Die Bergklinik 2 – Arztroman - Hans-Peter Lehnert - E-Book

Die Bergklinik 2 – Arztroman E-Book

Hans-Peter Lehnert

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Beschreibung

Die Arztromane der Reihe Die Bergklinik schlagen eine Brücke vom gängigen Arzt- zum Heimatroman und bescheren dem Leser spannende, romantische, oft anrührende Lese-Erlebnisse. Die bestens ausgestattete Bergklinik im Werdenfelser Land ist so etwas wie ein Geheimtipp: sogar aus Garmisch und den Kliniken anderer großer Städte kommen Anfragen, ob dieser oder jener Patient überstellt werden dürfe. "Rasch, Doktor, die Garmischer Unfallklinik." Die Schwester an der Aufnahme gab Dr. Trautner den Hörer des Telefons. Der Chef der Bergklinik, Dr. Vinzenz Trautner, nahm den Hörer und meldete sich. "Ja, Trautner?" Er nickte ein paarmal, schließlich fragte er: "Warum bleibt er denn nicht bei Ihnen, da ist er mit einer derartigen Verletzung doch viel besser aufgehoben?" Dann hörte er zu und nickte wieder. "Ich rufe zurück." Vor einer Stunde war ein junger Mann in die Garmischer Unfallklinik eingeliefert worden, der sich bei Holzschlägerarbeiten mit der Motorsäge das Bein verletzt hatte. "Es schaut ziemlich zerfetzt aus", hatte der Garmischer Kollege gesagt. "Wir könnten den jungen Mann sicher weiterbehandeln, aber sein Vater besteht darauf, daß er in die Bergklinik kommt. Die Erstversorgung ist abgeschlossen, jetzt müssen Sie sagen, ob Sie den Verletzten aufnehmen wollen." Dr. Trautner war kein Chirurg, schon mal gar kein Unfallchirurg; wenn seine Bergklinik den Patienten übernehmen würde, dann mußte ein Kollege das tun. In Frage kamen Dr. Heiken und Professor Stolzenbach. Heiken war Orthopäde, besser gesagt Sportarzt, und Stolzenbach war der Chirurg der Bergklinik; der beste Chirurg, den Trautner je hatte arbeiten sehen.

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Inhalt

Du bist die beste Medizin für mich

Die Fremde im Pelz

Die Bergklinik – 2–

Die Bergklinik

Hans-Peter Lehnert

Du bist die beste Medizin für mich

Roman von Hans-Peter Lehnert

»Rasch, Doktor, die Garmischer Unfallklinik.« Die Schwester an der Aufnahme gab Dr. Trautner den Hörer des Telefons.

Der Chef der Bergklinik, Dr. Vinzenz Trautner, nahm den Hörer und meldete sich. »Ja, Trautner?« Er nickte ein paarmal, schließlich fragte er: »Warum bleibt er denn nicht bei Ihnen, da ist er mit einer derartigen Verletzung doch viel besser aufgehoben?« Dann hörte er zu und nickte wieder. »Ich rufe zurück.«

Vor einer Stunde war ein junger Mann in die Garmischer Unfallklinik eingeliefert worden, der sich bei Holzschlägerarbeiten mit der Motorsäge das Bein verletzt hatte. »Es schaut ziemlich zerfetzt aus«, hatte der Garmischer Kollege gesagt. »Wir könnten den jungen Mann sicher weiterbehandeln, aber sein Vater besteht darauf, daß er in die Bergklinik kommt. Die Erstversorgung ist abgeschlossen, jetzt müssen Sie sagen, ob Sie den Verletzten aufnehmen wollen.«

Dr. Trautner war kein Chirurg, schon mal gar kein Unfallchirurg; wenn seine Bergklinik den Patienten übernehmen würde, dann mußte ein Kollege das tun.

In Frage kamen Dr. Heiken und Professor Stolzenbach. Heiken war Orthopäde, besser gesagt Sportarzt, und Stolzenbach war der Chirurg der Bergklinik; der beste Chirurg, den Trautner je hatte arbeiten sehen.

»Hätten S’ einen Augenblick Zeit für mich, Doktor?« Trautner begegnete Dr. Heiken zufällig auf dem Gang. Mit wenigen Worten schilderte er, was der Kollege der Bergklinik ihm berichtet hatte.

Dr. Bernhard Heiken schüttelte sofort den Kopf. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Warum bleibt er denn nicht in Garmisch, die sind doch prädestiniert für derartige Fälle?«

Trautner bedankte sich und ging eilig zum OP-Trakt, wo Professor Stolzenbach gerade einer Patientin die Gallenblase entfernte.

»Wann ist der Professor fertig?« fragte Trautner eine junge OP-Schwester.

»Der Professor ist fertig«, antwortete Schwester Lissi. »Er vernäht nur noch die Operationsnarbe.«

»Bitten S’ ihn zu mir, zunähen kann auch ein Assistent«, sagte Trautner.

»Was ist denn?« Ein wenig ärgerlich kam Professor Stolzenbach in den OP-Vorraum. »Kann man denn nicht mal in Ruhe zu Ende operieren?«

»Entschuldigen S’, Herr Kollege, aber es ist ein Notfall«, sagte Trautner. Dann schilderte er mit wenigen Worten, was passiert war.

»Was hab’ ich damit zu tun?« reagierte Stolzenbach unwirsch.

»Sie sind der einzige Arzt der Bergklinik, der in Frage kommen würde…!«

»Dann vergessen Sie es besser.« Stolzenbach winkte ab. »Derartige Chirurgie ist nicht mein Fach. Außerdem erwarte ich zwei Privatpatienten, die sicher meine ganze Aufmerksamkeit erfordern.«

Dann meldete sich Dr. Trautners Piepser. Er ging in den Nachbarraum zum Telefon, und als er kurz darauf zurückkam, sagte er: »Die Garmischer wollen jetzt wissen, ob wir den Patienten übernehmen. Falls nicht, wollen sie ihm das Bein amputieren. Es sind anscheinend jede Menge Gefäße zerfetzt. Auch Nervengewebe.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es sogar besser, wenn er in der Unfallchirurgie bleibt. Wenn die schon amputieren wollen.«

»Das heißt noch gar nichts«, brummelte Professor Stolzenbach. »Amputiert hat man rasch, dem Patienten die Extremität zu erhalten, ist eine andere Sache und schon ein wenig schwieriger.« Dann überlegte er einen Augenblick, ging in den Nebenraum, nahm den Hörer ab und ließ sich mit der Garmischer Unfallklinik verbinden.

Dr. Trautner stand daneben und hörte zu. Nach wenigen Minuten legte Stolzenbach den Hörer wieder auf.

»Also wegen mir können wir den Patienten ruhig übernehmen«, sagte er. »Es soll übrigens der Sohn eines Ihrer Bekannten sein.«

»Nach dem Namen hab’ ich gar nicht gefragt. Ich weiß nur, daß der Vater des Burschen möchte, daß wir ihn weiterbehandeln. Wie heißt er denn?«

Stolzenbach zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir diese einheimischen Namen nicht merken. Wenn der Patient da ist, will ich sofort benachrichtigt werden. Sehen Sie zu, daß das nicht wieder versäumt wird.« Dann verschwand er nochmals im OP.

Dr. Trautner mußte lächeln. Stolzenbach war am ehesten zu überzeugen, einen Patienten, den er eigentlich schon abgelehnt hatte, doch noch zu übernehmen, wenn der Fall aussichtslos war, beziehungsweise einige Kollegen den Patienten schon aufgegeben hatten. Das hatte bisher noch immer des Professors Ehrgeiz geweckt, und jedesmal hatte er seine überragenden chirurgischen Fähigkeiten überzeugend unter Beweis stellen können. Dabei war Stolzenbach nicht mal vierzig Jahre alt.

Trautner ließ sich auch nochmal mit der Garmischer Unfallklinik verbinden, sagte, man werde den Patienten übernehmen, und als er den Hörer aufgelegt hatte, war ihm vermittelt worden, daß man den jungen Mann mit dem Rettungshubschrauber in die Bergklinik bringen würde. Nach dem Namen des Verunglückten zu fragen, hatte er jedoch wieder vergessen.

Als der Hubschrauber landete, er tat das etwa dreihundert Meter neben dem Klinikgebäude auf einer Wiese, war Professor Stolzenbach bereits zur Stelle. Er selbst nahm den jungen Mann in Empfang.

»Muß mir wirklich das Bein amputiert werden?« Die Augen des etwa Dreißigjährigen waren angstvoll auf Clemens Stolzenbach gerichtet.

»Dann hätten Sie auch in Garmisch bleiben können«, antwortete der Professor kurz angebunden. »Ein bißchen dürfen Sie uns schon zutrauen.«

»Sind… sind Sie der berühmte Professor?«

Stolzenbach schüttelte unwirsch den Kopf. »Wer redet denn so einen Blödsinn?«

»In Garmisch hat man gesagt, in der Bergklinik würd’ der beste Chirurg weit und breit arbeiten.« Hoffnungsvoll sah der junge Bursche Stolzenbach an.

»Jetzt kommen Sie erst mal herein, daß wir uns alles genau ansehen können, dann sehen wir weiter.« Stolzenbach ging vornweg und betrat als erster die Klinik.

Neben der fahrbaren Krankentrage, auf der der Patient in die Bergklinik geschoben wurde, ging ein älterer Herr her, er machte einen vollkommen niedergeschlagenen Eindruck. Es war der Vater des Burschen, dessen Unterschenkel von der Motorsäge so zerfetzt worden war.

Als er Dr. Trautner sah, hellte sich das Gesicht des Alten ein wenig auf.

»Herrschaftszeiten«, sagte Vinzenz Trautner, »dein Bub ist’s, dem’s das Bein verhaut hat?«

Der Alte nickte. »Ja, dem Gustl ist die Säg’ ins Bein gefahren. Droben am Ochsenjoch. Da hat er zwanzig Stämm’ herausschneiden sollen. Beim dritten schon ist ihm die Säg’ ausgekommen und hat ihn derart hergerichtet.«

Der Alte hieß Franz Leuschner, man nannte ihn auch Latschenbauer, sein Hof lag unweit Pfaffenstein, und zu seinem Besitz gehörte ein großes Waldstück, aus dem der Gustl die Stämme hatte herausschlägern sollen. Dabei war ihm die Motorsäge abgerutscht, ihm ins Bein gefahren und hatte dort Muskeln, Bänder, Sehnen, Nerven und Adern derart zerfetzt, daß nur noch eine blutige Masse übrig geblieben war.

In der Unfallklinik hatte man den Wundbereich sorgfältig gereinigt, die großen Gefäße oberhalb der Verletzung abgebunden, und in diesem Zustand lag Gustl Leuschner jetzt im OP-Vorraum, wo Professor Stolzenbach die Wunde untersuchte.

Nach einer Viertelstunde hatte er seine ersten Untersuchungen beendet. Dann ging er zu dem Verunglückten.

»Also, ich werde einen Kollegen aus München herbitten«, sagte Stolzenbach. »Er ist Neuronalchirurg. Er wird die Nerven Ihres Beines wieder zusammenfügen.«

»Und den Rest?« fragte Gustl Leuschner. »Wer macht das?«

»Das werde ich zu flicken versuchen…!«

»Sie sind der Professor, von dem man in der Garmischer Klinik geredet hat?« Mit großen, hoffnungsvoll dreinschauenden Augen sah der junge Bursche Clemens Stolzenbach an.

»Da ich der einzige in der Klinik bin, der einen Professorentitel hat, wird man mich wohl gemeint haben.«

Da atmete der Sohn Franz Leuschners tief durch und schloß die Augen. »Das ist gut…!«

*

Die Operation war für den nächsten Morgen angesetzt worden. Dr. Martin Berginger war aus München angereist. Er war ein Studienkollege Clemens Stolzenbachs, der ihm den Fall ausführlich geschildert hatte.

»Die Garmischer Unfallklinik hat ihn amputieren wollen«, hatte Stolzenbach gesagt.

»Und jetzt juckt’s dich, denen zu zeigen, daß es auch anders geht?« Dr. Berginger hatte gelacht. »Also gut, Alter, ich komme. Du hast Glück, daß ich den Rest der Woche frei habe. Ich wollte eigentlich an den Chiemsee, ein wenig segeln. Aber das streiche ich. Ein Tag bei dir ist sicher unterhaltsamer als die schönste Segelei. Vielleicht können wir ja auch sonstwas miteinander unternehmen.«

Dr. Martin Berginger war schon ein paar Stunden später in der Bergklinik angekommen und hatte sich das Bein des Verletzten eingehend angesehen, ein paarmal sehr skeptisch das Gesicht verzogen und schließlich mit den Schultern gezuckt.

»Versuchen werden wir es auf jeden Fall«, hatte er zu Stolzenbach gesagt, »obwohl auch einige größere Leitungsbahnen betroffen zu sein scheinen.«

»Gewöhnliches, mein Alter, kann jeder.« Professor Stolzenbach lächelte. »Nur wer das Besondere sucht und schafft, der wird ganz oben landen.«

»Deine philosophischen Anwandlungen in allen Ehren«, hatte Dr. Berginger geantwortet, »seid ihr hier eigentlich adäquat ausgestattet? Ich bin nicht gewohnt, im Trüben zu fischen.

Die Arbeitsbedingungen sollten schon stimmen. Und ich möchte…!«

»Du hast in München keine bessere Ausstattung«, unterbrach Stolzenbach seinen Kollegen.

Am nächsten Morgen herrschte nicht nur in der chirurgischen Abteilung eine ganz besondere Stimmung, auch in der übrigen Bergklinik schien man behutsamer über die Gänge zu gehen, vielleicht, um nicht zu stören oder weil man wußte, daß es just in dem Augenblick darum ging, ob ein junger, lebenslustiger Bursche sein Bein verlieren würde oder nicht.

Man hatte Gustl Leuschner deutlich gemacht, daß es durchaus möglich war, daß man während der Operation feststellen würde, daß das Bein nicht zu erhalten war und daß man dann amputieren mußte. Er hatte sofort zugestimmt und die schriftliche Zustimmung unterschrieben.

Gustl verlor während der Operation sehr viel Blut, und der bei dem Unfall erlittene Blutverlust kam noch hinzu, so daß sehr rasch auf Blutkonserven zurückgegriffen werden mußte.

Gustl hatte die Blutgruppe 0, rh negativ, die mit keiner anderen kompatibel ist, und nachdem die ersten Vorräte verbraucht waren, sagte eine OP-Schwester, man müsse vorsorglich neue Blutkonserven ordern. Stolzenbach nickte lediglich, er arbeitete angestrengt, versuchte Arterien- und Venennähte zu setzen und konnte und wollte sich nicht um derartige Dinge kümmern.

Dr. Berginger unterbrach jedoch seine Arbeit sofort, richtete sich auf und fragte: »Wann kommen die neuen Konserven? Ich kann unter diesen Bedingungen nicht arbeiten.«

»Wieviel ist noch da?« wollte daraufhin Professor Stolzenbach wissen.

»Ein halber Liter«, antwortete die OP-Schwester.

»Ja, seid ihr denn narrisch?« reagierte Stolzenbach äußerst ärgerlich.

»Null negativ ist in den letzten Tagen sehr häufig gebraucht worden, unser Vorrat ist eh nicht sehr groß gewesen…!«

»Reden Sie nicht drumherum, sehen Sie zu, daß Sie passendes Blut herbeischaffen.«

»Und wie? Wir sind hier nicht in München.«

Stolzenbach sah die OP-Schwester mit schneidendem Blick an. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Fräulein. Sie sind für die Blutkonserven zuständig, und wenn durch Ihre Nachlässigkeit diese Operation abgebrochen werden muß und wir den Patient deswegen noch einmal unter das Skalpell nehmen müssen, dann werden Sie was zu hören bekommen.«

»Lassen Sie doch das Personal fragen, ob wer die Blutgruppe Null negativ hat«, schlug Dr. Berginger vor. »Ich möcht’ jetzt außerdem weitermachen.«

Ganz hinten, in der letzten Reihe bei den Instrumenten, stand Schwester Heike. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte in der Bergklinik als Schwesternschülerin begonnen und wurde seit ihrem Examen vor einem dreiviertel Jahr im OP als Instrumenten-Schwester eingesetzt.

»Ich glaub’, ich hab’ Blutgruppe Null negativ«, sagte sie. Sie hatte jedoch so leise gesprochen, daß keiner mitbekommen hatte, was sie gesagt hatte.

Deshalb wandte sie sich an die für die Blutkonserven zuständige Schwester und wiederholte: »Ich glaub’, ich hab’ Blutgruppe Null negativ.«

Die Schwester sah sie über den Rand ihres Mundschutzes hin erleichtert an. »Bist du sicher?«

»Diese Blutgruppe steht in meinem Organspenderpaß.«

»Würdest du dein Blut zur Verfügung stellen?«

»Natürlich!« Heike Wiesner nickte sofort.

»Dann komm, wir machen rasch eine Kreuzprobe deines Blutes mit dem des Patienten.«

Kurz darauf stand fest, daß das Blut des Patienten mit dem der jungen OP-Schwester kompatibel war.

»Wir haben einen Spender, Herr Professor.« Die Stimme der zuständigen Schwester hörte sich befreit an.

»Machen Sie die Kreuzprobe.«

»Ist schon geschehen.«

»Wo ist der Spender?«

»Es ist Schwester Heike…!«

»Wer ist Schwester Heike?« Professor Stolzenbach sah auf.

»Ich, Herr Professor.« Heike Wiesner trat einen Schritt vor.

»Sie sind hier im OP ein… als zweite Instrumentenschwester?«

»Ja, Herr Professor.«

»Dann machen Sie sich mal den Arm frei, wir übertragen direkt«, sagte Clemens Stolzenbach. »Bereiten Sie alles vor, Doktor Schröder.« Das war der Assistenzarzt.

Zwanzig Minuten später wurde Gustl Leuschner das Blut von Schwester Heike übertragen. Sie lag auf einem kleinen OP-Tisch neben Gustl, hatte den Arm bis zum Schultergelenk freigemacht, war sonst wie der Patient mit grünen Tüchern abgedeckt, und über ein Schlauchsystem floß ihr Blut direkt in dessen Kreislauf.

Als etwa ein halber Liter Blut übertragen war, ließ Stolzenbach die Prozedur abbrechen.

»Danke, Schwester. Lassen Sie sich für heute ablösen. Gehen Sie nach Hause und erholen Sie sich. Es war sehr freundlich von ihnen, daß Sie sich zur Verfügung gestellt haben.« Dann wandte Stolzenbach sich wieder dem Patienten zu.

Nach insgesamt acht Stunden war die Operation beendet, und der Patient wurde auf die Intensivstation gebracht.

Professor Stolzenbach und Dr. Berginger atmeten tief durch, duschten, da sie völlig durchgeschwitzt waren, tranken einen Kaffee und gingen dann in den Park der Bergklinik, wo sie sich auf eine Bank setzten, um zu entspannen.

»Mein Gott, Clemens«, sagte Berginger, »wenn man sieht, was du drauf hast, dann frag’ ich mich, warum du dich hier verkriechst! Ich mein’, das Drumherum hier, die eindrucksvolle Bergkulisse, das alles ist einmal schön, aber beruflich würde man viel mehr Notiz von dir nehmen, wenn du im Rampenlicht stehen würdest, und das tust du nur in München.«

Clemens Stolzenbach lachte. »Vielleicht will ich ja gar nicht mehr im Rampenlicht stehen. Vielleicht will ich ja ruhig und zurückgezogen leben und arbeiten.«

»Bist du irgendwie liiert?« wollte Martin Berginger dann wissen.

Stolzenbach wiegte abwägend den Kopf. »Ja und nein.«

»Das mußt du mir erklären.«

»Ich habe hier das bezauberndste Mädchen kennengelernt, dem ich je begegnet bin. Sie ist Medizinstudentin, und ich habe mich total in sie verliebt. Sie heißt Monika.«

Dr. Berginger grinste. »Du hast dir noch immer die schmackhaftesten Rosinen aus dem Kuchen gepflückt. Aber wieso sagtest du ja und nein?«

»Monika ist in München, ich bin hier. Sie nimmt das Studium sehr ernst und kommt oft nur alle vier oder fünf Wochen nach Hause.«

»Ich sag’ ja, in München spielt die Musik.« Martin Berginger stand auf und streckte sich. Er war groß und wirkte sehr sportlich. »Hast du dir diese Schwester Heike näher angesehen?«

»Warum?«

»Sie ist niedlich.«

Clemens Stolzenbach schüttelte amüsiert den Kopf. »Du bist offensichtlich immer noch der gleiche Verrückte wie früher.«

»Das Leben muß doch was zu bieten haben…!« Berginger grinste. »Schade, daß du der Kleinen freigegeben hast. Sonst hätt’ ich sie gefragt, ob sie mit mir ausgeht.«

»Heute abend gehst du mit mir aus«, sagte Stolzenbach. »Ich lade dich nach Mittenwald zum Essen ein. Ganz schick und nobel. Du sollst nicht denken, daß wir hier im Werdenfelsischen nichts zu bieten haben. Außerdem wirst du Monika kennenlernen. Sie kommt für drei Tage nach Hause.«

»Besondere Inszenierungen waren schon immer deine Stärke«, antwortete Martin Berginger. »Wenn du nichts dagegen hast, dann werde ich diese kleine Schwester einladen. Sie hat mir gefallen. Sie hat ein absolut süßes Lächeln und irgendwas, was mich total rührt.«

*

Als Gustl Leuschner aus der Narkose erwachte, lag er auf der Intensivstation und war an mehrere Monitore angeschlossen. Er dachte sofort an sein Bein, spürte es nicht, nur einen unförmigen Klumpen und meinte, man habe es ihm amputiert.

Der Gustl war ein schlanker, groß gewachsener Bursche, der sich immer gerne bewegt hatte und der nun meinte, damit sei es vorbei. Ohne daß er es wollte, rannen ihm ein paar Tränen die Wangen herunter.

Dann wurde die Tür beiseite geschoben, und Professor Stolzenbach und sein Kollege aus München betraten die Intensiv-Kabine.

Der Professor lächelte freundlich, kam zu ihm und sagte: »Ich gratulier’ Ihnen, Herr Leuschner. Wie es ausschaut, können Sie Ihr Bein behalten. Wir haben…!«

»Es ist nicht amputiert?«Gustl starrte den Professor erschrocken an. »Mein… mein Bein, es ist noch dran?«

»Ja, sicher.« Stolzenbach nickte. »Um Ihnen das Bein zu amputieren, muß man keine acht Stunden operieren.«

Gustl wollte sich hinsetzen, weil er so das Bein weder sehen noch tasten konnte, doch dazu war er zu schwach. Total entkräftet fiel er zurück in die Kissen.

»Warten Sie, ich hole Ihnen einen Spiegel«, sagte Stolzenbach, »dann können Sie Ihr Bein sehen.«

Kurz darauf kam er mit einem Spiegel zurück und hielt ihn so, daß Gustl, der flach auf dem Rücken lag, sein Bein sehen konnte. Die dunkelroten, dick angeschwollenen Zehen sahen aus einem dicken Verband heraus.

»Das sind meine Zehen?« fragte er leise.

»Sicher, oder meinen Sie, es liegt noch jemand in Ihrem Bett?« Stolzenbach kam näher und bückte sich herunter. »Versuchen Sie mal, einen Zeh zu bewegen.«

Man sah, wie der Gustl sich bemühte, aber nichts geschah, bis er plötzlich ganz nervös nach unten zeigte. »Da schauen S’«, hauchte er, »der große Zeh, ich kann ihn bewegen.«

Stolzenbach sah seinen Studienfreund und Kollegen Dr. Berginger kurz an, dann wandte er sich wieder an Gustl Leuschner.

»Jetzt schlafen Sie erst mal richtig aus«, sagte er, »ein bißchen müde werden Sie sicher noch sein. Das Ärgste haben Sie jedenfalls überstanden.«

Als Stolzenbach und Berginger das Zimmer verlassen hatten, blieben sie stehen. »Nichts hat sich bewegt. Er hat es nur gemeint.«

»Das hat nichts zu sagen.« Dr. Berginger schüttelte den Kopf. »Peripher durchtrennte und wieder zusammengefügte Nerven brauchen eine gewisse Zeit, bis sie wieder funktionieren.«

Auf dem Weg in Stolzenbachs Zimmer begegneten sie Dr. Trautner, der beide herzlich beglückwünschte. Dann stellte er Franz Leuschner, Gustls Vater vor. Er war mit ihm auf dem Weg zur Intensivstation.

»Diese beiden Herren haben den Gustl operiert«, sagte er zu Leuschner, einem schmalen, hoch aufgeschlossenen Mann.

Der bedankte sich ebenfalls bei beiden, schien sehr gerührt und bat Dr. Trautner dann, schon mal zu seinem Sohn zu dürfen.

»Geh schon mal vor«, sagte der, »die Schwester zeigt dir, wo der Gustl liegt. Aber bleib’ bitte net zu lang’.«

Dr. Trautner sah Stolzenbach und Martin Berginger fragend an, er schien noch was auf dem Herzen zu haben.

»Was ist mit dem Burschen?« fragte er. »Ich hab’ mir das Bein noch nicht angesehen.«

»Wir können noch nichts sagen«, antwortete Stolzenbach. »Das Bein ist dunkelrot und stark geschwollen. Aber das ist ganz normal.«

»Kann er die Zehen bewegen?«

Stolzenbach schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Er meint es zwar, nachdem er zuerst der Ansicht war, wir hätten sein Bein amputiert. Ein bißchen Zeit müssen wir ihm, dem Bein und dessen Leitungsbahnen schon zugestehen.«

Trautner bedankte sich bei Berginger, dann ging er auf die Intensivstation.

»Das ist dein Chef?« fragte Martin Berginger. »Irgendwie kauzig. Du kommt mit ihm aus?«

Clemens Stolzenbach hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Manchmal gut, manchmal weniger gut. Aber wir respektieren unsere Arbeit. Er redet mir nicht rein, läßt mir völlig freie Hand. Und mein Budget ist sehr umfangreich.«

»Interessant…!«

Dann waren sie in Stolzenbachs Arbeitszimmer. Seine Sekretärin hatte ihm einen Zettel auf den Tisch gelegt, daß Monika angerufen habe und ausrichten lasse, daß sie erst am nächsten Tag kommen könne.

»Wir müssen unser Essen also auf morgen verschieben«, sagte Stolzenbach. »Ich möchte, daß wir zu dritt einen netten Abend haben.«

»Irgendwie fühle ich mich bei euch beiden als überflüssiges Rad am Wagen.« Doch Martin Berginger lächelte. »Das heißt, du könntest das ändern.«

»Und wie?«

»Indem du noch diese kleine Schwester einlädst. Du weißt, wen ich meine.«

»Martin…!« Stolzenbach sah seinen Studienkollegen mißbilligend an.

»Kein aber, Alter! Du schuldest mir was. Ich erinnere dich nur sehr ungern daran.«

Stolzenbach atmete tief durch und schließlich nickte er. »Also gut. Der alten Zeiten und deines Kommens wegen. Aber wenn du meinst, dieses Mädchen irgendwie abschleppen zu können, dann wirst du mich kennenlernen. Sie ist nicht mit gleichaltrigen Madeln aus München zu vergleichen.«

»Wieso?« Martin Berginger grinste. »Mädchen ist Mädchen.«

»Eben nicht. Ich hoffe, daß du den Unterschied hier bei uns kennenlernst. Die Mädchen hier sind irgendwie anders. Aber das wirst du selbst merken.« Dann sah er seinen Kollegen ernst an. »Versprich mir, daß du nichts versuchen wirst bei ihr. Keine dieser üblichen Verführungen…!«

»Hör auf…!« Martin Berginger winkte ab. »Aus dem Alter sind wir doch längst heraus.«

Während Clemens Stolzenbach und Martin Berginger sich darüber unterhielten, was den Unterschied eines Mädchens vom Land und aus der Stadt ausmachte, stand Franz Leuschner am Bett seines Sohnes.

»Wie geht’s dir, Bub?«

Gustl nickte. »Gut soweit. Müd’ bin ich.«

»Ich geh’ bald wieder, ich hab’ nur mit dir reden wollen. Daß es dich noch gibt, wollt’ ich wissen.«

»Die besten Professoren haben mich operiert.« Ein müdes Lächeln huschte über Gustls Gesicht. »Stell dir das vor…!«

Dann betrat Dr. Trautner das Intensivzimmer. »Wir lassen den Gustl in Ruh’. Die braucht er.«

»Stimmt es«, fragte der junge Bursche, »daß man mir Blut übertragen hat?«

Dr. Trautner nickte. »Sicher. Das ist aber bei solchen Operationen nichts Ungewöhnliches.«

»Das ist schon klar«, antwortete Gustl. »Ich mein’ aber, daß man mir direkt von einer Schwester Blut übertragen hat?«

Dr. Trautner ließ ein paar Falten auf seiner Stirn aufziehen.

»Das kann ich mir net vorstellen. Wir haben doch Konserven. Wer sagt denn so was?«

Gustl lag müde in seinem Bett. »Ich weiß es nimmer. Jetzt muß ich schlafen.« Dann atmete er schon tief und gleichmäßig.

*

Heike Wiesner glaubte, sie höre nicht richtig, als Professor Stolzenbach sie am nächsten Tag fragte, ob sie eine Einladung zum Ausgehen annehme. Er und Monika Gratlinger sowie Dr. Berginger wollten in Mittenwald zum Essen gehen und sie würden sich sehr freuen, wenn sie sie begleiten würde.

Zuerst einmal schüttelte Heike den Kopf und sagte nein. »Das geht nicht, was soll ich mit Ihnen… also das geht einfach nicht.«

Clemens Stolzenbach hatte seinem Freund Martin versprochen, dafür zu sorgen, daß die hübsche Schwester mitkam, und er durfte jetzt nicht so ohne weiteres aufgeben.

»Warum nicht?« fragte er deswegen. »Sie haben sich derart nett und freundlich zu der Blutspendeaktion bereit erklärt, daß wir Sie sehr gerne dabei hätten.«

Wohl war Stolzenbach bei der Aktion nicht, denn er kannte seinen Freund Martin zu gut, vor allem dessen Art, Frauen zu konsumieren.

Ganz rasch verliebt war Martin Berginger in jedes hübsche Mädchen, und bei seinem

Charme war es kein großes Kunststück, sie für sich zu gewinnen. Wenn er wirklich wollte, hatte ihm bisher so gut wie keine Frau widerstehen können.

Heike Wiesner sah den Professor mit ihren wunderschönen Augen forschend an. »Es… es ist wirklich nur wegen der Blutspende?«

Stolzenbach wußte nicht, was er antworten sollte. Sagte er ja, konnte es falsch sein, sagte er nein, konnte die hübsche Schwester doch wirklich wer weiß was vermuten.

Der Professor entschloß sich für die ehrliche Variante und sagte: »Natürlich nicht nur wegen Ihrer freundlichen Geste. Auch weil wir… ich sag’s mal ganz offen, weil mein Kollege aus München mich gebeten hat, Sie zu bitten. Er findet Sie sehr nett…!«

Heike sah den Professor immer noch unschlüssig an. Dann huschte ein Lächeln um ihre Mundwinkel, schließlich nickte sie. »Und die Monika geht auch mit?«

Stolzenbach nickte. »Das will ich doch hoffen.«

»Na gut«, willigte Heike Wiesner daraufhin ein. »Aber es darf nicht zu spät werden.« Sie wurde ein wenig rot. »Schließlich hab’ ich am nächsten Tag wieder OP-Dienst.«

»Das ist doch nur ein kleines Programm«, sagte der Professor. »Ich freu mich, daß Sie mitkommen. Holen wir Sie zu Hause ab?«

Die hübsche Schwester nickte. »Gern…!«

»Um neunzehn Uhr?«

»Ich bin dann fertig. Die Moni weiß, wo ich zu Hause bin.«

Heike Wiesner war die Tochter eines kleinen Häuslers, und allein die Tatsache, daß Professor Stolzenbach, der sich in der Umgebung der Bergklinik während der kurzen Zeit seines Wirkens dort ein sehr hohes Ansehen erarbeitet hatte, sie zum Essen eingeladen hatte und sogar zu Hause abholte, sorgte dafür, daß vor allem ihre Mutter den ganzen Tag äußerst nervös war.

Lucie Wiesner hatte sich extra ein gutes Kleid angezogen, und als Professor Stolzenbach, Monika und Dr. Berginger an der

Haustür standen, öffnete sie und hätte fast einen Knicks gemacht.

»Kommen S’ nur herein, der Professor, die Heike ist fertig.« Dann begrüßte sie auch die anderen.

Die Stube des Wiesner-Hofes war klein, aber alles sah sehr adrett aus und hatte viel bäuerlichen Flair. Als sie im Herrgottwinkel Platz nahmen und Heikes Vater ihnen einen hausgebrannten Wurzelschnaps servierte, herrschte eine sehr entspannte und äußerst gemütliche Atmosphäre.

Dann betrat Heikes Großvater Alfons die Stube. Er stutzte und meinte, das sei aber eine noble Gesellschaft. Wer der Herren denn der berühmte Professor sei, wollte er dann noch wissen.

Heike stellte Stolzenbach vor, daraufhin nahm der Alte Clemens Stolzenbach beim Arm und zog ihn aus der Stube.

»Ich wollt’ Ihnen nur was zeigen«, sagte er, machte im Stiegenhaus seinen Oberkörper frei und zeigte auf die hohe, hintere rechte Rippenpartie. »Da schauen S’, Herr Professor, das Knöterl, hat das wohl was zu bedeuten?«

Normalerweise hätte Stolzenbach sich einfach auf dem Absatz umgedreht, doch dann sah er sich das »Knöterl« rasch an. »Wahrscheinlich ist’s nur eine kleine Fettgeschwulst.«

»Muß die herausgeschnitten werden?«

»Solange sie Sie nicht stört, kann sie bleiben, wo sie ist. Kommen Sie doch mal in die Bergklinik, daß wir genau untersuchen können, was Sie da haben.«

Der Alte grinste plötzlich. »Das würd’ den Vinzenz aber sehr wundern. Ich und in seiner Klinik. Ich bin noch nie bei einem Doktor gewesen.« Dann grinste er Stolzenbach an. »Na ja, Doktor sind Sie ja keiner. Sie sind Professor, und ein junger dazu. Und jetzt wollen S’ mit meinem Madel ausgehen? Was steckt denn da dahinter? Wenn Sie sich auch volkstümlich geben, trotzdem bleiben S’ immer noch ein Professor.«

Plötzlich fühlte sich Clemens Stolzenbach sehr unwohl in seiner Haut.

»Wir wollen nach Mittenwald zum Essen«, sagte er.

»Soso, zum Essen wollen S’. Da muß unbedingt die Heike dabei sein?« Alfons Wiesner nickte.

»Ja, Ihre Enkelin hat letztens während einer Operation sehr selbstlos Blut gespendet, und da dachte ich, ich könnte mich auf diese Art bedanken.« Clemens Stolzenbach traute sich nicht, dem Altbauern die Wahrheit zu sagen, nahm sich aber vor, peinlichst darauf zu achten, daß Martin Berginger seine Wünsche im Zaum halten würde.

»Blut gespendet hat das Madel?« Alfons Leuchner schien das nicht gewußt zu haben. Einen kleinen Augenblick dachte er nach, dann sah er Stolzenbach mit seinen wasserhellen Augen an. »Der andere Doktor drinnen, die Heike sagt, er wär’ aus München, will sich auch bei dem Madel bedanken?«

Nun fiel Stolzenbach keine rasche Antwort ein. Als er was daherreden wollte, winkte der Altbauer ab. »Lassen S’ nur, Professor, ich schätz’, daß das Madel ganz gut selbst auf sich aufpassen kann.« Dann grinste er. »Bestellen S’ dem Vinzenz schöne Grüße, und ich würd’ irgendwann mal vorbeischauen. Sie wissen schon«, er zeigte auf seine untere Rippenpartie.