Die Bewahrerinnen - Michael Silberer - E-Book

Die Bewahrerinnen E-Book

Michael Silberer

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Beschreibung

Immer wieder begleitet Michael eine bestimmte Geschichte durch seine Kindertage. Dieses Buch fesselt ihn auf mysteriöse Weise und lässt ihn nicht mehr los. Wieso zieht ihn die Stadt Taschkent so stark in ihren Bann? Um diese Sehnsucht zu stillen, nimmt er sich vor, eines Tages die ihm vermeintlich fremde Stadt zu besuchen. Tatsächlich ergibt sich durch berufliche Umstände unerwartet die Gelegenheit und bietet ihm die Möglichkeit, Land und Leute näher kennenzulernen. Doch als er in der weit entfernten Stadt ankommt, nimmt sein bisheriges Leben eine völlig neue Wendung. Er trifft nicht nur die Liebe seines Lebens, sondern findet heraus, woher die Sehnsucht herrührt – denn hier liegen seine Wurzeln. Seine Familiengeschichte birgt viele Geheimnisse, die es zu ergründen gilt.

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Seitenzahl: 503

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0032-5

ISBN e-book: 978-3-7116-0033-2

Lektorat: Katja Wetzel

Umschlagabbildung: Eak Kem | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Gedicht

Du süße Ruhe,

überkommst mich,

gibst mir Kraft,

mich in der Stille zu entfalten.

1 - Süße Ruhe

Die Nacht ist bereits vor vielen Stunden über der Stadt hereingebrochen. Das Krankenhaus Sankt Josef liegt ruhig und von stattlichen alten Bäumen bewacht an der Ringstraße 60 in Braunau am Inn, der Grenzstadt im Innviertel zu Bayern. Ein alter grüner Wagen fährt mit überhöhter Geschwindigkeit und einem quietschenden Keilriemen auf den Krankenhausparkplatz. Die Frau, welche aus dem Wagen hastet, ist nur schemenhaft zu erkennen, weil die alten Straßenlaternen ihr Licht nur sparsam auf den Platz werfen. Sie öffnet die Tür auf der Rückseite des Wagens mit einem Schwung und zerrt ein kleines Bündel, eingehüllt in warmen Decken, vom Rücksitz des Wagens. Ein leises, schmerzvolles Wimmern dringt unter der Decke des Bündels hervor, welches die Frau mit hastigen Schritten in das Krankenhaus trägt. Sie klingelt verzweifelt Sturm am Schalter mit dem Schild „Notaufnahme“ im Eingangsbereich, weil der Empfang um diese Zeit nicht mehr besetzt ist. Sie nimmt den Sekundenschlag des Zeigers auf ihrer Uhr wahr, wie er sich bedrohlich Schritt für Schritt auf dem Ziffernblatt voran arbeitet. Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn, da sie weiß, dass jede Sekunde zählt und sie spürt, wie ihr Herz so wild in ihrer Brust schlägt, dass es ihr den Atem raubt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hört sie Schritte und ein Licht wird im Hinterzimmer aufgedreht, was sie durch die Milchglasscheibe am Empfang wahrnehmen kann. „Ja bitte, was kann ich für Sie tun?“, hört sie eine verschlafene Frauenstimme, die blechern aus dem Lautsprecher tönt. „Mein Kind …“, stottert die junge Frau und versucht dabei verkrampft sich auf den Beinen zu halten, „… Sie müssen ihm helfen!“ Ihre Stimme ist zittrig und leise und versagt am Ende ihres Satzes endgültig. „Was ist mit Ihrem Kind?“ Die Dame in der Notaufnahme auf der anderen Seite bohrt nach und klingt genervt, weil sie den Ernst der Lage noch nicht erfassen kann. „Er stirbt, bitte kommen Sie und helfen Sie ihm!“, würgt die Frau mit letzter Kraft aus sich heraus und bricht anschließend mit einem lauten Knall auf dem Boden zusammen. Nun ist die Krankenschwester auf der anderen Seite der Sprechanlage hellwach und läuft über den Gang mit einem Pfleger zu der jungen Frau und ihrem Kind.

Grelles Licht durchflutet den weißen Krankenhausgang und zeigt die junge etwa 25-jährige Frau, wie sie ohnmächtig auf dem Boden und das Deckenknäuel in ihrem ausgestreckten Arm neben ihr liegt. Die Frau ist 1,62 Meter groß, hat halb langes dunkelblondes, glattes Haar, ein blasses Gesicht und eine dünne Figur. Sie ist mit einer weißen Bluse, einer Jeans und schwarzen Lederstiefletten gekleidet. Ihre bunte selbst gestrickte Haube ist ihr vom Kopf gerutscht und liegt neben ihr auf dem Boden. Ein Arm von dem kleinen Kind hängt leblos aus der Decke und das Baby gibt keinen Ton von sich. „Ist es tot, es bewegt sich nicht?“ Der Pfleger bückt sich entsetzt zu ihm herunter, um zu prüfen, ob das Kind noch atmet. „Kümmern Sie sich um die ohnmächtige Frau und ich kümmere mich um das Kind!“ Den Ernst der Lage erkennend, nimmt die Krankenschwester das Kind in der Decke vorsichtig hoch und läuft mit ihm in den Behandlungsraum. „Löse sofort den Herzalarm aus!“, ruft sie dem Pfleger noch zu, während sie im Behandlungsraum verschwindet. Er holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und löst den Herzalarm aus. Gekonnt dreht er in der Folge die ohnmächtige Frau in die stabile Seitenlage und versucht sie aus ihrer Ohnmacht zurückzuholen. „Du stirbst heute nicht, süßes kleines Baby!“, hört sie sich zu sich selbst sagen und ruft sofort den diensthabenden Arzt um Hilfe. Dieser hat den Herzalarm bereits bekommen und ist im Laufschritt unterwegs, als sie ihn erreicht. Sie öffnet die Decke und sieht einen kleinen Knaben, aus dessen Gesicht jeglicher Schmerz gewichen ist. Er sieht aus, als würde er friedlich schlafen. „Was ist los mit dir? Du glühst und doch hast du diesen friedlichen Gesichtsausdruck. Du musst doch unheimliche Schmerzen haben und bist noch so klein und unschuldig. Etwa sechs Monate bist du alt, schätze ich mal.“ Die Schwester spricht mit ihm, als könnte er sie verstehen. Der diensthabende Arzt stürzt ins Zimmer und verabreicht ihm sofort eine Infusion, da er durch das hohe Fieber offensichtlich sehr viel Flüssigkeit verloren hat, weil seine Haut sehr blass ist. „Wieso ist seine Windel staubtrocken? Wie kann das sein?“ Er wirft der diensthabenden Krankenschwester einen fragenden Blick zu.

Der Schmerz ist so stark und doch spüre ich ihn nicht mehr, geht es mir durch den Kopf. Ein wohliges Gefühl der Wärme und Zufriedenheit durchzieht meinen Körper. Die Hitze, die meinen Körper eben noch verbrannte, ist einem Gefühl gewichen, das mich an die Umarmung meiner Mutter erinnert, wenn sie mich nach dem Baden aus der Wanne hebt und mich mit meiner nackten, nassen Haut langsam an sich drückt und ich ihre Wärme spüren kann, bevor sie mich in ein warmes Frotteehandtuch einwickelt. Der Schmerz, der mein Becken eben noch fast zerrissen hat, ist fort und das grelle Licht, das vor wenigen Augenblicken meine Augen blendete, ist einem pastellfarbenen Licht gewichen, das meiner Iris schmeichelt. Jetzt fühle ich mich geborgen wie in Mutters Schoß. In großer Entfernung kann ich dumpf die Stimme einer Frau wahrnehmen, die definitiv nicht meine Mutter ist. Sie bespricht etwas mit einem Mann in sehr schneller Geschwindigkeit und scheint sehr aufgeregt zu sein. „Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist und seine Mutter ist am Empfang kollabiert. Ich glaube, er stirbt wirklich, wie seine Mutter gesagt hat.“ Hastig teilt die Krankenschwester dem diensthabenden Arzt ihre Meinung mit. Im selben Moment betritt eine weitere Frau, eine OP–Krankenschwester, das Zimmer. „Lassen Sie mich mal sehen, was hier wirklich los ist!“ Der Arzt fängt an, den Jungen gründlich zu untersuchen. „Wissen wir, wie er heißt?“ Er hebt den Kopf und sieht zur Krankenschwester, die ihn in den Untersuchungsraum gebracht hat. In diesem Moment betritt auch die junge Mutter den Behandlungsraum, die die Frage des Arztes beim Eintreten gehört hat. „Er heißt Michael“, würgt sie leise aus sich heraus und setzt sich erschöpft auf einen Stuhl, den ihr der Pfleger anbietet. Es ist zu erkennen, dass sie mit der gesamten Situation komplett überfordert ist und fürchtet, dass Michael etwas Schlimmes passiert, dass er vielleicht sogar stirbt. „Können Sie mir sagen, was ihm fehlt?“ Der Arzt sieht mit einem herzlichen, beruhigenden Blick zu ihr herüber. „Ich verstehe nicht, warum seit zwei Tagen seine Windel trocken ist, obwohl er immer brav getrunken hat. Es sieht für mich so aus, als wäre es ihm nicht mehr möglich zu urinieren“, wispert sie dem Arzt leise und noch immer stark geschwächt mit zum Boden gesenkten Augen zu. Der Arzt greift kurz den Gedanken auf, wieso sie so spät kommt und ist innerlich dementsprechend verärgert, lässt sich das ihr gegenüber aber nicht anmerken. Er führt umgehend einen Ultraschall durch, der ihm die Frage, wieso der Junge nicht mehr urinieren kann, sofort beantwortet. „Sehen Sie hier“, zeigt er der Mutter auf dem Ultraschallmonitor mit seinem Zeigefinger, „die Harnröhre ist verklebt und deswegen ist es Ihrem Sohn nicht mehr möglich, Harn zu lassen. Wir bringen ihn sofort in den OP, bereiten Sie ihn sofort vor, jede Minute zählt!“ Die OP-Krankenschwester nimmt den Jungen sofort in ihre Obhut und läuft mit ihm in Richtung OP-Saal. Auf dem Weg zum Vorbereitungsraum fragt sie die Krankenschwester, die ihn aufgenommen hat, ob sie weiß, wann er zuletzt gegessen hat. Sie schüttelt verneinend den Kopf.

Ich kann spüren, dass es nicht gut um mich bestellt ist, doch diese angenehme süße Ruhe macht sich in meinem Körper immer mehr breit. Mein Herz höre ich wie ein kleines Kraftwerk in weiter Ferne schlagen und ich will definitiv nicht mehr zu diesem Schmerz zurück, den ich in den letzten Stunden und Tagen verspürt habe. Wie eine Feuerwalze hat er in mir gewütet. Kontrolliertes, hastiges Treiben nehme ich um mich herum wahr, was mich aber keineswegs stört, weil ich nicht das Gefühl habe, dass es mich betrifft. Für mich fühlt es sich perfekt an, doch einen Augenblick später verschwinden die pastellfarbenen Lichter und ich fühle, wie ich wie in Ohnmacht in ein unendlich tiefes, schwarzes Loch falle.

„Wirkt die Narkose bereits?“ Der Chirurg blickt zur Anästhesistin und wartet auf ihre Bestätigung, bevor er mit der Operation beginnt. „Ja, Sie können anfangen.“ Sie prüft die Anzeigen ihrer Monitore und gibt ihm die Bestätigung. „Das ist eine wirklich lebensbedrohliche Lage für diesen Knaben. Wir müssen schnell handeln und hoffen, dass wir ihn retten können.“ Der Chirurg setzt den ersten Schnitt. „Wieso hat die Mutter so lange zugewartet, bis sie ihn zu uns in das Krankenhaus gebracht hat, damit wir ihm helfen?!“ Verständnislos schüttelt er den Kopf. Etwa zwei Stunden später ist die Operation zu Ende. „Diese Nacht hätte er sicher nicht mehr überlebt“, schüttelt der Arzt fassungslos den Kopf, weil er das Verhalten der Mutter noch immer nicht nachvollziehen kann. „Es ist für mich noch nicht sicher, ob er es wirklich schaffen wird, weil sein kleiner Körper bereits komplett vergiftet ist und bleibende Schäden nicht ausgeschlossen werden können.“ Der Chirurg geht erschöpft aus dem OP-Saal und informiert die im Gang wartende Mutter darüber, dass er am Leben und die Operation den Umständen entsprechend gut verlaufen ist. „Es tut mir sehr leid, dass ich so lange gewartet habe, bis ich ihn ins Krankenhaus gebracht habe.“ Ihre für den Jungen fast tödliche Fehleinschätzung ist sehr schmerzhaft für sie, das kann der Arzt in ihren Augen sehen. Zu ihrem Baby darf sie nicht, da es in diesem Jahrzehnt noch nicht üblich ist, dass sich Angehörige in den Spitalzimmern bei den Patienten aufhalten dürfen.

2 - Kinderbuch

„Michael hörst du mich?“ Eine zärtliche Frauenstimme, die mir wohlbekannt vorkommt, weckt mich. Ich spüre, wie sie mich mit ihren Fingern an der Wange kitzelt.Nicht schon wieder, das kann doch wirklich nicht wahr sein. Wieso passiert das immer mir?, fährt es mir durch den Kopf, während ich mich aufsetze. Wieder einmal musste ich wegen meiner eigenen Blödheit operiert werden. Meine Eltern sind sicher schon stinksauer auf mich. Ich spüre den Schmerz, ein heftiges Pochen in meiner großen Zehe. Der große Zehennagel musste entfernt werden, weil ich mir die große Zehe beim barfuß Fahrradfahren mehrmals weggekappt hatte und sie in der Folge vereitert war, da ich trotz der Warnung meiner Mutter immer wieder Schmutz in die Wunde bekommen hatte. Beim Kirchendienst war ich als Ministrant endgültig vor großen Publikum wie auf einer Showbühne umgekippt und wurde mit dem Rettungswagen mit Blaulicht in das Krankenhaus gebracht. Das ist besonders ärgerlich, da ich geplant hatte, für meinen Judoverein bei den Landesmeisterschaften zu starten. Mit dieser Verletzung kann ich mein Vorhaben begraben. Zwei Tage später stellen die Ärzte zu allem Überdruss auch noch fest, dass ich eine Sepsis habe und daher darf ich noch drei weitere Wochen die Vollpension im Krankenhaus genießen. Das kann ich nur ertragen, weil sich diese nette Krankenschwester in den Nächten, wenn ich nicht schlafen kann, liebevoll um mich kümmert. Ihr Aussehen ist orientalisch, die langen schwarzen Haare, die ihr über die Schultern reichen, haben Locken und ihr Gesicht ist von der Sonne leicht gebräunt, die Figur sehr athletisch, aber groß ist sie nicht, nur etwa 1,65 Meter würde ich schätzen. Sie sieht jede Nacht nach mir und liest mir jeden Wunsch von meinen Lippen ab. Wir spielen jede Nacht ein Kartenspiel, das „Schnapsen“ genannt wird. Viel lieber habe ich es jedoch, wenn sie mir fantastische Geschichten aus fernen Ländern erzählt.

„Endlich wieder draußen!“, rufe ich laut aus, als ich aus dem Krankenhaus rausspaziere und strecke meine Arme gen Himmel. Meine Mutter wartet bereits auf dem Krankenhausparkplatz auf mich und lacht, als sie meine Pose sieht. Zu Hause angekommen schwinge ich mich gleich auf mein Rad, werde aber ziemlich unsanft von meinem Vater am Kragen meines blauen Poloshirts festgehalten und wieder vom Rad gezogen. „Wirst du dir wohl deine Schuhe anziehen! Das brauchen wir jetzt nicht gleich wieder, dass du wegen der nächsten gekappten vereiterten Zehe ins Krankenhaus wanderst!“ Eindringlich sieht er mir in die Augen und zeigt mit seiner Hand in Richtung Schuhregal. Ich ziehe meine Sportschuhe aus dem Regal, schlüpfe rein und hüpfe mit einem schelmischen Grinsen aufs Rad. Da mein Bewegungsradius durch die Operation der Zehe weiter sehr stark eingeschränkt ist, fange ich an, jede Form von Bücherthemen zu verschlingen. Märchen, Weltliteratur, Sachbücher, nichts kann sich meinem Interesse entziehen. Was ich in meine Finger kriegen kann, wird von mir erbarmungslos verschlungen, weil mein Wissendurst kaum zu stillen ist. Es eröffnen sich mir völlig neue Welten und Möglichkeiten durch diese Bücher. Fremde Länder kommen in mein Wohnzimmer und in meiner Fantasie, in der es keine Grenzen gibt, stelle ich mir vor, diese Länder zu bereisen. Ein Buch erregt dabei meine besondere Aufmerksamkeit. Es geht um die ferne orientalische Stadt Taschkent. Die Stadt liegt in einem fernen Staat, welcher Usbekistan genannt wird und sich weit außerhalb meiner derzeitigen Möglichkeiten, ihn zu bereisen, befindet. Diese Stadt übt eine ungeahnte Faszination auf mich aus, obwohl ich nicht herausfinden kann, warum sie das in dieser Intensität macht.Wie fühlt sich das Leben dort wohl an, wie sind die Menschen, die dort leben?Wild und natürlich stelle ich mir das Leben in der heißen Wüste vor, aber auch hochmodern in der Stadt Taschkent. Hinter einem großen Schleier aus dem Sand der Wüste gewebt, erhebt sich diese Oase der Schönheit in meinen Gedanken. Dieses Buch, das mich mit seiner Geschichte über Taschkent so fesselt, ist als Kinderbuch verfasst und mit wunderschönen Zeichnungen und wenig Text versehen worden.Wieso spricht mich gerade dieses karg gestaltete Buch so an und wieso löst der Autor in mir ein Gefühl aus, das ich mir nicht erklären kann, und das ich bis jetzt nie gespürt habe? Ich habe das Gefühl, als würde ich diese geheimnisvolle Gestalt, die sich aus dem Sandsturm in der Wüste herauskämpft und nach Taschkent kommt, kennen. Habe ich das vielleicht in der Vergangenheit schon einmal in einem meiner vielen wilden fantasievollen Träume geträumt? Mir kommt diese Szene so vertraut vor, aber wo und warum hätte ich das träumen sollen? Im Innviertel, in der Nähe von Braunau am Inn?So viele Fragen und Gedanken schwirren durch meinen Kopf und doch klingt es absurd. Daher lege ich das Buch beiseite, weil ich bereits sehr müde bin. In der Nacht wache ich nach einem Traum zum wiederholten Male schweißgebadet auf, weil mich dieser böse Traum Nacht für Nacht immer wieder aufs Neue heimsucht. In diesem Traum zeigen mir tanzende pastellfarbene Lichter einen Weg, den ich beschreiten soll, doch dann falle ich immer wieder wie von einer Ohnmacht getrieben in ein tiefes schwarzes Loch, in dem ich eine gefühlte Ewigkeit verweile und dann, kurz bevor ich ins Licht komme, schweißgebadet aufwache. Dieser Traum verfolgt mich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit wie mein eigener Schatten. Meine Erinnerung, wann ich diesen Traum zum ersten Mal hatte, ist wie ausgelöscht. Ich knipse meine Nachttischlampe wieder an, wische mir mit einem Taschentuch den Schweiß von meiner Stirn und nehme noch einmal das Buch über Taschkent in meine Hände. Irgendetwas an diesem Buch erweckt meine unbändige Neugier, meinen Forschergeist und schon beginnt sich das Gedankenkarussell erneut in Bewegung zu setzen.Für ein Kinderbuch ist es meinem Empfinden nach zu komplex und fortschrittlich geschrieben, weil es sehr viele komische Druckfehler, die wie Codes aussehen, beinhaltet, welche mir erst jetzt unter dem schwachen Schein meiner Leselampe auffallen. Die grauen Schattierungen ergeben unter dem fahlen Licht meiner Nachttischlampe wirre Zahlen- und Buchstabenreihen. Bin ich da auf etwas gestoßen, auf ein großes Geheimnis, oder spielt mir meine Fantasie wieder einen üblen Streich? Vielleicht gibt es da doch etwas, was vielen Lesern verborgen geblieben ist und nur mir ins Auge sticht?!Das wäre für mein Verständnis viel zu einfach und kommt mir sehr unwahrscheinlich vor, weswegen ich das Buch wieder auf die Seite lege und weiterschlafe.

3 - Ein Traum wird wahr

„Michael, wir fliegen in zwei Wochen nach Taschkent. Ich hoffe, das stört dich nicht“, lässt mich mein Chef so nebenbei über den Tisch wissen, als hätte es keine besondere Bedeutung. „Das stört mich ganz und gar nicht. Als Kind habe ich ein Buch über Taschkent gelesen und seither war es immer mein großer Traum, einmal dort hinzufliegen. Das wird sicher extrem spannend.“ Hocherfreut und aufgeregt nehme ich die Information über die anstehende Dienstreise zur Kenntnis.

Ich erinnere mich an das Buch und fahre deswegen am Wochenende noch kurz zu meinem Elternhaus ins Innviertel und suche unter meinen alten Sachen verzweifelt nach dem Buch, welches ich als Jugendlicher gelesen habe. Meine Mutter merkt, dass ich ungeduldig nach einem Buch im alten Bücherregal im Gang des ersten Stockwerks suche. „Mama, ich suche das Kinderbuch, in welchem über Taschkent geschrieben wurde.“ Sie überlegt kurz und zupft dabei mit ihren Fingern an ihrer Lippe. „Jetzt weiß ich es wieder. Das alte Ding habe ich einem Flohmarkthändler geschenkt.“ Mit einer entschuldigenden Geste steht sie vor mir und senkt ihren Blick zu Boden. „Das ist wirklich ärgerlich, ich will es wiederhaben. Das konntest du nicht wissen, Mama. Mach dir keine Sorgen, ich werde danach suchen und bin mir sicher, dass ich es irgendwo wiederfinde.“ Zurück in Wien werde ich beim Durchforsten diverser Internetportale tatsächlich fündig. Ein altes Antiquariat im Norden Deutschlands bietet ein Exemplar in gutem Zustand zum Verkauf an.So ein Zufall, es gibt noch ein Exemplar, denke ich mir freudig. Das Buch wird sofort online von mir bezahlt, damit es mir keiner vor der Nase wegschnappt. Sehnsüchtig warte ich darauf und hoffe natürlich, dass es vor meiner Abreise nach Usbekistan ankommt. Pünktlich vor dem Abflug liegt das Paket in meinem Briefkasten. Voller Vorfreude packe ich das Buch vorsichtig aus, das in ein schön verziertes, altes Papier eingepackt wurde. Zu meiner Überraschung ist es noch dünner als ich es in Erinnerung habe, aber die Zeichnungen üben immer noch diese faszinierende fantastische Wirkung auf mich aus. Zudem ist es für mich wie eine zauberhafte Reise in die Fantasiewelt meiner Vergangenheit. Beim Nachtflug werde ich es lesen und stecke es aus diesem Grund in meine Handgepäcktasche ein.

Im Flugzeug schlafen bereits alle Fluggäste, nur ich schaffe es nicht, weil ich seit einem schweren Autounfall der Technik nicht mehr vollends vertraue und döse daher vor mich hin.Kurze Zeit später knipse ich die Leselampe an und beginne das Buch zu lesen. Eine vertraute Geschichte, die mich als Kind so gefesselt hat, kann ich nun aus einem komplett neuen Blickwinkel betrachten. Es ist spannend zu sehen, wie sich die damals hochgelobte Atomtechnologie im Laufe der Jahrzehnte wirklich entwickelt hat. Es wurden atombetriebene fliegende Autos beschrieben, was sich bis heute nicht realisieren ließ.Im Gegenteil, durch mehrere atomare Super-GAUS über die Jahrzehnte wie Tschernobyl und Fukujima wird diese Technologie zusehends kritischer betrachtet und immer weiter zurückgedrängt, weil sie nicht so stabil wie ursprünglich gedacht und schwer zu kontrollieren ist. Meine Sitznachbarin stupst mich vorsichtig an und bittet mich, die Stärke des Lichts zu regulieren, weil es sie daran hindert zu schlafen. Mit einem gekonnten Handgriff drehe ich das Licht auf die kleinste Stufe zurück. Wie von einer Zauberhand zum Vorschein gebracht, kann ich sie wieder sehen, die alphanumerischen Codes, welche ich als Kind nicht verstanden habe. Ich notiere mir die Codes auf meinem privaten Surface. In den verschiedenen Suchmaschinen kann ich keine entsprechenden Codierungsschlüssel finden und mir als Programmierer sind diese Codes nicht geläufig. Da es sich um eine Codierung aus den 1970er-Jahren handelt muss ich wohl auf entsprechende Literatur aus dieser Zeit zurückgreifen. Der deutsche Autor ist mir gänzlich unbekannt und unglücklicherweise gibt es sehr wenig Informationen über ihn im Internet zu finden. Wer war er, wo kam er her und welche Ausbildung hatte er? Er hat nur ein Kinderbuch geschrieben und das halte ich gerade in meinen Händen. Die Auflage war sehr klein, es wurden nur acht Stück gedruckt und sieben davon verkauft. Ein Buch seines Werkes hatte sich der Autor selbst behalten und nach den Testexemplaren entschieden, keine weiteren Drucke freizugeben.Wieso kann ich trotz meiner tiefgreifenden Recherche nicht mehr herausfinden? Woher habe ich das Testexemplar eigentlich bekommen?Diese Fragen rattern unaufhörlich wie die Wiederholung einer schlechten Filmserie durch meinen Kopf. Wieso kann ich mich nicht daran erinnern, woher ich es bekommen habe? Hat meine Mutter es gekauft? Das kann eigentlich nicht sein, da es im freien Handel nicht erhältlich war und auch keine Leseexemplare an die Buchhandlungen ausgegeben wurden. Es ist ein großes Mysterium für mich, das ich derzeit nicht lösen kann, was mich sehr ärgert. Weil meine Augen nun doch schwer werden, gebe ich das Buch wieder in meine Tasche unter meinen Füßen zurück und döse weiter. „Mein Herr, darf ich Sie bitten Ihre Sitzlehne wieder gerade zu stellen, da wir bereits im Landeanflug auf Taschkent sind.“ Die höfliche Frauenstimme einer Stewardess holt mich aus meinem Dämmerschlaf. In einiger Entfernung kann man schwache Lichter, die wie ein Sternenhimmel funkeln, aus den kleinen Flugzeugfenstern erahnen. Unter uns ist alles in ein sanftes schwarzes Kleid getaucht. Nun bin ich der Erfüllung meines Traumes, der mir mit acht Jahren so unerreichbar schien, zum Greifen nahe. Ein freudiger Schauer läuft mir über meinen Rücken. Der Check-out durch den Zoll verläuft ohne Probleme und in der Empfangshalle erwartet mich der Fahrer unserer Firma, der mich zum Hotel bringt. Ein aufregender Tag geht zu Ende und müde falle ich ins Hotelbett, wo ich augenblicklich tief und fest einschlafe.

„Michael, hörst du mich?“ Wie von einem Blitz getroffen wache ich auf und taumle schweißgebadet und orientierungslos aus dem Bett, bevor ich mich wieder erinnern kann, wo ich bin. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Das Buch wurde mir von dieser bezaubernden Krankenschwester in Braunau geschenkt. Sie war es, die mit mir jede Nacht unermüdlich Karten spielte, wenn es ihre Zeit erlaubte, als ich gegen die Sepsis behandelt wurde. Ich kann mich jetzt wieder an jedes Detail erinnern, ihr bildhübsches orientalisches Aussehen, und dass sie Nargisa heißt. Eines Nachts, kurz bevor ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie verschwunden. Sie hatte mir das Buch in meinen Rucksack gesteckt und auf der ersten Seite eine Widmung hinterlassen. „Du süße Ruhe, du kommst zu ihm, doch nicht heute, er muss den Pfad durch den Sandsturm der Zeit beschreiten und seine Bestimmung erfüllen. Vergiss mich bitte nicht, in Liebe, Nargisa“, hatte sie mir auf der ersten Seite dieses Buches hinterlassen. Was hat das zu bedeuten? Auch heute verstehe ich diese Botschaft von Nargisa noch immer nicht. Ich notiere mir die Widmung sofort in meinem neuen Buch auf der ersten Seite, damit es mir nicht wieder aus meinem Gedächtnis entfällt. Da der Freund meines Vaters der kaufmännische Vorstand des Krankenhauses ist, habe ich eine Idee, wie ich sie finden könnte. Sofort greife ich zu meinem Mobiltelefon und rufe ihn aus Usbekistan mit der Bitte an, für mich herauszufinden, wie Nargisa mit Nachnamen heißt und ob sie vielleicht eine Nachsendeadresse hinterlassen hat. Weil es sich um Daten aus dem Jahre 1982 handelt, muss er ins Dokumentenarchiv, was mit Sicherheit einige Zeit in Anspruch nimmt und es daher dauern kann, bis er mir die Information zukommen lassen kann.

Erstaunlicherweise bekomme ich bereits am Nachmittag in der Firma eine SMS zugestellt. „Frau Nargisa Argentum – Geburtsort Taschkent“. Meine Kollegin Ferusa, welche neben mir sitzt und meinen nachdenklichen Blick aufgrund der SMS einfängt, fragt mich, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke und drücke die Nachricht weg, da sie persönlich ist und überlege, wie ich ihre aktuelle Adresse herausfinden kann. „Ferusa, ich brauche deine Hilfe. Wie kann ich herausfinden, wo jemand lebt, wenn ich nur den Vor- und Nachnamen und den Geburtsort in Usbekistan kenne?“ Sie wirft mir einen irritierten Blick zu und zieht die rechte Augenbraue hoch. „Das kommt darauf an, wie wichtig diese Information für dich ist?!“ Mit einem studierenden Blick will sie herausfinden, welche Bedeutung diese Information für mich hat. „Diese Information wäre sehr wichtig für mich“, bestätige ich ihr geheimtuerisch, wohl wissend, dass ihr das sicherlich nicht reichen wird. „Schreibe mir bitte den Vor- und Nachnamen und den Geburtsort auf diesen Zettel. Ich werde mich darum kümmern und dir die Antwort zukommen lassen, sobald ich sie bekommen habe.“ Ferusa holt Block und Kugelschreiber aus ihrem Rollcontainer und legt sie vor mich hin. Wir unterhalten uns neben den Arbeitsthemen auch über unser Privatleben und stellen schnell fest, dass wir uns sehr sympathisch sind. Sie hat wunderschöne lange schwarze, glatte Haare, die ihr weit über die Schulter fallen, dunkle Augen, die wie Brillanten funkeln. Ihr Gesicht ist fein wie Elfenbein, die blutroten Lippen zart gezeichnet und ihre Figur athletisch, was mich sehr anspricht. Sie ist etwa 1,64 Meter groß und 35 Jahre alt, trägt ein farbenprächtiges Seidenkleid, welches sich sanft an ihren lieblichen Körper schmiegt, und flache weiße Lederschuhe. „Mein Vater ist im öffentlichen Dienst und meine Mutter an der technischen Universität beschäftigt“, erzählt sie mir voller Stolz und lächelt mich dabei mit ihren süßen Grübchen an den Mundwinkeln an.

Am Abend lädt die Geschäftsführerin die gesamte Belegschaft zu einem gemeinsamen Abendessen ein, da wir aus Wien gekommen sind und sie möchte, dass wir uns alle besser kennenlernen und uns in Taschkent wohlfühlen. Diese Gelegenheit nutze ich sehr gerne und setze mich neben Ferusa, weil sie mir zu meiner Freude einen Platz neben sich frei gehalten hat. Sie ist eine lustige, intelligente, aber auch sehr tiefsinnige Frau. Mir ist bekannt, dass in Usbekistan der Islam die Hauptreligion ist. Ihrem Glauben sehr verbunden ist es Frauen nicht erlaubt, ohne Begleitung mit Männern auszugehen. Frauen leben bei ihren geliebten Eltern bis sie heiraten. In einem unbeobachteten Moment steckt sie mir einen Zettel zu und zeigt mir mit ihrem Zeigefinger auf dem Mund an, es nicht weiter zu kommentieren. Wir genießen einen sehr schönen, ausgelassenen und familiären Abend bei Tanz und Musik bis kurz vor Mitternacht.

4 - Familie

Im Hotel angekommen gehe ich sofort unter die Dusche. Es ist sehr heiß und vom Tanzen bin ich komplett durchgeschwitzt. Beim Aufhängen meiner Hose auf den Kleiderhaken fällt der kleine Zettel, den mir Ferusa zugesteckt hat, aus der Hose. Den habe ich komplett vergessen. Neugierig bücke ich mich und entfalte den Zettel. Sie hat die Adresse von Nargisa Argentum notiert. Ich nehme sofort von Neugierde gepackt mein Mobiltelefon zur Hand und suche über Google Maps den genauen Standort der Adresse. So ein Glück, sie wohnt nur fünf Straßen vom Hotel entfernt. Obwohl ich schon sehr müde bin, werde ich mich nach der Dusche gleich auf den Weg machen, um mir die Adresse genauer anzusehen. Ich kenne mich, es würde mich so beschäftigen, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutun und mich nur rastlos im Bett von einer Seite zur anderen wälzen würde. Die Temperatur, die tagsüber auf über 37 Grad Celsius geklettert war, ist nun auf erträgliche 26 Grad Celsius gesunken, als ich mich vom Hotelzimmer aus auf den Weg mache. Eine leichte Sommerjacke habe ich mir zur Sicherheit um meine Taille gebunden, sollte es mir doch zu kühl werden. Die Straßen sind um diese Zeit gespenstisch leer und da und dort kann man Geräusche wahrnehmen, welche man nicht genauer erkunden möchte. Einen Schreck bekomme ich, als eine Katze direkt neben mir von einem Mistkübel herunterspringt und dabei den Blechdeckel mit einem lauten Knall auf den Boden wirft. Die Alleen sind mit bunten orientalischen Sträuchern und Bäumen gesäumt. „Der Frühling ist mit Abstand die schönste Zeit, in unser wunderschönes Land zu reisen“, hat mir Ferusa heute freudestrahlend erzählt. Dem kann ich nur beipflichten, es ist wunderschön hier. Der kollegiale Zusammenhalt und die familiäre Verbundenheit sind bei den Kolleginnen und Kollegen stark zu spüren, was sich aus meiner Sicht maßgeblich von der europäischen Kultur unterscheidet. Ich schlendere weiter durch die Straßen mit der Hilfe von Google Maps, bis ich den Zielort, die Adresse, welche auf dem Zettel notiert ist, erreiche.

„Sie haben Ihren Zielort erreicht“, höre ich die Frauenstimme und bin zufrieden, dass ich wirklich an der notierten Adresse angekommen bin. Zuerst sehe ich mich noch kurz in der Straße um, bleibe dann einige Zeit vor dem Haus stehen und bestaune den wunderschönen bunten Garten mit Granatapfelbäumen, orientalischen Sträuchern und Gewürzbeeten und einem Steinbrunnen mit einer grünen Handpumpe. Ein antikes, liebevoll gestaltetes Namensschild mit den kyrillischen Buchstaben „Familie Argentum“ ist am Eingangstor angebracht.Hat sie geheiratet, als sie zurück nach Usbekistan kam?, geht es mir bei dem Wort Familie durch den Kopf. Kurz bevor ich auf den Knopf der Klingel drücke, wage ich einen Blick auf die Uhr, weil ich die Zeit total übersehen habe. Es ist bereits nach Mitternacht, aber ich kann erkennen, dass noch Licht im Haus an ist, da es durch die Gardinen schimmert. Die antike Klingel ertönt beim Druck meines Zeigefingers auf den silbernen Knopf am Tor. Ein Licht, welches den Gartenweg beleuchtet, wird eingeschalten und die Haustür öffnet sich einen Spalt. Schemenhaft kann ich den Körper einer Frau in der Tür erkennen. Mit einer hörbar unsicheren Stimme spricht sie mich in Usbekisch an. „Guten Abend, entschuldigen Sie bitte meine späte Störung!“, erwidere ich den Gruß in deutscher Sprache. Die usbekische Sprache verstehe ich leider nicht, aber ich nehme an, dass sie mich gegrüßt hat. Eine unangenehme Stille macht sich zwischen uns breit und ich überlege, ob ich nicht einfach gehen und morgen wiederkommen sollte. Sie könnte sich bedroht fühlen. Die Frau sieht etwas älter als ich aus und lässt die Tür weiterhin nur einen Spalt offen. „Verzeihen Sie, kennen wir uns?“, fragt sie in exzellentem Deutsch und ich spüre sofort, dass sich ein extremes Glücksgefühl in mir breitmacht, da ich mich sofort wieder an die Stimme dieser Frau erinnern kann. „Ja, ich denke wir kennen uns, du bist es doch, Nargisa?“ Meine Stimme überschlägt sich vor freudiger Erwartung auf ihre Antwort, obwohl ich die Antwort bereits sicher kenne. „Es ist so schön, dass ich dich nach so langer Zeit endlich wiedersehe. Ich war so traurig, als du fort warst und ich habe mich so auf ein Wiedersehen gefreut!“ Ich öffne das Gartentor, das sich mit einem Klickgeräusch entriegelt hat und gehe ihr entgegen. Die Haustür springt zwar auf, aber sie geht mir trotzdem noch zögernd entgegen und wartet jetzt unter dem Licht der Laternen, welche den Weg beleuchten. „Du kannst den Mund wieder zumachen, wer immer du auch bist! Kennen wir uns aus Österreich?“ Mit einem Lächeln im Gesicht steht sie mir gegenüber. „Ich bin es, Michael! Erkennst du mich nicht mehr? Das ist kein Wunder, ich bin ein paar Jahre älter geworden. Wir haben uns im Krankenhaus in Braunau kennengelernt“, präsentiere ich mich ihr mit ausgestreckten Armen. „Ich danke dir, lieber Gott, dass du ihn zu mir gebracht hast!“ Nargisa legt ihre Hände auf ihr Gesicht und streckt sie dann gen Himmel.Wieso dankt sie Gott dafür, dass ich bei ihr bin? Das überrascht mich jetzt doch sehr. Hat sie mich erwartet? Aber sie konnte doch gar nicht wissen, dass ich nach Taschkent komme und nach ihr suche?!In schnellen Schritten kommt sie näher, nimmt meinen Kopf in ihre warmen Hände, zieht ihn zu sich hinunter, küsst mich auf die Stirn und umarmt mich herzlich. Ihre Berührung ist ein bekanntes, vertrautes Gefühl und durchströmt meinen Körper wohlig warm. Tränen der Freude laufen über ihre Wangen, so gerührt ist sie, dass ich da bin. Mein Mund steht noch immer offen, da ich erstens über ihre Reaktion überrascht bin und, obwohl etwa 30 Jahre vergangen waren, sie sich äußerlich kaum verändert hat. Der Zahn der Zeit hat sie offensichtlich verschont. Traurig bin ich nicht darüber, weil ich mich sehr freue, sie so wiederzusehen, wie ich sie in Erinnerung habe. „Komm ins Haus, Michael! Ich freue mich sehr, dass du den Weg zu mir gefunden hast.“ Sie nimmt meine Hand und führt mich in ihr Haus. Beim Eintreten kann ich bereits die vielen orientalischen Blumen und Gewürze riechen, die dem Raum eine besondere Note verleihen. Eine kleine Bilderwand, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ziert ihre Vorzimmerwand. Mein Blick fällt auf ein Bild von uns beiden. „Das sind wir beide, Nargisa.“ Ich nehme es von der Wand, starre auf das Bild und erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich sie vermisst habe und welche Wunde es in mir gerissen hat, als sie mich so plötzlich im Krankenhaus verlassen hatte. Tränen der Freude laufen über meine Wangen. „Michael, setzen wir uns auf die Couch.“ Wir gehen zu ihrer mit rotem Samt bezogenen Couch mit dunkelgelben Polstern, welche auf schnörkelig verzierten Teakholzbeinen steht und setzen uns. In dem Bilderrahmen in meiner Hand gibt es zwei Bilder. Eines, auf dem ich auf ihrem Schoß sitze und wir beide Karten spielen. An die Szene aus dem zweiten Bild kann ich mich nicht erinnern und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich das bin. Nargisa trägt einen kleinen Jungen im Arm, der offensichtlich frisch operiert wurde. „Wer ist das Nargisa?“ Ich tippe auf das zweite Foto. „Das bist du, Michael, du warst ein so hübsches Baby. Hast du keine Babyfotos mehr von dir? Weißt du nicht, wie du ausgesehen hast?“ Überraschung und Verwunderung ist ihrem Gesicht anzumerken. Verdutzt sehe ich sie an, weil ich verwundert bin, dass sie zwei Fotos von mir in ihrem Haus aufgehängt hat, aber sonst kein einziges anderes Kinderfoto an den Wänden zu sehen ist. „Ich werde für uns beide Tee aufstellen. Du warst damals dem Tod näher als dem Leben, als ich dich von deiner Mutter übernommen habe.“ Sie steht auf und geht in die Küche. Sie serviert mir den frisch aufgebrühten Tee in einer Piala, setzt sich wieder zu mir, drückt fest meine Hand, fordert mich auf einen Schluck Tee zu trinken und sieht mir tief in die Augen. Kurze Zeit später fühlt es sich an, als öffnet sich ein Spiegel in meine Kindheit. Ich sehe durch ein Fenster auf den Parkplatz des Krankenhauses in Braunau, wie meine Mutter ein kleines Kind ins Krankenhaus bringt, welches wohl ich bin. Durch einen hellen weißen Gang erkenne ich, wie mich eine Krankenschwester aufhebt und in ein Behandlungszimmer trägt, während meine Mutter reglos auf dem Boden liegt. Plötzlich spüre ich, wie mich eine Person in ihre Obhut nimmt und mit mir in den Operationssaal läuft, um mich für eine Operation vorzubereiten. Während der Operation werde ich mehrmals reanimiert, weil mein Herz aufhört zu schlagen. Entsetzt höre ich, wie mich der Arzt aufgibt, für tot erklärt und sich kurz von mir und dieser Person wegdreht, durch deren Augen ich gerade schaue. Diese Hände, die ich jetzt sehe, kenne ich, da bin ich mir sicher. Das sind die Hände von Nargisa. Sie öffnet ein Fläschchen, gießt etwas in ihre Hände und lässt ein helles Licht erscheinen, dessen Funke auf mich überspringt und Sekundenbruchteile später zeigen die Monitore wieder Vitalwerte von mir an. „Michael, hörst du mich? Es ist Zeit zurückzukommen!“ Nargisa holt mich sanft aus ihren Gedanken zurück, weil ich mir das anders nicht erklären kann.Wie hat sie das gemacht? Wie kann es sein, dass sie mit mir ihre Gedanken teilen kann und ich das Gefühl habe, direkt dabei zu sein und dasselbe fühle, wie sie zu diesem Zeitpunkt gefühlt hat?Ich werfe ihr einen irritierten Blick zu. „Ich weiß, es ist im Moment alles verwirrend für dich, aber ich werde dir alles erklären, wenn die Zeit dafür reif ist.“ Ihre Worte beruhigen mich und zeigen mir vor allem, dass ich es mir nicht eingebildet habe, was gerade passiert ist und ich nicht verrückt werde. „Willst du hier bei mir bleiben? Ich habe ein Gästezimmer, in dem du schlafen kannst.“ Sie sieht mich mit ihrer ruhigen entspannten Art an. „Natürlich will ich hier bei dir bleiben, wenn es keine Belastung für dich ist.“ Mein Kopf zerspringt fast vor Aufregung. Ich spüre, dass es hier für mich so viel zu entdecken gibt. „Jetzt werde ich für uns beide noch eine weitere Tasse grünen Tee kochen.“ Sie lächelt mich schelmisch an, steht auf und geht noch einmal in die Küche, um einen frischen Topf Wasser aufzustellen. „Wie hast du mich eigentlich gefunden, Michael? Was machst du hier in Usbekistan, in Taschkent? Bist du beruflich hier?“ Gespannt wartet sie darauf, was ich zu erzählen habe. Erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass mit Sicherheit auch sie viele Fragen an mich hat, die noch unbeantwortet sind, obwohl mich das Gefühl beschleicht, dass sie schon sehr viel über mich weiß, woher auch immer. Nargisa hat dieselben grünen Augen wie ich, was mich sehr überrascht, da es mir bis jetzt nicht aufgefallen war. Sie verfügt noch immer über ihre umwerfend schöne Ausstrahlung. „Es ist Zufall, dass ich dich gefunden habe. Seit ich wusste, dass ich von der Firma aus nach Taschkent fliege, beschäftige ich mich wieder mit Taschkent. Ich habe als Kind schon einmal von Taschkent gelesen, weil ich ein Kinderbuch bekommen habe, wobei ich nicht weiß von wem, aber ich nehme an, es war von dir. Ab diesem Zeitpunkt hat mir meine innere Stimme zugeflüstert, dass ich versuchen sollte, dich zu finden.“ Jetzt wird sich zeigen, wie sie auf meine Vermutung reagiert und ich warte gebannt auf ihre Reaktion. „Zugegeben, ich bin erstaunt, dass es so einfach ist, an meine Adresse zu kommen. Woher hast du sie bekommen?“ Sie bohrt nach, weil sie wissen will, woher ich sie habe und ignoriert geflissentlich meine zuvor in den Raum gestellte Vermutung. „Ich habe eine Kollegin gebeten, dessen Vater im Ministerium arbeitet, ob sie mir deine Adresse besorgen kann.“ Gespannt warte ich auf ihre Reaktion. Ich habe das Gefühl, dass sie es nicht gerne hat, wenn ihre Adresse so leicht erhältlich ist. „Ihr Vater muss ein wichtiger Mann im Ministerium sein, wenn er diese Information so einfach zur Verfügung stellen kann.“ Sie sieht beunruhigt aus, nimmt die Teekanne und gießt uns noch Tee in unsere Teetassen nach. „In deinem Fall stört es mich nicht, sondern bin heilfroh, dass du sie bekommen hast.“ Sie setzt sich wieder zu mir auf die Couch und legt ihre Hand auf meine, welche auf meinem Oberschenkel ruht. „Michael, es war von Anfang an mein Wunsch, dich hierher an diesen wundervollen Ort, in dieses Haus zu bringen. Ich hoffte schon immer, du würdest durch das Buch, das ich dir hinterlassen habe, dazu inspiriert werden und es hat funktioniert. Zeigst du mir das Buch, das ich dir geschenkt habe?“ Sie sieht mich mit neugierigen Augen an. „Das Buch, das du mir geschenkt hast, habe ich leider nicht mehr, Nargisa. Meine Mutter hat es an einen Flohmarkthändler, welcher genau nach diesem Buch gesucht hatte, verkauft. Ich habe das Buch aus derselben Auflage über ein Antiquariat gefunden und sofort gekauft. Leider kann ich es dir jetzt nicht zeigen, weil es im Hotel in meiner Aktentasche liegt.“ Traurig hebe ich meine Hände in die Höhe. „Es war wohl Zufall, dass es zum Verkauf stand und genau von dir gekauft wurde.“ Nargisa sieht mich mit einem verschmitzten Grinsen an. Das Gefühl, dass auch das kein Zufall ist, beschleicht mich nun zusehends. Sie löst das Rätsel nach einer kurzen Pause, die zum Spannungsaufbau dienen sollte, auf. „Michael, du musst mir jetzt gut zuhören. Ich habe das virtuelle Antiquariat nur zu dem Zweck eröffnet, damit du das Buch wiederbekommst, wenn die Zeit dafür reif ist. Das Buch ist von zentraler Bedeutung für deine zukünftigen Aufgaben und es diente dazu, dass du den Weg zu mir wiederfindest. Im Buch ist ein Schlüssel versteckt, den du entschlüsseln musst.“ Sie streichelt meine Hand, während sie mir die Geschichte über das Kinderbuch erzählt. Obwohl ich noch viele Fragen habe, überfällt mich plötzlich eine starke Müdigkeit. Ich lege mich auf die Couch von Nargisa und schlafe, während sie meine blonden Haare streichelt und mich mit einer handgestickten Decke zudeckt, schnell ein. Nargisa sitzt noch lange neben mir und betrachtet mich. Sie ist stolz darauf, dass sie die süße Ruhe, in welche ich bereits eingetaucht war, verhindern konnte. Die Aufgaben, die mir zugedacht sind, müssen erfüllt werden.

Am nächsten Morgen wache ich sehr früh auf. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln mich an der Nase. Nach vielen Jahrzehnten bin ich zum ersten Mal nicht schweißgebadet aufgewacht, sondern habe ruhig und entspannt geschlafen. „Wieso hört der Albtraum hier auf einmal auf? Er quält mich seit vielen Jahrzenten, wie kann das sein?“ Nargisa lächelt mir bereits aus der Küche entgegen. Sie muss heute schon früh aufgestanden sein, weil sie bereits frisches Gebäck und frische Früchte vom nahen Markt geholt hat und der Kaffee riecht verführerisch gut. Mein Blick schweift durch ihr Wohnzimmer und ihre Küche. In der Nacht war mir nicht aufgefallen, dass die Räume voll mit antiken Bildern und Antiquitäten sind, die einen immensen Wert haben müssen. Die Einrichtung ist sehr geschmackvoll gewählt und wirkt nicht überladen, was ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Sie gibt mir ein Handzeichen, dass das Frühstück angerichtet ist und ich mich an den Tisch setzen soll. Dieser Aufforderung komme ich gerne nach, da mein Magen schon klare Anzeichen gibt, dass er das haben will, was hier so verführerisch duftet. Sie setzt sich zum Tisch und wir beginnen mit dem Frühstück. „Wir müssen einige Dinge besprechen und deswegen wäre es gut, wenn es möglich ist, dass du übers Wochenende in Taschkent bleibst“, beginnt Nargisa das Gespräch mit einem ernsten Unterton. „Ich habe geplant, drei Wochen in Usbekistan zu verbringen, daher ist das kein Problem. Diesen Wunsch erfülle ich dir gerne.“ Ich spreche mit vollem Mund, was sehr unhöflich ist, aber es schmeckt einfach zu gut. Sie lächelt mich sichtlich erleichtert an und wir beginnen uns viel über die Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben, zu erzählen, was wir erlebt haben. „Du kannst gerne jede Nacht hier schlafen, wenn du das möchtest. Das Gästezimmer ist für dich vorbereitet und du würdest mir eine große Freude bereiten.“ Vorsichtig unterbreitet sie mir das Angebot. „Das ist hervorragend, Nargisa, da ich bereits so viele Nächte in meinem Leben in Hotelzimmern verbracht habe, dass ich keine Lust mehr darauf habe, auch nur eine weitere Nacht in einem zu schlafen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Auf der anderen Seite will ich dir nicht zur Last fallen.“ Ich zeige mich sehr erfreut über ihr Angebot. „Michael, dann ist es abgemacht. Du schläfst ab sofort hier bei mir im Haus. Wir holen heute Abend deine Sachen aus dem Hotel und bringen sie hierher.“ Sie macht eine klare Ansage, was ich sehr schätze. „So machen wir es. Ich mache mich jetzt auf den Weg ins Hotel, weil mich das Firmentaxi bereits in zehn Minuten abholt. Bis später, Nargisa, und vielen Dank, dass du mich so herzlich willkommen heißt.“ Schnell eile ich aus dem Haus, sehe aber aus dem Augenwinkel, dass Nargisa in der Tür steht und mir nachschaut. Ich drehe mich noch einmal um und winke ihr zum Abschied zu.

Ferusa, die bereits mit dem Fahrer der Firma im Foyer auf mich wartet, ist überrascht, als ich früh morgens ins Hotel spaziere. Die Neugier, wo ich so früh morgens schon zu Fuß unterwegs war, ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Guten Morgen. Ich laufe noch kurz ins Hotelzimmer hoch, hole den Laptop und kleide mich um“, informiere ich die beiden auf dem Weg ins Zimmer. Aus Höflichkeitsgründen fragt sie mich nicht, was ich so früh morgens schon unternommen habe. „Herzlichen Dank, Ferusa, dass du mir die Adresse von Frau Argentum beschafft hast!“ Um sie nicht unnötig auf die Folter zu spannen, deute ich an, wo ich war und lege meine Hand auf die ihre. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie ahnt, wo ich hergekommen bin. „Hast du die Person gefunden, die du gesucht hast?“ Vorsichtig sieht mir Ferusa in die Augen. Sie möchte keinesfalls aufdringlich erscheinen. „Das habe ich und ich danke dir dafür, dass du es warst, die mir diese große Freude bereitet hat, das vergesse ich dir nie!“ Ich lasse meine Hand weiter auf ihrer ruhen, da sie mir Zeichen gibt, dass es sie nicht stört und ich ihre Nähe ebenfalls sehr genieße. Am selben Abend checke ich aus meinem Hotel aus und bringe meine Sachen zu Nargisa.

„Hallo Nargisa, ich bin schon da“, winke ich ihr zu und hoffe, dass ihr die Überraschung gefällt. Sie ist im Garten mit Unkraut jäten beschäftigt, springt aber sofort freudig auf, als sie mich sieht, und kommt zum Gartentor, damit sie es mir öffnen kann. „Komm, ich zeige dir das Haus und dein Zimmer.“ Sie zieht sich im Vorraum die Schuhe aus und stellt sie auf eine Tropftasse, was ich ihr gleichtue. „Das Haus ist ein Bungalow mit Keller. Den Keller zeige ich dir später. Zuerst zeige ich dir das Gästezimmer, damit du deine Sachen verstauen kannst.“ Sie öffnet die erste Tür rechts, die im Gang linker Hand vom Eingang liegt. Langsam öffnet sie die Tür und geht durch das Zimmer, um das offene Fenster zu schließen, welches sie zum Lüften geöffnet hatte. Das Zimmer ist liebevoll eingerichtet und sieht für mich nicht aus wie ein Gästezimmer, eher wie ein Kinderzimmer. „Ich hoffe sehr, dass es dir gefällt, Michael.“ Nargisa sieht mich erwartungsvoll an. „Es ist wunderschön, Nargisa. Ich gebe zu, es sieht für mich wie ein Kinderzimmer aus, aber von jener Sorte, wie ich es mir immer erträumt habe. Darf ich mir Bücher aus dem Bücherregal an der rechten Wand nehmen, wenn das für dich in Ordnung ist?“ Das Zimmer begeistert mich. An der gegenüberliegenden Wand steht ein moderner Schreibtisch mit Monitor und Bürosessel am Fenster und der Kasten daneben an der Wand. Das Bett steht auf der linken Seite und die Wände sind in einem unaufdringlichen Pastellgrün gestrichen. „Du kannst jedes Buch lesen, das dich interessiert, damit machst du mir eine große Freude. Das WLAN-Kennwort habe ich dir auf den Tisch gelegt, damit du kein teures Datenroaming konsumieren musst. Die nächsten Türen im Gang sind das Bad und die Toilette. Richte dich hier erst mal gemütlich ein und komm dann zu mir ins Wohnzimmer, damit wir uns weiter unterhalten können.“ Sie verlässt das Gästezimmer und winkt mir noch verlegen zu, bevor sie die Tür schließt. Nachdem meine Sachen im Kasten und Rollwagen unter dem Schreibtisch verstaut sind, nehme ich das Buch aus meiner Aktentasche und gehe damit ins Wohnzimmer. Ich lege es vor dem Abendessen in freudiger Erwartung auf die Auflösung einiger Fragen auf das Sideboard im Wohnzimmer, wo mehrere Bilderrahmen mit Bildern von Personen stehen, welche ich nicht kenne. Aufmerksam kommt sie mir entgegen, nimmt es in die Hand und blättert darin, verharrt dabei aber bei jeder Seite einige Sekunden, als würde sie etwas überprüfen und nickt abschließend sehr zufrieden. „Das ist das korrekte Buch, das du dir gekauft hast, und es freut mich, dass du dir meine Widmung gemerkt und sie wieder ins Buch geschrieben hast“, bestätigt sie mir zufrieden, dass es sich um das Original handelt, um es dann wieder seelenruhig auf das Sideboard zu legen und zurück in die Küche zu gehen. Sie spannt mich das gesamte Abendessen lang auf die Folter, was es mit dem Buch auf sich hat und warum es für mich von so großer Bedeutung ist. „Geduld, Michael, nach dem Essen!“, höre ich immer wieder gebetsmühlenartig, wenn ich einen Blick in Richtung Sideboard zum Buch werfe, was mich gelinde gesagt auf die Palme treibt. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, das vor dem Weihnachtsbaum steht und seine Geschenke noch nicht öffnen darf. Nach dem Essen, bei dem wieder viele orientalische Leckereien aufgetischt wurden, steht sie endlich auf und erlöst mich von meinen Qualen.

Sie holt das Buch und geht anschließend zum Dimmer-Schalter an der Wand, um das Licht im Raum zu reduzieren, setzt sich neben mich und legt das Buch auf den Tisch. „Was siehst du?“ Zum ersten Mal sieht sie mir mit einem alles durchdringenden, fordernden Blick in die Augen. „Auf dem Umschlag auf der Außenseite sehe ich im Bild wieder diese Druckfehler, die wie Codes aussehen, welche ich mir nicht erklären kann. Es sind seltsame alphanumerische Wörter, welche ich als Kind bereits auf den Innenseiten entdeckt habe, mir es aber auch damals schon nicht erklären konnte. Diese Codes auf der Außenseite ergeben ein Bild, das aussieht wie ein Monument, das ich schon einmal in einem Reiseführer von Usbekistan gesehen habe.“ Während ich mit meinem Zeigefinger das Bauwerk nachzeichne, prüfe ich das Bild weiter. „Korrekt, du kennst das Bauwerk sicher.“ Nargisa zieht einen Reiseführer von Usbekistan aus ihrem antiken Bücherregal, schlägt ihn auf und zeigt auf das Monument. „Es handelt sich um ein Bauwerk aus Taschkent, welches an die Opfer der Repression gedenkt.“ Sie schiebt mir das Buch über den Tisch, damit ich mir die Details zum Bauwerk und seiner Geschichte durchlesen kann. „Mit dem entsprechenden Schlüssel kannst du lesen und verstehen, was hier steht.“ Sie tippt auf die Codes, welche zu Hunderten auf den verschiedenen Seiten im Kinderbuch vorkommen. „Deine erste Aufgabe ist es zu erlernen, wie diese Codes entschlüsselt werden. Derzeit besitzen nur ich und noch ein weiterer Mensch die Fähigkeit, sie zu entschlüsseln.“ Sie wirft mir einen vielsagenden geheimnisvollen Blick zu. „Trotz meiner IT-Ausbildung habe ich keine Idee, wie diese Codes entschlüsselt werden können. So etwas habe ich noch nie gesehen und sie ergeben für mich absolut keinen Sinn.“ Ratlos blättere ich durch das Buch. Sie lächelt mich an und berührt zärtlich meine Hand. „Wie ich schon sagte, nur zwei Menschen beherrschen diesen Code und du wirst der Dritte sein. Für heute machen wir Schluss, komm mit!“ Sie steht gut gelaunt auf, hakt sich in meinen rechten Arm ein, zieht mich vom Stuhl hoch und geht mit mir auf ihre Terrasse vor dem Haus. „Komm, Michael, setzen wir uns auf die Bank und sehen uns den prächtigen Abendhimmel an.“ Eine kühle Brise streift unsere Körper. Es herrscht eine friedliche Stille, die wir stundenlang in uns aufnehmen. „Schön, mit dir hier zu sitzen und die Abendruhe in Taschkent zu genießen. Komm, lass uns schlafen gehen, der morgige Tag wird sicher anstrengend.“ Sie steht gegen Mitternacht auf und bringt das Teegeschirr ins Haus. Ich bleibe noch kurz sitzen und folge ihr dann. In meinem Bett falle ich schnell in einen tiefen Schlaf und durchlebe einen Traum, der sich sehr real anfühlt. Ich sitze auf einer Bank vor dem Memorial und atme die Stille tief in mich ein. Mein Blick gleitet über die massiven Marmorsäulen, die hoch in den Himmel ragen. Sie tragen eine beeindruckende grüne Kuppel im orientalischen Stil auf ihren Schultern. Die Marmortafel vor dem Memorial erinnert an die vielen Opfer, die der Krieg gekostet hatte. Die Sonnenstrahlen fallen noch immer auf die Bodenplatte, obwohl die Dämmerung bereits hereinbricht, was sehr seltsam ist, da es physikalisch nicht möglich sein sollte. Noch hinzu kommt, dass trotz der sehr tief stehenden Sonne am Himmel die Strahlen in die Kuppel reflektiert werden. Das muss ich mir genauer ansehen, stehe auf und gehe zum Memorial. Die Marmorplatten sind symmetrisch angeordnet und wurden glatt geschliffen. Kniend sehe ich mir die Steine an, aber trotz meiner genauen Prüfung der Lage der Steine fällt mir keine Neigung oder Verwerfung auf, welche diese Lichtstreuung erklären könnte. Die Kuppel ist mittlerweile hell erleuchtet, weswegen mir eine Besonderheit ins Auge sticht. Dieselben Zeichen sind in der Decke eingefasst, die ich auch auf dem Buchumschlag schon gesehen habe. Es wirkt fast so, als würden sie in der Decke tanzen.

Nargisa weckt mich auf, indem sie meinen Arm vorsichtig berührt, wodurch sie mich aus meinem sehr realen Traum holt. „Michael, es ist bereits 8:00 Uhr morgens.“ Sie lacht, weil ich verwirrt und schlaftrunken aufstehe und wie betrunken ins Bad wanke, während ich meine Augen mit meinen Handflächen reibe. In meinem Kopf dreht sich alles, weil ich noch immer in diesem Traum gefangen bin. Das Gefühl, diese Zeichen früher schon einmal gesehen zu haben, lässt mich nicht los, es kommt mir fast wie ein Déjà-vu vor. Nargisa merkt, dass ich nach dem Bad noch immer in meinem Gedanken festhänge, versucht jedoch nicht, mich zum Reden zu bewegen. Still sitzen wir zusammen, genießen die himmlische Ruhe und Gaumenfreude, welche mit der Betätigung der Hupe des Firmenautos durch unseren Fahrer abrupt beendet wird. Er signalisiert mir, dass er vorgefahren und zur Abfahrt bereit ist. Auf dem Weg zur Firma sehe ich, dass wir direkt am Memorial vorbeifahren, was mir gestern gar nicht aufgefallen war. Ich tippe dem Fahrer auf die Schultern und bitte ihn, zum Memorial Center zu fahren und den Wagen kurz auf dem Parkplatz zu halten. Er begleitet mich und setzt sich neben mich auf die Bank, auf der ich im Traum war. Kurze Zeit später stehe ich auf und gehe vor zur Gedenktafel. Alles ist, wie ich es im Traum erlebt habe. Die symmetrisch angeordneten glatt geschliffenen Bodenplatten, die hohen Marmorsäulen und das grüne Kuppeldach im orientalischen Stil. Der Blick nach oben raubt mir beinahe den Atem. Die Decke der Kuppel ist mit arabischen Ornamenten verziert. Schriftzeichen, wie ich sie im Traum gesehen habe, kann ich in der Kuppel nicht entdecken. Da hat mich mein Geist wohl in die Irre geführt. Mein Fahrer Nikolai gibt mir höflich ein Zeichen, dass es bereits spät ist und wir in der Firma erwartet werden. Dort angekommen, setze ich mich zu den Kolleginnen in den Meeting-Raum und beginne mit der Schulung der neuen Prozesse des ERP-Systems. In der ersten Pause nimmt mich Ferusa vorsichtig zur Seite. „Michael, darf ich dich etwas Persönliches fragen?“ Sie wartet höflich auf meine Antwort. „Ferusa, natürlich darfst du mir eine persönliche Frage stellen. Ob ich sie dir beantworte, kommt darauf an, was du wissen möchtest?!“ Sie hat mich überrascht, da sie sich so geheimnisvoll gibt. „Erzählst du mir mehr über diese Frau, nach der du mich gefragt hast und deren Adresse ich dir über meinen Vater besorgt habe?“ Die höfliche und zurückhaltend respektvolle Art von ihr imponiert mir sehr. Sie scheint eine Frau zu sein, welche sich offensichtlich für meine Belange und vielleicht hoffentlich auch ein bisschen für mich interessiert, weil sie mir sehr gut gefällt und mich das sehr stolz machen würde. „Liebe Ferusa, diese Frau hat mir das Leben gerettet. Wieso kann ich dir nicht sagen, aber ich spüre, dass sie ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben ist. Erklären kann ich es dir derzeit nicht, weil ich selbst noch nicht weiß, welche Rolle sie in meinem Leben gespielt hat und wie sie in mein Leben gekommen ist. Es gibt so viele Fragen, die ich dir in diesem Moment noch nicht beantworten kann.“ Ich sehe ihr tief in die Augen. Sie sieht mich überrascht an, bohrt aber nicht weiter nach, da sie fühlt, dass ich ihr ehrlich geantwortet habe. Bevor sie sich umdreht und in die Teeküche geht, schenkt sie mir noch ein Lächeln. Sie kommt mit drei Tassen zurück und reicht mir eine. Der grüne Tee, den sie uns zubereitet hat, ist ein Gedicht. Er hat eine herbe Note mit einem Schuss Zitrone und einem Blatt Minze. Diese Frau hat nicht nur Klasse, sondern auch noch einen ausgesprochen guten Geschmack und eine exzellente Liebe zum Detail. Ich mag Menschen sehr, die die Liebe zum Detail schätzen. In der Mittagspause unterhält sie sich mit Nikolai, unserem Fahrer. Sie sieht ihn fragend an, nachdem er ihr offensichtlich auf ihre Frage nicht zufriedenstellend geantwortet hat und spricht dann weiter. Den Inhalt des Gesprächs kann ich leider nicht hören und würde ihn auch nicht verstehen, weil sie sich sicher in Usbekisch unterhalten und ich kein Wort von dieser Sprache verstehe. Nikolai zuckt mit den Achseln, während er zu mir und dann schnell wieder zu ihr sieht. Er hat bemerkt, dass ich sie beobachte, verabschiedet sich mit einem Handzeichen von ihr und macht sich auf den Weg zu einer weiteren Dienstfahrt. Am Abend fährt mich Nikolai wieder zum Haus von Nargisa, ohne mich vorher zu fragen, wo er mich hinbringen soll. Sie wartet bereits im Garten auf mich und winkt mir zu. „Herr Michael, brauchen Sie mich heute noch für eine Fahrt?“ „Warte bitte noch kurz, Nikolai!“ Ich steige aus dem Wagen und laufe zu Nargisa. „Nargisa, wollen wir noch zum Memorial Center fahren?“ Ich hoffe darauf, dass sie mit mir mitfahren will. „Ja, das können wir sehr gerne machen, aber wir fahren nicht mit eurem Fahrer, sondern nehmen mein Auto. Ich hole gleich die Schlüssel.“ Nargisa verschwindet im Haus. „Nikolai, ich brauche dich heute nicht mehr. Vielen Dank, dass du gewartet hast! Ich wünsche dir einen guten Abend und eine sichere Heimfahrt.“ Er startet seinen Wagen, verabschiedet sich höflich und fährt über die Avliyoota Straße, auf der die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale hoch in den Himmel emporragt, davon. Es handelt sich um eine russisch-orthodoxe Kathedrale, welche 1871 erbaut und immer wieder erweitert und renoviert wurde.