Die Bestimmung des Bösen - Julia Corbin - E-Book
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Die Bestimmung des Bösen E-Book

Julia Corbin

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Beschreibung

„Schließ die Augen und zähl bis hundert.“ Dies sind die letzten Worte, die Alexis von ihrem Vater hört. Kurz darauf sind ihre Eltern tot, und das kleine Mädchen bleibt als Waise zurück, verfolgt von traumatischen Erinnerungen.

Dreiundzwanzig Jahre später ist Alexis Hall Kommissarin bei der Mannheimer Kripo. Die wahren Gründe, warum sie zur Polizei ging, kennt niemand. Als mehrere brutal entstellte Frauenleichen in einem Wald entdeckt werden und sie die Ermittlungen leiten soll, holt sie ihre Vergangenheit ein. Denn die weißen Anemonen, mit denen die Toten geschmückt sind, kennt Alexis nur zu gut - aus ihrer Kindheit …

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Das Buch

»Schließ die Augen und zähl bis hundert.« Dies sind die letzten Worte, die Alexis von ihrem Vater hört. Kurz darauf sind ihre Eltern tot, und das kleine Mädchen bleibt verstört zurück …

Dreiundzwanzig Jahre später: Zwei tote Frauen, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, abgelegt in einem Waldstück am Rhein. Es ist der Beginn einer brutalen Mordserie, bei der die Mannheimer Kommissarin Alexis Hall die Ermittlungen leitet. Einzig die Insekten, die von den Leichen Besitz ergriffen haben, liefern erste Hinweise über die Todesumstände. Noch während die Kriminalbiologin Karen Hellstern alles versucht, um den Tathergang anhand von Maden und Käfern zu rekonstruieren, kommt es zu weiteren Morden. Doch der Täter scheint sein Muster geändert zu haben. Als Alexis Hall die Opfer sieht, könnte ihr Schock nicht größer sein: Denn die weißen Anemonen, mit denen die toten Frauen nun geschmückt sind, kennt sie nur zu gut – aus ihrer eigenen Kindheit …

Die Autorin

Julia Corbin, geboren 1980, studierte Biologie in Heidelberg. Die Arbeit als Biologin inspirierte sie auch zu ihrem ersten Thriller. Ihre große Leidenschaft für Nervenkitzel lebt die Autorin nicht nur in ihren Büchern, sondern auch bei Sportarten wie Kite- und Windsurfen oder Extrem-Hindernisläufen aus. Sie wohnt mit ihren Hunden im Landkreis Heilbronn und gibt Kurse in Kreativem Schreiben.

JULIA  CORBIN

DIE

BESTIMMUNG

DES

BÖSEN

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München Umschlagmotive: © David Koschek/artshock; Shutterstock Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-20148-7V002
www.diana-verlag.de

Do you not see

how necessary a world of pains and troubles is

to school an intelligence and make it a soul?

JOHN KEATS

1

London vor 23 Jahren

»Daddy, wo gehen wir hin?«

Das magere Mädchen mit den regengrauen Augen klammerte sich an den Mann, der sie aus ihrem Kinderbett hob und ins Treppenhaus eilte. Die Farbe blätterte von den Wänden, schmieriger Dreck färbte die Ecken. Wie jede Nacht dröhnte Musik aus der Wohnung nebenan. Harte Beats zu einer noch härteren Stimme, doch das Kind nahm es kaum wahr. Zu vertraut waren der Lärm, das Geschrei und der süßliche Geruch nach Hasch und Feuchtigkeit. Sie drehte ihren Kopf, spähte über die Schulter ihres Vaters nach ihrer Mutter, die ihnen mit einer schweren Tasche um die Schultern und einen Koffer hinter sich herziehend mühsam folgte. Ein Hosenbein ihres Lieblingspyjamas – der mit den rosa Ponys darauf – hing heraus und schleifte über den Boden.

Sie hasteten die Treppe hinunter, begleitet vom Kratzen des Koffers auf dem Steinboden. Als die Eisentür zur Tiefgarage aufging, fing das Mädchen an zu weinen. Gerade noch hatte sie von ihrem Geburtstag geträumt, von Kuchen mit klebrigem Zuckerguss. Nun fand sie sich im grellen Licht und Surren der Leuchtstoffröhren wieder. Sie hörte das angestrengte Keuchen ihrer Mutter, die unterdrückte Panik in der Stimme ihres Vaters, als er sie zur Eile antrieb. Roch die Angst, den Geruch zu vieler Zigaretten und spürte seinen kratzigen Bart an ihrer Wange.

Er setzte sie hinten in ihrem verbeulten Auto ab, schnallte sie an und gab ihr einen Kuss. »Keine Angst, Lil’Bee. Daddy ist da.« Sie sah ihn an, den Riesen, der sie so leicht in die Luft werfen konnte, dessen Hände sie sanft kitzelten, wenn sie abends im Bett lag. Sie wollte ihm glauben.

Hinter ihr hörte sie ihre Mutter rufen, gefolgt von einem Ruck, als der Koffer ins Fahrzeug gewuchtet wurde. Das Garagentor setzte sich mit einem kreischenden Geräusch in Bewegung. Ihr Vater fluchte, zog ihre Mutter mit sich. Sie sah sie diskutieren, sich anschreien, bis sich ihre Mutter plötzlich in seine Arme warf. Er umklammerte sie, presste sie an sich. Dann rannte sie zurück zum Auto; ihr blauer Seidenrock flatterte unordentlich um ihre Beine. Sie setzte sich neben das Mädchen auf den Rücksitz, vergrub ihren Kopf in ihren Haaren.

»Wir wollten es besser machen.« Ihre Stimme brach. Sie sah sie mit tränennassen Augen an. In diesem Moment bekam das Mädchen wirklich Angst.

»Mommy, bleib bei mir!«, schrie sie so laut ein achtjähriges Mädchen es konnte.

»Ich kann nicht, mein Schatz. Mommy hat dich lieb. Mach du einmal alles anders.« Sie beugte sich vor, strich ihr liebevoll über die Wange, wischte die Tränen weg und gab ihr einen Kuss. »Ich liebe dich so sehr. Du bist das Beste, was ich je zustande gebracht habe.«

Dann war sie verschwunden, ersetzt durch die dunkle Gestalt ihres Vaters. Auch seine Augen waren feucht, und wenn sie nicht schon halb verrückt vor Angst gewesen wäre, hätte dieser Anblick sie in Panik versetzt. Ihr Daddy, der immer genau wusste, was zu tun war, erschien so hilflos.

Ein Quietschen erklang in ihrem Rücken, aus der Richtung des Tores, und plötzlich war es hell, schrecklich hell. Gehetzt blickte ihr Vater über seine Schulter, dann wandte er sich ihr erneut zu. »Wir spielen jetzt ein Spiel«, sagte er ernst.

Sie nickte. Alles, wenn sie nur davonfahren würden. Raus aus dieser Tiefgarage, an einen Ort, an dem Mommy und Daddy sich nicht anschrien, wo sie wieder stark waren und nicht voller Angst.

»Schließ die Augen, Lil’Bee.«

Sie gehorchte, am ganzen Körper zitternd, umklammerte dabei seinen Arm. Das Licht war so grell, dass es sie selbst durch ihre Augenlider hindurch blendete.

»Nun zähl langsam bis hundert. Das kannst du doch?«

Sie nickte erneut.

»Versprich mir, nicht zu schummeln.«

»Okay. Und was passiert dann?«, presste sie mit vom Schluchzen rauer Kehle hervor.

Stimmen drangen zu ihnen, aus derselben Richtung, aus der auch das Licht kam.

»Dann sind wir an einem besseren Ort.«

»Es ist so weit«, hörte sie ihre Mutter vor der Autotür sagen. Sie klang plötzlich ganz ruhig.

Das Mädchen nahm die Antwort ihres Vaters nicht wahr, spürte nur seine weichen Lippen und den kratzigen Bart, als er ihr einen Kuss gab. »Ich liebe dich, Lil’Bee.« Dann war er fort.

Sie begann zu zählen.

1 … 2 … 3 …

Da waren aufgeregte Stimmen.

4 … 5 … 6 …

Die Stimmen wurden lauter, fordernder.

Das Mädchen presste die Augen fest zusammen, drückte sich tief in ihren Sitz.

7 … 8 … 9 … 10 … 11 …

Ein dröhnender Knall.

Das Mädchen wimmerte.

12 …

Noch mehr Rufe. Schreie.

13 … 14 … 15 … 16 … 17 … 18 …

Eine Serie von Geräuschen, die sie an ein Feuerwerk erinnerten.

19 … 20 …

Stille.

21 …

Hastige Schritte.

Sie kam bis 49, dann war da eine weiche Hand. »Bist du verletzt?« Eine fremde, sanfte Stimme. Trotzdem kniff sie die Augen weiter zusammen.

73 … 74 … 75 … 76 … 77 … 78 … 79 …

Sie hatte es ihrem Vater versprochen. Sie wollte an diesen besseren Ort, wollte nicht zurückgelassen werden. Sie zählte verbissen weiter. Auch als noch zwei Fremde kamen, sie abschnallten und aus dem Auto hoben.

96 … 97 … 98 … 99 …

100.

Sie öffnete die Augen. Und die Welt war eine andere.

2

Heute

Der Geruch nach feuchtem Stein, Mäusekot und Schimmel kroch wie ein übel riechender Schleim über ihre Nase in die Mundhöhle. Sie wollte ausspucken, um den widerwärtigen Geschmack loszuwerden, doch ein dickes Klebeband verschloss ihre Lippen, verschluckte den Schrei, der in ihrem Inneren aufbrandete, als sie sich erinnerte:

Aufwachen im Dunkeln. Ein Albtraum? Das Herz rast, der Atem hechelt. Schritte? Oder nur ein Tier auf dem Dach? Der Griff nach dem Lichtschalter fährt ins Leere. Was? Wo ist die Lampe? Jäh ein Gewicht auf dem Brustkorb. Hände, die sie niederdrücken. Keine Luft. Angst. O Gott, solche Angst. Strampeln. Brennen in der Lunge. Die Bewegungen erlahmen. Schwärze.

Ihr umnebelter Verstand versuchte zu analysieren, was mit ihr geschehen war, suchte das Unfassbare zu begreifen. Anni, schoss es ihr durch den Kopf. Was war mit ihrer Tochter? Erst vor zwei Wochen, kurz nach ihrem ersten Geburtstag, hatte ihr Mann sie dazu überredet, die Kleine endlich in ihrem eigenen Zimmer schlafen zu lassen, nur noch über ein Babyfon mit ihr verbunden. Mehr Zweisamkeit, Fernsehen im Bett und Lesen, solange sie wollte – traumhaft –, aber sie hatte es nicht so recht genießen können. Rabenmutter, flüsterte ihr eine altbekannte Stimme zu. Das erste Mal war sie in Erscheinung getreten, als sie nach sechs Monaten wieder angefangen hatte, als Steuerfachgehilfin in Teilzeit zu arbeiten. Jeden Morgen, wenn sie Anni zur Oma brachte, raunte es in ihrem Kopf. Wann immer die Erschöpfung sie zu lähmen drohte und sie sich an die sorglosen Zeiten vor der Geburt zurückerinnerte, schlugen die Schuldgefühle zu. Sollte eine Mutter denn nicht ihr ganzes Glück in ihrem Kind finden?

Plötzlich tasteten Finger kühl und irgendwie sachlich über ihren Körper. Sie wollte sich wehren, aber ihre Hände waren mit Klebeband auf den Rücken gefesselt, die Füße aneinandergebunden. Fest und unnachgiebig verhinderte es jede Gegenwehr. Sie wand sich im Griff des Unbekannten, während sich Tränen in den ebenfalls mit Klebeband verschlossenen Augen sammelten. Die Finger verschwanden. Stille. Dann ein reißendes Geräusch aus einigen Metern Entfernung, gefolgt von einem gedämpften Stöhnen.

O Gott. Wie viele waren noch hier?

Schließlich ein Scharren, als würde ein Körper über den Boden geschleift.

Schlagartig war er wieder da. Sie konnte nicht sagen, woher sie wusste, dass es ein Mann war, aber sie war sich dessen ebenso sicher wie der Tatsache, dass sie ihre Tochter niemals wiedersehen würde. Nie mehr Annis glucksendes Lachen, kein Milchbrei und Birnenmus.

Er beugte sich über sie. Sein saurer Atem blies ihr in den Nacken. Dann zerschnitt er das Klebeband an ihren Füßen, packte sie an den Haaren und zerrte sie auf die Beine. Sie bekam nicht genug Luft, versuchte panisch durch die verklebten Lippen einzuatmen.

Sei eine gute Mutter, sagte sie sich, und kämpfe. Anni braucht dich. Sie riss sich los, ignorierte das Brennen der ausgerissenen Haarbüschel, taumelte blind nach vorne. Doch sie kam nicht weit. Ein heftiger Schlag ins Gesicht warf sie nieder. Er meinte es ernst. Todernst. Er packte sie am Nacken, führte sie einige Schritte vorwärts, bevor sie stehen blieben. Dann klirrte es – ein helles, metallisches Geräusch, wie von den Klammern, mit denen man Christbaumkugeln aufhängt. Letzte Weihnachten war Anni noch zu klein gewesen, um an den Vorbereitungen teilzunehmen, dieses Jahr wollten sie alles zusammen machen: einen Tannenbaum schmücken, Lebkuchen und Plätzchen backen und das ganze Haus mit selbst gebastelter Weihnachtsdekoration überladen.

Bitte, flehte sie ihren Mann in Gedanken an, was auch immer mit mir geschieht, lass unsere Tochter ein richtiges Weihnachtsfest erleben.

Eine Drahtschlinge wurde um ihren Hals gelegt, dünn und kalt. O bitte! Nein!

Dann ein heftiger Ruck an dem Klebeband über Augen und Mund. Es nahm Fetzen der empfindlichen Haut und ihre Wimpern mit. Feurige Wellen des Schmerzes schossen durch ihre Nervenbahnen.

Sie hörte erneut einen unterdrückten Schrei in ihrer Nähe. Eindeutig eine Frau. Dann blendete sie ein grelles Licht, das von allen Seiten zu kommen schien. Sie zuckte zurück, woraufhin die Schlinge sich tiefer in ihr Fleisch schnitt. Voller Angst blieb sie bewegungslos sitzen. Sie hatte nie zu den Mutigen gehört.

Wieder das Geräusch von Klebeband, das von Haut abgerissen wurde. Ein heiserer Schmerzensschrei, in dem so verzweifelte Hilflosigkeit mitschwang, dass es sie bis in ihr Innerstes erschütterte.

»Susie«, krächzte eine raue Stimme. Eine Stimme, die ihr vertraut war, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Mit der sie gelacht, geweint, gestritten, diskutiert und sich versöhnt hatte.

Das Licht erlosch bis auf eine einzelne, flackernde Glühbirne an der Decke, und nach einigen Sekunden sah sie sie. Oder zumindest das, was von ihrer besten Freundin übrig war. Sie kauerte wenige Meter von ihr entfernt auf dem kahlen Zementboden. Der nackte Körper von Dreck besudelt. Das Haar klebte in dunklen Strähnen an ihrem von Panik entstellten Gesicht. Ihre zerschnittenen Finger krampften wie bei einem Epileptiker. Susann musste für einen Moment die brennenden Augen schließen, als sie sah, wie eine dicke schwarze Spinne langsam über die Brüste ihrer Freundin kroch, einen Bogen um ihre hellbraunen Brustwarzen zog. Ihre Freundin nahm es nicht wahr. Sie starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an, murmelte fortwährend. »Nein, nicht Susie. Nein. Nur nicht sie.«

Dann zwang Susann sich, ihren Blick auf den Hals ihrer Freundin zu richten, auf die feine Drahtschlinge, die sich wie bei ihr selbst tief ins Fleisch grub.

Der Draht kam von der Decke, erlaubte es ihr gerade so aufrecht zu sitzen. Sobald sie sich auch nur ein Stück bewegte, ließ er neue Ströme von Blut heraussickern.

Susann zuckte reflexartig nach vorne, wollte ihrer Freundin zu Hilfe eilen, da spürte sie einen schneidenden Schmerz. Der Draht an ihrem eigenen Hals biss unbarmherzig in ihr Fleisch. »Nein!« Ihr Schrei wurde von den Wänden zurückgeworfen.

3

Nur für einen Augenblick erwog Alexis Hall, Erste Kriminalhauptkommissarin, das erbarmungslose Klingeln ihres Handys zu ignorieren, das Gerät womöglich aus dem Fenster zu werfen. Es war Sonntag, und nach der Flasche Wein, die sie gestern geleert hatte, um die Albträume zu vertreiben, dröhnte ihr Schädel. Diese Träume verfolgten sie seit ihrer Jugend, gewährten ihr kaum eine ruhige Nacht, und seit dem Tod ihrer Adoptivmutter war es so schlimm geworden wie nie zuvor. Sie wagte es in letzter Zeit kaum die Augen zu schließen und verbrachte die Tage übermüdet und mit heftigen Kopfschmerzen.

Mit halb offenen Augen entzifferte sie die verschwommenen Leuchtziffern auf ihrem Wecker: 3:45 Uhr. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Sich aus dem gemütlichen Bett schälen, zitternd Kleidung überwerfen, um in das kalte Auto zu steigen und darauf zu warten, dass der Motor warm genug wurde, damit die Heizung ihren Dienst tun konnte. Und das alles nur, um mit einer neuen Gräueltat konfrontiert zu werden. Was auch immer sie erwarten mochte, um die Uhrzeit konnte es nichts Gutes sein.

Mit vom Schlaf belegter Stimme meldete sie sich, genoss die Sekunde der Ruhe, nachdem das schrille Klingeln verstummt war.

»Ich bin in zehn Minuten bei dir«, drang die scheußlich muntere Stimme von Kriminalhauptkommissar Oliver Zagorny an ihr Ohr. »Keine Stöckelschuhe, es wird matschig.«

Bevor sie antworten konnte, hatte er bereits aufgelegt. Typisch Oliver. Vermutlich war seine Art zu telefonieren einer der Gründe, warum er mal wieder Single war. Welche Frau mochte es schon, wenn der Freund mitten im Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten, auflegte?

Wie Alexis liebte er das Landleben und hatte sich tief in den Odenwald zurückgezogen. Er lebte auf einem kleinen Hof, direkt an einem Bach, wo er seinen eigenen Salat und Kartoffeln anbaute. Zudem beherbergte er drei Hunde und vier Katzen – allesamt tierische Waisen, die er bei sich aufgenommen hatte, als er dabei war, die Morde an ihren ehemaligen Besitzern zu untersuchen. Alexis wohnte nicht weit entfernt in Peterstal, einem winzigen Ort im Odenwald, offiziell noch ein Teil von Heidelberg. Hier konnte sie sich vom Gelärme der Stadt, den Verbrechen und dem Chaos erholen, benötigte dafür aber eine gute halbe Stunde, bis sie an ihrem Arbeitsplatz in Mannheim war.

Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die sie wegen ihrer kleinen Füße in der Kinderabteilung kaufen musste, und ging nach unten in die Küche, wo sie Kaffee aufsetzte. Während die Maschine arbeitete, putzte sie sich die Zähne, richtete ihre blonde Kurzhaarfrisur und zog sich an. Nach einem Blick aus dem Fenster entschloss sie sich, auf Wimperntusche zu verzichten. Bei dem strömenden Regen würde sie ansonsten innerhalb von Minuten wie ein Pandabär aussehen.

Sie war gerade fertig und stand mit einem Glas Wasser und einem Aspirin am Spülbecken, als die Scheinwerfer eines herannahenden Autos aufleuchteten. Rasch schluckte sie die Tablette, ging in die Diele und öffnete die Tür, um sie einen Spalt offen stehen zu lassen, bevor sie zwei Tassen Kaffee einschenkte.

Oliver kannte sie gut genug, um direkt die Küche anzusteuern und eine dampfende Tasse entgegenzunehmen. »Fairtrade?«, fragte er nach dem ersten Schluck.

»Klar«, log Alexis. Sie war zu müde für einen neuerlichen Vortrag über die Ausbeutung brasilianischer Kaffeebauern. Kritisch musterte sie ihn. Er trug Gummistiefel, Armeehose und eine dunkelgrüne Öljacke, gekrönt von einem Hut mit breiter Regenkrempe, unter dem sein immer weiter nach hinten weichender Haaransatz nicht so auffiel. »Brechen wir zu einer Urwaldexpedition auf?«

Er blickte an sich herab. »Dicht dran. Zwei Leichen auf der Reißinsel.« Alexis’ Kater Aaron trollte sich in die Küche, und Oliver bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen.

Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich hoffe, das ist kein Trick, um mich endlich dahin zu bekommen.« Seit Jahren versuchte er sie davon zu überzeugen, mit ihr das direkt bei Mannheim gelegene Naturschutzgebiet zu besuchen, in dem seltene Vögel brüteten. Doch so gerne sie auch außerhalb der Stadt lebte, war sie kein Mensch für Spaziergänge im Wald, Vogelbeobachtung und alles, was mit direkter Konfrontation mit wilder Natur und mangelndem Komfort zu tun hatte.

»Wenn du mir nicht glaubst, übernehme ich die Leitung in dem Fall. Die Chefin hat sicher vollstes Verständnis.« Oliver grinste.

»So weit kommt es noch.« Sie leerte ihren Kaffeebecher, zog ein paar Trekkingschuhe und eine dicke Jacke an. Ersatzkleidung benötigte sie nicht – sie hatte immer welche im Büro.

Normalerweise hätte sie bevorzugt, mit ihrem eigenen Auto zu fahren. In ihrem übermüdeten Zustand genoss sie es jedoch, auf der freien Autobahn die Augen zu schließen und in einen Halbschlaf zu gleiten.

Irgendwann holperte der Wagen über eine Bodenwelle und riss sie aus ihrem Dämmerzustand. Nach einem Augenblick der Orientierungslosigkeit realisierte sie, dass sie sich dem Rhein näherten.

»Tatsächlich die Reißinsel«, stellte sie fest. »Wie hat der Kerl die Leichen nur dahin gebracht?«

»Vielleicht hat er einen Schlüssel für die Schranken. Um die Jahreszeit ist nachts nicht viel los, und ein Auto, das ohne Licht fährt, fällt nicht auf.«

Immerhin ein Ansatzpunkt, auch wenn damit sämtliche Jäger, Förster, Fischer und eine ganze Reihe Gemeindemitarbeiter infrage kamen.

Langsam ergriff sie die fiebrige Erwartung, die sie jedes Mal bei einem neuen Fall packte. Wenn alles offen war und sich noch keinerlei Zweifel darüber aufgetan hatten, ob man den Täter schnappen würde.

»Wie geht es Lene?«, fragte sie, um das erneute Schweigen zu brechen.

»Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher.«

»Ist das gut oder schlecht?« Sie hatte seine Exfrau nie gemocht und den Kopf darüber geschüttelt, dass ein intelligenter Mann wie ihr Partner auf endlos lange Beine und blondiertes Haar hereingefallen war. Das einzig Gute, das aus dieser Beziehung hervorgegangen war, war seine Tochter.

Er lachte trocken. »Schlecht, zumindest in diesem Fall. Sie will Weihnachten jetzt doch lieber mit ihr verbringen. Skifahren in den Rocky Mountains – da kann ich nicht mithalten.«

»Das tut mir leid«, sagte sie aufrichtig und verfluchte seine Ex erneut für das miese Spiel, das sie mit ihm trieb. Sie liebte alles, was teuer war, hatte sich schon wenige Jahre nach der Hochzeit nicht mehr mit dem Gehalt eines Polizisten zufriedengegeben und sich einem Banker an den Hals geworfen. Zu Olivers Kummer hatte sie das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter erhalten und drängte ihn nach und nach aus ihrem Leben.

»Wo zum Teufel bringst du mich nur hin?«, fragte sie, als sie in einen schmalen Weg einbogen.

»Die Leichen liegen mitten auf der Insel in der Hartholzaue in Rheinnähe. Momentan sind wir noch in dem angrenzenden Waldpark – wärst du mal mit mir hierhergekommen, wüsstest du das. Die Reißinsel liegt in einer Rheinschleife und wird von dem Bellenkrappen begrenzt, einem schmalen Rheinarm, wodurch eine Art Halbinsel entsteht. Hier brüten sogar Eisvögel«, schwärmte Oliver und setzte zu einem Ornithologievortrag an, der erst endete, als vor ihnen das Blaulicht von Polizeiautos auftauchte. Sie warfen ihr gespenstisches Leuchten auf die Weiden, die am Wegrand wuchsen. Die Fahrzeuge sperrten den Parkplatz vor dem Strandbad ab, das an die Reißinsel grenzte.

Alexis und Oliver zeigten zwei Beamten ihre Dienstausweise, die daraufhin erleichtert nickten. Vermutlich warteten sie auf das Auftauchen der Journalisten und den Kampf, den sie dann ausfechten mussten, um sie vom Leichenfundort fernzuhalten. Bei so einem unübersichtlichen Gelände, das im Halbdunkeln des anbrechenden Tages lag, keine leichte Aufgabe.

»Da vorne kommt eine Schranke – anschließend fahren Sie links auf eine unbefestigte Straße, der Sie in den Wald hinein folgen, bis Sie auf die anderen Fahrzeuge stoßen«, beschrieb der eine Polizist in das offene Fenster von Olivers Auto gebeugt.

Sie fuhren weiter über den feuchten, beinahe sumpfartigen Boden. Wann immer die Scheinwerfer in den Wald strahlten, leuchteten ganze Wasserflächen auf, zum Teil durchbrochen von umgestürzten Bäumen. Über weite Flächen wuchsen die Pflanzen direkt aus dem Wasser, wodurch Alexis sich in eine urzeitliche Welt zurückversetzt fühlte. Selbst der Weg wurde matschig, und als der Schlamm bis zur Heckscheibe hochspritzte, freute sie sich, nicht mit ihrem eigenen Auto gefahren zu sein.

Endlich tauchten die Blau- und Flutlichter auf, die die Welt dem Geheimnisvollen entrissen und in die nackte Realität mit ihren Analysegeräten und Vorschriften zurückholten.

Sie waren kaum ausgestiegen, da kam ihnen auch schon Matt Volkers entgegen, ein untersetzter Endfünfziger mit weißem Ziegenbart, der bereits im Dienst gewesen war, als sie frisch von der Hochschule kam. Wie üblich wanderte sein Blick mit kaum verhüllter Missbilligung über sie hinweg, um bei Oliver hängen zu bleiben. Volkers war kein schlechter Kerl, aber von der alten Schule. In seinen Augen sorgten Frauen für Unruhe in den Rängen der Polizei, lenkten die Männer ab und brachten sie damit in Gefahr. Zu gerne stützte er sich dabei auf die körperliche Überlegenheit männlicher Beamter, wobei er geflissentlich ignorierte, dass er seinen Zenit selbst schon lange überschritten hatte. Zudem hegte er eine Abneigung gegen Homosexuelle, Punks, Goths und alles, was nicht in sein Schema eines 08/15-Bürgers passte. Sein vorurteilsvolles Verhalten gegenüber Kollegen hatte ihm bereits eine Degradierung eingebracht, die ihn noch verbitterter werden ließ. Die meisten seiner Kollegen sehnten die Zeit seiner Pensionierung herbei, doch trotz allem wusste Alexis ihn in ihrem Team zu schätzen. Er war zuverlässig, pflichtbewusst, scharfsinnig und immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. »Die Leichen befinden sich im Wasser. Kein schöner Anblick. Die Spurensicherung ist fast durch, und der Tod wurde ebenfalls bescheinigt.«

»Männlich oder weiblich?«, fragte Alexis.

Volkers hob eine Augenbraue. »Zwei Frauen. Wir haben einige Streifenbeamte losgeschickt, um das Gebiet abzusuchen, nicht dass der Irre hier noch mehr abgeladen hat.« Er hatte zwar ihre Frage beantwortet, sah dabei aber nur Oliver an.

Am schlimmsten sind die, die ganz genau wissen, wie gut sie sind, dachte Alexis, während sie den Männern zum Fundort folgte. Bei ihrer geringen Größe kein einfaches Unterfangen. Manchmal glaubte sie, bis zu den Knöcheln im Morast zu versinken.

»Welcher Staatsanwalt wurde uns zugeteilt?«, erkundigte sie sich.

»Milbrecht.«

Alexis presste die Lippen aufeinander, während sie gleichzeitig einer großen Pfütze auswich, bis sie mit einem Blick auf die vor ihr liegende geschlossene Wasserfläche einen Seufzer ausstieß und in das schlammige Wasser trat.

Die toten Frauen mochten Ende zwanzig sein. Schwierig zu sagen bei dem Zustand, in dem sie sich befanden.

4

Die Frauen saßen einander im knöcheltiefen Wasser gegenüber, nur mit Slips bekleidet. Ihre Rücken lehnten an zwei dicht nebeneinander stehenden Bäumen, und die Beine waren ineinander verschränkt, wie beim Liebesspiel. Die Münder klafften weit auf, die Köpfe ruhten jeweils auf der Schulter der anderen, als wenn sie sich zum Kuss vorbeugten. So verdeckten sie den verstümmelten Hals der jeweils anderen. Die Haut war an dieser Stelle regelrecht abgeschält worden, und das rohe Fleisch lag offen. Maden suhlten sich in der Wunde. Die Augenhöhlen waren leer; Lippen und Ohren waren weggefressen.

Alexis beugte sich vor und entdeckte bei einer der Frauen in der Brust ein kleines Loch. Oliver spähte über ihre Schulter. »Eine Schusswunde?«

Sie wartete mit einer Antwort, bis sie auch die andere Leiche untersucht hatte. »Offenbar hat der Täter nur die eine Frau erschossen. Bei der anderen kann ich kein Einschussloch sehen.« Sie fasste die Tote mit ihrer behandschuhten Hand unterm Kinn und hob den Kopf etwas an. »Der hat sich Zeit gelassen«, murmelte Alexis nach einem Blick auf die punktförmigen Einblutungen in der zarten Haut der Augenpartie. Wären die Augen noch vorhanden, hätte man auch in ihnen die sogenannten Petechien gesehen – ein Hinweis auf einen langsamen Tod durch Erdrosselung oder Ersticken.

Sie trat einen Schritt zurück, um das Szenario erneut auf sich wirken zu lassen. Sie brauchte keinen Rechtsmediziner, um zu wissen, dass die Frauen nicht erst seit ein paar Tagen hier lagen. »Wissen wir bereits etwas über die Opfer?«

Volkers schüttelte den Kopf. »Ihre Identität konnte bisher nicht geklärt werden. Der Mann, der sie gefunden hat, kennt sie nicht.«

Alexis horchte auf. »Wer war das? Ist er noch hier?«

»Nein, hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt und wurde auf Anraten des Notarztes von zwei Kollegen nach Hause gebracht.« Er blätterte in seinem Notizbuch. »Lothar Ochs.«

Oliver lachte trocken auf. »Mit dem Namen hatte er sicher keine einfache Jugend.«

Volkers runzelte missbilligend die Stirn. »Er arbeitet als Fleischkontrolleur im FVZ, dem Fleischversorgungszentrum, also im Schlachthof. In seiner Freizeit untersucht er Fledermäuse. Deshalb war er nachts hier unterwegs.«

»In einem schlechten Krimi hätten wir damit wohl unseren Verdächtigen«, sagte Alexis.

»Dann muss der Kerl aber ein herausragender Schauspieler sein, so grün, wie der im Gesicht war. Dachte mir noch, dass er einen schwachen Magen hat für jemanden, der im Schlachthof arbeitet.«

Alexis nickte. Sie glaubte auch nicht, dass es so einfach sein würde. »Fällt dir etwas auf?«, fragte sie Oliver und deutete auf die Frauen.

»Außer dass wir es mit einem kranken Schwein zu tun haben?«

»Sie sind vollkommen unterschiedlich. Die eine hat grellrot gefärbte Haare und ist mollig, die andere zierlich und braunhaarig.«

»Na und?«, fragte Volkers unbeeindruckt.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, erklärte Alexis. »Entweder kannte der Täter die beiden Opfer und ermordete sie aus persönlichen Gründen, oder er wählte sie nach Kriterien aus, die nicht mit ihrem Aussehen zusammenhängen.«

Oliver nickte. »Viele Serienkiller stehen auf einen bestimmten Typ. Andere dagegen wählen nach weniger offensichtlichen Gesichtspunkten aus, wie der Zodiac-Killer, der in erster Linie junge Pärchen ermordete.«

»Und was bringt uns diese Erkenntnis?« Volkers fasste sich scharf einatmend an seinen Rücken und dehnte sich mit schmerzerfülltem Gesicht. Sie ignorierte die Frage und ging den Fundort in großem Bogen ab, während die Kriminaltechniker weiterhin Spuren sicherten. »Die Frauen wurden nicht hier getötet?«, fragte sie.

»Laut Spurensicherung nicht. Der Drecksack muss sie hierhergebracht haben.«

»Ganz schön weit, um zwei Leichen zu tragen.«

»Vielleicht hat er einen Schlüssel für die Schranken und das Tor.«

»Daran haben wir auch schon gedacht, aber trotzdem betreibt er damit immer noch einigen Aufwand. Wenn er sie nur loswerden wollte, hätte er sie in einem leichter zugänglichen Waldstück ablegen oder einfach im Fluss versenken können.«

»Dann glaubst du, dass dieser Ort eine besondere Bedeutung für ihn hat?«, fragte Oliver.

»Oder er wohnt in der Nähe, hat möglicherweise ganz offiziell Zugang zu dem Gebiet und wollte jederzeit heimlich zu ihnen zurückkehren können. Das soll Norden entscheiden.« Dr. Wolfgang Norden war Psychologe und beriet sie regelmäßig bei schwierigen Fällen. Beim Anblick der Leichen war Alexis sofort klar, dass sie seine Hilfe benötigen würden. Das trug nicht die Handschrift eines Anfängers oder sprach für eine Handlung im Affekt. Nein, sie spürte, dass sie es mit jemandem zu tun hatten, der Spaß am Töten hatte. Und so jemand würde nicht so schnell damit aufhören.

Bei dem Gedanken an die vor ihr liegende Jagd, das Messen mit einem anderen Geist, überkam sie ein Gefühl der Vorfreude, und sie fragte sich, ob etwas mit ihr nicht stimmte. Sollte sie nicht vor Mitleid und Ekel niedergeschmettert sein, anstatt diese unheilige Hochstimmung zu empfinden? »Wir brauchen Hellstern«, sagte sie leise.

5

Karen Hellstern war eine Biologin, die sich auf Käfer und Fliegen spezialisiert hatte und die Polizei regelmäßig als öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige bei Mordfällen beriet, bei denen der Todeszeitpunkt vom Rechtsmediziner nur noch schwer einzuschätzen war. Sie untersuchte sowohl sterbliche Überreste als auch die Tat- und Fundorte auf sämtliche biologische Spuren, ob es Käfer, Fliegen oder Blumensamen waren. Durch bestimmte Insektenarten, die sie an Leichen fand, ließ sich dann beispielsweise feststellen, wo ein Opfer ermordet wurde und ob Todes- und Fundort voneinander abwichen. Das Alter von Maden an den Toten gab ihr Aufschluss darüber, wie lange ein Mensch schon tot sein musste. Durch ihre weitreichende Einbindung kam es dabei immer wieder zu Konflikten mit der Rechtsmedizin.

»Wurde bereits verständigt«, antwortete Volkers zu ihrer Überraschung.

In dem Moment hörte sie das typische Knattern von Karens altem VW-Bus, von dem der himmelblaue Lack abblätterte, und niemand wusste, wie er den letzten TÜV bestanden hatte. Nur wenige Minuten später stapfte die Biologin mit klobigen Gummistiefeln, die ihr bis über die Oberschenkel reichten, an den Fundort. Eingehüllt in einen dicken Parka, unter dessen Kapuze ihre vorwitzigen rotblonden Locken hervorschauten.

Alexis erwischte sich zum ersten Mal an diesem Tag bei einem aufrichtigen Lächeln. Sie war mit Karen und ihrer jüngeren Schwester Louise seit der Schulzeit befreundet. Als Karen zum Studium nach Kiel zog, verloren sie sich zwar aus den Augen, nahmen aber wieder Kontakt auf, als Karen nach Heidelberg zurückkehrte und seither neben ihrer Anstellung an der Universität als Beraterin für die Mannheimer Polizei tätig war. Inzwischen war sie zu einer engen Vertrauten geworden.

Die Polizisten und Mitarbeiter der Kriminaltechnik vor Ort grüßten sie kurz, wandten sich dann aber wieder ihrer Arbeit zu. Die Zeiten, in denen »die Käferfrau« – ein Spitzname, den sie nicht mehr los wurde – wie ein seltenes Ausstellungsstück begafft wurde, waren vorbei. Inzwischen hatte man sich an sie gewöhnt, und seit ein Täter überführt werden konnte, nachdem sie den Mageninhalt einer Stechmücke, die in dessen Auto entdeckt worden war, analysiert und dabei die DNA des Opfers nachgewiesen hatte, zollte man ihr Respekt.

»Was haben wir denn hier?«, rief sie mit ihrer hellen, fast schon zu hohen Stimme. Sie war einer der wenigen Menschen, die voller Enthusiasmus an einen Fundort stürmten, sich nicht von den Gerüchen nach Fäulnis und Verwesung oder gelben Sekreten, grüner Haut und schwarz verfärbten Gliedmaßen beirren ließen.

»Zwei Leichen, weiblich, teils unter Wasser, eine vermutlich erschossen.«

»Hat Dürrast sie bereits gesehen?«

Oliver schnaubte. »Um diese Zeit? Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass er hierherkommt?«

Karl Dürrast war Rechtsmediziner, und im Gegensatz zu einigen Kollegen legte er keinen Wert darauf, eine Leiche vor Ort zu untersuchen. Ihm genügte die erste Begegnung in seinem sterilen, sorgfältig organisierten Obduktionssaal, indem er als alleiniger Herrscher auftrat.

»Seid ihr so weit fertig?«

»Wir müssen noch die Umgebung absuchen, also halte dich an den abgesteckten Weg«, rief Volkers ihr nicht gerade freundlich zu, aber sie ignorierte sein Gehabe – Alexis war sich nicht sicher, ob sie seinen unfreundlichen Ton überhaupt bemerkte, so konzentriert war sie auf ihre Arbeit.

Als Karen ohne zu zögern in das knöcheltiefe Wasser watete, verkniff Alexis sich die Warnung, dass die Leichen kein schöner Anblick seien. Wenn man eine Biologin zurate zog, war es das selten.

Für Anfang Oktober herrschten milde Temperaturen, und so waren die Fliegen, Käfer und Maden schon zugegen, um sich an dem scheinbar nur für sie angerichteten Festmahl gütlich zu tun. Kaum vorstellbar, dass das fahle, aufgedunsene Fleisch zu zwei Menschen gehörte, die vor nicht allzu langer Zeit noch lebendig gewesen waren; jede ihr persönliches Leben gehabt hatte. Jetzt saßen sie in dem braunen Wasser, in dem sich allerlei Getier wand, an ihrer Haut nagte und Fangmasken voller Zähne in ihr Gewebe schlug. Alexis’ Freundin ging vor der ersten Leiche in die Knie. An ihrem Spezialgürtel klimperten die Schraubgläser und Probenbehälter. Während sie sich ein paar Handschuhe anzog, sah sie zu Alexis hinüber, die sie aus ein paar Metern Abstand beobachtete. »Die Strahler waren nicht hilfreich, aber das habe ich euch oft genug gesagt. Durch das grelle Licht und die Hitze verkriechen sich viele Tiere, und manche Käfer fliegen davon. Sobald die Leichen abtransportiert wurden, werde ich Fallen aufstellen, um noch ein paar Insekten zu fangen – eventuell gibt es eine auffällige Verteilung der Arten.«

Alexis lehnte sich gegen einen Baumstamm und wappnete sich für den Vortrag, der nun folgen würde. Karen lehrte als Privatdozentin an der Universität Heidelberg, und das Referieren lag ihr im Blut, sodass sie während ihrer Arbeit fortwährend redete. Ein junger Polizist, scheinbar frisch von der Hochschule, beobachtete sie gebannt, während sie zuerst mit einem weißen Becher, der an einem langen Stab befestigt war, ins Wasser dippte und ihren Fang in ein Schraubglas gab. »Leider ist nahezu nichts über nekrophage Wasserlebewesen bekannt – ich werde dennoch eine Probe untersuchen.«

»Nekro … was?«, fragte Oliver. Wie immer war er völlig fasziniert von ihrer Arbeit, fast ebenso wie der junge Mann.

»Nekrophage Lebewesen. Das sind Organismen, die sich von sich zersetzendem Gewebe, also Aas, ernähren.« Sie zog eine Pinzette aus ihrem Gürtel, umfasste mit der anderen Hand den Kopf der Toten und zog vorsichtig Maden aus den leeren Augenhöhlen. Den Vorgang wiederholte sie an der Nase und dem Hals, der nur noch aus von Maden durchsetztem, gräulichem Fleisch bestand. »Ihr wisst vermutlich bereits, dass das Gebiet nicht dauerhaft überflutet ist?«, fragte Karen und blickte auf.

Alexis schüttelte den Kopf. »Nein, woran erkennst du das?«

»Ich fange in dieser Gegend öfters Käfer. Wir befinden uns im Überflutungsgebiet des Rheins. Bei Hochwasser kann das gesamte Areal geflutet werden, und auch kräftiger Regen sorgt für die ein oder andere Überschwemmung.«

»Dann hat der Täter sie eventuell abgeladen, als hier noch kein Wasser war?«

»Möglich. Ohne den Zeitpunkt, zu dem die Leichen herausgebracht wurden, den Pegeldaten und den Niederschlagswerten kann ich es nicht mit Gewissheit sagen. Sie liegen ja nicht erst seit zwei Stunden hier.«

Plötzlich durchzuckte der Blitz einer Kamera in schneller Folge die Dunkelheit. Alexis vermutete zunächst einen übereifrigen Mitarbeiter der Spurensicherung, der für seine Aufzeichnungen noch Material benötigte. Doch dann sah sie auf und entdeckte eine vertraute Gestalt nur wenige Meter entfernt an einen Baumstamm gelehnt. »Erik«, entfuhr es ihr.

Oliver folgte ihrem Blick, und als er die Person erkannte, runzelte er die Stirn. »Darf ich mich um ihn kümmern? Ich würde ihn zu gerne in Gewahrsam nehmen.« Er lächelte wie im Scherz, aber Alexis wusste, dass er es durchaus ernst meinte. Die beiden Männer hatten sich vom ersten Moment an nicht leiden können und suchten nur nach einer Gelegenheit, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen.

»Das ist meine Angelegenheit«, erwiderte sie knapp.

»Wie du meinst.« Oliver wandte sich erneut Karen zu und folgte interessiert ihren Untersuchungen. In diesem Moment hätte auch Alexis sich lieber weiter ihrer Arbeit gewidmet, als sich mit dem Mann auseinanderzusetzen, von dem sie einst gedacht hatte, ihn lieben zu können.

6

»Wie zum Teufel bist du hier reingekommen?«, fuhr sie ihn an.

Er stieß sich vom Baum ab und stellte sich direkt vor sie, wodurch er noch größer und breiter wirkte, als er ohnehin schon war. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass er Reporter war, hätte sie ihn ohne Weiteres für einen professionellen Sportler gehalten. Die Flutlichter ließen seine braunen Augen fast honigfarben wirken, und sein blondes, kurzes Haar sah zerzauster aus als sonst. »Du kennst mich – Beziehungen sind in meinem Job alles.« Er lächelte sie entwaffnend an – genau dieses Lächeln hatte ihr vor einigen Monaten so gefallen, als sie sich im Alten Dorn, einem Brauhaus, in dem sich die Polizisten regelmäßig trafen, das erste Mal begegnet waren.

Sie wollte ihn nicht merken lassen, wie sehr sie seine Gegenwart verunsicherte. Oliver hatte sie gewarnt, dass es keine gute Idee war, sich auf einen Aasgeier, wie er Journalisten nannte, einzulassen. Sie hatte natürlich nicht auf ihn gehört, und so hatte das Unglück seinen Lauf genommen.

Erst kam die kurze vorbehaltlose Phase der Verliebtheit, dann die erste Verunsicherung. Die Art, wie er sich ständig ein wenig unruhig durch die Haare strich und keine Gelegenheit ausließ, um sein Spiegelbild zu kontrollieren. Die ständigen WhatsApp-Nachrichten und Anrufe, die ihr vermutlich nur sein Interesse vermitteln sollten, bei ihr aber das Gefühl auslösten, überwacht zu werden. Sie wusste, dass es nur Kleinigkeiten waren, trotzdem machte er sie irgendwie nervös. So begann sie, sich von ihm zu distanzieren. Seither fragte sie sich, ob sie zu kritisch war, einfach ungeeignet für eine Beziehung. Jede andere Frau wäre begeistert gewesen, einen derart gut aussehenden, weltgewandten und gebildeten Mann zu finden, während sie das klärende Gespräch vor sich hinausschob. War sie dabei, einen Fehler zu machen, oder war es richtig, auf ihren Instinkt zu hören?

»Gib mir deine Kamera, damit ich die Bilder löschen kann.« Er ignorierte ihre Worte, streckte eine Hand aus und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Ich hätte dich gerne zu der Beerdigung begleitet.«

Bei der Erinnerung an den Tod ihrer Adoptivmutter zuckte sie zusammen. Plötzlicher Herztod. Ohne Vorwarnung war sie beim Einkaufen zusammengebrochen. Sie hatte ein so großes Loch in Alexis’ Leben hinterlassen, dass sie nicht glaubte, es jemals füllen zu können. »Es war besser so. Mein Vater kann schwierig sein.«

»Kommst du halbwegs zurecht?«

Sie nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Dass sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte? Ihre Adoptivmutter hatte die Familie zusammengehalten, war ihr Anker gewesen, der sie immer wieder aus den Untiefen des Lebens gezogen hatte.

Erik sah sie zärtlich an. »Soll ich dich morgen Abend zum Essen abholen? Dann können wir über alles sprechen.«

»Um zwanzig Uhr?« Damit blieben ihr noch etwas mehr als sechsunddreißig Stunden, um sich zu einer endgültigen Entscheidung durchzuringen. »Jetzt solltest du aber gehen.«

»Verrat mir wenigstens, was passiert ist. Du darfst dafür das Restaurant aussuchen.« Er zwinkerte ihr zu. »Ihr gebt doch später ohnehin eine Pressekonferenz.«

»Und du weißt ganz genau, dass wir erst kurz vorher festlegen, was an die Öffentlichkeit gelangen darf und was nicht.«

»Dass es zwei Leichen sind, ist kein Geheimnis. Frauen?«

Sie seufzte. »Gib mir endlich die Kamera, dann bekommst du eine Antwort.«

»So energisch gleich«, grinste er und reichte ihr seine Canon.

»Erspar mir deine Chauvi-Kommentare«, erwiderte sie und löschte seine Aufnahmen. »Es sind zwei weibliche Opfer, beide wurden hier abgeladen. Sie müssen schon eine Weile draußen liegen. Mehr kann ich dir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, und nun verschwinde, bevor ich mir Ärger einhandle.«

»In Ordnung. Aber irgendwann müsst ihr die Journalisten eh ranlassen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, nahm seine Kamera und wandte sich zum Gehen. Alexis winkte nach einem Streifenpolizisten, der ihn bis zu seinem Auto begleiten sollte, damit er nicht noch einmal unerlaubt Fotos schoss. Es fühlte sich seltsam an, ihn so zu behandeln, doch es musste sein.

Sie starrte ihm noch eine Weile hinterher, bis sie Olivers Räuspern in die Realität zurückholte. Sie ging noch einmal zu den Leichen.

»Soll das das Einschussloch sein?« Karen deutete auf ein kreisrundes Loch von etwa zwei Zentimetern Durchmesser in der grünlich verfärbten Haut.

Volkers nickte. »Dürrast wird das Geschoss für uns sichern.«

»Ich bezweifle, dass er etwas finden wird.« Sie leuchtete mit einer kleinen Maglite hinein. »Das ist die Brutkammer eines Käfers.«

Der junge Polizist wurde schlagartig blass, und Alexis hielt sich bereit, um ihn notfalls schnell wegzubringen, damit er nicht den Fundort verunreinigte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Frischling seinen Mageninhalt auf wichtigen Beweisen verteilte.

»Du meinst, dass sich da ein Tier hineingefressen hat?«, fragte Oliver.

»Bevor ich das mit Sicherheit sagen kann, muss ich während der Obduktion die Eier oder eventuell adulten Organismen in der Höhlung sichern, aber es gibt verschiedene Arten, die infrage kommen. Oft sind es Nicrophorus, auch Totengräber genannt, die als Pärchen kleines Aas vergraben. Anschließend legt das Weibchen neben den Kadaver ihre Eier. Die geschlüpften Käferlarven fressen sich dann ins Innere. Sind die Überreste jedoch zu groß, wie in diesem Fall, fressen die erwachsenen Tiere eine Höhle direkt in den Körper und verteidigen diese gegen andere Käfer.«

»Danke für diese appetitlichen Informationen. Kannst du uns auch mehr über die mögliche Todesursache der Frauen sagen?«

»Das Besondere ist, dass der Hals zersetzt wurde.« Sie machte sich mit der Pinzette ans Werk und holte hinter einem Wirbel eine knapp einen Zentimeter bemessende Made hervor. »Die Art kann ich ohne Mikroskop nicht bestimmen, doch Fliegen legen ihre Eier bevorzugt an Körperöffnungen oder weiche Körperteile, wie die Augen. Der Hals ist keines von beidem. Warum wurde er also als primäres Ziel ausgewählt?«

»Weil sie dort verletzt war«, sagte Alexis leise.

Karen nickte zufrieden, als wäre sie eine ihrer Studentinnen. »Genau. Wunden ziehen sie ebenso sehr an, fast noch mehr, da einige Arten frisches Blut bevorzugen.«

»Dann wurde ihr die Kehle durchgeschnitten?«, fragte Oliver.

»Mag sein. Es kann aber auch eine oberflächliche Verletzung gewesen sein.«

Die ersten Töne von Elvis’ King Creole erklangen und verkündeten, dass Alexis eine SMS erhalten hatte. Rasch holte sie ihr Handy hervor und stellte fest, dass ihr Empfang zwischen nicht vorhanden und einem mageren Balken schwankte. Das erklärte die vier Anrufe, bei denen nur ihre Mailbox angesprungen war. Sie las die Nachricht, registrierte die Uhrzeit und runzelte die Stirn. Die Zeit war schneller vergangen, als sie erwartet hatte. »Wir müssen gleich los«, sagte sie leise zu Oliver. »Heute Morgen soll die Pressekonferenz stattfinden, und die Chefin will vorher ein Update.« Dann wandte sie sich an Karen. »Kannst du mir eine kurze Zusammenfassung geben?«

Die Biologin nickte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Meiner ersten Einschätzung nach wurden die Leichen hier deponiert, als es noch heiß und trocken war, wodurch die Körper zu schnell austrockneten, um den Maden als Nahrung zu dienen. Dann setzte die Überflutung ein, wodurch das nun unter Wasser liegende Gewebe aufgeweicht wurde und damit erneut dem Tierfraß ausgesetzt war. Da ich Tönnchen gefunden habe …«

Sie holte ein Glas hervor und hielt es ihnen entgegen. Darin lagen winzige, etwas längliche, rötlichbraune Zylinder. »Das sind sogenannte Tönnchenpuppen. Sobald Fliegenlarven ein gewisses Alter erreicht haben, verpuppen sie sich, und aus diesen Tönnchen schlüpfen dann die Imagines, also die erwachsenen Tiere. Je nach Art unterscheidet sich der Zeitraum, den sie vom Schlupf bis zur Verpuppung benötigen, wodurch ich nach Bestimmung der Arten und unter Berücksichtigung der Witterungsverhältnisse den Todeszeitpunkt weiter eingrenzen kann. Momentan würde ich sagen, dass die Leichen hier seit mindestens einer Woche liegen.«

»Und das alles können Sie nur anhand der Krabbeltiere und der Umgebung erkennen?«, fragte der junge Polizist mit hörbarer Skepsis.

»Das und noch viel mehr, wenn ich erst mit meinen Untersuchungen fertig bin.« Sie richtete sich auf, sammelte ihre Probengläser ein und sah die umstehenden Leute an.

»Sorgt bitte dafür, dass niemand den Leichensack öffnet, solange ich nicht da bin, um herausfliegende und krabbelnde Insekten einzusammeln. Zudem wäre ich gerne bei der Obduktion dabei.«

7

Der Morgen war nicht mehr ganz frisch, als sie in Mannheim eintrafen. Die Straßen füllten sich mit Studenten, die zur nahe gelegenen Universität strömten.

Alexis streckte sich, als sie aus dem Auto stieg, spürte das Blut kribbelnd in ihre Fingerspitzen fließen. Sie unterdrückte ein Gähnen, massierte ihren Nacken und folgte Oliver zu dem alten Steingebäude mit den hohen bogenförmigen, im unteren Stockwerk vergitterten Fenstern. Von der Hauptstraße aus wirkte sie nicht sehr groß, aber die Polizeistation nahm einen gesamten Häuserblock ein und verfügte über eine eigene Tiefgarage.

»Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, sagte Oliver und stieß die mit Ornamenten und fremdartigen Fratzen verzierte zweiflügelige Metalltür auf.

»Das sagst du immer«, antwortete Alexis, wobei sie sich eingestehen musste, dass sie ähnlich empfand. Sie hegte keinen Zweifel, dass das erst der Anfang war, und damit würde es zu einem großen Fall werden, der viel Aufmerksamkeit mit sich brachte. Der damit einhergehende Druck war etwas, das selbst erfahrene Polizisten überfordern konnte, und sie fühlte sich nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie hatten gerade den Aufzug betreten, da klingelte Alexis’ Handy. Ihre Chefin, Martina Dolce, die ihren Nachnamen der Heirat mit einem Italiener verdankte. Die Kriminaloberrätin war eine knallharte Ermittlerin, die bis zu ihrer Beförderung eine der höchsten Aufklärungsquoten aufzuweisen hatte. Zudem war sie eine überzeugte Frauenrechtlerin, die sich ihren Rang bei der Polizei hart erkämpft hatte. Sie kleidete sich bewusst unattraktiv, um keine Gerüchte aufkommen zu lassen, dass sie ihren Aufstieg nur ihrem Aussehen verdankte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Alexis.

»Besprechung in fünfzehn Minuten im Artcine, Saal 3.« Damit hatte sie auch schon wieder aufgelegt.

»Wo treffen wir uns dieses Mal?«, seufzte Oliver. Dolce mochte eine herausragende Ermittlerin und Führungskraft sein, aber sie hatte eine entscheidende Macke: Seit einer ihrer Fälle geplatzt war, weil man Wanzen in ihrem Büro und sämtlichen Besprechungsräumen versteckt hatte, weigerte sie sich, wichtige Zusammenkünfte an den üblichen Orten abzuhalten. Stattdessen trafen sie sich jedes Mal woanders, ob es eine abgelegene Bäckerei, eine verschlafene Seitenstraße oder sogar ein Schlachthof war – sie nutzten selten einen Ort mehrfach. Nur ihrem Ruf hatte sie es zu verdanken, dass alle, selbst die Staatsanwaltschaft, bei diesem Spiel mitmachten.

»Das alte Kino nebenan.«

»Ich möchte nicht wissen, woher sie die Schlüssel dazu hat«, murmelte er.

Sie gingen an ihrem Büro, das im zweiten Stock lag, vorbei und holten ihre Unterlagen.

Das Kino lag direkt neben der Polizeistation und stand seit mittlerweile fünf Jahren leer. Damals hatte nicht weit entfernt ein moderner Filmpalast eröffnet, und das Stück Mannheimer Geschichte hatte nicht mit der neuen Technik mithalten können. Als sie den mit Marmor ausgelegten Eingangsbereich durch die gläserne Drehtür betraten, überkam Alexis ein wehmütiges Gefühl beim Anblick der abblätternden Farben und mit Plastikfolie abgedeckten Schalter und Snackautomaten. In diesem Kino hatte sie ihren ersten Kuss bekommen.

Es gab insgesamt nur vier Säle, sodass sie den dritten schnell fanden, in dem Dolce auf sie wartete. Sie wanderte ungeduldig vor der Leinwand auf und ab. »Klären Sie mich bitte auf, während wir auf Milbrecht und Norden warten.«

Die Tür öffnete sich, und der Staatsanwalt Per Milbrecht trat ein. Sofort schien es, als würde sich die Umgebung um einige Grad abkühlen. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden Anzug, und sein langsam ergrauendes Haar war streng mit Gel zurückgekämmt. Ihm folgten Volkers und sein Partner Bauwart.

»Dann können wir ja anfangen«, stellte Dolce fest, während sich alle einen Sitz in der ersten Reihe suchten.

Alexis stand auf und fasste die bisherigen Erkenntnisse zu den beiden toten Frauen, ihrem ungewöhnlichen Fundort und ihrem Zustand zusammen. »Wir müssen als Erstes klären, ob wir eine SoKo benötigen«, schloss sie ihre Ausführungen.

»Dazu möchte ich Dr. Nordens erste Einschätzung hören«, antwortete Milbrecht. »Können wir davon ausgehen, dass es sich beim vorliegenden Fall um eine Einzeltat handelt?«

Der Psychologe schüttelte den Kopf. »Das halte ich für ausgeschlossen. Auch wenn der Obduktionsbericht noch nicht vorliegt, scheint mir die Tat sorgfältig geplant und ausgeübt. Wer das erste Mal mordet, ist üblicherweise spätestens nach der Tat zu aufgeregt, um fehlerfrei zu agieren.« Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die er mitgebracht hatte. »Das Arrangieren der Leichen deutet obendrein darauf hin, dass es dem Delinquenten wichtig war, wie die Leichen gefunden werden.«

»Also könnten wir es aus Ihrer Sicht mit einem Serientäter zu tun haben?«, vergewisserte sich Alexis, obwohl sie schon vor Stunden zu demselben Schluss gekommen war.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach. Statistisch gesehen handelt es sich bei dem Täter um einen Mann. Das Bloßstellen der Opfer und ihre erotische Pose sprechen dafür. Viel mehr kann ich nicht sagen, solange mir der Obduktionsbericht nicht vorliegt. Außer dass es sich vermutlich um einen organisierten, intelligenten Menschen handeln muss, der nicht aus dem Affekt heraus gehandelt hat. Ansonsten hätten wir mehr Spuren gefunden, und auch die Wahl des Ablageortes spricht für eine geplante Tat.«

»Sind es seine ersten Morde?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Ersttaten erfolgen oft im Affekt, und die zeitgleiche Entführung und Ermordung von zwei Frauen ist äußerst risikoreich und kompliziert. Deutlich wahrscheinlicher ist es, dass er sich langsam herangewagt hat. Allerdings müssen seine bisherigen Opfer dabei nicht unbedingt zu Tode gekommen sein. Er könnte auch an Tieren geübt haben.«

Ein Aspekt, an den sich Alexis nie würde gewöhnen können, war, dass es oft mehrerer Opfer bedurfte, damit sich erste Muster abzeichneten und sie Ermittlungsfortschritte aufweisen konnten. Es erschien ihr krank, dass sie dadurch Nutzen aus dem Tod unschuldiger Menschen zogen.

»Dann halten wir fest«, sagte Milbrecht, »dass wir uns auf weitere Leichen einstellen müssen, sollten wir ihn nicht bald schnappen. Wir benötigen also tatsächlich eine Sonderkommission.«

»Ich werde alles Notwendige veranlassen, allerdings stellen uns die Räumlichkeiten vor ein Problem. Die einzigen größeren Räume werden momentan renoviert«, sagte Dolce. »Ich kenne jedoch den Besitzer des Kinos und er würde es uns zur Verfügung stellen. Im oberen Stock befinden sich einige Büros, die Säle eignen sich für größere Besprechungen, und es liegt direkt neben dem Präsidium.«

Alle starrten sie einen Moment fassungslos an. Es war üblich, dass SoKos in Gemeindesäle oder Landratsämter ausgelagert wurden, doch ein ausgedientes Kino wäre eine Neuheit.

»Es hätte immerhin den Vorteil, dass wir nur ins Nachbargebäude gehen müssten, um zu den Arrestzellen und Verhörräumen zu gelangen«, meldete sich Bauwart zum ersten Mal zu Wort.

»Sehr unkonventionell, aber einverstanden – insofern ihr Bekannter die notwendigen Unterlagen unterzeichnet und keinerlei Entschädigung verlangt«, sagte Milbrecht schließlich.

»Dann bleibt nur noch die Frage, wer die Leitung übernimmt«, sagte die Dezernatsleiterin. »Ich schlage Hall vor. Sie verfügt über ausreichend Erfahrung und ist sicher im Umgang mit den Medien.« Was sie dabei nicht laut aussprach, war die Tatsache, dass eine weibliche Ermittlungsleiterin für gute Publicity sorgen würde. Es gab keine bessere Werbung als junge, unverbrauchte Frauengesichter.

Milbrecht sah Alexis mit unverhohlener Skepsis an. Sie war jung für ihren Dienstgrad und die Verantwortung, die man ihr da übertragen wollte. »Ich dachte da eher an Bauwart«, antwortete er schließlich. »Sein Dienstalter ist höher, und es wäre eine gute Gelegenheit für ihn, sich zu beweisen.«

Deshalb war er also hier. Alexis starrte ihren Kollegen mit einer Mischung aus Verblüffung und Enttäuschung an. Nie hätte sie vermutet, in ihm einen Konkurrenten zu haben. Ihre Blicke trafen sich über den Raum hinweg, bis er verlegen zu Boden sah. »Hall war am Tatort. Das wäre unüblich«, stellte sich Dolce auf ihre Seite.

»Bei einem Fall wie diesem sollten wir uns gut überlegen, wem wir die Verantwortung übertragen, und hier gilt nicht zwangsläufig, dass der- oder diejenige am besten geeignet ist, der als Erster vor Ort war«, entgegnete Milbrecht.

»Haben Sie etwas an meiner Arbeit auszusetzen?«, fragte Alexis.

»Sie wissen ebenso gut wie ich, dass dem nicht so ist, aber Sie weisen noch nicht das entsprechende Dienstalter auf, und die Leitung einer großen SoKo erwartet einiges an Härte.«

»Das lassen Sie meine Sorge sein«, stellte Alexis klar.

»Dann ist es entschieden«, beendete Dolce die Diskussion. Norden verfolgte stumm das Geschehen, als begutachtete er ein interessantes soziales Experiment.

Die notwendigen Papiere wurden unterzeichnet, die Größe der SoKo und die zugeteilten Beamten festgelegt. Zudem gingen genauere Anweisungen an die KT für die Analyse des am Fundort gesicherten Materials.

Mit einem Blick auf die Uhr verabschiedete sich Alexis. Sie musste zur Gerichtsmedizin, um der Obduktion der Leichen beizuwohnen. Nicht eine ihrer liebsten Tätigkeiten, aber notwendig, wenn sie kein Detail verpassen wollte.

»Was sollte denn diese Nummer von Bauwart?«, fragte Oliver, als sie durch den Eingangsbereich nach draußen gingen. »Will er nun auch die Karriereleiter emporklettern?«

Alexis zuckte mit den Schultern. »Seit seine Frau schwanger ist, spinnt er etwas rum.«

»Das ist noch lange keine Entschuldigung dafür, einer Kollegin so in den Rücken zu fallen. Er hat das doch garantiert vorher mit Milbrecht abgesprochen.«

»Wie auch immer.« Alexis hatte keine Lust, sich weiter über ihren Kollegen zu ärgern. »Ich habe die Leitung, und darauf möchte ich mich konzentrieren.«

8

Karen fuhr direkt aus ihrem Labor, in dem sie nur hastig die gesammelten Proben verstaut hatte, zum Institut für Rechtsmedizin in der Heidelberger Innenstadt. Während sie sich durch den von Sonntagsfahrern geprägten Verkehr kämpfte, rief sie beim Inhaber der Metzgerei Gresser an und bestellte bei ihm drei Jungschweine, die sie am Nachmittag abholen würde, um sie am Leichenfundort auszulegen. Das Fleisch der Schweine, das in seiner Zusammensetzung dem des Menschen ähnelte, würde Insekten anlocken. Durch regelmäßige Kontrollen würde Karen dadurch den zeitlichen Ablauf der Besiedlung und Zersetzung der Kadaver in diesem speziellen Gebiet rekonstruieren können. Dadurch würde es ihr möglich sein, den Zeitpunkt, zu dem die Leichen auf die Reißinsel gebracht wurden, bis auf wenige Stunden genau zu bestimmen. Diese aufwendige Untersuchung war notwendig, da sich die Artenverteilung der Insekten von Gebiet zu Gebiet stark unterschied.

Kaum betrat Karen die überheizten Vorräume der Gerichtsmedizin, traten ihr Schweißperlen auf die Stirn. Draußen herrschte ein dunstiger Oktobertag, an dem die Menschen mit verschlossenen Mienen ihren Geschäften nachgingen und selbst die Touristen, verwöhnt vom sonnigen Wetter der letzten Tage, lieber in Cafés und Wirtschaften saßen, anstatt sich das Heidelberger Schloss oder den Marstallhof anzusehen. Schon bald würde sich der Verkehr auf den Neckarbrücken stauen, das allabendliche Hupkonzert beginnen, begleitet vom Klingeln und Fluchen der unzähligen Radfahrer, die sich rücksichtslos ihren Weg an den festsitzenden Autos vorbei bahnten. Karen hingegen unterdrückte das Ekelgefühl, das sie bei dem Schwall warmer Luft verspürte, der ihr entgegenschlug, und ging in den Keller, in dem die Obduktionssäle lagen. Glücklicherweise war es hier kühler.

Erleichtert stellte sie fest, dass man mit der Obduktion auf sie gewartet hatte. Sie schlüpfte in einen OP-Kittel, verknotete die Schnüre im Rücken, streifte sich Papierüberzieher über ihre Stiefel und zog sich zwei Paar Einweghandschuhe an – bei der Arbeit mit Pinzetten und Skalpellen verringerte die doppelte Schicht das Risiko einer Infektion, falls sie aus Versehen abrutschte. Auf Mentholsalbe verzichtete sie. So widerlich die Ausdünstungen auch sein mochten, gaben sie ihr doch oft hilfreiche Informationen. Frische Leichen beispielsweise verströmten einen an ranzige Butter erinnernden Geruch, und manche Käfer und Maden sorgten mit ihren Ausscheidungen dabei für ihre ganz eigene Note. Sie spähte durch die Trennscheibe in den Sektionssaal, und ihr Blick traf sich mit dem von Alexis, unter deren Nase eine dicke Schicht Mentholsalbe zu erkennen war. Der Blick ihrer Freundin schien sie anzuflehen, sie da rauszuholen, auch wenn sie sich ihr Unbehagen ansonsten nicht anmerken ließ. Neben ihr stand Oliver mit gefasstem Gesicht. Karen erinnerte sich noch genau an einen naturwissenschaftlichen Sommerkurs, den sie gemeinsam während der Schulzeit besucht hatten. Sie aus Begeisterung für Biologie und Alexis, weil ihr Vater, ein angesehener Wissenschaftler, es so beschlossen hatte. Eines ihrer Projekte war es gewesen, die Zersetzung einer toten Maus zu beobachten, und während es bei ihr die Grundlagen für ihr Interesse an der Kriminalbiologie legte, gehörte Alexis zu den Kindern, die sich würgend hinter dem nächsten Baum übergaben, um anschließend mit schamrotem Gesicht zur Gruppe zurückzukehren. Umso größer war Karens Überraschung, als sie die äußerliche Ungerührtheit bei ihrer Freundin bemerkte, als sie Jahre später das erste Mal gemeinsam einer Obduktion beiwohnten. Aber eigentlich hätte es sie nicht verwundern sollen. Alexis war noch nie bereit gewesen, sich irgendwelche Schwächen einzuräumen, und obwohl Karen diese Willensstärke bewunderte, erschreckte ihre Härte sie manchmal.

Als Karen den Raum betrat, wurde sie von Dürrast wie ein seltenes Insekt beäugt, von dem er nicht wusste, ob es giftig war oder nicht. »Dann können wir ja anfangen.« In seiner Stimme schwang klar der Vorwurf mit, dass sie seine Zeit verschwendet habe. Doch Karen blieb unbeeindruckt. Bei den Wölfen galten die lauten, aggressiven Tiere als die schwächsten und nahmen oft eine niedrige Position in der Rangfolge ein. Bei den Menschen war es nach Karens Erfahrung nicht viel anders.

Gemeinsam mit seinem Assistenten Konradis holte er den ersten Leichensack aus einer der Kühlkammern auf der Rückseite des Saals und legte ihn auf den mittleren der drei Obduktionstische. Karen ignorierte Dürrasts irritierten Blick, als sie neben ihn trat und ihre leeren Probengefäße auf einen Rollwagen stellte. Sie stahl ihm die Show, und dafür würde er sie büßen lassen.

»Ich bitte darum, den Raum geschlossen zu halten, wenn wir den Sack öffnen. Als wechselwarme Tiere, die ihre Körpertemperatur im Gegensatz zu uns nicht selbst regulieren können, mögen Insekten keine Kälte. Was auch immer also noch lebt, wird vermutlich versuchen zu entkommen.«

Der Assistent rollte den Tablettwagen mit den fein säuberlich sortierten Instrumenten heran und richtete die Lampen aus. In der Zwischenzeit legte sie ein feinmaschiges Netz über den Leichensack und öffnete ihn ein Stück, sodass sie direkt in das verstümmelte Gesicht der rothaarigen Frau blickte. Es traf sie wie ein Schlag. Hier im unbarmherzigen Licht der Untersuchungslampe vermochte sie nicht zu verdrängen, dass es sich um einen Menschen handelte und nicht nur das Substrat, auf dem sich so viele faszinierende Geschöpfe tummelten. Sie wandte sich ab, gab vor, nach einem bestimmten Gefäß zu suchen, während sie sich sammelte. Schließlich fühlte sie sich gewappnet, sich erneut dem grausigen Anblick zu stellen, und bemerkte, dass sich inzwischen tatsächlich einige Käfer in dem Netz verfangen hatten. Auf den ersten Blick entdeckte sie nichts Außergewöhnliches, ein Dermestes lardarius und zwei Nicrophorus, die sie im Labor genauer bestimmen musste. Beides typische aasfressende Käfer, die an fast jeder älteren Leiche anzutreffen waren und nach und nach die Fliegen und ihre Larven, die ebenfalls auf ihrem Speiseplan standen, verdrängen würden.

»Sind Sie fertig?« Dürrast trat neben sie und versuchte das Netz wegzuziehen. Sie griff rasch zu und hinderte ihn daran.

»Wenn es so weit ist, sage ich Ihnen Bescheid. Sie können gerne die andere Leiche vorbereiten, dann kann ich mich anschließend direkt um sie kümmern.«

Der Gerichtsmediziner setzte zu einem Protest an. Die Empörung darüber, das Sagen in seinem eigenen Obduktionssaal zu verlieren, stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch Alexis schritt ein und gab ihm keine Gelegenheit, eine Diskussion anzuzetteln. »Sehr gut, wir benötigen die Ergebnisse so schnell wie möglich.«

Karen schenkte ihr ein kurzes Lächeln, während sie den Sack weiter öffnete und sorgfältig die Käfer von dem Netz absammelte und in kleinen Schraubgläsern unterbrachte. Schließlich gab sie sich mit ihrer Ausbeute zufrieden.

Nun wandte sie sich dem vermeintlichen Einschussloch zu, nahm eine lange Pinzette und bat Konradis, die Höhlung für sie auszuleuchten. Sie spähte hinein, schob die Pinzette langsam in das Loch. Feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Nach einigen vergeblichen Versuchen zog sie das Werkzeug zurück und präsentierte zufrieden ein winziges Ei, das sie ebenfalls in einem Gefäß verstaute. »Damit steht fest, dass es kein Einschussloch ist. Das endgültige Ergebnis schicke ich, sobald ich die Art bestimmt habe.« Sie beugte sich erneut über den Körper und wiederholte den Vorgang, bis sie mehrere Eier gesammelt hatte. »Ich bin fürs Erste fertig«, sagte sie und wollte sich gerade abwenden, als etwas sie stutzen ließ. Sie beugte sich dichter über die Frau, strich die trotz des Drecks weiterhin feuerrot leuchtenden Haare auseinander, griff nach etwas und ließ es in ihre Handfläche fallen. »Das ist ja interessant.«

9

Das Surren der Neonröhren zerrte an Alexis’ Nerven, und der Geruch der Mentholsalbe, der sich mit dem Verwesungsgestank vermischte, verursachte bei ihr ein Pochen in den Schläfen, das sich schon bald zu ausgewachsenen Kopfschmerzen steigern würde. Selbst Olivers sonst so unerschütterliches Gemüt hatte sich seit dem Fund der Leichen getrübt, und seine Hände fuhren nervös durch seine Haare. Nun starrten sie jedoch mit einer Mischung aus Ekel und Faszination auf Karens Handfläche, in der eine riesige, dunkelbraune und offensichtlich tote Spinne lag.

»Na super, noch mehr Insekten«, murmelte Bauwart.

»Spinnen sind keine Insekten«, berichtigte Karen ihn. »Sie haben acht Beine statt sechs und sind eher mit den Krebsen verwandt.«

Bauwart wischte sich über seine schweißglänzende Glatze und stierte sie missmutig an. »Wenn Sie diese Viecher so toll finden, können Sie gerne bei mir vorbeikommen. In meinem Keller gibt es mehr als genug.«

Karen musterte ihn. Sie hatte noch nie mit Bauwart zusammengearbeitet, aber er wirkte wie jemand, der gerade so eine normale Obduktion überstand. Sobald allerdings Käfer aus Leichensäcken herausflogen oder Maden aus Augenhöhlen quollen, gaben bei Menschen wie ihm die Beine nach. Er wäre nicht der Erste, der sie nach so einem Erlebnis mied, da man gerne ihr die Schuld für das Versagen der Nerven gab. Das war bedeutend einfacher, als sich die eigene Schwäche einzugestehen.

Sie ging zu einem Stereomikroskop und legte das Tier in einer Petrischale unter die Linse. »Genau das ist der Punkt. Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass es sich um eine Große Winkelspinne, Tegenaria atrica, handelt.« Sie betrachtete die Spinne eine Weile schweigend, schob sie dabei mit der Pinzette hin und her. In der Zwischenzeit fing Konradis damit an, die Leiche auszuziehen und zu waschen, während Dürrast etwas vor sich hin murmelte und in seinem angrenzenden Büro verschwand.

»Meine erste Vermutung dürfte richtig sein«, stellte Karen schließlich fest. »Ihre Beine sind einfarbig. Tegenaria picta lässt sich aufgrund ihrer enormen Größe ausschließen, und für Tegenaria agrestis ist sie zu hell. Mit Sicherheit kann ich das allerdings erst sagen, wenn ich sie im Labor seziert habe.«