Die Bergklinik 11 – Arztroman - Hans-Peter Lehnert - E-Book

Die Bergklinik 11 – Arztroman E-Book

Hans-Peter Lehnert

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Beschreibung

Die Arztromane der Reihe Die Bergklinik schlagen eine Brücke vom gängigen Arzt- zum Heimatroman und bescheren dem Leser spannende, romantische, oft anrührende Lese-Erlebnisse. Die bestens ausgestattete Bergklinik im Werdenfelser Land ist so etwas wie ein Geheimtipp: sogar aus Garmisch und den Kliniken anderer großer Städte kommen Anfragen, ob dieser oder jener Patient überstellt werden dürfe. Markus Lehner sprang aus dem Wagen, den seine Mutter gerade vor dem Obermühltaler Föhrenhof abgestellt hatte. Der Junge sah sich rasch in alle Richtungen um, aber nirgends entdeckte er Julchen, nach der er so dringend Ausschau hielt. Markus war vor einem Jahr von seinen gestreßten Eltern zu Clemens Stolzenbach in die Bergklinik gebracht worden, weil er ganz und gar apathisch war und auf nichts mehr reagierte. Vinzenz Trautner, der Chef der Bergklinik, hatte dann sehr rasch herausgefunden, daß des Jungen Interessenlosigkeit keine organischen Ursachen hatte, sondern psychischer Natur war: Seine Eltern hatten keine Zeit für ihn, und er fühlte sich zurückgestoßen. Dr. Trautner hatte den Jungen auf den Föhrenhof gebracht, wo Julchen, sie war wie Markus damals acht Jahre alt gewesen, des Jungen Lebensgeister wieder erweckt hatte. Ein paar Wochen lang waren die beiden unzertrennlich gewesen, und Markus hatte wieder ins Leben zurückgefunden. Seine Eltern hatten den Fahlingers aus einer finanziellen Notsituation herausgeholfen und sich ein Stück hinter dem Bauernhaus eine Keusche ausgebaut, in der sie ab und zu Urlaub machen wollten, aber bisher war es nie dazu gekommen.

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Inhalt

Die wichtigsten Dinge im Leben

Nicht so arrogant, Herr Kollege!

Die Bergklinik – 11–

Die Bergklinik

Hans-Peter Lehnert

Die wichtigsten Dinge im Leben

Roman von Hans-Peter Lehnert

Markus Lehner sprang aus dem Wagen, den seine Mutter gerade vor dem Obermühltaler Föhrenhof abgestellt hatte. Der Junge sah sich rasch in alle Richtungen um, aber nirgends entdeckte er Julchen, nach der er so dringend Ausschau hielt.

Markus war vor einem Jahr von seinen gestreßten Eltern zu Clemens Stolzenbach in die Bergklinik gebracht worden, weil er ganz und gar apathisch war und auf nichts mehr reagierte. Vinzenz Trautner, der Chef der Bergklinik, hatte dann sehr rasch herausgefunden, daß des Jungen Interessenlosigkeit keine organischen Ursachen hatte, sondern psychischer Natur war: Seine Eltern hatten keine Zeit für ihn, und er fühlte sich zurückgestoßen.

Dr. Trautner hatte den Jungen auf den Föhrenhof gebracht, wo Julchen, sie war wie Markus damals acht Jahre alt gewesen, des Jungen Lebensgeister wieder erweckt hatte. Ein paar Wochen lang waren die beiden unzertrennlich gewesen, und Markus hatte wieder ins Leben zurückgefunden.

Seine Eltern hatten den Fahlingers aus einer finanziellen Notsituation herausgeholfen und sich ein Stück hinter dem Bauernhaus eine Keusche ausgebaut, in der sie ab und zu Urlaub machen wollten, aber bisher war es nie dazu gekommen.

Jetzt endlich hatten sich Heidrun, die rund um den Globus

Fotoreportagen machte, und ihr Mann Dr. Josef Lehner, ein erfolgreicher Wirtschaftsmanager, dazu durchringen können, für ein paar Tage auf den Föhrenhof ins Werdenfelser Land zu reisen.

»Suchst du vielleicht mich?« Julchen kam aus einem Schuppen und lachte Markus an.

Der starrte sie einen Augenblick gebannt an, dann schlenderte er näher und tat so, als sei ihm Julchen ziemlich gleichgültig. Doch als er direkt vor ihr stand, schlang er die Arme um sie und drückte sie einen Augenblick fest an sich.

Julchen lachte und küßte Markus auf den Mund. Dann hielt sie ihm die Lippen hin, schloß die Augen und sagte: »Jetzt bist du dran.«

Markus sah rasch zu seinen Eltern, die jedoch die Gegend bewunderten, dann legte er nochmal die Arme um Julchen und küßte sie auch auf den Mund, danach stand er mit hochrotem Kopf da.

Julchen wischte sich mit dem Handrücken zweimal über die Lippen, griff dann nach Markus Hand, nahm sie und zeigte auf den Stall.

»Da kannst, wenn du magst, ein Kalb sehen«, sagte sie, »es ist heut’ nacht geboren worden. Hast schon mal ein so kleines Kalb gesehen?«

»Dann komm…!« Julchen ging voran, und gleich darauf verschwanden die beiden im Stall.

Im selben Moment kamen Alfons und Gretl Fahlinger aus dem Haus, um ihre Gäste zu begrüßen. Zunächst verlief die erste Begegnung nach fast einem Jahr des Nichtsehens ein wenig steif, doch dann brachte der Fahlinger zur Begrüßung einen Hausbrand, der ein wenig die Zungen löste.

»Grüß dich, Alfons«, sagte Josef Lehner, »wenn du wüßtest, wie sehr ich mich freue, hier zu sein. Mich frißt der Streß auf…!« Am letzten Tag des letztjährigen Urlaubs vor einem Jahr hatten sie beschlossen, sich zu duzen.

»Da bist aber du selbst dran schuld, Doktor«, antwortete der Föhrenhofer, »einfach weniger Arbeit an sich ziehen, das befreit ungemein.«

Josef Lehner lachte. »Wenn es so einfach wär’, dann würd’ ich’s garantiert getan haben. Aber leider«, er zuckte mit den Schultern, »es gibt einige Sachzwänge, gegen die man sich einfach nicht wehren kann.«

Heidrun Lehner stand gelangweilt dabei, vermied es, Greti Fahlinger anzuschauen, und man sah ihr deutlich an, daß sie am liebsten auf der Stelle zurückgefahren wäre.

Als Julchens Mutter ihr zur Begrüßung die Hand gab, mühte Heidrun sich ein Lächeln ab, begann dann aber, das Gepäck auszuladen, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ihr war der Umgang mit Greti Fahlinger einfach zu profan. Diese Leute lagen nicht auf ihrer Wellenlänge, sprachen eine Sprache, die sie kaum verstand, und das ganze Drumherum mochte sie auch nicht.

Heidrun Lehner bereute jetzt schon, zugestimmt zu haben, hier einen dreiwöchigen Urlaub zu verbringen, aber Markus hatte so lange gequengelt, daß sie schließlich nachgegeben hatte.

»Mögen S’«, die Fahlinger-Greti verzog ein wenig das Gesicht, »das heißt, magst du einen Kaffee?« Denn auch die Frauen hatten vor einem Jahr auf Du und Du angestoßen. »Ich könnt’ mir vorstellen, daß der nach einer so langen Fahrt gut tun würd’.«

Heidrun hätte gerne einen Kaffee getrunken, aber allein der Gedanke, dafür mit ins Haus gehen zu müssen, ließ sie den Kopf schütteln.

»Herzlichen Dank«, sagte sie, »aber ich möcht’ jetzt in… in das Haus da oben.« Sie vermied es, unser Haus zu sagen, obwohl ihr Mann die alte Keusche dem Fahlinger bezahlt und auf eigene Kosten umgebaut hatte. »Später«, fügte sie hinzu, »später komme ich gerne auf einen Kaffee.«

Greti Fahlinger war zwar eine einfache Bäuerin, war aber mit genügend Sensibilität ausgestattet, um die distanzierenden Worte deutlich zu verstehen.

Sie nickte freundlich und ging dann zurück ins Haus.

Heidrun hatte zwar alle Gepäckstücke aus dem Kofferraum des Wagens gehoben, nahm jetzt aber nur ihre Handtasche und ging dann hinauf zu der umgebauten Hütte, die etwa hundert Meter über dem Bauernhaus lag und einen wunderschönen Blick in die Werdenfelser Bergwelt bot.

Kurz darauf kam ihr Mann nach, er hatte die Gepäckstücke wieder in den Kofferraum geladen und war mit dem Wagen bis vor die Tür gefahren.

»Ist dir was?« fragte er, während er seine Frau ansah.

Die schüttelte den Kopf. »Nein, wieso?«

»Du machtest eben einen sehr reservierten Eindruck auf mich«, erwiderte Josef Lehner. »Die Greti hat das bestimmt bemerkt.«

»Das wäre gut«, sagte Heidrun, »ich möchte nämlich Verbrüderungen jeder Art grundsätzlich vermeiden.«

»Man muß sich mit niemand verbrüdern«, erwiderte ihr Mann, »aber man muß auch niemand verletzen. Du solltest nicht vergessen, was die Fahlingers für uns getan haben.«

»Aha…!« Heidrun lachte kurz auf. »Jetzt soll ich wohl dankbar sein, wie? Was haben sie denn schon für uns getan?«

»Hast du wirklich vergessen, in welchem Zustand Markus damals war? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Josef sah Heidrun kopfschüttelnd an.

»Wir haben dafür fürstlich bezahlt«, entgegnete die. »Wir haben sie vor dem Bankrott gerettet. Ohne uns wären sie heute schon nicht mehr auf dem Hof.«

»Es hätte sich sicher jemand gefunden, der den Alfons samt Hof entschuldet hätte«, erwiderte Josef. »Aber Markus hatte schon einige Behandlungen hinter sich. Alle hatten nichts gebracht, bis Julchen dann auftauchte.«

Heidruns Gesichtsausdruck verriet deutlich, daß sie über das Thema nicht länger reden wollte. Sie begann, die Koffer auszupacken, und sagte dann, daß sie ein Bad nehmen wolle.

Die ehemalige Hütte war mit viel Aufwand um- und ausgebaut worden. Man hatte sehr viel investiert und allen erdenklichen Luxus einbauen lassen. Wenn schon Berge, hatte Heidrun argumentiert, dann aber so, daß man es aushalten kann.

Nicht viel später kam Markus hereingerannt. Sein Gesicht war gerötet, und man sah ihm an, daß es ihm sehr gut ging.

»Darf ich mit Julchen und ihrem Vater auf die Alm dort oben?« fragte er und zeigte in eine unbestimmte Richtung, wobei er seine Mutter und seinen Vater abwechselnd ansah. »Bitte…!«

»Natürlich darfst du«, antwortete Josef Lehner. »Du mußt auch nicht ständig fragen. Wenn du bei Julchen und ihren Eltern bist, dann ist es in Ordnung.«

Als Markus davongerannt war, nahm Heidrun ihr Handy aus der Handtasche und sagte: »Ich… ich werde Clemens mal anrufen. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß er in der Nähe ist, wäre ich niemals mitgefahren.«

*

Als Professor Clemens Stolzenbach an jenem Spätnachmittag aus dem OP kam, war er total geschafft. Die Darmoperation hatte sich als sehr schwierig erwiesen, darüberhinaus hatte es Narkoseprobleme gegeben, und Stolzenbach war froh, als er endlich in seinen Wagen steigen konnte, um nach Garmisch zu fahren, wo er in einem wunderschönen Haus lebte.

Der Haushalt wurde von Frau Mostert besorgt, die morgens kam und das Haus verließ, wenn Clemens Stolzenbach das Haus betrat. Anni Mostert war absolut verschwiegen, sie verstand es, mit Clemens umzugehen, und Haus und Haushalt waren immer tiptop in Schuß.

Stolzenbach wünschte Anni Mostert einen schönen Abend, bestellte Grüße an ihren Mann, duschte, mixte sich dann einen alkoholfreien Orangendrink, nahm die Tageszeitung und setzte sich auf die Terrasse.

Diese Ruhestunde mochte er über alles. Störungen, gleich welcher Art, waren ihm dann zuwider. Als das Telefon läutete, verzog er deshalb ärgerlich das Gesicht, und seine Stimme klang mürrisch, als er sich meldete. Die Klinik war es sicher nicht, denn Magnus Kelterer, sein Freund und Oberarzt, tat Dienst, und der hatte im allgemeinen seinen Beistand nicht nötig.

»Ja, bitte…?« sagte Clemens Stolzenbach, ohne seinen Namen zu nennen.

»Du rätst nicht, wer hier ist«, antwortete eine weibliche Stimme am Telefon. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber ihm fiel in der Tat nicht ein, wer ihn da in seiner Ruhe störte.

»Wer ist da, bitte?« Clemens Stolzenbachs Stimme hatte einen noch ärgerlicheren Unterton bekommen.

»Warum bist du so brummig?« Die Stimme klang vorwurfsvoll. »Heidrun ist hier…!«

»Welche Heidrun…?«

»Jetzt ist es aber gut«, sagte Heidrun Lehner. »Wieviel Damen mit meinem Vornamen kennst du denn? Ich dachte, ich sei die einzige.«

Dann fiel Stolzenbach ein, wer zu der Stimme gehörte. Er hatte zur gleichen Zeit wie Heidrun in München studiert, und sie beide hatten mal eine ganz kurze Beziehung, man könnte es auch unbedeutendes Intermezzo nennen, miteinander verbunden.

»Herrschaftszeiten, Heidrun«, sagte er. »Das ist eine Überraschung. Natürlich kenne ich nur eine Heidrun. Aber ich habe einen derart schweren Tag hinter mir und hatte mich gerade auf die Terrasse gesetzt, um ein wenig zu relaxen. Von wo rufst du an?«

»Das rätst du nicht.«

Stolzenbach wußte, daß Heidrun Lehner viel in der Welt herumkam, ihr Beruf, in dem sie sehr erfolgreich war, brachte das mit sich, deshalb nannte er eine sehr weit entfernte Adresse.

»Ich tippe auf Südostasien«, sagte er. »Es rauscht ein wenig im Apparat und…!«

Heidrun Lehner lachte. »Falsch geraten. Ich bin ganz in deiner Nähe.«

»In meiner Nähe… wo denn?«

»Auf dem Föhrenhof. Du weißt doch, daß Josef und ich uns hier eine Hütte umgebaut haben.«

»Natürlich weiß ich das. Ist Josef auch dabei?«

»Ja, Josef und Markus. Wir brauchten wieder mal ein paar gemeinsame Tage.«

»Das ist doch wunderbar…!«

Heidrun Lehner lachte kurz auf. »Wie man’s nimmt. Ich bin jetzt eine Stunde da und langweile mich schon. Ich brauche ständig Leben um mich.«

»Du hast dich nicht geändert«, sagte Stolzenbach.

»Du dich hoffentlich auch nicht«, sagte Heidrun. »Ich… ich würde dich gerne besuchen. Das heißt, wenn es dir recht ist.«

»Natürlich ist es mir recht«, sagte Stolzenbach, »ich freue mich riesig auf euren Besuch. Wann kommt ihr? Ich habe die ganze Woche ab Spätnachmittag frei, außerdem das gesamte Wochenende. Da… da bekomme ich allerdings Besuch.«

»Ich werde dich kurzfristig anrufen«, antwortete Heidrun, »das heißt, wenn es dir recht ist.«

»Aber ja. Besser wäre allerdings, wenn ich es einen Tag vorher wüßte, dann könnte Frau Mostert was vorbereiten.«

»Frau Mostert…?«

»… ist meine Hauswirtschafterin«, antwortete Stolzenbach. »Sie ist eine wirkliche Perle. Sie kann…!«

»Du bist immer noch nicht verheiratet?« fragte Heidrun Lehner dazwischen.

»Nein, noch bin ich nicht verheiratet.«

»Aber immer noch mit Monika zusammen?« wollte Heidrun wissen. »Sie war doch Medizinstudentin und…!«

»Inzwischen ist sie fertige Ärztin.«

»Und arbeitet sicher an deiner Seite…«

»Weit gefehlt«, sagte Stolzenbach. »Außerdem ist… also Monika und ich, wir sind nicht mehr zusammen.«

Einen langen Augenblick war es still am anderen Ende der Leitung, dann sagte Heidrun: »Das tut mir leid.« Doch es hörte sich ganz anders an.

»Na ja, man kann sich nicht immer alles aussuchen«, sagte Clemens Stolzenbach.

Da lachte Heidrun Lehner. »Diese Worte aus deinem Mund…! Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Du kannst doch jede Frau haben. Ich habe nie wieder einen Mann kennengelernt, der eine derartige Anziehungskraft hatte.«

»Oje.« Clemens Stolzenbachs Stimme klang amüsiert. »Du bist sicher die einzige Frau, die so denkt.«

»Du Dummer…!« Plötzlich klang Heidrun Lehners Stimme weicher als vorher. »Du weißt doch, daß Erfolg Männer attraktiv macht. Und ich kenne keinen erfolgreicheren Mann als dich. Außerdem hast du einen gerade unverschämt umwerfenden Charme…!«

»Jetzt laß es gut sein«, erwiderte Stolzenbach, »Sonst glaube ich es selbst noch.« Dann wechselte er rasch das Thema. »Also, wann darf ich euch erwarten?«

»Ich komme möglicherweise erst mal alleine«, sagte Heidrun Lehner. »Josef ist ziemlich fertig und muß sich dringend erholen. Wir wollen sage und schreibe drei Wochen bleiben. Da gibt es noch mehr Gelegenheiten, daß auch Josef mitkommt. Jetzt möchte ich alleine kommen… um ein paar nette Erinnerungen aufzufrischen. Ich rufe dich kurzfristig an, diese Frau Mostert braucht nichts vorzubereiten. Du weißt ja, ich bin total pflegeleicht…!«

Gleich darauf beendete Heidrun Lehner das Gespräch, und als Clemens Stolzenbach den Hörer zurück auf die Gabel legte, atmete er tief durch und zog die Augenbrauen in die Höhe.

*

Josef Lehner saß wenige Meter neben seinem umgebauten Haus im Schatten einer Gruppe riesiger Föhren, die nicht nur dem Föhrenhof den Namen gegeben hatten, sondern auch Schatten spendeten. Lehner fühlte sich total abgeschlafft, obwohl er die ganze Nacht traumlos durchgeschlafen hatte. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm, das spürte er deutlich.

Er hatte diese Abgeschlafftheit schon mehrere Monate in den Knochen und ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Denn er hatte sich schon ein paarmal vorgenommen, zu einem befreundeten Arzt zu gehen, aber den Termin immer wieder hinausgeschoben.

Plötzlich fiel ihm Clemens Stolzenbach ein. Der arbeitete doch an dieser Bergklinik, wo man damals Alfons Fahlinger behandelt hatte, als der mit einem sehr schweren Herzanfall umgefallen war. Er würde Clemens in den nächsten Tagen anrufen, um einen Termin zu bekommen. Clemens war zwar Chirurg, würde aber dafür sorgen können, daß ihn ein guter Arzt der Inneren untersuchte.

Josef Lehner atmete regelrecht auf, weil er diese Idee gehabt hatte. Plötzlich konnte er auch wieder freier und tief durchatmen und er fühlte sich schon viel wohler.

»Grüß Gott, Josef!« Alfons Fahlinger war vom Hof heraufgekommen, ohne daß er ihn bemerkt hätte. »Ich wollt’ dich fragen, ob du Lust hast, mit hinauf auf die Alm zu kommen. Es ist ein ganz kommoder Weg hinauf, und wir könnten ein bissel miteinander reden. Die Heidrun ist ja nach Garmisch gefahren, und wenn ich recht verstanden hab’, will sie so rasch auch nicht zurückkommen.«

Josef Lehner nickte, die Idee gefiel ihm. »Was passiert derweil mit Markus?« wollte er wissen.

»Der kommt natürlich mit«, sagte der Föhrenhofer. »Genauso wie das Julchen.«

»Tja dann…!« Josef Lehner nickte. »Von mir aus kann’s losgehen.«

»Eine halbe Stund’ dauert’s schon noch«, sagte Alfons Fahlinger, »ich muß die beiden Rösser erst noch einspannen. Wir nehmen nämlich ein Wasserfaß mit.«

Josef Lehner ging ganz langsam hinter den beiden Rössern her, die einen flachen Wagen zogen, auf dem das Wasserfaß lag, auf dem wiederum Julchen und Markus saßen. Er hatte den Jungen selten so fröhlich wie hier gesehen, fragte sich zum wiederholten Mal, ob seine eigene Art zu leben wirklich vernünftig war.

Es war ein ständiges Hetzen und Hinterherjagen, wobei ihm inzwischen gar nicht immer bewußt war, wem und was er nachrannte. Er konnte sich zwar alles leisten, hatte sich mit Dingen umgeben, die er nicht wirklich brauchte, die jedoch als Statussymbol in seinen Kreisen unerläßlich waren.

Plötzlich wußte Josef Lehner, daß der Föhrenhofer, der ständig mit seinen Kindern zusammenlebte, viel näher am Leben war und viel ursprünglicher lebte. In dem Moment beschloß er, nach dem Urlaub Entscheidungen zu treffen, die seine persönliche Situation ändern würden. Was half es, wenn er drei Autos in der Garage stehen hatte, Heidruns BMW nicht mitgerechnet, wenn er doch immer nur mit einem Wagen fahren konnte?

Auch mit Heidrun würde er reden. Ihre Beziehung war damals, als er mit ihr und Markus hier gewesen war, wieder ein wenig aufgeflackert, aber nach wenigen Wochen hatte Heidrun sich wieder verabschiedet und war erneut auf Suche nach schockierenden oder aufregenden Fotos in alle Welt geflogen.

Markus hatte deshalb nach wie vor kein Zuhause, weil er selbst ständig Termine hatte und abends erst nach Hause kam, wenn Markus längst im Bett war und schlief. Wenn Magdalena Grothe nicht gewesen wäre, der Junge wüßte nicht, wo er bleiben sollte.

Plötzlich spürte Josef Lehner ein heftiges Stechen hinter dem Brustbein, und er mußte stehenbleiben, weil er auch keine Luft mehr bekam. Er wartete einen Augenblick, versuchte dann tief durchzuatmen, und als ihm das kurz darauf gelang, konnte er wieder beschwerdefrei weitergehen.

»Du, Vati«, rief Markus, »schau da…!« Der Junge zeigte den Berg hinauf, wo einige Rinder standen. »Warum kommst du denn nicht mit?«

»Ich komm’ schon«, rief Josef Lehner. »Ich geh’ nur ein bissel langsamer.«

Da hielt der Föhrenhofer die Pferde an und wartete, bis Lehner wieder bei ihnen war.

»Ist dir nicht gut?« fragte der Hochtalbauer dann. »Irgendwie schaust nämlich nicht gut aus.«

»Es geht schon«, antwortete der Wirtschaftsmanager aus der Stadt. »Ich tu mich nur ein bissel schwer mit dem Berggehen. Ich muß mich erst dran gewöhnen.«

»Willst vielleicht auch aufsitzen?« Der Föhrenhofer zeigte auf das Wasserfaß.

Einen Augenblick überlegte Josef Lehner, ja zu sagen, doch dann schüttelte er den Kopf, diese Blöße wollte er sich nicht geben.

Kurz darauf hatten sie den Punkt der Alm erreicht, wo Alfons das Wasserfaß deponieren wollte. Die Rinder, die sie vorher gesehen hatten, kamen bereits neugierig näher.

»Ich werd’ das Faß jetzt da an den Trog anschließen«, sagte Alfons Fahlinger, »dann können wir ein bissel da hinten im Schatten sitzen.« Er sah, daß Lehner nicht gut beieinander war, und erinnerte sich an seinen Herzanfall vor reichlich einem Jahr.

Als die beiden Kinder herumzutollen begannen, sagte Josef Lehner: »Ich hab’ sehr viel falsch gemacht in meinem Leben, sehr viel. Ich hab’ immer nur auf den Erfolg geschaut, wollte ständig der Beste sein. Und eines ist gewiß, so was schlaucht gewaltig. Ich hab’ das Gefühl, als wenn ich jetzt die Zeche zahlen müßt’. Dabei bin ich nicht einmal fünfzig.«

»Dir geht’s net besonders gut, oder?« Alfons Fahlinger sah den erfolgreichen Manager betrübt an. »Hast du ein Brennen hinter der Brustwand? Daß es dich grad’ zerreißen könnt’?«

Josef Lehner wiegte den Kopf. »Ganz so dramatisch ist es noch nicht. Aber es stimmt was nicht, das steht fest. Ich werd’ den Professor in der Bergklinik anrufen, der soll mir einen Termin in der Inneren machen. Ich muß mich ganz dringend anschauen lassen, hätt’ es längst tun müssen. Aber selbst dafür bleibt keine Zeit.«

»Es wird schon wieder werden, Doktor«, sagte Alfons Fahlinger. »Schau dir nur den Markus an, dann weißt von ganz allein, für was und wen du noch dazusein hast. Ich erinnere mich, als es mich im vergangenen Jahr hergenommen hat, ich hab’ immer an die Greti und meine Kinder denken müssen. Der Toni ist mal grad’ siebzehn und das Julchen neune. Das geht noch net ohne mich.«

»Ich werd’ demnächst öfter herkommen«, sagte Josef Lehner. »Das heißt, wenn es dich nicht stört und ich dir nicht auf den Wecker gehe.«

»Aber nein«, erwiderte der Föhrenhofer, »wie kannst du denn sowas sagen? Ich bin doch froh, wenn du da bist. Ich… ich bin ja nur ein ganz einfacher Mann und… also ich bin stolz, daß ein Mensch wie du, ich mein’, einer, der über hunderte von Leuten…!«

»… hunderte?« Josef Lehner lachte. »Annähernd zwölftausend sind es konzernweit…!«

»Herrschaftszeiten…!« Alfons Fahlinger sah seinen Besucher bewundernd und bedauernd zugleich an. »Das bedeutet was. Die Verantwortung muß einen doch schier erdrücken. Schließlich hat fast jeder der zwölftausend eine Familie…!«

»Es ist berauschend, derart viel Macht zu haben«, gestand Josef Lehner. »Jedenfalls war es das früher für mich. Heut’ könnt’ ich meistens drauf verzichten.«

Die beiden saßen noch eine Weile zusammen, die beiden Rösser, wunderschöne Haflingerstuten, schnaubten und plätzten mit den Hufen. Julchen und Markus saßen auf der Alm und bewunderten ein paar wunderschöne Blumen, alles in allem ein sehr friedliches Bild.

Irgendwann stand der Föhrenhofer auf. »Ich denk’, wir gehen wieder. Hinunter wird’s sicher leichter für dich…!«

Da rang Josef Lehner sich ein Lächeln ab. »Also so arg neben der Spur bin ich körperlich auch nicht. Ich bin gut herauf und werd’ auch gut wieder hinunter kommen.«

*

Heidrun Lehner achtete an jenem Nachmittag besonders auf ihr Aussehen. Sie saß bestimmt eine halbe Stunde im Whirlpool, den sie in das Haus beim Föhrenhof unbedingt eingebaut haben wollte. Die Fahlinger-Greti bekam, als sie das aufwendig gestaltete Bad in ihrem ehemaligen Hinterhäusl zum ersten Mal sah, vor Staunen den Mund nicht mehr zu.

Heidrun relaxte in dem aufschäumenden und sie belebenden Wasser, hatte dabei die Augen geschlossen und dachte an Clemens Stolzenbach, den sie am Spätnachmittag besuchen wollte. Sie hatte noch nicht bei ihm angerufen, wollte ihn überraschen.

Sie erinnerte sich an die kurze Liaison mit ihm während ihrer gemeinsamen Studienzeit in München. Schon damals war Clemens ein attraktiver Typ gewesen, dem die Mädels nur so hinterhergelaufen waren.

Sie hatte sich jedoch sehr rasch zurückgezogen, als sie gemerkt hatte, daß sie keine Chance hatte, Clemens’ Kronprinzessin zu sein, zu verschwenderisch war Clemens Stolzenbach damals mit seiner Gunst den verschiedenen Mädels gegenüber umgegangen.

Josef Lehner war dann der Mann gewesen, der sie durch seine mentale Stärke beeindruckt hatte. Sie hatte damals schon erkannt, daß Josef einmal Macht haben würde, und Macht hatte immer eine sehr stimulierende Wirkung auf sie gehabt.

Daß es in ihrer und Josef Ehe nicht stimmte, lag schlicht und ergreifend daran, daß sie ihren Mann nicht so liebte, wie es nötig gewesen wäre, um an seiner Seite Glück zu finden. Sie bewunderte seine Kompetenz und sein Durchsetzungsvermögen zwar immer noch, aber darauf läßt sich nun mal kein gemeinsames Leben aufbauen.

Dann stieg sie aus der Wanne, trocknete sich sorgfältig ab, betrachtete ihren immer noch makellosen Körper ausgiebig im Spiegel, entdeckte hier und da ein paar winzige Fettpölsterchen und nahm sich vor, wenn sie erst wieder zu Hause war, etwas für ihre Figur zu tun.

Danach cremte sie sich mit verschiedenen Cremes ein, ganz zum Schluß widmete sie sich ausgiebig ihrem Gesicht, das, als sie fertig war, so aussah wie vor fünfzehn Jahren. Heidrun schmunzelte, Clemens würde sich wundern.

Heidrun verabschiedete sich dann von ihrem Mann mit einem flüchtigen Kuß, sagte, daß sie nach Garmisch fahre und Josef nicht auf sie zu warten brauche, es sei ungewiß, wann sie zurückkomme. Dem Föhrenhofer, der zufällig in der Nähe war, nickte sie im Vorübergehen huldvoll zu.

Garmisch war eine Stadt, die Heidrun Lehner gefiel. Vor allem, weil sie den unbedingt nötigen Flair spürte, der eine Stadt für sie interessant machte. Sie schlenderte durch die Geschäftspassage, kaufte zwei sündhaft teure Blumen, dann ein paar Sandalen, die mehr Geld kosteten, als dem Föhringer oft im Monat für seine Familie zur Verfügung stand, dann schaute sie auf die Uhr und entschied, daß es nun Zeit sei, Clemens Stolzenbach zu besuchen.

Sie nahm ihr Handy, wählte seine Privatnummer und als eine einheimisch klingende Frauenstimme sich meldete, sagte Heidrun, sie möchte Clemens Stolzenbach sprechen.

»Wen darf ich dem Herrn Professor melden?« fragte die Frauenstimme.

»Heidrun Lehner«, antwortete diese, »ich bin eine Bekannte des Professors.«

Kurz darauf war Clemens am Apparat und begrüßte sie freundlich.

»Wann besucht ihr mich?« fragte er anschließend.

»Wenn du mir sagst, wo ich dich finde, könnte ich in wenigen Minuten bei dir sein«, sagte Heidrun, »ich habe ein wenig eingekauft und stehe in Partenkirchen in der Ludwigstraße.«

»Josef ist nicht bei dir?« fragte Stolzenbach.

»Nein, der ist auf dem Hof geblieben«, antwortete Heidrun. »Heißt das, daß du mich nur in Josefs Begleitung empfängst?«

»Aber nein.« Clemens Stolzenbach lachte. »Natürlich bist du mir willkommen, ich freue mich riesig, dich zu sehen.« Dann beschrieb er ihr den Weg. »Das Tor steht auf, wenn du kommst. Du mußt dann nur zum Haus durchfahren.«

Heidrun und Josef Lehner wohnten selbst sehr exklusiv, aber als sie das Tor von Clemens Stolzenbachs Grundstück passiert hatte und das Haus, es war eine Villa, erst nach dreihundert Metern zu sehen bekam, wußte sie, daß Clemens auch jetzt wieder mal den richtigen Riecher bewiesen hatte.

»Sag mal, woher hast du dieses Anwesen bekommen?« fragte sie, nachdem sie ihn zur Begrüßung geküßt hatte. »Kein Mensch kann sich heute noch erlauben, derart viel Platz zu verschwenden. Das Grundstück ist ja riesig, und es liegt mitten in der Stadt.«

Clemens Stolzenbach lachte. »Nein nein, es liegt schon am Rand der Stadt.«

»Trotzdem…!«

»Ich beschwere mich ja nicht. Ganz im Gegenteil, ich bin sehr froh, daß ich es bekommen konnte. Es war ein glücklicher Zufall.«

»Wie so vieles in deinem Leben«, sagte Heidrun, dann versuchte sie Clemens verführerisch anzulächeln.

Der kannte sie gut genug, um zu spüren, daß sie etwas im Schild führte. Er fragte, ob er ihr einen Drink mixen dürfe, und als er die Drinks fertig hatte, gingen beide auf die Terrasse.

»Wie geht es dir?« fragte Stolzenbach dann. »Ich sehe ab und zu deine Fotos in den entsprechenden Zeitungen. Bist du zufrieden mit deinem Leben?«

»Mit meinem beruflichen Leben ja«, antwortete Heidrun.

»Da du unterscheidest, bist du offensichtlich mit deinem privaten Leben weniger zufrieden?« Stolzenbach sah seine Besucherin fragend an.

Die atmete tief durch, dann nickte sie. »Auf einen ganz kurzen Nenner gebracht, kann man es so ausdrücken.«

»Was läuft schief…?« fragte Stolzenbach. »Entschuldige, wenn ich so neugierig bin, denn dein Privatleben geht mich ja nun wirklich nichts an, aber möglicherweise hilft es dir, wenn du einmal darüber redest.«

»Das ist lieb gemeint«, sagte Heidrun, »aber ich glaube, daß die Kluft zwischen Josef und mir nicht mehr zu schließen ist.«

»Oh… das täte mir leid«, erwiderte Stolzenbach.

Heidrun widmete sich einige Augenblicke ihrem Drink, dann sah sie den Chirurgieprofessor der Bergklinik aufmerksam an.

»Ich wollte eigentlich nicht davon anfangen«, sagte sie schließlich, »aber der einzige Mann, bei dem ich mich wirklich wohl gefühlt habe, warst du.«

Stolzenbach verschluckte sich, damit hatte er nicht gerechnet. Er räusperte sich und sagte: »Das verstehe ich nicht, du bist doch damals gegangen…!«

Heidrun lachte. »Oje, damals war ich ein dummes Kind. Ich hab’ mitbekommen, was sich an Frauen um dich herum bewegte, und daß du dich nie entscheiden konntest, dich jedenfalls nicht eindeutig für mich entschieden hast. Ein dummes Mädchen geht dann…!«

Stolzenbach sah seine Besucherin aufmerksam an. Irgendwas führte Heidrun Lehner im Schild, das stand fest, wenn er auch noch keine Ahnung davon hatte, auf was er sich einrichten mußte.

Als Stolzenbach nichts sagte, fuhr Heidrun fort: »Ich habe mich oft gefragt, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn wir beide zusammengeblieben wären.«

»Zusammengeblieben?« fragte Stolzenbach. »Waren wir denn je zusammen? Ich habe in Erinnerung, daß wir lediglich ein paarmal miteinander geschlafen haben, das war’s auch schon.«

Daraufhin lachte Heidrun. »In der Beziehung bist du wie alle Männer. Was eine Frau zutiefst berührt, seht ihr als… als Sport. Weißt du eigentlich, welche Gefühle unsere intimen Begegnungen damals bei mir hinterlassen haben? Ich war total in dich verliebt, ich hatte schlaflose Nächte und…!«