Die Bergklinik 17 – Arztroman - Hans-Peter Lehnert - E-Book

Die Bergklinik 17 – Arztroman E-Book

Hans-Peter Lehnert

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Beschreibung

Die Arztromane der Reihe Die Bergklinik schlagen eine Brücke vom gängigen Arzt- zum Heimatroman und bescheren dem Leser spannende, romantische, oft anrührende Lese-Erlebnisse. Die bestens ausgestattete Bergklinik im Werdenfelser Land ist so etwas wie ein Geheimtipp: sogar aus Garmisch und den Kliniken anderer großer Städte kommen Anfragen, ob dieser oder jener Patient überstellt werden dürfe.

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Inhalt

Intrigen gegen Laura

Hast Du deinen Sohn vergessen?

Die Bergklinik – 17–

Die Bergklinik

Hans-Peter Lehnert

Intrigen gegen Laura

Roman von Hans-Peter Lehnert

Als Laura Lorenzen an jenem Freitag nachmittag aus dem Wagen stieg, kam Clemens Stolzenbach aus dem Haus, um sie zu begrüßen. Laura war ein außerordentlich hübsches Mädchen, und sie und der Chefchirurg der Bergklinik waren jetzt seit einem knappen Jahr ein Paar.

Stolzenbach nahm sie in die Arme, drückte sie kurz an sich und küßte sie dann zweimal sehr zärtlich auf die Lippen.

»Hallo, Kleines«, sagte er mit gefühlvoller Stimme, »Ich freu’ mich, daß du da bist.«

Laura sah den Chirurgieprofessor einen Augenblick irritiert an, denn als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren sie zwar nicht gerade in Unfrieden geschieden, aber als Clemens ihr erzählt hatte, daß er sich mit seiner früheren Beziehung Monika ausgesprochen habe, hatte Laura allen Grund, an seiner Treue zu zweifeln. Denn Clemens hatte ihr berichtet, daß die Aussprache mit Monika darin gipfelte, daß diese ihn gebeten habe, sie in dieser Nacht nicht alleine zu lassen, und als Krönung hatte sie mit Clemens schlafen wollen.

»Nur das eine Mal noch«, hatte Monika laut Clemens zu ihm gesagt.

Monika hatte ihm vorher gestanden, ihn zum Ende ihres Medizinstudiums mit einem anderen Mann betrogen zu haben. Danach war ihre Beziehung zu Clemens in die Brüche gegangen, ohne daß er den eigentlichen Grund kannte. Monika, so hatte es sich herausgestellt, hatte danach mit großen Schuldkomplexen zu kämpfen, woraufhin sie im Umgang mit Clemens sehr rüde gewesen war. Möglicherweise hatte Monika mit Clemens schlafen wollen, um sicher zu sein, daß er ihr verziehen hatte.

Als Laura von Clemens hatte wissen wollen, was in jener Nacht zwischen ihm und Monika passiert war, war Stolzenbach ausgewichen und hatte keine Antwort gegeben, jedenfalls keine, die so eindeutig gewesen wäre, wie Laura es sich gewünscht hätte. Sie hatte einfach wissen wollen, woran sie war. Auch in der Hoffnung, daß an diesem Wochenende alles geklärt werden würde, war Laura aus Erlangen angereist. Außerdem hatte sie große Sehnsucht nach Clemens.

»Wie geht’s dir?« fragte der, als sie sein Haus betreten hatten. »Du schaust aus, als hättest du zwei anstrengende Wochen hinter dir.«

Laura fühlte sich in der Tat wie in einer Zwangsjacke, vermied es jedoch, Clemens anzusehen, und dachte ständig an ihre Vorgängerin Monika. Sie hatte sich fest vorgenommen, mit Clemens über die Sache zu reden, schließlich wollte sie wissen, worauf sie sich einzurichten hatte.

Daß in Erlangen, wo sie studierte, der Assistent ihres Anatomieprofessors ihr inzwischen mehr als eindeutige Avancen machte, und daß sie nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte, stand auf einem anderen Blatt, über das sie mit Clemens sehr gerne geredet hätte.

Jetzt fühlte sie sich in einer Zwickmühle, denn vordergründig wollte sie wissen, was in jener Nacht in München zwischen Monika und Clemens passiert war.

»Du schaust mich die ganze Zeit schon an, als wolltest du mich etwas fragen«, sagte Clemens im selben Moment. »Hast du was auf dem Herzen?« Dann lächelte er Laura betont lieb an und küßte sie auf die Stirn.

Laura wollte zurücklächeln, aber es gelang ihr nicht, schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Magst du einen Orangendrink?« Clemens Stolzenbach hatte bereits begonnen, Orangen auszupressen. »Mit Gin Tonic oder Mineralwasser?«

»Clemens…?«

»Ja?«

»Wir müssen miteinander reden.« Laura spürte ihr Herz bis zum Hals herauf schlagen.

»Du hast also doch was auf dem Herzen«, antwortete der Chefchirurg der Bergklinik.

»Ich hab’ die ganze Zeit in Erlangen immer wieder an unsere letzte Unterredung gedacht«, erwiderte Laura. »Meinst du nicht, wir müßten darüber reden?«

»Um was ging’s denn bei unserer letzten Unterredung?« fragte Stolzenbach, während er die Drinks mit Eis servierte.

Laura starrte ihn entgeistert an. Das gab’s doch gar nicht! Clemens tat so, als wisse er nicht, was sie berührte? Sie verstand die Welt nicht mehr.

»Du weißt nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben?« Lauras Stimme klang dabei derart vorwurfsvoll, daß Clemens sie erstaunt ansah.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß momentan nicht, was du meinst.«

»Deine Aussprache mit Monika«, erwiderte Laura daraufhin. »Du hast mir erzählt, was sie dir alles gestanden hat, und daß sie dich gebeten hat, die Nacht bei ihr zu bleiben.«

Clemens Stolzenbach sah Laura offen an und sagte: »Ja und? Was ist daran dramatisch?«

»Hast du ihren Wunsch erfüllt und mit ihr geschlafen?« Laura spürte, wie ihr Gesicht langsam rot wurde. »Du hast mir erzählt, daß sie dich darum gebeten hat. Du solltest mit ihr schlafen. Das eine Mal noch…!«

»Das habe ich dir erzählt?« Stolzenbach schüttelte den Kopf. »Daran erinnere ich mich gar nicht. Es erstaunt mich, daß ich dir davon erzählt habe.«

Laura spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Clemens, bitte…!«

Er sah sie kurz an und beschäftigte sich dann wieder mit seinem Orangendrink.

»Was erwartest du von mir?« fragte er. »Soll ich dir jede Einzelheit meiner Unterhaltung mit Monika schildern? Was möchtest du besonders gewürdigt wissen?«

»Was ist nur mit dir los?« Laura hatte Tränen in den Augen. Clemens, der sonst immer so ausgeglichen war, und immer sehr respektvoll mit ihr umgegangen war, hatte sie noch nie derart herablassend behandelt. War in der Zwischenzeit etwas passiert, wovon sie keine Ahnung hatte?

»Wie kannst du mich nur fragen«, erwiderte er, »ob ich mit Monika geschlafen habe? Ich dachte, das Thema hätten wir beim letzten Mal abgehandelt. Ich hab’ dir von meiner Unterredung mit Monika erzählt, habe aber nicht damit gerechnet, daß du daraus ein Tribunal machen würdest.«

»Aber Clemens.« Laura begann zu weinen. »Du hast mir doch selbst gesagt, daß Monika dich gebeten hat…!«

»Ja und?« Stolzenbach war zornig, das sah man ihm deutlich an. »Springst du ins Wasser, wenn es dir einer sagt? Wenn deine Fragen dein Verhalten beschreiben, dann muß ich mir ernsthaft Sorgen um das machen, was man Treue nennt. Wenn du es für möglich hältst, daß ich mal so eben mit einer Frau schlafe, nur weil sie mich darum gebeten hat, was soll ich dann von dir denken? Du wirst von deinen Kommilitonen doch bestimmt jeden Tag angemacht. Oder einer der Assistenten? Wenn da einer sagt, Frau Lorenzen, wie wäre es, was tust du dann?«

Laura verstand nicht, wie die Unterhaltung eine derartige Wendung hatte nehmen können.

»Wenn ich dich jedesmal, wenn du zu mir kommst, fragen würde, hast du mit dem oder mit dem irgendwas angefangen?« Clemens Stolzenbach ging in der Bibliothek auf und ab, blieb schließlich am Fenster stehen und sah hinaus. Dann drehte er sich um und sah Laura geradewegs an. »Würde dich das freuen? Zu Recht würdest du zumindest an meinem Vertrauen zweifeln dürfen.«

»Aber Clemens…!«

»Ich möchte nicht mehr darüber reden.«

In der Tat hatte Clemens Stolzenbach in diesem Ton und dieser Ausschließlichkeit noch nie mit Laura geredet. Sie war gewohnt, daß er verständnisvoll und zärtlich war, heute war von beidem nicht viel zu spüren gewesen, jedenfalls nicht, seitdem Laura gesagt hatte, daß sie miteinander reden müßten.

Laura hatte schon ein ganz schlechtes Gewissen deswegen und wollte gerade auf Clemens zugehen, um sich an ihn anzulehnen, als er auf die Uhr sah und sein halbvolles Glas auf den Tisch stellte.

»Ich fahre noch mal in die Bergklinik«, sagte er im Hinausgehen, »du mußt beim Zubettgehen nicht auf mich warten…!«

*

Professor Clemens Stolzenbach hatte in der zurückliegenden Woche mehrere sehr schwere Fälle auf den OP-Tisch bekommen, aber am meisten Sorgen machte ihm der alte Lois. Der lebte als Kräuter-Sammler auf der Predigtstuhl-Alm und war vor wenigen Wochen in der Bergklinik von ihm selbst und einem auch aus anderen Kliniken zur Unterstützung herbeigeholten Team an der Aortenklappe operiert worden.

Nachdem die Genesung des Alten anfangs allerbestens fortgeschritten war, gab es in den letzten Tagen Probleme. Lois’ Differentialblutbild zeigte plötzlich ein paar nicht erklärbare Abweichungen, und darüber machte Clemens Stolzenbach sich mehr Gedanken, als um alles andere zusammen.

Der Chefchirurg der Bergklinik mochte den alten, ein wenig kauzig wirkenden Kräutersammler nämlich sehr. Daß der gleichzeitig der Großvater seiner ehemaligen Freundin Monika war, spielte dabei keine Rolle.

Stolzenbach fuhr an jenem Abend tatsächlich zurück in die Bergklinik, um die neuesten Laborwerte des Alten selbst in Augenschein zu nehmen, und wieder gefielen ihm einige Werte nicht, es waren außerdem Hinweise auf eine Infektion zu erkennen, was Clemens Stolzenbach in Alarmstimmung versetzte.

Er telefonierte, um mit Vinzenz Trautner, dem Chef der Bergklinik, zu reden, denn der und der Lois waren Freunde seit ihrer Jugend, und Trautner besuchte den alten Lois jede Woche mindestens einmal auf seiner Alm.

Dr. Trautner war bereits in seinem Privatbungalow hinten im Park.

»Herr Kollege«, sagte er, als man das Gespräch zu ihm durchgestellt hatte, »womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich würde gern mit Ihnen über den Lois reden«, antwortete Stolzenbach.

»Wieso«, erwiderte Dr. Trautner. »Was ist mit ihm?«

»Genau darüber würd’ ich gern mit Ihnen reden«, sagte Stolzenbach, worauf Vinzenz Trautner ihn zu sich einlud.

»Kommen Sie herüber zu mir«, sagte er, »wir können ein Flascherl Wein trinken und uns ein bissel unterhalten. Dabei können Sie mir dann auch sagen, was mit dem Lois ist.«

Der Chef der Bergklinik sah seinem Chefchirurgen gleich an, daß er Sorgen hatte, deshalb wollte er wissen: »Was ist los, Professor? Warum haben Sie nach dem Lois gefragt?«

»Sein Differentialblutbild gefällt mir nicht«, antwortete Stolzenbach. »Ein paar kleine Abweichungen bei den Thrombozyten könnte man durchaus akzeptieren, aber plötzlich sind die Leukos auf über zehntausend gestiegen, und auch sonst gibt es Hinweise auf eine Infektion.«

Dr. Trautner hatte bereits zwei Flachen Wein geholt und eine geöffnet. Er goß gerade Wein in die Gläser, stoppte jetzt jedoch.

»Sie machen sich ernsthafte Sorgen«, sagte er. »Ich sehe es Ihnen deutlich an, und wenn Sie an einem Freitag abend, an dem Sie frei haben, auch noch herkommen, dann sehen Sie eine Gefahr, ist es so?«

»Logisch«, brummte Clemens Stolzenbach, der gar nicht mochte, wenn jemand eine weiche Seite an ihm entdeckte und ihn dann auch noch darauf ansprach.

»Sie mögen den Lois sehr«, fuhr Vinzenz Trautner fort, »das weiß ich, hat es womöglich damit zu tun? Ich meine, ist Ihre Sorge in zu viel Fürsorge begründet?«

»Fakten haben nichts mit Fürsorge zu tun«, entgegnete Clemens Stolzenbach kurz angebunden.

»Was wollten Sie in dem Zusammenhang denn mit mir besprechen?« wollte Dr. Trautner daraufhin wissen.

»Wann waren Sie das letzte Mal beim Lois?«

»Vorgestern.«

»Und welchen Eindruck machte er auf Sie?«

»Er war putzmunter.«

»Hat er über Müdigkeit oder auch Abgespanntheit geklagt?« fragte Clemens Stolzenbach. »Oder ist Ihnen sonst was aufgefallen?«

Vinzenz Trautner schüttelte den Kopf. »Nein, gar nichts. Ganz im Gegenteil. Der Lois hat herumgealbert, und sein Grundtenor ist, daß es ihm viel besser als vor der Operation geht.«

Clemens Stolzenbach saß da, sein Gesicht spiegelte seine Nachdenklichkeit wider.

»Jetzt machen S’ sich mal nicht so viele Sorgen, Professor«, sagte Dr. Trautner, »kommen S’, trinken S’ ein Schluckerl. Es ist ein Wein vom Kaiserstuhl, den mir mal ein Patient geschickt hat. Ich hoff’, er schmeckt Ihnen genauso wie mir. Einmal im Monat oder noch seltener gönn’ ich mir ein Flascherl.«

Stolzenbach war zu sehr in Gedanken gewesen, um richtig zugehört zu haben. Er nickte lediglich, trank dann tatsächlich einen Schluck, aber wie der Wein ihm geschmeckt hatte, hätte er nicht zu sagen gewußt. Ebenso wenig bekam er mit, daß der Chef der Bergklinik ihn fragend ansah, denn der wollte natürlich wissen, was sein Chefchirurg zu dem Wein sagte.

Aber Clemens Stolzenbach sagte gar nichts, sondern wurde immer nachdenklicher. Vinzenz Trautner meinte, der Professor machte sich zu viele Gedanken um den Lois. Das stimmte aber nur zum Teil, denn inzwischen dachte Stolzenbach an Laura, und es tat ihm leid, in welch rüder Art er mit ihr umgegangen war.

Er trank, während er sich mit Vinzenz Trautner unterhielt, unter anderem über die bald zu eröffnende Kinderkrebsstation, noch zwei Gläser Wein, und als er schließlich aufstand, um zurück nach Garmisch zu fahren, fand er wieder aus seinen Gedanken in die Realität zurück, und ihm war sofort klar, daß er nicht mehr würde fahren dürfen.

»Bleiben S’ da, Professor«, sagte Vinzenz Trautner. »Sie können gern in meinem Gästezimmer…!«

Doch Clemens Stolzenbach schüttelte den Kopf und bedankte sich für das Angebot.

»Dank’ schön, Chef«, sagte er, »aber ich bleib’ nebenan in meinem Appartement.«

Wie einige andere Kollegen auch, hatte Clemens Stolzenbach ein Appartement in der Bergklinik, das er vor allem dann benutzte, wenn er Wochenend- und Nachtdienst hatte und nichts oder wenig zu tun war.

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Dr. Trautner, dann verabschiedete er seinen Chefchirurgen.

Der ging durch den Park in die Klinik, dort in sein Appartement, wollte Laura noch anrufen und sich für sein wenig nettes Benehmen entschuldigen, doch dann entschied er sich anders und nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen, wenn er nach Hause kam, Laura um Verzeihung zu bitten.

*

Ute Willner war eine attraktive Frau von achtundzwanzig Jahren, hatte mal Medizin studiert, das Studium aber aufgegeben, als ein Großonkel ihr einen wunderschönen alten Buchladen und ein im Münchener Süden gelegenes Haus vererbt hatte.

Ute war einmal Studienkollegin Monika Gratlingers gewesen, und in Utes Haus hatten sich Clemens Stolzenbach und Monika ausgesprochen. Sie hatte die beiden alleine gelassen und war in ihren Laden gefahren, zu dem auch eine kleine Zweizimmerwohnung gehörte, wo sie auch schon mal übernachtete.

Die Begegnung Utes mit Clemens Stolzenbach, die beiden hatten sich ja nur wenige Minuten gesehen, hatte die ehemalige Medizinstudentin den bekannten Chirurgen nicht mehr vergessen lassen.

Als sie an jenem Morgen in ihren Buchladen kam, nahm sie wie immer einen Packen Zeitungen mit hinein, die sie im Lauf des Tages neben Büchern verkaufte.

Dabei war auch eine Tageszeitung, die sie immer sorgfältig las, und dabei entdeckte sie eine Notiz, daß am kommenden Sonnabend Professor Clemens Stolzenbach aus Garmisch in den Räumen der Chirurgischen Gesellschaft Münchens einen Vortrag halten werde und daß Publikum zugelassen sei.

Ute Willner entschloß sich sofort, zu diesem Vortrag zu gehen. Erstens hatte sie nichts vor, und zweitens hätte sie jede Verabredung abgesagt, um Stolzenbach wiederzusehen. Diese Gelegenheit war ausgesprochen günstig, sie würde nichts erklären müssen, wenn sie ihn traf, und daß sie ihn traf, dafür würde sie sorgen.

Ute Willner hatte Stolzenbach ungemein nett in Erinnerung. Sie fand, daß er blendend aussah, und wie er auftrat, das hatte Klasse; kurzum, er hatte ihr außerordentlich gut gefallen. Daß er erfolgreich war und als einer der besten Chirurgen galt, steuerte den Rest bei, um ihn für Ute Willner über Gebühr attraktiv zu machen.

Im Buchladen beschäftigte sie eine junge Frau, die dreimal in der Woche halbtags kam, vor allem, um Büchersendungen auszupacken, und aushilfsweise eine Literaturstudentin, die sich ein paar Mark nebenbei verdiente.

Ute Willner wußte, daß sie an jenem Sonnabend, es war bis abends geöffnet, alleine im Laden sein würde, was ihr gar nicht paßte, denn sie wollte unbedingt zu jener Veranstaltung der Chirurgischen Gesellschaft, deren Räumlichkeiten in der Nähe waren.

Kurz entschlossen rief sie die junge Frau an und bat sie, an jenem Nachmittag zu kommen, weil sie schon zeitig am Nachmittag weg müsse.

»Sie haben dann einen anderen Nachmittag zur freien Verfügung«, sagte Ute Willner, »oder aber ich zahle Ihnen die Stunden extra, ganz wie Sie möchten.«

Sandra, so hieß die junge Frau, sagte zu, gleich nach dem Mittag da zu sein, und Ute konnte sich in aller Ruhe für den Abend vorbereiten.

Ute Willner war sehr hübsch, achtundzwanzig Jahre alt, und sie verstand es seit jeher, Männer auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte sehr schöne, ausdrucksvolle Augen, und wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Mann zu bekommen, dann war es ihr in der Regel auch gelungen.

Feste Beziehungen war sie schon seit längerem nicht mehr eingegangen, weil sie bereits dreimal totalen Schiffbruch erlitten hatte, aber einem Abenteuer hier und da war sie nicht abgeneigt. Und genau das schwebte ihr vor: Sie wollte ein Abenteuer mit Professor Stolzenbach, den sie nicht nur wegen seines Aussehens attraktiv fand, sondern auch wegen seiner beruflichen Erfolge, die unbestritten waren.

Die Chirurgische Gesellschaft Münchens betrachtete sich als Vermittler chirurgischen Fachwissens, und dazu gehörten auch jene Arbeiten, die von ihren Mitgliedern irgendwann veröffentlicht werden würden. Man veranstaltete reine Fachseminare, zu denen man ausschließlich Mitglieder zuließ, dann gab es Veranstaltungen für Ärzte und solche für das größere Publikum; Ute Willner hatte einen Presseausweis, der ihr auf jeden Fall zu solchen Veranstaltungen Zutritt verschaffte.

Sie überlegte, ob sie etwas vorbereiten sollte, beschaffte schließlich ein paar Flaschen Champagner und frischen Lachs und hoffte, daß es ihr gelingen würde, Clemens Stolzenbach nachher zu sich einzuladen.

Sie richtete sich sorgfältig her, was bei ihr nicht besonders viel Zeit in Anspruch nahm, denn sie mußte noch nichts kaschieren und sah auch ohne Make-up sehr gut aus.

Die Veranstaltung fand in den Räumen der Chirurgischen Gesellschaft statt, etwa hundertfünfzig Personen waren da, und Clemens Stolzenbach war zweifellos die herausragende Persönlichkeit des Abends.

Als er die beiden ineinander übergehenden Räume betrat, wußte Ute Willner, daß sie dieser Mann mehr als faszinierte, und daß sie einiges dafür tun würde, um ihn näher kennenzulernen.

Als Monika Gratlinger vor wenigen Wochen eines Abends vor ihrer Tür gestanden und gefragt hatte, ob sie für ein paar Tage bei ihr unterkommen könne, hatte sie sofort ja gesagt, denn Monika sah schrecklich aus. Sie war voller Komplexe gewesen, und erst nach und nach war sie mit dem, was sie bedrückte, herausgerückt.

Irgendwann hatte Ute begriffen, daß Monika und Clemens Stolzenbach mal ein Paar gewesen waren, und daß sich Monika irgendwann mal einen Fehltritt geleistet hatte.

Danach hatte sie eine üble Zeit hinter sich bringen müssen, weil die Schuldgefühle sie erdrückten und sie kaum mehr einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Sie war zu Clemens Stolzenbach immer unerträglicher geworden, machte ihn quasi für alles verantwortlich, bis sie sich im Haus von Ute Willner mit ihm ausgesprochen und ihn zu guter Letzt gebeten hatte, die Nacht bei ihr zu bleiben und das eine Mal noch mit ihr zu schlafen.

Ute Willner wußte natürlich von den Problemen der beiden, auch daß die Unterredung einen versöhnlichen Abschluß nahm und daß der bekannte Chirurgieprofessor inzwischen eine neue Freundin gefunden hatte.

Ute Willner setzte sich in eine der mittleren Stuhlreihen an eine Seite und hörte zu, als Clemens Stolzenbach über postoperative Traumata und deren Behandlungen sprach. Sie verstand das meiste nicht, aber das Fachliche interessierte sie auch nicht. Was sie interessierte, war der Mann, der referierte.

Am Ende des Vortrages gab es viel Beifall, und sehr viele Zuhörer scharten sich um das Pult, um mit dem Vortragenden noch persönlich ein paar Worte zu wechseln. Darüber hinaus hatte der Vorsitzende der Chirurgischen Gesellschaft nach dem Vortrag zu einem kleinen Umtrunk geladen.

Ute wartete geduldig, bis sich die Reihe derjenigen, die mit Stolzenbach reden wollten, lüftete, dann schlenderte sie in seine Richtung, und als er sie ansah, lächelte sie ihn betont freundlich an.

Stolzenbach erkannte Ute Willner wieder und wußte auch sofort, wer sie war.

»Guten Abend, Professor«, sagte sie. »Ich bin total erstaunt, Sie heute hier als Vortragenden zu erleben.«

Stolzenbach deutete eine Verbeugung an und wollte wissen, was sie bei einem Vortrag wie dem seinen zu suchen habe. »Haben Sie vor, sich operieren zu lassen, und wollen vorher erfahren, was es an nachoperativen Unpäßlichkeiten geben kann?«

Ute Willner schüttelte lächelnd den Kopf. »Daß ich mal Medizin studiert habe, wissen Sie ja. Die Vorträge bei der Chirurgischen Gesellschaft sind heute meine einzige Verbindung zur Medizin, da ich meine Zeit sonst mit meinen Büchern verbringe.«

»Mit Ihren Büchern?« Stolzenbach sah die attraktive Buchhändlerin fragend an.

Die nickte. »Ein Großonkel, der Bruder meiner Großmutter, hatte keine Nachkommen und hat mir einen Buchladen und ein Haus vererbt, so daß ich statt Ärztin Buchhändlerin geworden bin.«

Stolzenbach deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung des Nebenraumes, wo man Orangensaft mit Sekt trank und sich über den Vortrag Professor Stolzenbachs unterhielt.

»Wenn Sie möchten«, sagte er, »dann könnten wir ein Glas zusammen trinken. Ich kann es mir erlauben, da ich heute nicht mehr zurückreisen werde, sondern erst am Sonntag.«

»Dann bleiben Sie in München?« Ute sah Stolzenbach neugierig an.

Der nickte. »Ja, ich bin mit einem Kollegen und ehemaligen Kommilitonen verabredet.«

»Wollen Sie über alte Studentenzeiten reden?« Utes Augen blitzten Stolzenbach verräterisch an.

Dem war Ute damals überaus positiv aufgefallen. Einmal ihre Erscheinung und dann ihre Art, sich ohne großes Tamtam zurückzuziehen, hatten ihm sehr imponiert.

Bevor Stolzenbach antworten konnte, kam der Vorsitzende der Chirurgischen Gesellschaft zu ihnen und bat Stolzenbach zu den anderen Gästen. Ute warf er dabei einen knappen Blick zu.

Stolzenbach nickte und sagte, er werde gleich da sein, dann wandte er sich wieder Ute zu.

»Ich werde dann gehen«, sagte die, als der Vorsitzende sich zurückgezogen hatte.

»Schade«, sagte Stolzenbach, »daß Sie keine Zeit haben.«

»Ich habe Zeit«, erwiderte Ute, »Sie haben offensichtlich keine.«

»Wenn nach diesen Veranstaltungen nicht immer diese Art von Umtrunken wäre, würde ich öfter präsent sein«, brummelte er.

»Wenn Sie wollen, können Sie mit zu mir kommen«, sagte Ute. »Einen Champagner habe ich sicher da und wahrscheinlich auch ein wenig Lachs oder etwas Ähnliches.«

Stolzenbach musterte die hübsche Frau einen Augenblick, dann meinte er, es sei doch sicher noch ein ganzes Ende bis zu ihrem Haus.

»Die Buchhandlung ist ganz in der Nähe«, erwiderte Ute, »und dazu gehört auch eine kleine Wohnung. Also, ich würde mich riesig freuen, wenn Sie mitkommen würden. Wir könnten uns ein wenig unterhalten oder in alten verstaubten Büchern wühlen.«

»Beides klingt sehr verlockend«, sagte Stolzenbach, dann dachte er einen Augenblick nach und nickte schließlich. »Warten Sie bitte einen Moment, ich werde mich nur rasch verabschieden.«

Kurz darauf kam er zurück, sagte, man bedauere sein frühes Gehen, und lächelte Ute Willner dann sehr freundlich an.

»Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung«, sagte er.

Ute lächelte. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob sie ihn beim Wort nehmen dürfe, aber sie verzichtete darauf, denn von Monika wußte sie, wie empfindlich Stolzenbach reagieren konnte.

»Gehen wir zu Fuß«, fragte Ute.

»Wenn es kein stundenlanger Marsch durch Münchens Straßen wird«, antwortete Stolzenbach.

Nach nicht mal zehn Minuten schloß Ute Willner die Tür des Buchladens auf und ließ ihn eintreten.

»Willkommen im Reich des gedruckten Wortes«, sagte sie und schaltete ein paar Lampen ein.

Clemens Stolzenbach war überwältigt. Einen solch schönen alten Buchladen hatte er nicht erwartet. Wenn man sich umsah, konnte man leicht den Eindruck bekommen, die Zeit sei am Beginn des Jahrhunderts stehen geblieben. Alte Möbel, die einen zum Sitzen einluden, und Regale voller Bücher.

»Bei allem, was recht ist«, murmelte der Chefchirurg der Bergklinik nach einer Weile beeindruckt, »das hätte ich jetzt nicht erwartet. Wie kommt ein junges hübsches Mädchen wie Sie zu so einem interessanten Laden? Das hier hätte mich auch schwach werden lassen können, so daß ich das Studium abgebrochen hätte.«

Ute Willner lachte. »Sie hätten die Medizin nicht aufgegeben. Mit der sind Sie doch fest liiert. Außerdem hätte die Menschheit auf einen der besten Chirurgen verzichten müssen.«

Stolzenbach verzog ein wenig das Gesicht, er mochte nicht, wenn man ihn privat auf seine Erfolge ansprach, deshalb fragte er ganz rasch noch mal, woher Ute den Laden habe.

»Ein Großonkel«, antwortete diese, »ich sagte es Ihnen schon, ist kinderlos geblieben, woraufhin er alles mir vermacht hat. Er hat gewußt, daß ich Bücher über alles liebe.«

»Über alles…?« Um Clemens Stolzenbachs Mundwinkel hatte sich ein spöttisches Lächeln eingenistet. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Gibt’s keinen Mann in Ihrem Leben?«

Ute schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keinen Mann in meinem Leben. Es hat sich herausgestellt, daß ich Probleme habe, wenn ein Mann mir zu nah aufrückt.«

»Oh.« Stolzenbach nahm ein Stück Abstand. »Dann sollte ich besser aufpassen.«

Ute lächelte. »Wer weiß…?«

Dann ging sie in die kleine Wohnung, und als sie zurückkam, brachte sie auf einem Tablett eine Flasche Champagner, Gläser, ein paar Schnitten Toast und etwas Lachs.

»Mehr habe ich leider nicht da«, sagte sie, als sie es auf den Tisch neben der Kasse stellte. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie heute abend mein Gast sein würden, dann hätte ich was besorgt.«

»Sie haben immer Champagner und Lachs im Haus?« fragte Stolzenbach mit erstaunt klingender Stimme. »Das heißt, es ist ja nur mal die Nebenwohnung.«

»Zu Hause habe ich keinen Champagner und keinen Lachs«, erwiderte Ute, »jedenfalls nicht ständig, sondern nur zu besonderen Anlässen.«

»Und warum haben Sie hier so feine Dinge?« Stolzenbach zeigte auf das Tablett. »Verführen Sie ihre Zufallsbekanntschaften etwa immer zuerst hier?«

*

Laura war, als Clemens Stolzenbach sie an jenem Abend alleine gelassen hatte, wie versteinert auf einer Stelle stehengeblieben. Sie hatte seinen Wagen davonfahren gehört und sich zuerst auf die Terrasse gesetzt, später in das dahinter liegende Zimmer.

Sonst fand sie die Stimmung im Park, wenn Mondlicht durch die alten Bäume schien, immer besonders attraktiv, und wenn in einer warmen Sommernacht wie dieser auch noch die Grillen zirpten, dann hatte sie sich hier zu Hause gefühlt wie sonst nirgends. Und wenn dann auch noch Clemens bei ihr gewesen war, hatte sie immer alles gehabt, was sie brauchte.

Bis drei Uhr in der Früh saß Laura in dem Zimmer hinter der Terrasse, dann stand sie auf. Sie hatte sich gerade entschlossen, zurück nach Erlangen zu fahren. Zuerst hatte sie Clemens ein paar Zeilen schreiben wollen, aber dann tat sie es nicht. Sein Verhalten war derart demütigend gewesen, daß sie gar nicht wußte, was sie hätte schreiben sollen.

Nicht sie mußte sich schlecht fühlen, was sie jetzt jedoch tat, sondern Clemens. Der hatte sich nicht nur im Ton vergriffen, sondern ihr deutlich zu verstehen gegeben, wie weit sie sich binnen weniger Tage von ihr entfernen konnte.

Meistens weinte Laura auf der Fahrt nach Erlangen, und als sie in den frühen Morgenstunden in ihrer kleinen Wohnung ankam, wäre sie am liebsten gleich zurück nach Garmisch gefahren, denn sie wußte, daß sie ohne Clemens nicht würde leben können. Sie liebte ihn, wie sie noch keinen Mann geliebt hatte und wie sie nie wieder einen Mann würde lieben können.

Ihre Liebe, auch das wußte Laura, war eher still, nicht fordernd. Sie hatte immer gewollt, daß Clemens glücklich war, daß er das bei ihr fand, was er suchte. Denn wenn es Clemens gutging und er sich wohl fühlte, dann ging es ihr auch gut. Warum sollte sie etwas fordern, wenn sie alles hatte, was sie brauchte?