Die Beobachterin - Caroline Eriksson - E-Book
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Die Beobachterin E-Book

Caroline Eriksson

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Beschreibung

Ein fesselnder Psychothriller der schwedischen Bestsellerautorin

Elena mietet ein Häuschen in einer schwedischen Kleinstadt, um nach der Trennung von ihrem Mann von vorn anzufangen. Ihre Tage sind leer, die Wohnung verlässt sie kaum. Ablenkung findet sie einzig darin, vom Küchenfenster aus die Menschen im Haus gegenüber zu beobachten: eine ganz normale, glückliche Familie. Doch als im Nachbargebäude plötzlich seltsame Dinge geschehen, ist Elena überzeugt davon, dass hinter den verschlossenen Türen ein Geheimnis lauert. Je besessener sie ihre Nachbarn beobachtet, desto mehr fürchtet sie, dass bald etwas Schreckliches passieren wird – und trifft eine Entscheidung, die sie selbst in tödliche Gefahr bringt ...

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Seitenzahl: 357

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CAROLINE ERIKSSON hat Sozialpsychologie studiert und als Personalberaterin gearbeitet. Der Thriller »Die Vermissten« hat ihr den internationalen Durchbruch eingebracht. Er erschien weltweit in über 25 Ländern. Caroline Eriksson lebt mit ihrer Familie in Stockholm.

Außerdem von Caroline Eriksson im Penguin Verlag lieferbar:

Die Vermissten

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Caroline Eriksson

DIE BEOBACHTERIN

Thriller

Aus dem Schwedischen von Nike Karen Müller

Die schwedische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Hon som vakar bei Bokförlaget Forum, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2017 by Caroline Eriksson

By arrangement with Bonnier Rights, Stockholm.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Penguin Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur

unter Verwendung mehrerer Motive von:

plainpicture (BY und Blend Images/Alexey Karamanov),

iStockphoto (cmtyers und StockPhotosArt)

Redaktion: Annika Krummacher

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19947-0 V002

www.penguin-verlag.de

Für Mama und Papa

Für das, was war

Für das, was ist

Für alles, was uns bleibt

DER EHEMANN

Prolog

So soll es also enden?

An der Kante gerate ich ins Straucheln, drehe mich um und begegne ihrem Blick. Es sind dieselben Augen, die mich damals ansahen, vorne am Altar in dieser kleinen malerischen Dorfkirche. An jenem Tag standen Tränen der Rührung in ihren Augen, nun sind sie schwarz vor Hass. Ihr Blick sagt mir, dass so die Rache aussieht. Und ich sehe eine Entschlossenheit in ihrem Gesicht, eine lange nicht mehr da gewesene Zielstrebigkeit. Erst jetzt dämmert es mir, dass das, was gerade passiert, was gleich passieren wird, kein Zufall ist. Meine Frau hat auf diese Gelegenheit gewartet. Sie will mich tot sehen.

Die ganze Zeit habe ich mir Sorgen um sie gemacht … Und plötzlich wird mir klar, dass ich besser auf mich selbst hätte aufpassen sollen.

Es heißt, dass das Leben von Anfang bis Ende an einem vorüberzieht, wenn das letzte Stündlein geschlagen hat. Woher auch immer man das wissen soll. Mir geht es nicht so. Es gibt keine Abfolge von Geburtstagen und Festtagen, Misserfolgen und Erfolgen, die an mir vorbeiziehen. Keines von den Gesichtern, die am wichtigsten und am nächsten waren. Ich sehe nur eins vor mir, und das ist merkwürdigerweise die Kirche, in der wir uns einst das Wort gegeben haben, uns in guten wie in schlechten Tagen zu lieben.

Der Hochzeitstag. Unsere Hände fanden sich, während wir langsam den Gang zum Altar entlangschritten. Lächelnde Gesichter in den Bankreihen, raschelnde Festtagskleider, frischer Sommerblumenduft. Ich weiß das alles noch ganz genau, jedes Detail, als wäre es gestern gewesen. Unser selbst formuliertes Eheversprechen, die Sonne, die durch die Mosaikfenster schien, der Segen des Pastors.

Und jetzt? Wird sie mich – oder vielmehr das, was von mir übrig bleibt − in dieser Kirche beerdigen? Wo wir uns versprachen, einander zu lieben, bis dass der Tod uns scheide?

Der Abgrund vor meinen Füßen ist tief und unerbittlich. Er kennt keinen Zweifel, kein Erbarmen. Es geht alles so schnell, und dennoch dehnt sich der Augenblick zu einer Ewigkeit. Sie kommt näher, ist ganz dicht neben mir. Hebt erst eine Hand, dann die andere. Gleich falle ich, gleich werde ich zerschmettert. Gleich ist es vorbei.

Drei, zwei, eins.

Jetzt.

ELENA

1

Um kurz vor vier stehe ich auf und schlüpfe in meinen Morgenmantel. Die Stunden und Minuten, die ich nachts wach liege, zähle ich schon lange nicht mehr. Die Trennung ist keinen Monat her, und ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, alleine zu schlafen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern wird. Peter fehlt mir rein physisch. Schon in der ersten Nacht, die wir zusammen verbrachten, fanden sich unsere Körper, schmiegten sich an die Rundungen und füllten die Kuhlen des anderen aus. Vor ihm hatte ich in den Armen anderer Männer gelegen, aber diese Nähe erlebte ich zum ersten Mal mit Peter. Und er empfand es genauso. Wir sind wie ein Puzzle, flüsterte er mir ins Ohr, ein Puzzle aus zwei Teilen.

Die Treppe, die ins Erdgeschoss führt, liegt im nächtlichen Dunkel. Sie ist steil, die Stufen sind schmal. Man kann leicht ausrutschen, wenn man nicht aufpasst. Ich schließe die Augen und lehne mich vor, spüre, wie sich der Schwerpunkt des Körpers nach vorne verlagert. Was, wenn ich mit geschlossenen Augen einen Vorwärtsschritt machen, wenn ich das Schicksal herausfordern würde? Vielleicht würde ich es bis nach unten schaffen, sicher und bedächtig. Oder ich würde stolpern und stürzen, mir das Genick brechen und auf dem Treppenabsatz liegen bleiben. Ein Leben, das in der Nacht erlischt, ein Tropfen im riesigen Weltall.

Ich beuge mich noch weiter vor. Eigentlich brauche ich gar keinen Schritt zu machen, muss die Entscheidung nicht dem Schicksal überlassen. Es gibt eine Alternative. Ich kann mich blind in die Dunkelheit hinabstürzen und darauf achten, dass ich mit dem Kopf zuerst aufschlage, damit das Genick unter dem Körpergewicht bricht. Diese Idee habe ich nicht zum ersten Mal, aber genau wie sonst führt sie mich zu meiner Schwester, zu der Einsicht, dass sie es sein würde, die mich finden, die sich um alles Organisatorische kümmern würde. Von der Familie, die es einst gab, sind nur wir beide übrig geblieben. Das kann ich ihr nicht antun. Meine Hand tastet nach dem Lichtschalter. Im nächsten Augenblick badet die Treppe in Licht, und ich gehe hinunter, ohne zu fallen.

Ich wandere durch das leere Reihenhaus, das mein neues Zuhause sein soll, das aber eigentlich jemand anderem gehört. Ich bin nur eine Schattengestalt, die auf der Durchreise ist. Drei Monatsmieten sind im Voraus bezahlt. Ich habe keine Ahnung, wohin es mich danach verschlägt. Vielleicht sollte ich besorgt sein, mich unter Druck gesetzt fühlen. Aber ich fühle gar nichts.

In der Küche schenke ich mir ein Glas Wasser ein und trinke es, während ich mich mit dem Rücken an die Spüle lehne. Das Haus gegenüber liegt im Dunkeln, hinter keinem der Fenster brennt Licht. Die Menschen, die dort wohnen, schlafen vermutlich, wie alle gewöhnlichen, vernünftigen Menschen um diese Zeit. Geborgen und ungestört, mit den Liebsten im Zimmer nebenan oder neben sich im Bett. Oben im Schlafzimmer wartet das geliehene Einzelbett auf mich. Das Bett wird kühl sein, wenn ich wieder raufgehe. Es ist niemand dort, der die Laken wärmt. Keine Beine, zwischen die ich meine eiskalten Füße schieben kann, kein Nacken und kein Rücken, an den ich mich kuscheln kann und der meinen Körper formt.

Ein Puzzle aus zwei Teilen. Einmal habe ich diesen Ausdruck in einem Manuskript verwendet. Als der Text von der Redakteurin zurückkam, hatte sie die Formulierung zweimal durchgestrichen und als Erklärung mit Rot an den Rand etwas klischeehaft geschrieben. Sie konnte nicht wissen, wie besonders diese Worte für mich waren, sie hat nur ihren Job gemacht, und ich habe die Streichung akzeptiert. Vielleicht hätte ich auch auf der Formulierung beharren sollen, denn sie hat mir etwas bedeutet. Die Meinungen des Verlags sind Vorschläge, meistens kluge Vorschläge, aber schlussendlich hat die Autorin das letzte Wort. Beim nächsten Mal werde ich daran denken. Mein nächstes Manuskript wird … Ich denke den Gedanken nicht zu Ende, leere mein Glas und schüttele den Kopf. Das nächste Mal? Das nächste Manuskript? Wen will ich da an der Nase herumführen? Seit zwei Jahren habe ich keine Zeile mehr geschrieben.

Ich streife weiter durch das Haus, folge dem immer gleichen Muster meiner nächtlichen Wanderungen und finde mich im Wohnzimmer wieder. Es ist nicht groß, aber es beherbergt fast alles, was ich mitgenommen habe, als ich Peters und mein gemeinsames Heim verlassen habe. An den Wänden stapeln sich Umzugskartons mit Dingen, die ich noch nicht ausgepackt habe. Überflüssige Dinge, Relikte aus einer verlorenen Zeit, die nie wiederkehren wird. Hier gibt es nur einen Gegenstand, der mir etwas bedeutet.

Langsam gehe ich auf das Bücherregal zu. Ich strecke den Arm aus und lasse die Handfläche langsam über die dichten Reihen aus Buchrücken gleiten. Zwischen den Deckeln verstecken sich so viele Geschichten, so viele Schicksale. Sie beschreiben das Glück und den Schmerz, Mensch zu sein, die Grausamkeiten, die wir einander antun. In allen Geschichten gibt es gemeinsame Themen, genau wie in allen menschlichen Leben, und ich weiß, dass ich nicht alleine bin mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen. Trotzdem kommt es mir so vor. Ach, Mama, wenn du mich jetzt sehen könntest.

Die Hände arbeiten von allein, bewegen sich, als gehörten sie jemand anderem, als hätten sie ein Eigenleben. Ein Buch nach dem anderen wird herausgenommen und an einen anderen Platz gestellt, manchmal auf demselben Regalbrett wie vorher, aber fast immer woanders. Das geschieht zuerst langsam, fast unwillkürlich, dann zielgerichteter. Buch um Buch wird umgestellt, weiter nach oben oder weiter nach unten, mehr zur Mitte oder zum Rand hin. Heute Nacht ordne ich sie nach Titel, auch wenn das jeweilige System nicht von Bedeutung ist. Die Beschäftigung an sich ist wichtig. Um das zurückzuhalten, was unter der Oberfläche brodelt.

Auf manchen Regalbrettern wird es eng. Ich behalte die Bücher, die noch auf ihren Platz warten, im Arm und arbeite mit der anderen Hand weiter. Lücken entstehen, die wieder geschlossen werden. Ein Zusammenhang wird auseinandergerissen, eine neue Einheit nimmt langsam Form an. Aber das hilft natürlich nicht, weil gar nichts hilft. Als ich schließlich vor dem Bücherregal innehalte und den Blick über das Ergebnis schweifen lasse, ist alles anders. Und dennoch ist alles gleich. Langsam verlasse ich das Zimmer.

Dann spüre ich erst wieder etwas, weil es kalt geworden ist. Meine Beine sind kalt, in mir ist es kalt. Dann piept es direkt neben meinem Kopf, und ich wache auf. Irgendwann heute Nacht auf der schlaflosen Wanderung durchs Haus muss ich mich nach oben ins Schlafzimmer begeben haben und muss im Bett wieder eingeschlafen sein, denn da liege ich jetzt. Die Decke ist auf den Boden gerutscht, und es ist eiskalt im Zimmer. Ich habe vergessen, das Fenster zu schließen. Ich ziehe die Knie an und schlinge die Arme um meine Beine. Wenn ich eines Morgens einfach nicht mehr aufwachen würde? Noch ein Piepton erklingt, und ich strecke lustlos den Arm aus. Mein Handy liegt auf dem Nachttisch und meldet zwei neue Nachrichten von meiner Schwester. Die erste besteht aus fünf Wörtern. Du kommst doch heute Abend? Die zweite Nachricht ist ebenso knapp, aber der Tonfall ist ein anderer. Um Punkt 19 Uhr!

Ich stemme mich aus dem Bett, ziehe den Morgenmantel über und gehe die Treppe hinunter. Die gleichen Bewegungen, derselbe Morgenmantel und dieselbe Treppe wie gestern und vorgestern. Die gleichen Bewegungen, derselbe Morgenmantel und dieselbe Treppe, die morgen da sein werden und übermorgen. In der Küche hole ich den Wasserkocher und mache Tee, nicht weil es von Bedeutung ist, ob ich frühstücke oder nicht, sondern weil man das so macht, weil man sich so verhält. Außerdem kann ich damit Zeit totschlagen und meine Gedanken füllen. Etwas anderes.

Ich lasse mich auf einem Stuhl nieder und puste in die Tasse. Zwischen den Schlucken stiere ich aus dem Fenster, lasse den Blick über den Innenhof schweifen. In einem Busch zanken Vögel. In der Küche gegenüber steht ein Mann in Anzug und knotet sich die Krawatte, am Tisch vor ihm sitzt eine Frau mit honigfarbenem Haar und trinkt aus einer Tasse. Die Sonne hat es noch nicht über die Dächer geschafft, ein Müllauto schiebt sich durch die Straße, Menschen hasten den Bürgersteig entlang. Sie sind auf dem Weg irgendwohin, ihre Schritte haben eine Richtung, ein Ziel.

Ich betrachte wieder das Zimmer, in dem ich mich befinde, lasse seine kahle, abgenutzte Erscheinung auf mich wirken. Eine Tapete, die sich wellt, und an den Küchenschränken abgegriffene Knäufe. Die Möblierung besteht aus einem Tisch und zwei Sprossenstühlen. In diesen vier Wänden wartet ein weiterer Tag mit leeren Ritualen und gekünstelter Atmung. Ein weiterer Tag der Stille und Einsamkeit. Meine Schwester ist die einzige Verbindung zur Außenwelt, die mir geblieben ist. So ist es, so weit habe ich es kommen lassen. Du kommst doch heute Abend? Ich stehe vom Tisch auf und leere den restlichen Tee in den Ausguss. Ich weiß nicht, denke ich. Ich weiß es wirklich nicht.

2

Meine Schwester kauert vor dem Backofen und späht durch die schmutzige Glasscheibe.

»Jetzt ist sie fertig«, beschließt sie, zupft die Ofenhandschuhe zurecht und öffnet die Ofentür.

Eine Form mit Lasagne landet vor mir auf dem Tisch. Ein schlichter Kopfsalat und Rotwein aus dem Tetra Pak. Genau wie an den vergangenen Freitagen. Sie scheint Lasagne zu mögen, oder sie denkt, dass ich Lasagne mag. Meine Schwester nimmt den Wein und schenkt erst ihr eigenes und anschließend mein Glas voll. Dann nimmt sie mir gegenüber Platz und hält mir das Vorlegebesteck hin.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagt sie.

Bald liegen zwei dampfende Portionen vor uns auf den Tellern. Meine Schwester isst mit Appetit. Sie redet über das Wetter, dass es eine Ungeheuerlichkeit sei, wie lange die Frühlingssonne auf sich warten lasse. Nach ihrem Versuch, eine Unterhaltung über eine neue Fernsehserie anzustoßen, von der ich noch nie gehört habe, erkundigt sie sich, wie es mir in dem Reihenhaus gefalle. Ich antworte, dass ich mich noch nicht so richtig eingelebt hätte, aber dass sich das schon finden werde.

Die Worte klingen plump und aufgesetzt. Ich fühle mich wieder so komisch, genau wie vor einer Stunde, als ich zu Hause in der Diele stand, direkt an der Haustür. Ich war schon fertig angezogen, als mich dieses Unwirklichkeitsgefühl überfiel. Das geht nicht, ich kann nicht. Mir wurde klar, dass ich anrufen und absagen musste, dass ich nicht zu dem freitäglichen Abendessen bei meiner Schwester fahren konnte, das sich inzwischen eingebürgert hatte. Dasitzen, essen, Konversation machen und so tun, als wäre alles, wie es sein sollte. Nein. Nicht schon wieder. Nie wieder. Trotzdem bin ich am Ende hingefahren.

»Ja, ja«, sagt meine Schwester. »Du musst dich nicht verpflichtet fühlen. Nur weil ich die Vermieterin kenne.«

Meine Vermieterin ist eine der zahlreichen Freundinnen meiner Schwester. Zurzeit bereist sie die Welt. Das machen die Freunde meiner Schwester so, sie fliegen und fahren herum und leben ihr Leben. Sie und ihr Mann sind auch viel gereist, mal allein und mal mit anderen Paaren. Aber das ist lange her.

»Es ist ja sowieso nur für ein paar Monate«, sagt sie, und ich begreife, dass sie noch immer vom Reihenhaus spricht. Von meinem Leben.

Meine Schwester dreht das Weinglas zwischen zwei Fingern und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Sie hat mir schon mal angeboten, hier zu wohnen, bei sich und ihrem Mann, und ich glaube, dass sie drauf und dran ist, ihren Vorschlag zu wiederholen.

»Das wird schon«, sage ich als Antwort auf die Frage, die sie nicht gestellt hat.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie verstohlen auf meinen Teller schaut, auf das Essen, das mehr oder weniger unberührt daliegt. Pflichtschuldig schiebe ich einen Bissen Lasagne in den Mund und spüle ihn mit Wein hinunter, ohne den Geschmack wahrzunehmen. Dann befrage ich meine Schwester zu ihrem Job und gebe mir Mühe beim Zuhören, als sie antwortet. Es geht besser, wenn der Fokus auf ihr liegt anstatt auf mir.

Ich trinke mein Glas aus, und meine Schwester schenkt nach. Der Alkohol tut seine Wirkung, er stumpft scharfe Kanten ab, dimmt und lullt ein. Fast fühle ich mich real.

»Und selbst?«, fragt meine Schwester nach einer Weile.

»Was?«

»Hast du mal über die Zukunft nachgedacht?«

Ich richte den Blick wieder auf meinen Teller, stochere in den Salatblättern herum. Die Zukunft? Die Zukunft liegt bereits hinter mir, denke ich, hüte mich aber, den Gedanken laut auszusprechen. Ich begnüge mich mit einem Schulterzucken, aber meine Schwester lässt nicht locker. Wie es mit der Schreiberei laufe, ob ich ein neues Projekt am Laufen habe? Ich benetze die Lippen und sage, wie es ist. Nein, ich sitze an keinem neuen Projekt.

Meine Schwester beugt sich zu mir vor.

»Du musst wieder an den Schreibtisch«, sagt sie mit Nachdruck. »Arbeit ist die beste Medizin.«

Ich halte inne. Arbeit ist die beste Medizin. Mutters alte Redensart, ihr Mantra. Die Worte, mit denen sie schmunzelnd auf unsere Bemühungen reagierte, wenn wir sie dazu bewegen wollten, sich auszuruhen, sich nicht zu überanstrengen. Worte, die sie permanent wiederholte, bis es rein körperlich nicht mehr möglich war. Bis die Schmerzen ihr nicht mehr erlaubten zu sprechen, geschweige denn sich im Bett aufzusetzen, um zu lesen oder zu schreiben.

Meine Schwester sagt das so neutral, als hätten die Worte keine tiefere Bedeutung für sie. Nichts in ihrer Stimme deutet darauf hin, dass sie sich erinnert. Vielleicht erinnert sie sich ja wirklich nicht mehr. Als Mutter krank wurde, war sie schon lange von zu Hause ausgezogen. Hatte im Ausland gelebt und sich nur selten daheim blicken lassen. Nur in der Endphase war sie öfter zu Besuch gekommen.

Ich blähe meine Lunge auf und halte die Luft an. Erst als mein Brustkorb zu bersten droht, erst als ich keine andere Wahl mehr habe, atme ich aus.

»Nur dass du es weißt, ich arbeite sehr wohl. Die ganze Zeit eigentlich.«

Und das stimmt. Ich nehme so viele Lesungen und Übersetzungen an, wie ich kann.

»Gut, dass du eine Beschäftigung hast. Aber du bist Autorin, Elena. Und eine Autorin schreibt doch, oder? Und stochert nicht nur in Texten von anderen herum.«

Mein Glas ist leer. Schon wieder. Ich starre den Wein an.

»Ich habe nichts, worüber ich schreiben könnte.«

Meine Schwester schenkt Wein nach, steht auf und holt die Ketchupflasche aus dem Kühlschrank.

»Was sagt dein Verleger immer über das Schreiben? Sein Ratschlag? Grab dein eigenes Grab oder so?«

Ein seltsamer Laut, der auch als Lacher hätte durchgehen können, kommt stoßweise über meine Lippen. Meine Schwester runzelt die Stirn, und ich schlage wieder die Augen nieder. Ich bin nicht mehr ganz nüchtern.

»Grab da, wo du stehst«, korrigiere ich leise.

»Ja, ja«, erwidert meine Schwester und greift wieder zum Besteck. »Whatever. Ich weiß jedenfalls, dass du diesen Spruch mehrmals zitiert hast. So bist du doch auch bei deinen bisherigen Manuskripten vorgegangen, oder?«

Ich nicke bedächtig. Große Teile meines Lebens war ich eine Beobachterin, eine Person, die eher zuschaut als aktiv teilnimmt. Das hat mir beim Schreiben geholfen. Ausgangspunkt für meine Erzählungen waren Geschehnisse und Ereignisse, die ich entweder selbst miterlebt habe oder die mir zu Ohren gekommen sind. Die Vorlagen für die Figuren in meinen vier Büchern sind allesamt Menschen aus meinem Umfeld, auch wenn das den Betroffenen nicht klar ist. Man muss sich als Autorin nur einer ganz einfachen Tarnung bedienen, das Alter oder den Beruf ändern, damit sich niemand wiedererkennt und dahinterkommt, dass es im Buch eigentlich um sie geht. Ich habe über Freunde und Arbeitskollegen geschrieben, über Menschen, die mir nahestanden oder die ich nur vom Sehen kannte. Ich habe über meine Eltern geschrieben, sogar über meine Schwester. Allerdings glaube ich nicht, dass sie das überreißt.

»Weißt du noch«, sagt sie plötzlich und strahlt über das ganze Gesicht, »wie ich deine Manuskripte gelesen habe, bevor du sie abgeschickt hast? Das war vor allem am Anfang, als du noch nichts veröffentlicht hattest, aber auch danach. Zumindest bei deinen ersten beiden Büchern. Du hast selbst gesagt, ich hätte kluge Einwände und ich hätte dir geholfen, den Text so gut wie möglich zu machen.«

Obwohl ich das Glas eben erst abgestellt habe, nehme ich es wieder in die Hand. Der Wein rinnt meine Kehle hinab, vollmundig und herb.

»Ich würde das gerne wieder machen«, fährt meine Schwester fort. »Lesen, was du schreibst, meine ich.«

Ihr klebt etwas Ketchup am Kinn, und als ich sie darauf aufmerksam mache, führt sie ihre Serviette zum Gesicht.

»Wie gesagt«, wiederhole ich, während sie sich abtupft. »Es gibt nichts zu lesen.«

»Aber dieser Ratschlag, grab da, wo du stehst, wenn der früher funktioniert hat, kannst du es doch einfach wieder so machen, oder?«

Ich lehne mich im Stuhl zurück.

»Warum ist das denn so wichtig für dich?«

»Weil ich denke, dass du etwas brauchst, eine richtige Aufgabe. Auf die du dich voll und ganz konzentrieren kannst, während du das durchmachst … was du gerade durchmachst.«

Wir sehen uns an. Schließlich macht meine Schwester eine ausholende Geste und murmelt okay, okay. Dann wechselt sie das Thema, hält mir die Ketchupflasche hin und fragt, ob ich nicht noch ein paar Bissen essen wolle, ich hätte das Essen ja kaum angerührt.

Ich erkläre, dass ich keinen Hunger habe, und schiebe den Teller beiseite.

»Wo ist denn Valter heute Abend?«, frage ich, um die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. Weg von mir.

»Beim Bowlen, glaube ich.«

Bisher war ich fest davon ausgegangen, dass meine Schwester und ihr Mann eine gute Beziehung führen, es sah einfach danach aus. Jetzt bin ich mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ein verheiratetes Paar, das jeden Freitagabend getrennt voneinander verbringt, ist das nicht ein bisschen merkwürdig? Und dann das mit den Reisen, warum fahren sie nicht mehr gemeinsam in den Urlaub oder ins Wochenende?

Ich betrachte meine Schwester eingehend. Verschweigt sie mir etwas? Vielleicht ist das Verhältnis zwischen ihr und Valter doch nicht so gut?

»Wie geht es ihm denn? Habt ihr …?«

Weiter komme ich nicht, als mich Geräusche aus der Wohnung über uns unterbrechen. Helle Stimmen und Juchzer, gefolgt von einem Poltern.

»Kürzlich eingezogen«, sagt meine Schwester und lächelt, dieses schiefe Grinsen, das so typisch für sie ist. »Drei Kinder, keins älter als sieben.«

Sie verdreht die Augen Richtung Decke, und ich tue so, als würde ich ihrem Blick folgen, aber behalte ihr Gesicht im Blick. Die Wölbung ihrer Stirn, die Kontur ihrer Lippen. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Ich frage mich, ob meine Schwester sich dessen bewusst ist, ob sie sieht, wessen Gesichtszüge sie geerbt hat, wenn sie in den Spiegel schaut, und wenn ja, was sie davon hält. Wäre unser Verhältnis ein anderes, könnte ich sie fragen, aber nun ist es, wie es ist.

Mehr Radau von oben, diesmal gefolgt von Kinderlachen und einer sanften Erwachsenenstimme. Die Worte sind nicht zu verstehen, aber es ist eindeutig, dass der Sprecher ein liebevoller, warmherziger Elternteil ist. Ich fahre mir mit dem Handrücken über die Augen. Als ich wieder aufblicke, hat meine Schwester die Serviette zu einer Kugel zusammengeknüllt. Sie knetet sie und heftet ihren Blick darauf.

»Du weißt«, sagt sie, »man kann auch ohne Kinder glücklich sein.«

Wieder übermannt mich dieses Gefühl der Unwirklichkeit. Alles kommt wieder zurück und entzieht sich mir zugleich. Meine Schwester sagt noch etwas über sich und Valter, dass sie sich zwar gegen Kinder entschieden hätten, aber trotzdem. Sie versteht, dass es schmerzlich sein muss, aber trotzdem.

»Was ich meine, ist … und es tut mir leid, wenn ich dir da zu nahe trete, aber willst du ihn deswegen wirklich verlassen? Ihr liebt euch doch.«

Sie legt die Serviette zu den Essensresten auf den Teller und sieht mir in die Augen. Dann streckt sie die Hand aus und legt sie auf den Tisch über meine. Ihre warme, leicht feuchte Handfläche ruht auf meinem trockenen Handrücken. Ich starre die Finger an, die meine Hand bedecken, und denke, dass selbst ihre Finger denen von Mutter ähneln. Der Kloß im Hals wird größer. Ich bringe kein Wort heraus.

Schließlich zieht meine Schwester ihre Hand wieder zurück und steht auf, um die Teller zusammenzustellen.

Während sie die Spülmaschine öffnet und bestückt, schließe ich die Augen und spüre, wie die Welt auf Grund läuft. Was tue ich hier? Warum bin ich überhaupt hergefahren?

Der Tisch ist abgedeckt, nur mein leeres Weinglas steht noch darauf. Meine Schwester macht den Geschirrspüler zu.

»Es gibt Eis zum Nachtisch«, verkündet sie.

Wie in Zeitlupe komme ich auf die Füße, greife nach dem Glas und gehe damit zur Spüle. Es kostet mich meine ganze Kraft, es nicht fallen zu lassen. Die Übelkeit steigt in mir auf, wogt in mir wie eine Brandung. Als ich das Glas abgestellt habe, drehe ich mich zu meiner Schwester.

»Ich glaube, ich rufe mir ein Taxi«, sage ich. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

3

Die Fahrt von der Wohnung meiner Schwester im Stadtzentrum zum Reihenhaus im Vorort dauert vierzig Minuten mit dem Bus und weniger als halb so lange mit dem Taxi. Taxifahrten sind keine vertretbare Investition, so wie meine Finanzen zurzeit aussehen, aber das tangiert mich nicht. Nicht heute Abend.

Ich mustere den dunklen Lockenkopf des Taxifahrers, wende mich dann schweigend dem Fenster zu und sehe die Lichter der Stadt vor der Scheibe vorbeiflimmern.

Ich habe Müdigkeit und Übelkeit vorgeschützt, als ich so zeitig aufgebrochen bin, und habe behauptet, dass ich vielleicht gerade etwas ausbrüte. Meine Schwester hat mir keine Sekunde geglaubt, das habe ich ihr angesehen, aber sie hat nichts gesagt.

In der Diele haben wir uns umarmt.

»Wir sehen uns nächsten Freitag«, habe ich in ihr Haar gemurmelt und bin zu dem wartenden Taxi geeilt, »dann bin ich dran mit dem Abendessen.«

Das Auto bremst und hält an einer Ampel. Rotes Licht auf meinem Gesicht, das zu Gelb und dann zu Grün wechselt, ehe wir weiterfahren.

Man kann auch ohne Kinder glücklich sein. Willst du ihn deswegen wirklich verlassen?

Meine Schwester versteht vieles nicht. Zumal sie selbst nie Kinder wollte. Aber es ist nicht nur das, es steht viel mehr zwischen uns. Ich erinnere mich noch an unsere gemeinsame Kindheit, die Grenzen zwischen uns waren fast fließend, als wäre das Wesen meiner Schwester ein Teil von mir und umgekehrt. Es gab eine Zeit, da war das Leben leicht. Damals, als wir unschuldig waren, hoffnungsvoll. Wie Kinder so sind. Dann wurden wir älter, meine Schwester zog aus, und alles wurde anders.

Wenn ich geblieben wäre und mich ihr gegenüber geöffnet hätte heute Abend? Wenn ich von der Schlaflosigkeit und Leere und Verwirrung erzählt hätte, die jetzt mein Leben prägen, mein Leben ohne Peter, nach Peter?

Aber damit befassen wir uns nicht, meine Schwester und ich, wir drehen und wenden nicht die Steine, die wir aufgehäuft haben, wir lassen die ungesagten Worte ruhen. Vielleicht hat sie ihre eigenen Gründe, den Abstand zwischen uns aufrechtzuerhalten, vielleicht hat sie mit eigenen Dämonen zu kämpfen. Oder es liegt alles an mir, der verkehrten Schwester, dem verzerrten Spiegelbild.

Der Lederbezug der Rückbank knarzt, als ich die Sitzposition ändere, und ein säuerlicher Weingeschmack füllt meinen Rachenraum. Der Taxifahrer blinkt und biegt um die letzte Straßenecke. Genau hier ist die Straßenbeleuchtung kaputt, die Laternenpfähle stehen wie welke schlummernde Riesen in den Schatten der Straße. Ich stiere in die Nacht. Spüre, wie sich die äußere Finsternis in die innere hineinfrisst.

Ich schlüpfe aus den Schuhen und husche durch die Diele, ohne Licht zu machen. Das hier ist jetzt mein Zuhause, und ich habe ein Recht, hier zu sein, aber dennoch fühle ich mich wie ein Eindringling. Auf rationaler Ebene bin ich mir bewusst, welches Glück ich hatte. Es ist ein gutes Haus in einer guten Gegend, und der Mietvertrag ist fast lächerlich kulant, aber als ich Richtung Küche gehe, kommt es mir so vor, als würden mich von überallher missbilligende Augen anstarren und mir durch die Dunkelheit folgen.

Das Haus will mich nicht, keiner von uns beiden fühlt sich mit dem anderen wohl, aber so etwas kann ich meiner Schwester nicht erklären. Sie würde verständnislos blinzeln, vielleicht den Kopf schütteln und etwas wie dummes Zeug murmeln. Vermutlich würde sie finden, ich sei undankbar, und das zu Recht. Meine Schwester war die Einzige, die etwas wusste, wo ich mich kurzfristig einmieten konnte. Tatsächlich war sie die Einzige, die ich überhaupt fragen konnte. Ich habe keine guten Freundinnen mehr, und es ist schon Monate her, dass ich mich bei einem der anderen Freiberuflichen gemeldet habe, mit denen ich mich früher immer getroffen hatte.

Ich bleibe auf der Schwelle stehen und blicke in die Küche, die ebenfalls im Dunkeln liegt. Die Tischfläche ist leer bis auf meinen Rechner. Niemand hat Tee gekocht und die Haube über die Kanne gestülpt, damit sich die Wärme hält, bis ich nach Hause komme. Niemand hat Brote gemacht oder ein Stück frischen Sandkuchen auf einen Teller gelegt, mit Frischhaltefolie bedeckt und in den Kühlschrank gestellt. Und niemand hat einen Zettel geschrieben, damit ich ihn lese, wenn ich nach einem Bibliotheksbesuch oder einem Schriftstellertreffen in einer Buchhandlung spät nach Hause komme. Ein Zettel mit einem liebevollen Gruß, Worte, die ausdrücken, wie viel ich ihm bedeute.

Ich könnte Wasser kochen und mir einen Tee machen. Ich könnte Brote schmieren oder backen. Aber das ist nicht dasselbe. Und was ich auch tue, um mich selbst zu betrügen, ändert es nichts an der Tatsache, dass niemand mehr hier und da kleine Notizzettel für mich hinterlässt. Auf dem Küchentisch, innen am Badezimmerschrank, unter dem Kissen. Wie ein Puzzle aus zwei Teilen.

Ich lasse mich auf einen der Sprossenstühle sinken, starre aus dem Fenster und versuche, meine Gedanken in Schach zu halten. Versuche, sie daran zu hindern, die Zeit zurückzudrehen. Aber nach vorne zu schauen ist auch keine Option. Die Wege, die früher gangbar waren, sind alle miteinander versperrt. Die Welt ist geschrumpft, das Dasein besteht nur noch aus dem, was ich um mich herum sehe. Ich sollte aufstehen und nach oben gehen, ins Schlafzimmer. Ich sollte zumindest einen Versuch unternehmen, etwas Schlaf zu finden. Wenn ich jetzt nicht aufstehe, tue ich es vielleicht nie. Womöglich bleibe ich für immer hier, eine steinerne Statue in der Dunkelheit. Vielleicht verwittere ich irgendwann und löse mich auf. Oder ich bin dazu verdammt, hier zu sitzen und aus dem Küchenfenster zu starren, bis eine Ewigkeit zu Ende ist und durch die nächste abgelöst wird.

Ich hänge meinen Gedanken nach, die Uhr an der Wand tickt, und die Finsternis vor dem Fenster wird immer kompakter. Es kommt mir so vor, als würde ich in einen Dämmerzustand versinken, bis mein Blick plötzlich eine Bewegung auf dem Innenhof registriert. Da ist jemand, ein Schatten streift den Schein einer altmodischen Straßenlaterne. Im nächsten Augenblick fällt das Licht auf einen Mann, der auf das Haus gegenüber zugeht. Es muss derselbe Mann sein, den ich heute Morgen da drüben in der Küche gesehen habe und der immer so adrett aussieht. Aber heute Abend ist sein dunkles Haar zerzaust und der Rücken seines Jacketts knitterig. Er macht etwas mit den Händen, rückt die Hose oder das Hemd zurecht. Zögerliche schlurfende Schritte. Plötzlich strauchelt er und droht hinzufallen, aber dann fängt er sich wieder und geht die letzten Schritte aufs Haus zu.

Licht erhellt die Fassade darüber, als er mit dem Schlüssel die Haustür anpeilt. Es kommt aus dem Fenster im ersten Stock. Hinter einem schweren Vorhang erhasche ich den Blick auf eine Gestalt mit langen Haaren, eine Frau im Nachthemd, die auf ihn herabsieht. Nur einen Moment lang, dann fällt die Gardine wieder an ihren Platz, die Tür geht auf, und der Mann betritt das Haus.

Die Fensterscheibe vor mir wird wieder dunkel. Ich kann meine Silhouette erkennen, die schwache Spiegelung einer Frau an einem Tisch. Das Bild wirkt irgendwie gespenstisch. Ich schaudere und beuge mich vor, um die Jalousie herunterzulassen. Die Bewegung führt dazu, dass ich endlich aufstehe.

Jetzt reicht es, denke ich. Ohne richtig zu verstehen, was ich damit meine.

DER EHEMANN

4

Es ist Freitagabend, und ich komme spät nach Hause, zu einer Uhrzeit, zu der meine Frau mit Sicherheit schon schläft. Trotzdem bilde ich mir ein, dass sie da drinnen wartet und Wache hält. Dass sie hinter einem Vorhang steht und mich beobachtet. Vielleicht hebe ich deswegen nicht den Blick und schaue zu unserem Schlafzimmer hoch. Ich würde es nicht ertragen, jetzt ihrem Blick zu begegnen.

Ich fühle mich selbstsicher und angespannt zugleich. Versichere mich erneut, dass das Hemd ordentlich in der Hose steckt. Ich bin fast schon an der Haustür, als ich stolpere und beinahe hinfalle, doch ich finde das Gleichgewicht wieder, halte meinen Blick aber weiterhin gesenkt.

In der Diele hänge ich meine Jacke auf und stelle die Schuhe an ihren Platz. Ich bin so leise, wie ich kann, und mache kein Licht in der Diele. Manchmal bin ich noch ins Bad geschlüpft, um mich frisch zu machen, aber meistens dusche ich, bevor ich nach Hause fahre. Bei ihr, meiner Geliebten. Ja, ich schlafe mit einer Frau, die nicht meine Ehefrau ist. Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist so. Es hat sich so ergeben. Man könnte sagen, dass es viele Gründe dafür gibt, man könnte auch sagen, dass es einen einzigen Grund dafür gibt.

Die Schlafzimmertür ist angelehnt, nur ein schmaler Spalt steht offen. Vorsichtig schiebe ich sie auf und bleibe ein paar Sekunden auf der Schwelle stehen, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Die Umrisse eines Körpers im Bett, die Decke hebt und senkt sich im Rhythmus der leisen regelmäßigen Atemzüge. Als würde sie schlafen. Warum bilde ich mir ein, dass sie das nicht tut? Warum bilde ich mir ein, dass sie nur so tut, als ob? Ich schleiche zum Bett, hebe die Decke an und schlüpfe darunter. Die Matratze jammert unter meinem Gewicht und führt meine Gedanken zu dem Körper, der eben erst unter mir gejammert und gestöhnt hat. Das Blut pulsiert schneller durch meine Adern, als ich daran denke.

Ich will nicht lügen. Der Sex ist großartig, wirklich. Ein neuer Körper mit neuen Formen und neuem Duft. Neue Haut unter meinen Händen. Die Anziehung ist stark und wild. Trotzdem hat das, was zwischen uns passiert, erstaunlich wenig mit Sex zu tun, ich würde auch ohne auskommen. Ich weiß, das klingt komisch, ist aber so.

Wenn wir die Tür hinter uns schließen, entfliehen wir dieser Welt für eine Weile. Sie berührt mich, und alles andere verschwindet. Eine Zeit lang kann ich vergessen. Ohne dieses Gefühl kann ich nicht mehr sein.

Bisweilen komme ich mir armselig vor. Ich bin armselig, wenn ich nicht noch schlimmere Wörter gebrauchen will. Jener Tag, an dem wir Mann und Frau wurden. Wir waren uns so sicher damals, so überzeugt von der Einzigartigkeit dessen, was wir hatten, und davon, dass wir nicht so waren wie die anderen. Wir wollten nie zulassen, dass unsere Liebe in den Dreck gezogen wurde, und nie den anderen hintergehen, so wie die Männer und Frauen es immer schon getan hatten. Wir waren anders, unsere Liebe war anders. Das war, bevor ich von dem Geheimnis meiner Frau erfahren hatte. Bevor ich sie mit einer anderen betrogen hatte.

Nun liegen wir hier im Dunkeln, jeder auf seiner Seite der Matratze und atmen uns in gleichmäßigem Rhythmus durch die Lügen.

Ich schließe die Augen und warte darauf, dass der Schlaf mich übermannt. Ich träume bisweilen, ich würde meiner Frau die Wahrheit sagen, erzählen, was ich getan habe, dass ich mit einer anderen Frau zusammen war. In diesen Träumen ist alles so real, als würde es tatsächlich passieren. Als würde ich diese Worte wirklich sagen, mir alles von der Seele reden. Doch sobald es um die Reaktion meiner Frau geht, endet der Traum. Jedes Mal dasselbe. Ich sehe nie ihr Gesicht nach meinem Geständnis, ich weiß nie, welche Wirkung meine Worte auf sie haben.

Aus diesen Träumen wache ich kaltschweißig und mit rasendem Puls auf. Ich stiere eine Weile in die Dunkelheit, drehe mich dann zu der Frau um, die neben mir schläft und folge mit dem Blick den Konturen ihres Körpers unter der Decke. Wie würde sie reagieren, wenn ich es ihr erzählen würde? In Wirklichkeit?

Daran wage ich nicht einmal zu denken.

5

Der Tag, an dem sie beschloss, ihren Mann umzubringen, war ein Freitag.

Wenn jemand beschließen sollte, ihre Geschichte zu erzählen, dann sollte er vielleicht mit genau diesem Augenblick beginnen.

AberihreGeschichtehandeltevorallemvondenDingen,dielangevorhergeschehenwaren.Undvondenen,diedanachpassierten.Siehandeltedavon,wassiesichselbstundanderenangetanhatte.VonBlutundChaos,aberauchvonWortenundGedanken.

»Ich werde dich immer lieben. Ich werde dich nie verlassen.«

Worte aus dem Mund eines Mannes, mehr nicht.

»Ich will dir treu sein, bis dass der Tod uns scheidet.«

Worte aus dem Mund eines Mannes, mehr nicht.

»Ich könnte dieses Schwein umbringen.«

Gedanken im Kopf einer Frau, mehr nicht.

Oder doch?

Der Tag, an dem sie beschloss, ihren Mann umzubringen, war ein Freitag. Aber es sollte dauern, bis der Entschluss in die Tat umgesetzt werden konnte. Und die Geschichte sollte eigentlich auch nicht davon handeln. Sondern von alldem anderen.

ELENA

6

Die Tage kommen und gehen, reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Die Schattierungen sind unterschiedlich, aber die Farbe ist stets Grau. Keine Sonne, keine grünen Blätter. Nur wenn es unbedingt nötig ist, gehe ich vor die Tür, um den Müll rauszubringen, um Brot und Milch zu kaufen. Ansonsten beobachte ich die veränderten Lichtverhältnisse von meinem Platz in der Küche aus. Dort sitze und arbeite ich, dort stelle ich den Rechner auf und breite meine Notizen aus. Es gibt ein Arbeitszimmer neben der Küche, aber die Eigentümerin, die Freundin meiner Schwester, hat die meisten ihrer Besitztümer dort eingelagert und die Tür geschlossen. Das ist mir aber egal. Mein Leben braucht kaum Platz, der Küchentisch reicht völlig aus für meine Arbeit.

Ich arbeite freiberuflich für einen Lektoratsservice, dem angehende Autoren ihre Werke zuschicken können, damit sie gelesen und beurteilt werden. Die Qualität ist schwankend, einige Manuskripte sind gut geschrieben und begeistern einen bei der Lektüre, anderen fehlt der Zusammenhang, und sie sind platt. Dieses Mal habe ich von beidem etwas auf dem Tisch. In beiden Fällen besteht meine Aufgabe darin, plausibel und pädagogisch zu erläutern, was funktioniert und was nicht funktioniert, Schlussfolgerungen anzustellen und Beispiele zu nennen. Das ist eine anspruchsvolle Arbeit, die Konzentration und Zeit braucht und mich zwingt, den Fokus woandershin zu richten, weg von mir. Auch wenn meine Schwester offenbar nicht findet, dass das ausreicht. Eine Autorin schreibt doch, oder? Und stochert nicht nur in Texten von anderen herum.

Bisweilen verliere ich auch den Faden, ertappe mich dabei, wie ich dasitze, das Kinn in die Hand gestützt, und aus dem Fenster sehe. Der Innenhof ist hübsch und einladend, schmale Wege schlängeln sich zwischen verschiedenen Büschen hindurch, und es gibt eine blau gestrichene Gartenbank. Trotzdem habe ich bisher keine Menschenseele da draußen gesehen. Mit Ausnahme der Familie von gegenüber, in deren Küche ich praktisch freie Sicht habe, bekomme ich von den anderen Nachbarn kaum etwas mit.

»Glaub bloß nicht, dass hier jemand anklopft und sich vorstellt«, hat meine Schwester gesagt, als sie mir beim Einzug geholfen hat.

Das ist kein Ort für solche, die die Gesellschaft anderer suchen, erklärte sie, das hier ist eine Gegend für Menschen, die sich um ihren eigenen Kram kümmern und es vorziehen, dass die anderen es genauso machen. Ich habe darauf gewartet, dass sie du passt perfekt hierher hinzufügen würde, aber das hat sie nicht getan.

Zuweilen schicken wir uns SMS. Meistens meldet sich meine Schwester zuerst und erkundigt sich, wie es aussieht und ob es mir besser geht. Ich beantworte ihre Nachrichten einsilbig. Manchmal schweife ich ab und schreibe mehr, verliere mich und starre die Wörter an, ehe ich alles wieder lösche. Jeder Satz, den ich ihr schreibe, scheuert und schabt. Früher stand sie mir einmal näher als jeder andere. Mittlerweile wissen wir nichts mehr voneinander.

Nachts liege ich wach. Wenn das Laken so klamm und zerknittert ist, dass ich es nicht länger aushalte, stehe ich auf und gehe die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo ich meine rastlose Wanderung durch die Zimmer wieder aufnehme. Ich trinke Wasser in der Küche, stehe vor dem Spiegel im Bad, starre mich an. Früher oder später lande ich im Wohnzimmer, vor dem Bücherregal. Ich sortiere und stelle um. Gehe von der alphabetischen Reihenfolge nach Titel zur alphabetischen Reihenfolge nach Autor, von der Ordnung der Buchrücken nach Farbe zu einer Ordnung nach Genre. Und wieder zurück.

Geschichten. Irgendwie sind sie stets meine sichere Zuflucht gewesen, die Nabe, um die sich mein Leben dreht. Als wir klein waren, hat Mutter uns jeden Abend vorgelesen. Wir haben uns links und rechts neben sie gekuschelt und andächtig zugehört. Das war das Beste am ganzen Tag. Ich habe die Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen geliebt, die verschiedene Kämpfe überstehen mussten, um das Böse zu besiegen. Meine Schwester ist sechs Jahre älter. Ich weiß noch, wie sie sich zurückzog, weil sie keine Lust mehr hatte.

»Das sind doch nur Märchen«, hat sie gesagt.

Mutter hat den Arm um mich gelegt und mir verschwörerisch zugezwinkert.

»Sie sind mehr als nur Märchen.«

Die Vorlesestunden der Kindheit wurden allmählich seltener, aber ich las selbst weiter. In den Geschichten ging es nicht mehr nur um Helden und Heldinnen, sondern um reale, unvollkommene Menschen. Sie kämpften gleichermaßen gegen innere Dämonen und Bedrohungen von außen.

»Genau wie in der Realität«, hat Mutter gesagt und mir eine Haarsträhne hinters Ohr gestrichen.

Mama. Nie bin ich ihr näher, als wenn ich am Bücherregal stehe. Dennoch ist sie mir ferner denn je.

Der Freitag kommt, und ich esse wieder bei meiner Schwester zu Abend. Eigentlich war ich an der Reihe, sie einzuladen, aber als ich irgendwas vor mich hin nuschele, dass ich es nicht geschafft habe mit den Vorbereitungen, entgegnet meine Schwester rasch, dass wir uns genauso gut bei ihr treffen können.

»Und Valter?«, gebe ich zu bedenken, doch sie erwidert, das sei schon in Ordnung.

Ich frage mich, ob das heißt, dass er diesmal zu Hause ist, dass er vielleicht mit uns zusammen isst, aber das ist nicht der Fall, wie sich herausstellt. Offenbar ist er wieder beim Bowlen.

Im Großen und Ganzen ist das Abendessen eine Wiederholung des vergangenen. Meine Schwester tut ihr Bestes, um mir eine größere Portion aufzunötigen.

»Es ist wichtig, dass du etwas isst, Elena, gerade jetzt.«

Sie erzählt von einem Interview, das sie im Radio gehört hat, von einem Autor, der sich nach Jahren aus seiner Schreibblockade befreit hat. Er hatte anscheinend viele kluge Gedanken und Ideen dazu, und sie verspricht mir, den Link des Interviews zu schicken, damit ich den Beitrag später nachhören kann. Peter erwähnt sie nicht, und als die Kinder eine Etage höher wieder Rabatz machen, beißt sie sich stumm auf die Lippe und meidet meinen Blick. Trotzdem weiß ich, dass sie herumgrübelt. Sich fragt, wohin diese Trennung führen soll und was aus mir und Peter werden soll. Inwieweit wir tatsächlich getrennte Wege gehen werden oder nicht.

Glaubst du etwa, dass ich mir nicht auch diese Frage stelle?, möchte ich ihr am liebsten an den Kopf werfen. Glaubst du etwa, dass ich mich nicht jede Sekunde eines jeden Tages frage, was zum Teufel ich hier eigentlich mache? Verstehst du nicht, dass mir jede Minute, jede Stunde ohne ihn wie ein ganzes Leben vorkommt? Dass ich alles dafür tun würde, um die Zeit zurückzudrehen und wieder in seinen Armen zu liegen? Aber es geht nicht darum, was ich will, sondern darum, dass wir an einem Punkt angelangt waren, an dem es keine Alternative mehr gab. Ich sage nichts von alledem laut und sage auch sonst nicht sonderlich viel.