte.«

»Wo die Zeit bleibt, frage ich mich auch oft«, sagte Roberta. »Aber einen besseren Onkel als dich kann sich Amelie kaum wünschen. Hat sie von ihrem Vater überhaupt eine Vorstellung? Ich meine, wann hat sie ihn zuletzt gesehen?«

Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Als Baby, glaub ich. Sie erinnert sich nicht mehr an ihn. Aber dieses Feld überlasse ich lieber meiner Schwester.«

Sein Handy klingelte, und er nahm das Telefonat an.

»Wo?«, hörte sie ihn fragen. »Wann?« Er hielt sein Smartphone dicht ans Ohr, sodass sie nicht verstehen konnte, was der Gesprächspartner sagte. An seiner Miene versuchte sie abzulesen, worum es ging, aber da war nichts außer Konzentration und Anspannung. »Ja, in Ordnung.« Er ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten.

»Was ist los?«

»Das war Heinz Becker, mein Chef. Ich muss sofort weg.«

»Ich denke, du hast Urlaub!«

»Schon, aber der fängt erst morgen früh an.«

»Oh Mann. Kein gemeinsames Essen, nicht einmal ein Aperitif am Schweizer Platz?« Roberta gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Leider nein.« Ein Seufzer zwischen Bedauern und Mitleid seinerseits. »Dr.Zimmer wartet in der Rechtsmedizin auf mich.«

»Rechtsmedizin? Habt ihr etwa eine Leiche?«

Bär biss sich auf die Unterlippe. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er gerade abwog, wie viel er ihr sagen durfte. »Sanitäter haben in der Rechtsmedizin einen Säugling eingeliefert«, meinte er schließlich. »Etwas Genaues wusste Becker selbst noch nicht.«

»Was?« In Robertas Adern begann es zu kribbeln, in zwei Schritten war sie beim Garderobenständer an der Tür und griff nach ihrer Handtasche. »Ich komme mit.«

»Tust du nicht.«

»Bär, ich bitte dich! Ich bin Journalistin, über so etwas muss ich berichten.«

Er kam auf sie zu, fasste sie sanft an den Oberarmen und sah ihr in die Augen. »Das ist alles noch nicht offiziell, und wenn ich nicht zufällig hier wäre, hättest du es gar nicht erfahren. Mach mir bitte keinen Ärger und warte auf die Pressemeldung des Polizeipräsidiums.«

»Kannst du mir wenigstens sagen, wo–«

»Ich melde mich.« Er hatte die Klinke der Wohnungstür schon in der Hand.

Sie folgte ihm ins Treppenaus, beugte sie sich über das Geländer und sah ihm nach, bis seine Schritte im Parterre verhallten.

***

Die herrschaftliche Villa, in der das Frankfurter Institut für Rechtsmedizin untergebracht war, hatte einst August Euler gehört, einem genialen Geschäftsmann und Abenteurer. Geschwindigkeit war seine Leidenschaft gewesen, Motorräder, schnelle Autos und Flugzeuge. Um 1900 hatte er den ersten Flugschein in Deutschland gemacht. Später hatte er Piloten ausgebildet, Flugzeuge konstruiert und viele Patente erworben. Bär musste stets an diesen Tausendsassa denken, wenn er in der Rechtsmedizin zu tun hatte.

Die ausgetretenen alten Holzstufen knarrten unter seinen Schuhen, als er in die Obduktionsräume im Souterrain hinabstieg. Ein schwacher Geruch nach Verwesung schlug ihm entgegen, süßlich und muffig. Ein trauriger Ort. Er hatte sich oft gefragt, woher das große Interesse an Leichenschauen kam. All die Krimis im Fernsehen, der Tatort zum Wochenendfinale, die gut besuchten launigen Vorträge von forensischen Pathologen und Psychologen. Aber vermutlich war das die Art, wie eine westliche Zivilisation die Angst vor dem eigenen Tod verarbeitete. Andere Kulturen feierten die Toten, machten Picknick auf den Gräbern ihrer Ahnen. Oder sie stellten Schmuckurnen mit der Asche ihrer Lieben auf den Kaminsims.

»Dr.Zimmer?« Bär blieb an der Tür stehen.

Gleißendes Licht fiel von der Decke auf einen Sektionstisch aus Edelstahl. Er war frisch geputzt, der Ablauf für Blut, Leichen- und Reinigungswasser glänzte, der Aufsatz für die Schalen, in denen die menschlichen Organe bei der Obduktion zwischengelagert wurden, stand am Fußende bereit. In der Mitte des Tisches lag ein zusammengefaltetes Tuch. Und obwohl es mit Erde beschmutzt war, hatten seine leuchtenden Farben eine magische Anziehungskraft. Sie ließen an einen azurblauen Himmel denken, an heißen Wüstensand und sengende Sonnenstrahlen. Ein stilisiertes Muster stellte Elefanten dar.

Afrika, dachte Bär.

»Da sind Sie ja!« Dr.Zimmer trat aus dem hinteren Arbeitsraum und blieb auf der anderen Seite des Sektionstisches stehen. Nachdenklich fuhr er sich über den millimeterkurz getrimmten Bart. »Ich kann Ihre Hilfe brauchen.«

Zimmer war seit zwei Jahren in Frankfurt, und gleich sein erster Fall hatte ihn mit Bär zusammengebracht. Damals war auf einem Eschersheimer Campingplatz eine Frau nach einem Gewitter tot aufgefunden worden. Doch obwohl Zimmer zudem inzwischen mit Katja, Bärs Ex, zusammen war– oder vielleicht gerade deswegen–, siezten sie sich weiterhin hartnäckig. Die Geschichte mit Katja war Bär seinerzeit schwer an die Nieren gegangen, nun hatte sie einen kleinen Jungen mit dem anderweitig verheirateten Rechtsmediziner. Unter der Woche lebte Zimmer bei ihr und dem Kind in Sachsenhausen, die Wochenenden verbrachte er bei seiner Frau in der Wetterau. Katja beteuerte, mit dem Arrangement zufrieden zu sein, doch Bär kannte sie besser. Er hegte den Verdacht, dass sie auf Zeit spielte und insgeheim ein anderes, exklusives Beziehungsziel verfolgte.

Er sah Zimmer an. »Becker sagt, bei Ihnen wurde die Leiche eines Neugeborenen eingeliefert?«

Der Rechtsmediziner wiegte den Kopf. »Ein Säugling, ja. Aber keine Leiche.«

»Aha.« Innerlich atmete Bär auf, tote Kinder waren ihm ein Graus. »Und was fehlt ihm?«

»Das Baby hatte erhöhte Temperatur, als es aufgefunden wurde. Vielleicht aber auch nur, weil jemand es in eine ausgebrannte Feuerstelle gelegt hatte.«

»In… Asche? Aber warum?«

»Wer kann schon in all die kranken Hirne schauen?«, meinte Zimmer mit einem Seufzer. »Womöglich sollte die Restwärme der Asche das Kind vor dem Erfrieren bewahren. Tagsüber könnte man meinen, dieser Sommer gehe nie zu Ende, aber die Nächte werden langsam kühler.« Er hob das Tuch, das auf dem Seziertisch lag, an einer Ecke vorsichtig an. »Darin war der kleine Junge eingewickelt.«

Bär betrachtete erneut das afrikanische Muster. Himmel und Wüste, Feuer und Asche. »Also sind das Brandrückstände, die da an dem Gewebe kleben.«

»Sieht so aus. Das geht gleich morgen früh ins Labor, dann wissen wir mehr.« Zimmer kratzte sich verstohlen am Kopf, auf dem ein Haarkranz die gleiche Länge hatte wie sein Dreitagebart. Bär ertappte sich bei der Frage, wie Katja die Frisur gefallen konnte. Ihm hatte sie zu gern die Haare zerzaust.

»Und das Kind?«, fragte er. »Wieso wurde es hier eingeliefert?«

»Ein Missverständnis.« Zimmer winkte müde ab. »Der Kriminaldauerdienst hat den Sanitätern gesagt, das Baby müsse rechtsmedizinisch untersucht werden. Daraufhin landete es hier statt in der Kinder- und Jugendklinik. Wir haben es gleich rüberbringen lassen. Einer der klinischen Forensiker hat es sich schon angesehen.«

»Und?«

»Kommen Sie, wir gehen mal hin. Alles Weitere erzähle ich Ihnen unterwegs.«

Das Frankfurter Universitätsklinikum kam Bär stets vor wie eine Kleinstadt, die ihr Erscheinungsbild in beängstigendem Tempo von Bonn auf Chicago umstellte. Vor ein paar Jahrzehnten hatte man damit begonnen, die Altbauten aus dem vergangenen Jahrhundert durch moderne Gebäude zu ersetzen. Das Institut für Rechtsmedizin residierte noch in seiner Jugendstilvilla, der Zentralbau am Main jedoch war ein moderner Betonklotz und das Laborgebäude ein futuristischer Glaskasten. Fünfundzwanzig Kliniken und ebenso viele Forschungsinstitute waren hier versammelt. Seit Mitte der 1980er Jahre erforschte man AIDS und kümmerte sich um HIV-infizierte Patienten. Auch einen Ebola-Kranken hatte man hier schon behandelt.

Jetzt, am Abend, fiel fast mehr Licht aus den hell erleuchteten Fenstern auf die Wege, als von den Laternen kam. Zimmer suchte sich zielstrebig seinen Weg durch die Geisterstadt, umschiffte Gebäude und Baustellen. Bär folgte ihm willig.

»Sie wollten mir von dem Baby erzählen«, erinnerte er den Rechtsmediziner.

»Ja, richtig. Ein Schäfer hat es in der Nähe von Erlenweil auf einer Weide gefunden. Kein anderer Mensch weit und breit. Missbrauch können wir ausschließen, die Kollegen haben weder Verletzungen noch Blut-, Sperma- oder Speichelspuren gefunden. Der Bericht geht morgen ins Präsidium.«

»Andere Hinweise auf Gewalteinwirkung?«

»Nein, nichts.«

»Ein Fall von Kindesaussetzung?«

»Das ist schon eher möglich.« Zimmer bog entschlossen um eine Ecke, Bär hatte die Orientierung längst verloren.

Er versuchte, sich das Geschehen vorzustellen. Um es loszuwerden, setzte jemand ein Baby in der freien Natur aus. Doch zuvor nahm er sich die Zeit, ein Feuer zu entfachen, es abbrennen und die Glut so weit erkalten zu lassen, dass er das Kleine gefahrlos in die warme Asche legen konnte. Wollte er die Zeitspanne verlängern, innerhalb der das Kind auskühlen und sterben würde? Denn dass das Baby auf dem Acker von jemandem gefunden wurde, war in der ländlich-einsamen Umgebung kaum zu erwarten gewesen.

»Wer macht so was?«, fragte er. In Gedanken gab er sich selbst die Antwort: ein älterer, beherrschter Täter. Jemand, der sich im Griff hatte, kein Heißsporn. Einer, der plante. Und vielleicht aus der Nähe zuguckte. Ein Sadist.

»Da sind wir.« Zimmer riss die Eingangstür der Kinderklinik auf und strebte zum Aufzug. Bär eilte hinterher, in der Kabine lehnte er sich an die metallene Wand. Er war müde, seine Beine fühlten sich schwer an, und der letzte Arbeitstag vor seinem Urlaub wollte nicht enden.

In der Station dämpfte der Bodenbelag das Geräusch ihrer Schritte. Eine junge Krankenschwester schob einen fahrbaren Computer vor sich her und las im Gehen etwas vom Monitor ab. Bei jedem Schritt wippte ihr Pferdeschwanz.

»Entschuldigung, wo liegt das Findelkind?«, erkundigte sich Zimmer freundlich. Bär zückte vorsichtshalber seinen Ausweis.

»Wir haben es isoliert.« Die Tür, auf die sie wies, hatte ein großes Glasfenster, vermutlich konnte man das Baby so leichter beobachten.

»Isoliert? Was bedeutet das genau?«, wollte Bär wissen.

Sie zog ihren Zopf nach vorn und spielte mit den Haarspitzen. Wie es aussah, half ihr das, sich zu konzentrieren. »Die Temperatur hat sich normalisiert, aber wir sind nicht sicher, ob das Kind wirklich ganz gesund ist. Noch weiß niemand, ob es nicht doch eine Infektion in sich trägt. Warten Sie, ich hole Ihnen einen Mundschutz. Ein Desinfektionsspender hängt drüben an der Wand.« Sie verschwand in einem kleinen Raum, um kurz darauf mit zwei hellgrünen Zellstoffmasken wiederzukommen.

Dann stand Bär in einem Patientenzimmer, Mund und Nase vom Atemschutz bedeckt. Die Beleuchtung war runtergedimmt. Mitten im Raum thronte eine kleine Acrylwanne auf einem Gestell: ein Säuglingsbett. Es war so hoch, dass ein Arzt oder eine Krankenschwester bequem an den winzigen Patienten herankam.

Er beugte sich über das Bettchen.

Wenn er sich Amelies Babyzeit ins Gedächtnis rief, war das Kind darin etwa zwei Monate alt. Es lag ganz still da und schlief, die kleinen Hände hatte es zu Fäusten geballt und neben dem Köpfchen abgelegt. Dass es so dunkel aussah, schob Bär im ersten Moment auf die Raumbeleuchtung. Bis er die krausen Haare sah.

»Ein schwarzes Kind«, murmelte er.

Blauer Himmel, Sand und Sonne. Jetzt passte das afrikanische Tuch auf dem Seziertisch ins Bild.

»Ja«, sagte Zimmer.

Bär kamen alle möglichen weiteren Szenarien in den Sinn. »Kann es sein, dass eine Migrantin ihr Kind nicht mehr ernähren konnte? Und dass sie es deshalb ausgesetzt hat?«, fragte er leise.

»Wer weiß?«, entgegnete Zimmer. »Jedenfalls bin ich mir sicher, dass Sie rauskriegen, was passiert ist. Ich bin verdammt froh, dass der Fall an Sie geht.«

Bär wich einen Schritt von dem Bettchen zurück. »Das ist gar nicht gesagt.«

»Was? Moment mal.« Zimmer warf einen Blick auf das schlafende Baby und machte eine Geste in Richtung der Tür. »Lassen Sie uns draußen reden.«

Im Flur befreiten sie sich von ihren Mundmasken, unschlüssig hielten sie die grünen Dinger in der Hand, bis Bär endlich einen Papierkorb entdeckte.

»Ich hab ab morgen frei«, gestand er dem Rechtsmediziner. »Am Vormittag setze ich noch rasch meinen Chef ins Bild, danach geht’s ab in den Urlaub.«

»Und wer übernimmt den Fall?«

»Keine Ahnung. Ich sammle jetzt noch die Ergebnisse der Forensiker ein, alles andere wird sich morgen zeigen.«

ZWEI

Robertas Corsa röhrte, der Auspuff hatte seit ein paar Tagen ein Loch. Der Wagen wurde langsam zu alt, sie musste ihn loswerden. Sich endlich einen neuen anschaffen. Ein Jahr als Praktikantin beim Deutschen Wetterdienst lag hinter ihr, eine spannende Zeit. Doch sie hatte wenig verdient, und am Ende war sie nicht einmal übernommen worden. Jetzt jobbte sie wieder ganztags als »Freie«, musste um jedes Thema mit den Kollegen konkurrieren und stets einen Tacken schneller sein als ihre Mitstreiter.

Bär war nicht gerade eine Hilfe, wenn es darum ging, an exklusive Geschichten ranzukommen. Seit zwei Jahren redete er sich ein, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, seitdem war er übervorsichtig, was seine Vorschriften anging. Dabei hätte Roberta gestern Abend nur eine kleine Andeutung von ihm gebraucht, um die Babystory als Erste zu haben.

Ein Wort nur, einen Hinweis.

Sie warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Im Norden der Mainmetropole lagen ländliche Stadtteile, die bis in die Wetterau hineinreichten. Einige von ihnen hatten über Jahrhunderte hinweg als Landgemeinden zu Frankfurt gehört und deren Bewohner ernährt. Und noch immer gab es hier Äcker und Streuobstwiesen. Roberta mochte das Licht des Altweibersommers, die Sonne stand schräger als sonst, malte Schatten auf das Land, und die Farben leuchteten intensiver. Die Fahrbahn vor ihr war menschenleer. Die ersten Pendler, die aus dem Umland in die Frankfurter City wollten, schnurrten auf der Gegenspur der Umgehungsstraße an ihr vorbei.

Als Bär sie gestern in ihrer Dachstube allein gelassen hatte, war die Pressestelle der Frankfurter Polizei längst verwaist gewesen. Sie hatte den Chef vom Dienst angerufen und war auf eine Pressekonferenz am nächsten Tag vertröstet worden. Bis spät in die Nacht war Roberta sodann mit ihrem Smartphone durchs Internet gesurft.

Die Frankfurter Polizei postete auf Facebook, Instagram und Twitter. Roberta hatte eine Reportage über die Bergung eines Autos aus dem Main überflogen, die Meldung zur Fahndung nach einem Dealer sowie News über geknackte Geldautomaten. Für Aufregung unter den Usern sorgte der Bericht über ein Kind, das aus einem Kindergarten getürmt war. Die Facebook-Freunde berichteten in den Kommentaren über Tausende andere entlaufene Kinder, eigene und fremde. Doch nichts von einem Baby.

Sie hatte das Smartphone schon weglegen wollen, da fiel ihr eine Anfrage auf. Ein Kevin Ott wollte wissen, wohin man das Baby bringe, das auf einer Weide bei Erlenweil ausgesetzt worden war. Eine Antwort hatte die Polizei zu dem Zeitpunkt noch nicht gepostet. Roberta hatte es mit Google versucht. Wenig später hatte sie gefunden, was sie suchte. Kevin Ott war ein Blogger, im Impressum hatte er eine Adresse in Erlenweil angegeben.

Sie drückte aufs Gaspedal, der Auspuff röhrte auf. Das Kind, um das es in dem Post gegangen war, lebte und war unversehrt, dessen war sie sich sicher. Alles andere hätte der Blogger erwähnt.

Kevin, das klang relativ jung. Vermutlich wohnte er nicht weit vom Geschehen entfernt, war zufällig am Rettungswagen vorbeigekommen oder hatte das Blaulicht vom Fenster aus sehen können und war hingelaufen. Sie hoffte nur, dass er nicht zu jenen gehörte, sie sich im Netz Pseudonyme zulegten und Phantasieadressen erfanden, um sich im Schatten einer virtuellen Identität neu zu erfinden.

Das Navi führte Roberta ans Dorfende von Erlenweil und weiter über einen Feldweg voller Schlaglöcher, der enger und enger wurde. Sie drosselte das Tempo, fluchte leise. Unverhofft hatte sie nach einigen hundert Metern wieder Asphalt unter den Rädern.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, piepste eine Stimme, die ganz nach einem fröhlichen Blondchen klang, aus dem Navi.

Roberta parkte am Straßenrand, griff nach ihrer Kamera und stieg aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eines dieser typischen Wetterauer Bauernhäuser: lang gestreckt und schmal. Der graue Putz verbarg sicherlich ein Fachwerkgerüst. Die Vorderfront hatte kleine Fenster und war mit Holzschindeln verkleidet, das schützte vor Regen und Kälte.

Sie wollte eben die Straße überqueren, da kam ein junger Kerl aus dem Haus, sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er trug Joggingklamotten und nahm den Weg in die Felder, den sie gerade gekommen war.

»Entschuldigung.« Roberta holte ihn rasch ein. »Sind Sie der Blogger, der beobachtet hat, wie das Baby geborgen wurde?«

Er blieb stehen und sah sie überrascht an. »Wie haben Sie mich gefunden?«

»Roberta Hennig, ich schreibe für die Neue Presse.« Sie hob die Kamera und machte eine Geste zum Haus hin. »Darf ich ein Foto von Ihnen machen, vielleicht vor Ihrem Gartentor?«

Er fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar und tat so, als betrachtete er sich dabei im Spiegel. »Tut mir leid, ich hab noch nicht mal geduscht, das mache ich lieber ausgiebig nach dem Laufen. Für ein Foto ist jetzt einfach der falsche Zeitpunkt. Und ich möchte auch nicht in Ihrer Geschichte vorkommen. Sehen Sie, ich habe meinen Job verloren und musste hierher aufs Land ziehen, in das Häuschen meiner verstorbenen Großmutter. Nun hänge ich hier herum, vertreibe mir die Zeit mit Laufen und Bloggen. Kein Leben, auf das ich stolz bin. Nichts, womit ich in der Zeitung stehen will.«

»Verstehe.« Roberta schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Ein Foto von dem sympathischen Typ vor seinem Bauernhaus samt seinen Schilderungen des Polizeieinsatzes hätte ihr jede Redaktion sofort abgekauft. Andererseits tat ihr der junge Mann auch leid. Irgendeinen Absturz musste er hinter sich haben, sie witterte förmlich eine Geschichte. »Wo haben Sie denn früher gelebt?«, tastete sie sich vor.

»In einer mittelgroßen hessischen Universitätsstadt.« Er zwinkerte ihr zu. »Ihre Neugierde ist wohl beruflich bedingt?«

»Absolut«, gestand sie lachend und gab auf.

»Geht es dem Kind gut?«, wollte er wissen. »Wo hat man es hingebracht?«

»Dazu darf ich nichts sagen, bis die Polizei eine entsprechende Pressemeldung herausgegeben hat«, wich sie aus. »Wo wurde das Baby denn aufgefunden?«

»Etwa einen Kilometer von hier, unterhalb der Buchen dort.« Er wies auf ein paar Punkte in der Ferne. Roberta nahm an, dass es sich um eine Baumgruppe handelte. »Die Stelle liegt auf meiner Joggingstrecke. Im Vorbeilaufen wunderte ich mich, was der Unfallwagen und die Polizeiautos auf dem Feldweg machten. Ich hab einen der Männer im weißen Overall gefragt, was los sei, und war total geschockt, als ich hörte, dass jemand ein Baby auf der Weide abgelegt hatte.«

»Ja, schlimm. Jedenfalls danke für Ihre Zeit, ich hoffe, ich habe Sie nicht vom Joggen abgehalten.« Roberta schulterte ihre Kamera und wandte sich zum Gehen. Sie wollte so schnell wie möglich zum Fundort. »Alles Gute für Sie.«

Die Sonne behauptete sich bereits am Himmel, die Luft roch würzig und frisch. Roberta schlug ein zügiges Wandertempo an. Wie gewöhnlich trug sie Sneakers, sodass ihr der holprige Feldweg nichts ausmachte.

Nach einem guten Kilometer erreichte sie das, was sie für eine Baumgruppe gehalten hatte. Es war aber wohl eher als Hain zu bezeichnen. Der Pfad war nun von hohen Buchen gesäumt, nur noch vereinzelt drangen Sonnenstrahlen durch das dunkle Blätterdach und malten Lichtmuster auf den Boden. Vor ihr huschte etwas über den Weg, sie konnte so schnell nicht erkennen, was es war. Eine Kröte vielleicht.

Dann endete der Baumbestand und gab den Blick auf die Landschaft frei.

Auf einer Weide links des Weges leuchtete ein rot-weißes Absperrband in der Sonne. Das musste die Stelle sein, an der das Baby gefunden worden war. Vorsichtig näherte Roberta sich dem umgrenzten Bereich, der ungefähr der Grundfläche ihrer Dachkammer entsprach. Genau in der Mitte befand sich eine alte Feuerstelle, nicht sonderlich groß, aber tiefschwarz. Sonst gab es nichts zu entdecken.

Sie machte ein paar Bilder mit der Kamera, dann zückte sie ihr Smartphone.

***

»Mensch, Bär! Was machen Sie denn hier?« Heinz Becker schnellte von seinem Schreibtischstuhl hoch, eilte auf ihn zu und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Haben Sie nicht eigentlich Urlaub?«

»Doch, schon. Ab heute eine Woche. Aber ich wollte sichergehen, dass Sie sämtliche Infos zu dem aufgefundenen Baby bekommen.«

»Na, dann berichten Sie mal.« Becker schritt langsam an seinen Platz zurück, setzte sich, stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch und stützte abwartend den Kopf in die Hände.

»Das Wichtigste hab ich Ihnen gestern noch auf den Rechner geschickt«, begann Bär. Er stand nun am Fenster, seinem Lieblingsposten bei Besprechungen im Büro seines Chefs. So konnte er mal kurz einen Blick in den Hof werfen, wenn Beckers Einlassungen zu langatmig wurden. »Das Baby wurde gegen neunzehn Uhr fünfzehn von einem Schäfer entdeckt. Dem war ein Wolf aufgefallen, der an etwas Interesse gefunden hatte.«

»Ein Wolf? Die sind schon hier in der Gegend? Na, über deren Einwanderung sind die Meinungen ja verdammt geteilt. Hab ich jedenfalls irgendwo gelesen. Weiß man ganz sicher, dass es ein Wolf war?«

»Der Kriminaldauerdienst hat Wolfslosung aufgesammelt.«

»Das ist interessant. Wissen Sie, wie die aussieht? Wie Hundekot, der zum größten Teil aus Fell und Wolle besteht. So ein Wolf frisst ja alles mit Haut und Haaren, man hat sogar schon Hufe von Rehen in der Losung gefunden.«

Bär schluckte die Frage, ob er das auch irgendwo gelesen habe, gerade noch rechtzeitig runter. Becker war ein feiner Kerl, und er war dankbar, ihn zum Chef zu haben. Allerdings war er ein wandelndes Lexikon, obendrein glaubte er wohl, alle anderen hätten genauso viel Spaß an seinem gesammelten Wissen wie er selbst.

»Das Kind liegt in den Unikliniken«, fasste Bär weiter zusammen. »Die Ärzte haben hinsichtlich der Forensik nichts Auffälliges gefunden, und offensichtlich fehlt ihm auch nichts.«

»Na, Gott sei Dank.«

»Wir werden nach der Mutter fahnden. Wessen Kind ist es? Wer hat es auf der Weide abgelegt? Irgendwelche Zeugen, Hinweise oder Spuren?«

»Nichts außer Wolfslosung.« Bär verzog bedauernd das Gesicht. »Die Spürhunde haben die Fährte an der Feuerstelle aufgenommen, aber schon nach wenigen Metern wieder verloren. Tagsüber hatte dort eine Herde Schafe geweidet, der Wolf war ebenfalls überall herumgelaufen. Das waren ein paar irritierende Geruchsnoten zu viel.«

Becker öffnete die Dateien, die Bär an ihn weitergeleitet hatte, und sah sich auf dem Monitor die Bilder vom Kriminaldauerdienst an. »Kann man das Herkunftsland des Kindes bestimmen? Oder das der Eltern?«

Bär zuckte mit den Schultern. »Afrika, vielleicht. Das Baby war in ein Tuch im Ethnolook eingewickelt, das von dort stammen könnte. Wenn die Kriminaltechniker damit fertig sind, sollten wir es ins Weltkulturen Museum bringen. Die können das Muster womöglich zuordnen.«

»Hm, ja, gute Idee.« Becker strich sich ausgiebig über die Glatze und widmete sich wieder dem Monitor. »Wieso lag das Kind denn in der Feuerstelle?«

»Das frage ich mich schon die ganze Zeit.« Bär schaute in den Hof hinunter. Da unten war alles gradlinig und geordnet. Die Holzplanken, die Bodenplatten. Die geometrisch angeordneten Bäume. Aber manchmal stach irgendetwas aus diesem Bild heraus. Etwas, das störte, weil es dort nicht hingehörte, und gerade deshalb die Aufmerksamkeit auf sich zog. Einmal hatte er ein rotes Bonbonpapier entdeckt, genau in einer Ecke, der Wind musste es dorthin getragen haben. Und ein andermal war ein quittengelber Löwenzahn zwischen den Fugen erblüht.

Ein bisschen war es mit dem Hof wie mit den Kriminalfällen, fand Bär. Manchmal erzählte ein kleines Detail eine Geschichte.

»Vielleicht hatte da jemand widersprüchliche Gefühle«, versuchte er einen neuen Ansatz. »Er will das Kind loswerden, bringt es aber nicht übers Herz, ihm wehzutun. Also wickelt er es behutsam ein, legt es warm schlafen. Und geht einfach nur fort. So bleiben seine unmittelbaren Handlungen von Fürsorge bestimmt.«

»Während er tötet«, ergänzte Becker. »Das könnte bedeuten, dass der Täter eine enge Bindung zu dem Baby hatte. Aber warum sagen Sie ›er‹? Es könnte auch eine Frau gewesen sein.«

»Die Mutter? Ja, klar.« Bär mochte sich Mütter einfach nicht so grausam vorstellen. Er sah seine Schwester Lara vor sich, wie sie Amelie umhegte. Ihr war nichts zu viel, all den Stress mit dem Laden nahm sie klaglos auf sich, um ihrer Tochter ein schönes Leben bieten zu können. Und Katja erst, seine Ex. Seit sie ihren Sohn hatte, war sie wie ausgewechselt. Erwachsen und glücklich. »Können wir ausschließen, dass die Mutter das Kind dort nur eine Weile ablegen, etwas erledigen und zurückkommen wollte?«

Becker sah Bär lange an. »Ich denke, wir können gar nichts ausschließen. Nicht einmal Voodoo.«

»Wie bitte? Voodoo?«

»Es gab in Südamerika einen Fall, da hatte ein Baby fünf Dutzend Nähnadeln im Magen. Da es unwahrscheinlich schien, dass es die alle freiwillig geschluckt hatte, ermittelte die Polizei. Und siehe da, der Großvater hatte dem Kind die Nadeln ins Essen getan, um Voodoo-Geister zu vertreiben.«

»Hat das Kind überlebt?«

»Alle Nadeln herauszuoperieren wäre zu kompliziert gewesen und womöglich tödlich ausgegangen«, holte Becker aus, »deshalb musste man zunächst etliche in seinem kleinen Körper belassen. Vielleicht konnte man sie nach und nach herausholen, als das Kind größer war.«

Bär mochte sich die Schmerzen, die das Baby erlitten haben musste, gar nicht vorstellen. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Findelkind. Die menschliche Spezies zählt zu den Säugetieren und hat sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, dachte er. Das sind nun mal die Regeln der Natur. Was ist hier schiefgelaufen?

»Wenn gar nichts hilft, müssen alle farbigen Frauen der Gegend zur DNS-Probe einbestellt werden«, sagte Becker und seufzte. »Hoffen wir, dass die Mutter, wenn sie sich nicht von allein meldet, bald gefunden wird. Unsere Social-Media-Abteilung kann dabei helfen. Rundfunk und Presse sollten natürlich auch einbezogen werden.«

»Man könnte Roberta Hennig fragen, ob sie eine Story für die Zeitung schreiben mag.«

»Gute Idee.« Über Beckers Gesicht huschte ein Lächeln.

Bär wusste, dass seinem Chef die emotionale Achterbahnfahrt, die er monatelang mit Roberta hingelegt hatte, nicht entgangen war. Ihm war das immer noch peinlich. Er hielt Privatleben und Beruf gern auseinander. Vorgesetzte dürfen alles essen, aber nicht alles wissen, lautete sein Motto– selbst dann, wenn der Chef so schwer in Ordnung war wie Becker.

»Mensch, Bär! Nun gucken Sie nicht so. Selbstredend werde ich dafür sorgen, dass Frau Hennig die Story schreiben kann. Sie können sie ja schon mal vorwarnen. Und genießen Sie ab sofort Ihren Urlaub. Kommen Sie mir die nächsten Tage nur ja nicht unter die Augen.«

***

»Chrissi, guck mal!« In Laras Nagelstudio streckte Amelie ihm ihre gespreizten Finger entgegen. Jeder ihrer kleinen Nägel war weiß lackiert, und auf jeden war ein winziges stilisiertes Gesicht aufgemalt. Manche Figuren lachten, andere rissen die Münder auf. Entlang der Nagelhaut waren mit kleinen Tupfen schwarze und gelbe Haare angedeutet.

»Sag mal, muss das wirklich schon sein?«, ging Bär seine Schwester an. »In der vierten Klasse?«

»Wieso? Ist doch süß.« Lara saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, und spielte mit Katjas kleinem Jungen, während Katja ihre Krallen am Behandlungstisch selbst bearbeitete. Sie und Lara waren enge Freundinnen, so hatte er Katja damals kennengelernt. Und die beiden steckten nach wie vor oft zusammen.

»Dem Kind verpasst ihr so was Grelles«, schimpfte er weiter, »dabei sehen eure eigenen Nägel immer vernünftiger aus, mit dem bisschen nassen Glanz, den ihr da neuerdings nur noch draufmacht.«

»Davon verstehst du nun mal nichts«, sagte Lara. »Du bist eben ein Kerl.«

»Ich bin kein Kind mehr.« Amelie stemmte empört die Hände in die Hüfte.

»Das ist der leichte French-Look«, erklärte Katja geduldig. »Knallige Farben kommen dieses Jahr nur auf die Fußnägel.«

»Auf die Fuß… Na, von mir aus«, lenkte Bär ein, er wollte nicht kleinlich sein. Immerhin war diese Idylle im Nagelstudio tausendmal besser zu ertragen als das Krankenhaus-Szenario mit dem ausgesetzten Baby. »Aber wieso sind keine Kundinnen hier?«

Das Nagelstudio lag in der Berger Straße und zog neben der angestammten Klientel auch viel Laufkundschaft an.

»Mittagspause!«, kam es von Amelie.

»Roberta hat angerufen«, sagte Lara. »Sie will dich was fragen.«

»Danke. Die muss ich auch sprechen.«

Bär ging in den Waschraum vor der Toilette, um ungestört mit Roberta telefonieren zu können. In knappen Worten erzählte er ihr von dem anstehenden Auftrag.

»Ich soll… exklusiv? Oh, danke, ist mir eine Ehre.« Sie klang eher betreten als erfreut.

»Was ist denn? Ist das nicht in deinem Sinn?«