Die Bergklinik 6 – Arztroman - Hans-Peter Lehnert - E-Book

Die Bergklinik 6 – Arztroman E-Book

Hans-Peter Lehnert

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Beschreibung

Die Arztromane der Reihe Die Bergklinik schlagen eine Brücke vom gängigen Arzt- zum Heimatroman und bescheren dem Leser spannende, romantische, oft anrührende Lese-Erlebnisse. Die bestens ausgestattete Bergklinik im Werdenfelser Land ist so etwas wie ein Geheimtipp: sogar aus Garmisch und den Kliniken anderer großer Städte kommen Anfragen, ob dieser oder jener Patient überstellt werden dürfe. "Ist der Chef nicht da?" Dr. Achim Sauer sah einen seiner Assistenten fragend an. Der schüttelte den Kopf. "Prof. Weinert kommt auch heute nicht." "Warum nicht?" Priv.-Doz. Dr. Achim Sauer war chirurgischer Oberarzt des Münchener Klinikums, siebenundvierzig Jahre alt, und in den letzten Wochen war sein Chef, Prof. Weinert, schon ein paarmal völlig überraschend nicht zum Dienst erschienen. "Das weiß ich nicht", antwortete der Assistent. "Vor zwanzig Minuten kam die Nachricht, daß der Professor heute nicht erscheinen wird." Achim Sauer bedankte sich und entließ den Assistenten. Dann ging er in das Ärztezimmer der Station, ließ sich hinter dem Schreibtisch auf einen hartgepolsterten Sessel fallen und stützte erschöpft den Kopf in beide Hände.

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Inhalt

Die Zeit drängt...

Wenn kein Arzt mehr helfen kann...

Die Bergklinik – 6–

Die Bergklinik

Hans-Peter Lehnert

Die Zeit drängt...

Roman von Hans-Peter Lehnert

»Ist der Chef nicht da?« Dr. Achim Sauer sah einen seiner Assistenten fragend an.

Der schüttelte den Kopf. »Prof. Weinert kommt auch heute nicht.«

»Warum nicht?« Priv.-Doz. Dr. Achim Sauer war chirurgischer Oberarzt des Münchener Klinikums, siebenundvierzig Jahre alt, und in den letzten Wochen war sein Chef, Prof. Weinert, schon ein paarmal völlig überraschend nicht zum Dienst erschienen.

»Das weiß ich nicht«, antwortete der Assistent. »Vor zwanzig Minuten kam die Nachricht, daß der Professor heute nicht erscheinen wird.«

Achim Sauer bedankte sich und entließ den Assistenten. Dann ging er in das Ärztezimmer der Station, ließ sich hinter dem Schreibtisch auf einen hartgepolsterten Sessel fallen und stützte erschöpft den Kopf in beide Hände.

Seit Wochen wurde Dr. Sauer mit Situationen konfrontiert, denen er nicht ausweichen, die er aber auch nicht so ohne weiteres lösen konnte. Prof. Weinert hatte die Operationspläne erstellt und selbstverständlich sich selbst auch eingeteilt. Wenn er ohne Vorankündigung nicht erschien, mußte Sauer oder ein anderer Kollege die Operation übernehmen, was insofern schwierig war, als er und alle Kollegen immer ausgelastet waren.

Achim Sauer nahm sich den OP-Plan vor und strich zwei Operationen vom Tagesplan, griff zum Telefonhörer und informierte die Station. Schließlich wurden die Patienten mit beruhigenden Injektionen auf die Operation vorbereitet, und die Psyche eines Menschen, der sich gedanklich auf einen Eingriff vorbereitete, mußte auch nicht unnötig strapaziert werden.

Während Dr. Sauer im Münchener Klinikum versuchte, den Tagesablauf der Chirurgie nicht zu sehr in Unordnung geraten zu lassen, beugte sich in der Grünwalder Villa Marion Weinert über ihren Vater, der völlig apathisch auf dem Bett lag, die Augen geschlossen hatte und manchmal vor Schmerzen sein Gesicht verzog.

»Du mußt einen deiner Kollegen konsultieren, Vati«, sagte Marion. »Dieser Anfall ist ja nicht der erste dieser Art. Schon vorige Woche…!«

»Ich weiß«, murmelte Ludwig Weinert. »Es ist eine Kolik, nichts weiter.«

»Wenn es eine Kolik sein sollte, dann muß auch die behandelt werden«, antwortete Marion. »Vor allem solltest du daran interessiert sein, die Ursache zu erfahren.«

Ein dünnes Lächeln huschte über Weinerts Gesicht, dann griff er nach den Händen seiner Tochter. »Daß du so besorgt um mich bist, habe ich gar nicht gewußt«, sagte er. »Hattest du nicht heute eine Verabredung am Chiemsee? Wieso bist du nicht gefahren?«

»Du bist vielleicht gut.« Marion schüttelte den Kopf. »Als ob ich wegfahren könnte, wenn du hier liegst und vor Schmerzen nicht weißt, wie du dich betten sollst. Du mußt einen gescheiten Kollegen konsultieren.«

»Denkst du an einen bestimmten?« Weinert sah seine Tochter fragend an.

Am liebsten hätte Marion sofort ja gesagt, aber sie hütete sich, denn wenn sie Clemens Stolzenbach ins Spiel gebracht hätte, hätte ihr Vater nur wieder die Fassung verloren.

»Nein«, antwortete sie deswegen, »das weißt du besser. Im Klinikum müßte aber doch ein Arzt sein, dem du vertraust. Irgendeiner zumindest.«

»Ich habe Prof. Paussner angerufen und werde mich ihm in der nächsten Woche vorstellen«, sagte Ludwig Weinert. »Bist du jetzt zufrieden?«

»Paussner?« fragte Marion. »Ist der nicht Chef der Inneren im Augsburger Klinikum? Wieso

fährst du bis nach Augsburg? Gibt es hier keinen Arzt, der die Ursache deiner Koliken gescheit diagnostizieren könnte?«

»Sicher gibt es den.« Weinert preßte für einen Augenblick beide Handflächen auf seine rechte Bauchseite und verzog dabei das Gesicht, dann entspannte es sich wieder.

»Und warum nimmst du dann den Weg nach Augsburg auf dich?«

»Weil ich bei Paussner sicher sein kann, die Diagnose nicht am nächsten Morgen in jeder Boulevardzeitung lesen zu können.«

Daraufhin starrte Marion ihren Vater betroffen an. »Du meinst, man würde deine Krankheit öffentlich diskutieren? Wieso das?«

»Weil die Geier wissen wollen, wann sie ihre Startposition beziehen müssen.« Ludwig Weinert lachte. »Aber noch möchte ich nicht abtreten, und wenn ich abtrete, möchte ich den Zeitpunkt bestimmen. Was meinst du, was es für ein Gerangel um die Position des Chefarztes der Chirurgie im Klinikum geben wird.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht.« Marion fuhr ihrem Vater mit einer liebevollen Geste über den Kopf und lächelte ihn dann zuversichtlich an. »Es wird schon nicht so schlimm sein. Und falls es Gallensteine sind, die dich plagen, dann…?«

»… behandelt man sie entweder medikamentös«, ergänzte ihr Vater, »oder aber man entfernt die Gallenblase.«

»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Ludwig Weinert, dann wurde sein Körper wieder von einer Schmerzwelle erfaßt.

»Kannst du denn gar nichts dagegen unternehmen?« fragte Marion. »Es gibt doch sicher Medikamente oder sonstwas, was die Schmerzen nicht so hochschnellen läßt.«

»Ich hab’ mir schon ein Mittel injiziert.« Weinert zeigte auf den Tisch, wo eine Injektionsnadel samt Glaszylinder lag. »Es ist ja auch schon besser. Mach dir mal keine Sorgen.«

Da stand Marion auf und verließ das Zimmer ihres Vaters. Vor der Tür blieb sie stehen und atmete tief durch.

»Ich hoffe für uns alle«, murmelte sie, nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, »daß du mit deinem Optimismus recht behältst.«

*

Peter Thonert lächelte die beiden Schwestern der Bergklinik äußerst freundlich an, dann fragte er, wo er Prof. Stolzenbach treffen könnte. »Den gibt’s doch hier bei Ihnen, oder?«

Die beiden Schwestern waren ausnehmend hübsch und noch in der Ausbildung, und wenn ein junger Mann daherkam, der einen netten Eindruck machte, dann gaben sie sich besonders freundlich.

»Und ob’s den Professor gibt«, antwortete eine der beiden. »Wollen Sie einen Termin oder weswegen sind Sie da?«

»Termin?« Peter Thonert lachte. »Meinen Sie, ob ich mich untersuchen oder gar operieren lassen will?« Er schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Aber ein Termin wär’ nicht schlecht. Ich bin nämlich extra aus München hergekommen, um mit dem Professor zu reden und…«

»Dann sind Sie ein pharmazeutischer Vertreter?« Die größere der beiden Lernschwestern sah ihn aufmerksam an. »Dann brauchen Sie gar nicht weiterzureden, weil der Professor alle Termine mit pharmazeutischen Vertretern genau abspricht. Wenn Sie also keinen Termin haben, dann sind Sie umsonst gekommen.«

»Also umsonst bin ich sicher nicht gekommen«, antwortete Peter Thonert. Dann lächelte er. »Schließlich hab’ ich Sie beide kennengelernt.«

Die beiden Schwestern begannen zu kichern, da gab Peter Thonert ihnen seine Karte.

»Wie Sie sehen«, sagte er, »bin ich von jener Firma, die den Computer-Tomographen installiert hat. Ich bin jetzt da, um dem Professor und seinem Team die nötigen Einzelheiten zu erklären. Das bedeutet, daß ich ihn sprechen muß, oder es geht nicht weiter bei Ihnen.« Wieder lächelte er ausgesprochen nett.

Die beiden jungen Schwestern steckten die Köpfe zusammen, dann hatten sie sich geeinigt.

»Kommen Sie«, sagte dann die größere der beiden, »ich bring’ Sie zu Prof. Stolzenbach.«

Der begrüßte Peter Thonert, als er wußte, wer er war, als kenne er ihn schon seit Jahren.

»Sie schickt mir der Himmel«, sagte er.

»Dank’ schön, daß Sie unsere Firma so freundlich benamen«, antwortete Peter Thonert, »aber eigentlich stehen wir mit beiden Beinen auf dem Boden.«

»Wie Sie gesehen haben«, Stolzenbach erhob sich, »ist alles fertig installiert, und jetzt warten wir darauf, loslegen zu können.«

»Deswegen bin ich da…!«

»Dann kommen Sie.« Stolzenbach ließ Peter Thonert vorgehen. »Kaffee gibt’s nachher.«

Als sie in der Röntgenabteilung waren, begann Peter Thonert, den Computer-Tomographen zu inspizieren, während Stolzenbach ihm interessiert zusah.

Irgendwann gesellte sich Magnus Kelterer, der chirurgische Oberarzt der Bergklinik, zu ihnen.

»Dauerst das noch was?« Fragend sah er Peter Thonert an.

»Der Check dauert etwa eine Stunde«, antwortete der.

»Dann müssen Sie uns jetzt nicht unbedingt dabei haben?«

»Wenn ich weiß, wo ich Sie finde, muß niemand dabei sein«, antwortete Thonert.

Als das geklärt war, nahm Kelterer seinen langjährigen Freund am Arm und ging mit ihm in einen der Nebenräume.

»Was ist denn?« fragte Clemens Stolzenbach. »Mich würd’ schon interessieren, was da getan wird.«

»Was ich vorhin erfahren hab’, ist sicher noch interessanter«, antwortete Magnus Kelterer.

»Klatsch und Tratsch aus dem Klinikum?« Stolzenbach winkte ab.

Beide waren im Streit mit Prof. Weinert aus dem Klinikum geschieden. Zuerst war Stolzenbach gegangen und hatte als Chefchirurg an der Bergklinik begonnen. Einige Monate später hatte er dann seinen Studienkollegen Magnus Kelterer als Oberarzt nachgeholt.

»Weinert fehlt in den letzten Wochen schon das wievielte Mal ohne vorherige Abmeldung«, sagte Magnus Kelterer, der wußte, daß Stolzenbach das Thema immer interessierte.

»Was soll das denn heißen?« fragte der.

»Man munkelt, er sei krank.«

Prof. Clemens Stolzenbach winkte kopfschüttelnd ab. »Wenn du für jedes Munkeln im Münchener Klinikum eine Mark bekommen würdest, dann könntest du deinen Oberarzt an den Nagel hängen.«

»Trotzdem ist er gestern wieder ohne vorherige Ankündigung nicht dagewesen«, ließ Magnus Kelterer sich nicht beirren. »Und für die kommende Woche hat er sich bereits drei Tage beurlauben lassen. Er will nach Augsburg, sagt man.«

»Laß den Mann doch nach Augsburg fahren.« Clemens Stolzenbach lachte. »Wir sind mit den Angelegenheiten des Klinikums nicht mehr konfrontiert. Es sei denn, du verbreitest pausenlos deren Munkeleien.«

»Jetzt tu nicht so, als interessiere dich nicht, was mit Weinert los ist.«

Dr. Clemens Stolzenbach beobachtete seinen langjährigen Kollegen einen Moment lang sehr intensiv. »Solange es das Klinikum mit Weinert an der Spitze gibt, solange wird es für uns keine Klinik sein wie jede andere.«

Stolzenbach sagte lange Zeit gar nichts, dann nickte er. »Du hast natürlich recht. Ich versuche immer nur, alles von mir fern zu halten. Wenn ich dann höre, was du sagst, interessiert es mich doch. Wie bewertest du denn eigentlich die Tatsache, daß Weinert nach Augsburg will?«

»Nach der Vorgeschichte des unerklärten Fernbleibens könnte es ein Gesundheitscheck sein«, antwortete Kelterer. »Für drei Tage hat er sich aus dem Klinikum abgemeldet.«

»Du meinst, er sei ernsthaft erkrankt?« Clemens Stolzenbach sah seinen Freund fragend an.

Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber es ist eine der Möglichkeiten. Jedenfalls werden sehr bald wieder Gerüchte um seine Nachfolge aufkommen. Womit du automatisch wieder im Spiel wärst.«

Clemens Stolzenbach nickte. »Das ist schon gut möglich. Aber wer auch immer versuchen sollte, mich zurück nach München ans Klinikum zu holen, der wird damit rechnen müssen, eine Ablehnung zu bekommen.«

»Ich weiß nicht, ob das wirklich vernünftig ist«, wandte Magnus Kelterer ein. »Als Chefchirurg des Klinikums bist du nicht nur im Zentrum des Geschehens, sondern auch stets umjubelter Mittelpunkt. Das liegt dir doch.«

»Danke für die nette Beurteilung.« Clemens Stolzenbach lächelte. »Aber du kannst sicher sein, daß ich hier in der Bergklinik bleiben werde. Hier hab’ ich zum ersten Mal so richtig Freude am Beruf. Und zwar ohne wenn und aber.«

Magnus Kelterer lachte. »Das kann ich mir vorstellen. Der Sonnenkönig hatte auch Freude an seinem Dasein.«

»Jetzt reicht’s!« Stolzenbach hatte sich auf einen Hocker gesetzt und stand jetzt auf. »Ich werde jetzt zu dem Tomographen-Techniker gehen und ihm ein bissel über die Schulter schauen. Wenn du dich mir anschließen willst, hab’ ich nichts dagegen. Wenn man nämlich was über das Innenleben einer Apparatur weiß, dann kann man sich manches erklären.«

*

Zwei Tage lang dauerten die Untersuchungen Prof. Weinerts in Augsburg. Prof. Paussner war ein Studienkollege und hatte Weinert unter anderem Namen empfangen, so daß so rasch niemand dahinterkommen konnte, daß der Chef des Münchener Klinikums sich in Augsburg einem Gesundheitscheck unterzog.

»Du schaust nicht gerade freundlich drein«, sagte Ludwig Weinert, als Paussner ihn zur Abschluß-Besprechung empfing.

»Ich hab’ dir auch nichts Freundliches mitzuteilen«, antwortete der Augsburger Professor.

»Dann zähl’ mal auf, was mein Innenleben so durcheinanderbringt.« Ein spöttischer Zug hatte sich um Weinerts Mundwinkel eingenistet. Doch wer ihn etwas kannte, der wußte, daß seine Mimik stets so reagierte, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte.

»Eine Cholezystitis (Gallenblasenenzündung) kann ja nicht so arg sein, daß man nichts dagegen tun könnte. Ich hab’ sicher ein paar Gallensteine, die man unter Umständen entfernen muß, aber…!«

»Ich muß dich enttäuschen, Ludwig«, unterbrach Prof. Paussner seinen Münchener Kollegen. »Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß du Gallensteine hast.«

»Wie bitte?« Prof. Weinert zog die Augenbrauen zusammen. »Und was kneift mich dann regelmäßig? Es sind eindeutig Kolikschmerzen.«

»Du hast aber selbst eingeräumt«, gab Franz Paussner zu bedenken, »daß selbst ein Spasmolytikum dich nicht von den Schmerzen befreit hat.«

Plötzlich war die spöttische Falte um seine Mundwinkel verschwunden, und ein wenig ängstlich sah Ludwig Weinert seinen Kollegen an. »Was ist es dann?«

Prof. Paussner stand auf und schaltete eine Lichtleiste ein, vor der einige Röntgenbilder hingen. Er zeigte auf einige Aufnahmen und sagte dann: »Es gibt keinen Zweifel, du hast einen Lebertumor. Deshalb möchte ich dich bitten, noch einen Tag hier zu bleiben, weil ich eine Biopsie machen will. Ich möchte sicher sein, was für eine Art von Tumor es ist.«

Ludwig Weinert saß ganz ruhig da, kein Muskel regte sich in seinem Gesicht.

»Soll ich dir einen Kaffee bringen lassen?« fragte Paussner nach einer Weile.

Weinert schüttelte den Kopf. »Wann willst du die Biopsie machen lassen?«

»Morgen in der Früh.«

»Ich werde um acht Uhr da sein.« Dann stand Weinert auf und sah seinen Kollegen sehr ernst an. »Wo sitzt der Tumor?«

»Schau selbst«, sagte Paussner und zeigte auf die Bilder, die der Computer-Tomograph ermittelt hatte. »Übrigens hat die Ultraschalluntersuchung das gleiche Ergebnis gebracht.«

Weinert zögerte einen Moment, dann ging er zur Tür. Die Röntgenbilder hatte er sich nicht angesehen. »Also, Franz, ich danke dir vorläufig und wir sehen uns morgen vormittag.«

Als Ludwig Weinert die Augsburger Klinik verlassen hatte, fuhr er nicht in sein Hotel, sondern in Richtung München und suchte eine kleine Gaststätte, wo er vor vierzig Jahren als Student ein paarmal mit einigen seiner Studienkollegen gewesen war.

Er hatte plötzlich eine große Sehnsucht nach seinem früheren, unkomplizierten Leben verspürt, wo er einer unter vielen gewesen war und wo ihn nicht alle anstarrten, über ihn redeten, in Zeitungen seine Arbeit kommentierten und in Rundfunkkommentaren sich darüber ausließen, wer denn wohl sein Nachfolger werden würde, obwohl nie jemand mit ihm darüber geredet hatte, ob er denn bereit war, abzutreten.

Im Grunde genommen wollte er sich schon längere Zeit nicht mehr dem Streß aussetzen, und wenn es bisher nicht schon so viele Diskussionen um seine Nachfolge gegeben hätte, er würde still und leise seinen Abschied eingereicht haben. Doch wenn ihn alle Welt anstarrte, konnte er nicht still und leise sein, jedenfalls nicht so, wie man es gerne von ihm gesehen hätte. Er würde die Biopsie am nächsten Tag und deren Ergebnis abwarten und dann würde er entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Er fand sogar nach den vielen Jahren noch die Abzweigung zu dem kleinen Lokal in dem Seitentälchen, an das er so oft hatte denken müssen und wo er nun wieder eine Enttäuschung erlebte.

Das kleine Lokal gab es nämlich nicht mehr, an seiner Stelle stand dort eine Mehrfamilienhaussiedlung, die sich in nichts von den Plattenbausiedlungen im Osten unterschied, und plötzlich war Ludwig Weinert deprimiert.

Die Niedergeschlagenheit wich auch am nächsten Morgen nicht, und als er abends auf eigenen Wunsch die Augsburger Klinik wieder verließ, hatte man ihm die Gewebeprobe entnommen. Ludwig Weinert würde jetzt nach Hause fahren, seiner Tochter eine lockere Fröhlichkeit vorspielen und dann abwarten müssen, was sein alter Freund Franz Paussner ihm sagen würde.

Als Weinert in seiner Grünwalder Villa eintraf, war alles dunkel. Marion war nicht da, auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem sie mitteilte, sie sei nun am Chiemsee und komme vor Sonntag nicht zurück.

Jetzt war Mittwoch, und Weinert war im Grunde genommen froh, daß er einmal ganz alleine sein konnte, wenn er auch befürchtete, daß er mental in ein tiefes Loch fallen würde, wenn er seine Depressionen nicht in den Griff bekam. Er nahm ein Antidepressivum, legte eine Platte auf und ließ sich auf den Klängen einer Beethoven-Symphonie in eine andere Welt entführen.

Als Ludwig Weinert Stunden später wieder wach wurde, saß er weit zurückgelehnt in seinem Sessel, und Beethovens Symphonie hatte für ihn ihren Zauber verloren.

Er ging zu Bett, und als er am nächsten Morgen aufwachte, rief er zuerst im Klinikum an und entschuldigte sich auch für den Rest der Woche. Mittags rief er dann in der Augsburger Klinik an, aber man konnte ihn nicht mit Prof. Paussner verbinden, weil der nicht da war und die Klinik vor zwei Stunden verlassen hatte.

Im Grunde genommen hätte Ludwig Weinert jetzt zufrieden sein können, weil Paussner nicht mehr in der Klinik war. Hätte die Biopsie ein für ihn schlechtes Ergebnis gebracht, Paussner hätte ihn sofort unterrichtet, oder aber, wie verabredet, seinen Anruf abgewartet. Da er die Klinik jedoch verlassen hatte, konnte das nur bedeuten, daß die Biopsie ohne Befund gewesen war.

Dann läutete es an der Tür, und plötzlich ahnte Ludwig Weinert, daß Franz Paussners Fehlen in der Klinik eine andere Ursache hatte, er vermutete nämlich, daß er vor seiner Tür stand.

So war es. Ludwig Weinert öffnete und bat seinen Kollegen ins Haus, ohne ihn lange zu begrüßen.

»Würden wir im alten Griechenland leben«, sagte Ludwig Weinert lediglich, »dann müßtest du jetzt um dein Leben fürchten.«

»Wieso…?«

»Weil man Überbringer schlechter Nachrichten getötet hat.« Weinert lächelte.

Alle Spannung war plötzlich von ihm abgefallen. Als Paussner ihm dann die Ergebnisse der Biopsie kommentierte, spielte er nicht den Ruhigen, sondern er war ruhig.

»Ludwig«, sagte Paussner, »hast du verstanden, was ich dir erläutert habe? Du mußt dich operieren lassen und zwar sehr schnell. Die Prognose ist gut. Noch gut. Du hast keine Zirrhose, noch nicht, und der Tumor ist operabel. Kombiniert mit Zytostatika hast du die allerbesten Aussichten. Du mußt jetzt nur einen geschickten Chirurgen finden.«

Daraufhin lächelte Ludwig Weinert und murmelte leise vor sich hin: »Genau das ist das Problem.«

»Wieso?« Weinert verstand seinen Kollegen nicht. »Du bist Chef des Klinikum und selbst Chirurg. Du wirst doch einen erstklassigen Chirurgen kennen.«

»Das ist nicht die Frage«, antwortete Weinert, »ich kenne den besten Chirurgen überhaupt.«

»Na also…!« Paussner atmete tief durch.

»Ich werde ihn aber nicht bemühen können.« Weinerts Mimik war plötzlich spottbeladen. So als wolle er sich selbst einen Spiegel vorhalten.

»Das verstehe ich nicht.« Prof. Franz Paussner sah seinen Kollegen aufmerksam an.

»Das versteht niemand«, murmelte Weinert daraufhin, »kein Mensch versteht das.«

*

Marion Weinert stand wie versteinert da, als ihr Vater ihr am Sonntag eröffnete, daß er unter einem bösartigen Lebertumor leide.

»Aber da muß man doch was machen können«, sagte Marion. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und zu Clemens Stolzenbachs Zeiten im Münchener Klinikum mit ihm liiert gewesen.

Die äußerst lockere Art ihres Umgangs mit Stolzenbach – mit der Treue hatte sie es nicht immer ganz genau genommen – und ihre damals sehr oberflächliche Lebensweise hatten sie schließlich auseinandergebracht, und kurz darauf hatten Stolzenbachs Probleme mit Prof. Weinert begonnen.

»Kann man«, antwortete Ludwig Weinert, »kann man.«

»Und was muß getan werden?« Marion sah ihren Vater ängstlich an.

»Ich müßte operiert werden«, antwortete der, »und zwar sehr rasch.«

»Ja, und warum sitzt du dann hier herum? Du könntest längst im Klinikum sein.«

»Du meinst also, ich sollte mich im Klinikum operieren lassen?« Um Weinerts Mundwinkel lag wieder jener selbstironische Zug.

»Wo denn sonst? Oder hast du kein Zutrauen zu den Chirurgen dort? Du hast sie doch selbst ausgebildet. Achim Sauer zum Beispiel. Das ist einer deiner Oberärzte oder…!«

»Ich kenne meine Mitarbeiter…!« Ludwig Weinert ging zum Fenster und sah hinaus.

»Das heißt, du würdest nicht ins Klinikum gehen?«

»Nein, würde ich nicht. Vor allem, weil ich dann nur im Gerede wäre.«

»Das bist du auch, wenn du irgendwo anders hingehst, um dich operieren zu lassen.« Dann sah Marion ihren Vater eindringlich an. »Wie schlimm ist es denn?«

»Es ist ein Leberkarzinom und sitzt ganz dicht bei der Vena cava inferior, das ist die untere Hohlvene.«

»Was heißt das übersetzt?«

»Es ist Leberkrebs, mandarinengroß oder größer, und sein Zentrum sitzt unweit eines der größten Blutgefäße des Körpers.«

»Das bedeutet…?«

»Daß nur ein erstklassiger und äußerst gescheit vorgehender Chirurg erfolgreich ist.«

Daraufhin schwiegen beide. Bis Marion sich räusperte.

»Du weißt, wer dieser Chirurg ist«, sagte sie. »Da gibt es eigentlich nichts zu überlegen.«

»Er scheidet aus«, antwortete Ludwig Weinert, obwohl kein Name erwähnt worden war.

»Dein in diesem Fall eh dummer Stolz ist größer als dein Wunsch nach Wiederherstellung deiner Vitalkraft?« Marion schüttelte den Kopf. »Anstatt froh zu sein, daß Clemens Stolzenbach derart erfolgreich ist, schließlich ist er einer deiner Schüler, bist du böse auf ihn und weißt nicht mal richtig, warum. Im Gegenteil, es wurmt dich, daß er es geschafft hat, und zwar…!«

»Ich möchte nicht darüber reden!« Ludwig Weinerts Stimme klang so, daß weitere Erörterungen zu dem Thema völlig sinnlos waren.

»Und was willst du tun?« Marion sah ihren Vater eindringlich an. »Denn daß etwas getan werden muß, hast du ja selbst gesagt. Du darfst nichts mehr aufschieben.«

»Es ist mein Leben…!«

»Entschuldige bitte, Vater«, sagte Marion da, »aber bist du noch ganz gescheit? Du bist selbst Chirurg, hast wie vielen Leuten das Leben gerettet und nun, wo du selbst einmal Hilfe benötigst, tust du so, als sei das Leben nichts wert? Ich kann dich nicht verstehen. Warum rufst du nicht einfach bei Clemens in der Bergklinik an? Ich bin mir ganz sicher, er wird dich mit offenen Armen empfangen.«

Prof. Weinert lachte kurz auf. »Da dürftest du allerdings recht haben. Natürlich würde er mich mit offenen Armen empfangen. Das würde ich an seiner Stelle auch. Eine Stunde später ist die Presse da und verlangt meine Statements. Nein, nein, schlag dir das aus dem Kopf. Ich werde nachher Paussner anrufen.«

»Aber der ist doch kein Chirurg…!«

»Er wird aber einen wissen.«

»Ist die Operation wirklich so gefährlich?« Marion sah ihren Vater ängstlich an. »Es gibt in München doch zig Krankenhäuser, da muß es doch mindestens zwei Dutzend erstklassiger Chirurgen geben, die eine solche Sache operieren können.«

Weinert lachte kurz auf. »Wenn du sie der Reihe nach fragst, die jungen aufstrebenden Herren Kollegen, dann können sie alles. Es würde keiner nein sagen. Schließlich würden sie ja die Chance haben, sich auszuzeichnen. Aber wirklich erstklassige Operateure gibt es nur sehr wenige.«

»Womit wir wieder bei Clemens wären.« Marion sah ihren Vater eindringlich an. »Wenn du ihn nicht kontaktest, dann werde ich es tun.«

»Du wirst dich unterstehen.« Weinert ging in der Stube auf und ab, schließlich blieb er wieder am Fenster stehen. »Stolzenbach hat mir schon vor Jahren meine Grenzen aufgezeigt. Er war noch im ersten oder zweiten Jahr seiner Facharztausbildung, da hat er ein Darmkarzinom mit einer solchen Geschicklichkeit operiert, daß ich mich geschämt hab’. Er war damals schon besser, als ich je gewesen bin. Er hat das, was man landläufig Talent nennt. Hinzu kommt sein Arbeitseifer, manche nennen es auch Ehrgeiz. Diese Mischung macht ihn zu einem wirklich großen Chirurgen.«

»Ja, um alles in der Welt, warum gehst du denn nicht zu ihm und bittest ihn, dir zu helfen?« Marion Weinert sah ihren Vater an, als zweifle sie an dessen Verstand.

Der schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht. Und wenn ich wüßte, daß Stolzenbach der einzige Chirurg ist, der mir helfen könnte, dann würde ich nicht zu ihm gehen und bitten, sich meines Problems anzunehmen.«

Im selben Moment wurde sein rechter Oberbauch von einem anfallartigen Schmerz durchfahren, so daß Weinert laut aufschrie und sich heftig krümmte. Der Schmerz wurde in Intervallen ständig schlimmer, Prof. Ludwig Weinert fiel kurzfristig sogar zweimal in ein Koma, so daß Marion sich nicht anders zu helfen wußte, als die Not-Ambulanz anzurufen und ihn ins Klinikum bringen zu lassen.

Zwei Stunden später hatte es sich wie ein Lauffeuer im gesamten Klinikum herumgesprochen, daß der Chef, Prof. Ludwig Weinert, an einem lebensgefährlichen Leberkarzinom erkrankt war. Marion hatte dem ihren Vater aufnehmenden Arzt die Diagnose aus Augsburg mitgeteilt.

Wieder eine Stunde später klingelte in der Bergklinik das Telefon, und Priv.-Doz. Dr. Peter Lohmann, der Chefpathologe des Klinikum und bester Freund Prof. Clemens Stolzenbach, verlangte diesen zu sprechen.

»Der Professor ist nicht da«, antwortete die Schwester.

Da Lohmann auch schon in Clemens Stolzenbachs Haus angerufen hatte, fragte er, ob der Oberarzt, Magnus Kelterer, zu sprechen sei. Kurz darauf hatte er ihn am Apparat.

»Ich habe versucht, Clemens zu erreichen«, sagte Lohmann, »ich bekomm’ ihn aber nicht.«

»Er ist mit Monika auf einer Alm«, antwortete Kelterer. Dann lachte er. »Hier draußen hat man halt ein bissel größeres Spektrum, seine Freizeit zu gestalten als in der Stadt. Kann ich ihm was ausrichten?«

»Das kannst du«, antwortete Dr. Lohmann.«

»Dann schieß mal los.« Magnus Kelterer grinste. »Hat Weinert sich endgültig entschlossen, Clemens seine Nachfolge selbst anzubieten?«

Einen Augenblick war es still in der Leitung, dann sagte Peter Lohmann: »Weinert hat ein Leberkarzinom. Es sitzt in der Nähe der Cava inferior. Keiner traut sich ran, das heißt, Weinert will niemanden mit der Operation beauftragen. Marion war hier und hat mir alles erzählt. Sie ist mit den Nerven völlig am Ende.«

»Weinert hat ein Leberkarzinom«, murmelte Magnus Kelterer. »Das darf nicht wahr sein, bei allen Heiligen…!« Ganz in Gedanken legte er den Hörer auf die Gabel.

*

Clemens Stolzenbach saß für einige Augenblicke völlig benommen da, als Magnus Kelterer ihm nach seiner Rückkehr von der Predigtstuhl-Alm die Nachricht von Prof. Weinerts Erkrankung erzählt hatte.

»Woher weißt du es?« fragte er nach einer Weile. »Nicht daß irgendein Schwatzkopf…!«

»Peter Lohmann hat angerufen.« Magnus Kelterer ließ seinen langjährigen Studienfreund gar nicht erst ausreden.

»Dann stimmt es auch«, murmelte er nachdenklich.

»Was meinst du, was jetzt passieren wird?« wollte Kelterer wissen.

Stolzenbach zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das kommt auf verschiedene Faktoren an. Aber die kennst du ja selbst.«

»Ich meinte es weniger aus medizinischer Sicht.«

»Aus welcher denn?«

»Weinert wird unters Skalpell müssen«, sagte Magnus Kelterer, »und ich bin sicher, daß man dich fragen wird, ob…!«

Clemens Stolzenbach schüttelte den Kopf. »Das würde Weinert niemals tun.«

»Genauso kannst du ausschließen, daß er sich am Klinikum operieren läßt«, gab Kelterer zu bedenken.

»Da hast du auch wieder recht…!« Clemens Stolzenbach hatte die Nachricht von der Erkrankung seines alten Professors noch immer nicht verdaut und wirkte nach wie vor sehr nachdenklich.

Magnus Kelterer musterte ihn lange. »Wenn es nicht so eine verdammt ernste Angelegenheit wäre, würde ich dir jetzt eine Wette anbieten.«

»Was für eine Wette?«

»Daß man dich doch fragen wird.«

Stolzenbach überlegte lange, dann sah er Magnus Kelterer an. »Was wäre dann, wenn man uns fragen würde?«

»Dich würde man fragen«, entgegnete der, »mich würde man mit in Kauf nehmen. Also mußt allein du entscheiden, wie deine Antwort lauten würde. Da läßt du mich besser raus.«

Clemens Stolzenbach stand auf und atmete tief durch. Dann sah er auf die Uhr.

»Ich werde jetzt nach Garmisch fahren und so tun, als wüßt’ ich von der ganzen Sach’ noch nichts«, sagte Clemens Stolzenbach, während er zur Tür ging. Er hatte Monika Gratlinger versprochen, seinen freien Tag mit ihr zu verbringen. Die hübsche Medizinstudentin hatte ihre Examensvorbereitungen extra unterbrochen, nur um ein wenig mit Stolzenbach zusammensein zu können.

»Ich wünsch’ dir, daß es dir gelingt, die Sache mit Weinert wenigstens für die nächsten Stunden aus deinem Kopf zu verbannen«, antwortete Magnus Kelterer, sah dabei aber skeptisch drein.

Als Clemens Stolzenbach in Richtung Sterzenhof fuhr – er wollte Monika abholen – dachte er ständig an Ludwig Weinert und irgendwann auch an dessen Tochter Marion.