Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Während im Erdgeschoss eines Reihenhauses der querschnittgelähmte Hausherr Jürgen Netzler sein Dasein fristet, entwickelt sich im Schlafzimmer eine Etage höher eine seltsame Liebesbeziehung. An einem Mittwochmorgen wird Jürgens Freund Timo im Badezimmer tot aufgefunden. Zum gleichen Zeitpunkt kollabiert Lisa Netzler, Jürgens Ehefrau, in ihrem Auto. Die Ursache für Timos Tod und Lisas Zusammenbruch: Atemnot, verursacht durch Bienenstiche. Führt der gelähmte Mann die Regie für das einmalige Schauspiel? Ein nervenkitzelndes, aufregendes Familiendrama mit überraschenden Wendungen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kapitel 1: Dienstag
Kapitel 2: Dienstag
Kapitel 3: Dienstag
Kapitel 4: Mittwoch
Kapitel 5: Mittwoch
Kapitel 6: Vor sechs Monaten
Kapitel 7: Mittwoch
Kapitel 8: Mittwoch
Kapitel 9: Donnerstag
Kapitel 10: Donnerstag
Kapitel 11: Donnerstag
Kapitel 12: Donnerstag
Kapitel 13: Freitag
Kapitel 14: Vor sechs Monaten
Kapitel 15: Donnerstag, Abend
Kapitel 16: Freitag
Kapitel 17: Freitag
Kapitel 18: Samstag
Kapitel 19: Samstag
Kapitel 20: Samstag
Kapitel 21: Samstag
Kapitel 22: Samstag
Kapitel 23: Sonntag
Kapitel 24: Montag
Er parkte wie immer zwei Straßen weiter und lief im Schatten ausgewachsener Birken und zweistöckiger Gebäude den schmalen leicht abfallenden Weg zur Stolperstraße. Wenn jemand auch sehen würde, wie er das hellblaue Mittelreihenhaus betritt, wird er sich dabei nichts denken. Ein Freund besucht seinen Kumpel, nichts Außergewöhnliches.
Diesen Pfad durchquerte Timo seit einem halben Jahr jeden Dienstag. Er machte heute früher Feierabend – schon um halb drei. Zu Hause wird er – genau wie an den restlichen Wochentagen, an denen er einige Überstunden dranhängte, um den Dienstag abzufangen – erst um halb sechs aufschlagen. Seine Frau Bettina, im vollen Glauben, er käme direkt aus dem Betrieb, wird das warme Essen servieren und, nachdem er nur paar Bissen nehmen wird, wieder abräumen und Tee machen. Für sich Pfefferminz, für ihn einen schwarzen.
Timo tat so, als ob er auf die Klingel drückte, falls ihn doch jemand beobachtete, und stieß die Eingangstür mit der linken Hand auf. Mit der rechten massierte er seinen Oberschenkel oberhalb des Knies. Auch die Operation vor zwei Jahren hatte seine Schmerzen nicht gelindert – spätestens nach drei, vier Stunden Belastung versagte sein rechtes Knie den Dienst. Dadurch wurde das ganze Bein überbelastet. Er kniete dann hin und schuftete in dieser unbequemen Position den Rest der Schicht durch.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Nur einige Minuten vor seinem Auftauchen wurde der Hebel im Türrahmen – oder das Schnäpperle, wie ihn die Hausherrin nannte –, wie immer dienstags, nach unten gedrückt, sodass er ohne Schlüssel die Tür aufschieben konnte.
Ein schmaler Flur führte zum Wohnzimmer. Die Tür dorthin war zu. Die war immer zu. Timo wusste, wie es dahinten aussah. Eine provisorische Trennwand zerschnitt den riesigen Raum – mindestens fünfzig Quadratmeter; hinter ihr verbarg sich ein mittelgroßer Schlafwinkel mit einem hochmodernen Pflegebett, auf dem unter leichter Decke ein bewegungsloser Körper lag.
Er stieg, ohne die Schuhe abzustreifen, sofort die Treppe hoch und betrat das Schlafzimmer. Nach dem halbdunklen Ambiente im heimischen Allerheiligsten wirkte dieser von Sonne durchflutete Raum wie ein modernes Urlaubsapartment, wenn auch die Gardinen halb zugezogen waren. Nur dass der Meeresblick fehlte. Auf der Nachtkommode stand ein Weinkübel, war aber leer. Die salatfarbene Decke auf dem breiten Doppelbett mit einem mindestens anderthalb Meter breiten Foto über dem Kopfteil – Eigenaufnahme auf Santorin, hatte er es sich mal erklären lassen – war schon zurückgeschlagen, aber niemand war da. Bestimmt in der Dusche, dachte Timo, auch wenn er kein Wasserprasseln hörte.
Timo lief zum Fenster; dabei zog er seinen Kopf ein, um die Deckenleuchte nicht zu berühren. Was eigentlich nicht nötig war, da die Decke fast drei Meter in die Höhe reichte. Er mit seinen zwei Metern hatte diese Angewohnheit verinnerlicht und duckte sich in jedem Raum, egal, ob der ihm vertraut war oder nicht. Der rechteckige gepflegte Garten stand leer. Die mittägliche Hitze schien sogar die Insekten in ihre Verstecke vertrieben zu haben.
Nur kurz blieb er vorm Fenster stehen. Aus dem Bad, das direkt mit dem Schlafzimmer verbunden war, sickerte immer noch kein Geräusch durch. Er zog sein Hemd aus und legte es aufs Bett.
Kaum hatte er die Klinke zum Badezimmer runtergedrückt, drängte ein süßlicher Geruch durch den schmalen Spalt. Rein instinktiv riss er die Tür an sich. Der Geruch wurde stärker, drängte in seine Lungen, umhüllte sein Hirn und schob einen schwarzen Streifen vor seine Augen. Er schaffte es noch, sich am Beckenrand festzuhalten, und rutschte langsam an der Wand zum Boden. Eine Sekunde später platschte etwas Klebriges auf sein Schulterblatt.
Das Letzte, was er noch vernahm, war ein bohrender Schmerz. Genau an der klebrigen Stelle.
Die Parkplatzschranke ging nicht hoch. Lisa hielt ihren Chip nochmal an die Säule. Die Schranke blieb unten.
Sie drückte auf den blau leuchtenden Knopf mit dem schwarzen „i“ und wartete geduldig, bis der Automat die Nummer der Pforte wählte. Die spätsommerliche Sonne heizte ihren silbernen „Golf“ weiter auf, wenn auch das Fenster offen war. Lisa schaltete die Klimaanlage selten ein – die Nase wäre gleich zu. Und heute brauchte sie eindeutig keine Erkältung. Dazu noch der süßliche Parfümgeruch, der von ihrer Bluse hochstieg! Anscheinend hat sie heute Morgen in der Eile zu viel vom aromatischen Duftwasser draufgesprüht.
Die langen Klingeltöne spannten Lisas Nerven noch mehr an. Niemand am anderen Ende nahm ab, die Schranke blieb zu. Noch vor zwei Jahren war der Krankenhausparkplatz kostenfrei. Jeder – ob Mitarbeiter oder Patient – durfte hier ohne Ticket und Chip rein und raus. Damals waren auch immer freie Plätze vorhanden. Jetzt – trotz der hohen Gebühren – war der Parkplatz immer überbelegt, wenn auch die Klinik die Anzahl der Betten und das Personal reduziert hatte. Fast alle Patienten und Mitarbeiter kamen mit dem Auto – der Wohlstand hat halt seine Schattenseiten.
„Ja, bitte.“ Alleine an der zischenden Stimme erkannte Lisa die Person am anderen Ende der Leitung. Frau Krause. Die auch früher nicht besonders entgegenkommende Kollegin war nach der Trennung von ihrem Mann – wer hält es schon mit dieser Furie aus: die giftigen Zungen fanden gleich den Grund – zur richtigen Zicke mutiert. Wegen ihrer Röcke, die immer mehr Oberschenkel zeigten, wurde sie sogar zur Klinikleitung zitiert.
„Ich komme nicht raus. Die Schranke geht nicht auf.“ Lisa sprach deutlich und mit Nachdruck ins Mikrofon.
„Dann haben Sie Ihr Parkticket nicht entwertet. Fahren Sie …“
Mit ihren schönen, schmetterlingsähnlichen Lippen berührte Lisa fast das Mikrofon – so weit beugte sie sich aus dem Auto – und erklärte mit zugenommener Schärfe:
„Ich habe kein Ticket. Ich bin Mitarbeiterin.“
„Dann haben Sie Ihren Chip nicht aufgeladen.“
Hätte Lisa es nicht so eilig, hätte sie die Belehrung der Dame über sich ergehen lassen. Obwohl sie heute extra früher ihren Dienst angefangen hatte, war sie spät dran. Um eins wollte sie gehen, aber der Chef, als ob er auf den Moment gewartet hat, holte sie von der Türschwelle zurück und ließ die Befunde seiner Privatpatienten vorbereiten.
Die Hitze im Auto wurde unerträglich. Lisa öffnete die Tür, holte tief Luft, strich ihre hellen Haare, die weder blond noch weiß waren – eine Mischung aus Aschblond und gefärbtem Silber – hinter die Ohren und rief verärgert ins Mikrofon:
„Würden Sie bitte aufmachen, ich habe noch einen dringenden Termin. Morgen werde ich mich um den Chip kümmern.“ Lisa war überzeugt, dass sie genug Geld auf ihr Parkmedium draufgeladen hat.
Frau Krause zischte irgendwas ins Mikrofon, was sich wie „Blöde Kuh“ anhörte. Einen Augenblick später sprang die Schranke hoch.
Lisa schaute auf die Uhr. Punkt zwei Uhr dreißig. Für drei haben sie sich verabredet. Wenn sie direkt nach Hause fährt, ohne wie geplant im Supermarkt vorbeizuschauen, würde sie es noch gerade schaffen. Aber sie wollte noch unbedingt den Lieblingsweißwein besorgen.
Lisa fuhr etwas schneller als erlaubt und steuerte den halbleeren überdachten „Kaufland“-Parkplatz an. Bei diesem herrlichen Wetter waren alle, die es sich leisten konnten, ins Freibad aufgebrochen. Während sie die Parkuhr einstellte und den Geldbeutel aus der Tasche holte, huschte ein mittelgroßer Lieferwagen in die Lücke links und ließ nur einen zwanzig Zentimeter breiten Streifen zwischen den beiden Autos frei. Der Fahrer war auch gleich verschwunden. Lisa fluchte, wechselte auf den Beifahrersitz und öffnete die Tür. Ein brennender Schmerz erhitzte die nackte Haut zwischen den Schulterblättern. „Bestimmt ein Rosendorn“, schimpfte sie leise. Am Samstag hatte sie die Pflanzenreste zum Wertstoffhof gebracht, dabei den Beifahrersitz umlegen müssen, um die langen Rosenäste in den Wagen reinzuschieben. Wollte eigentlich gleich danach mit dem Staubsauger drüber gehen, war aber nicht dazu gekommen.
Zum Nachschauen hatte sie keine Zeit. Lisa sprintete die Treppe zum Verkaufsraum hoch, lief sofort zum Weinregal, fischte sich im Vorbeigehen eine Schachtel mit Erdbeeren und stellte sich an der Kasse an. Zum Glück waren nur zwei Kunden vor ihr. Erst jetzt bemerkte sie den Juckreiz im Bauchbereich und an den Füßen. Sie schob das T-Shirt hoch. Die Haut war mit kleinen hellroten Ausbuchtungen übersät. Wie nach Mückenstichen. Sie zog am Rockbund. Der ganze Bauch war mit winzigen zapfenähnlichen Flecken bedeckt.
„Sind so viele Mücken durch das offene Fenster ins Auto reingeschlüpft?“ Unmöglich war es nicht. Auf dem Klinikparkplatz heute Morgen hatte sie die Fensterscheibe nicht ganz hochgekurbelt, damit die schwüle Luft aus dem überhitzten Auto entweichen konnte. Sie hatte zwar den Wagen unter einem Baum abgestellt. Bei Temperaturen über dreißig Grad, sobald die Sonne höher stieg, brachte das nur wenig Abhilfe.
„Habe ich den Insekten damit eine verbindliche Einladung geschickt?“, dachte sie sarkastisch.
Lisa zahlte die paar Euros bar und rannte die Treppe runter. Schloss das Auto auf. Der Lieferwagen war weg. Als sie einstieg und den Wein auf dem Beifahrersitz ablegte, erfasste sie aus den Augenwinkeln ein kleines schwarz-gelb gestreiftes Wesen auf dem grauen Stoff.
Eine Biene.
Eine Biene?
Eine tote Biene?
Eine unsichtbare Kraft schnürte plötzlich ihre Brust zu. Sie hatte schon im Supermarkt einen leichten Druck auf der Brust gespürt, der nun stärker wurde.
Eine tote Biene!!!
Das war kein Rosendorn, der sich in ihre Schulterblätter gebohrt hatte – das war eine Biene.
Eine hitzige Panikwelle durchströmte sie. Mit zitternden Händen wühlte sie im Fußraum hinter dem Fahrersitz, fand aber die Tasche nicht. Im Handschuhfach müsste noch ein Notfallset liegen. Zum Glück, obwohl der Schmerz nun auch die Schläfen in die Zange nahm, war sie in der Lage, einigermaßen klar zu denken.
Sie drückte auf den Knopf des Handschuhfaches. Es war abgeschlossen. Sie riss den Schlüssel aus dem Zündschloss, steckte ihn in den Schlitz, klappte das Fach auf und holte den Beutel mit zwei Fläschchen raus. Plötzlich wusste sie nicht mehr, welches sie zuerst nehmen musste. Egal. Mit einem Ruck, gegen die aufsteigende Übelkeit kämpfend, drehte sie den Deckel von „Celestamine“ auf und schüttete die Flüssigkeit auf die Zunge. Sie hatte das Gefühl, es würde ewig dauern. Mit der anderen Hand holte sie das zweite Fläschchen raus. Die Buchstaben auf dem Etikett hüpften hoch und runter, nur die einzelnen erkannte sie. „F…i…s…l.“ Sie atmete tief ein. Der süßliche Parfümduft füllte ihre Lungen. Das Ausatmen blieb aus …
Tamara zog den Wecker auf, der wie ein altes verrostetes Rad knurrte. Letztes Jahr hatte sie ihn von der Großmutter bekommen, die anscheinend mit den Vorbereitungen auf den letzten Weg begonnen hatte und den alten Kram an die Enkelkinder verschenkte. Tamara, um die Oma nicht zu enttäuschen, nahm das Zeug dankend an und schmiss alle Sachen sofort in den Mülleimer. Nur den Wecker, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte, behielt sie. Also war er mindestens vierzig Jahre alt. Wenn der frühmorgens losging, mit seinen zwei überdimensionalen Glocken, wachte die ganze Familie auf. Allerdings war ihr dieser Krach lieber, als nur zehn Minuten später aufzustehen.
Ihr Sohn versuchte zwar mehrmals, ihr die Weckfunktion ihres Smartphones zu erklären; sie vertraute aber diesem modernen Zeug nicht mehr, nachdem sie einmal verschlafen hatte, nur weil das Handy sie hängenließ – genau vierundzwanzig Stunden später als gewünscht fing es an, auf der Nachtkommode zu hüpfen. Nur WhatsApp nutzte sie. Auch jetzt öffnete sie regelmäßig die App und hoffte, dass die Nachricht, auf die sie seit Stunden wartete, endlich eintrudeln wird.
„Wann stehst du morgen auf?“ Ihr Mann schlug das Buch zu, rutschte auf Tamaras Bettseite und legte seinen Arm um ihre Hüften. Er selber war krankgeschrieben. Sonst ging er schon um vier Uhr aus dem Haus. Er stellte aber keinen Wecker; die innere Uhr rüttelte ihn Punkt halb vier wach. Kurz vor fünf saß er am Lenkrad des Linienbusses.
„Weiß nicht. Frau Netzler hat sich immer noch nicht gemeldet.“ Tamara legte das Telefon auf das Nachttischchen.
„Kann sein, dass sie es vergessen hat?“
„Frau Netzler und vergessen? Bei ihr ist doch jeder Tag bis zur letzten Minute verplant. Nach mir richtet sie auch ihren Dienstplan.“
„Stimmt. Letzte Woche, als du nicht sofort zurückgeschrieben hast, klingelte sofort das Festnetz.“
„Morgen ist Mittwoch. Da hat sie normalerweise Frühdienst. Aber letzte Zeit hat es oft kurzfristige Änderungen in der Klinik gegeben. Wer weiß … Ich stell mal den Wecker auf halb sieben und schaue in der Firma vorbei. Vielleicht hat sie dort angerufen. Oder den Pflegevertrag gekündigt. Alles kann sein. Sonst fahre ich um acht in die Wohnung. Wie immer mittwochs.“
Sie machte das Licht aus, drehte sich mit dem Rücken zum Ehegatten, der sofort die Hand unter ihr T-Shirt schob, und schloss die Augen. Am wenigsten brauchte sie jetzt die Streicheleien ihres Mannes.
Es würde ein unruhiger Schlaf werden.
*
Mittwoch
Der etwas abgeschabte Wegweiser „APA – Ambulanter Pflegedienst Arnold“ leuchtete hässlich in frühmorgendlicher Sonne. Tamara hielt im Parkverbot gegenüber vom Eingang, direkt hinter dem Schild. Es war erst halb acht, das Display im Armaturenbrett zeigte aber schon sechsundzwanzig Grad. Der Tag wird genauso heiß werden wie gestern.
Auf dem Weg ins Sekretariat stieß sie auf den stellvertretenden Geschäftsführer.
„Wenn Sie wegen Ihres Urlaubs gekommen sind, Frau Schiller, den kann ich Ihnen nicht genehmigen. Wir haben keine Leute. Habe ich Ihnen schon am Telefon gesagt“, sprudelte der junge Mann los, ohne sie zu begrüßen.
Du musst die Leute ordentlich bezahlen, dann werden sie nicht in Scharen weglaufen, dachte Tamara. Zum Chef sagte sie nur:
„Nein, Herr Arnold, ich will nur nachfragen, ob Frau Netzler hier angerufen hat. Sie hat mir nicht geschrieben, wann ich heute anfangen soll. Der Vertrag läuft doch weiter, oder?“
„Außer Sie haben es vermasselt. Sonst läuft er bis zum Jahresende und wird automatisch verlängert.“
Mit ihren fünfzig Jahren war Tamara gehärtet genug, um solche Sticheleien zu ignorieren. Den jungen Stellvertreter nahmen die wenigsten Mitarbeiter ernst; jeder wusste, dass er seine Position nicht seinen besonderen Fähigkeiten zu verdanken hatte. Sein Vater hatte vor Jahren den ambulanten Pflegedienst gegründet und seinem Sohn, der mit Ach und Krach das Abitur geschaffen hatte, das duale Studium finanziert und ihn danach in den Betrieb übernommen.
Wie erwartet, hatte sich Frau Netzler in der Firma nicht gemeldet.
„Ich habe seit letztem Monat nichts mehr von ihr gehört.“ Die Sekretärin schaute kurz vom Bildschirm hoch. „Alles, was ich von ihr brauche, schickt sie per Mail.“
Nichts anderes hatte die Pflegerin erwartet. Sie legte den Urlaubsantrag, den der Chef schon mal abgelehnt hatte und den sie nun geringfügig abgeändert hatte, ins Fach „Eingehende Post“ und lief zum Auto. Punkt acht Uhr parkte sie ihren schwarzen „Fiesta“ in der Stolperstraße auf dem Besucherparkplatz. Um diese Uhrzeit waren fast alle Plätze frei.
Zum Reihenhaus der Familie Netzler führte keine direkte Zufahrt; auch die Einkäufe musste die Hausherrin einige Meter schleppen. Ob das ein Planungsfehler war oder Absicht, wusste keiner. Eventuell hatte der Architekt die Straße den überdimensionalen Gebäuden – das kleinste Reihenhaus bot über zweihundert Quadratmeter Wohnfläche – zum Opfer gebracht. Netzlers Mittelreihenhaus sah von außen gar nicht groß aus, vielleicht weil es den Nachbarn gegenüber etwas versetzt war. Innen stieß der Besucher gleich auf den Eingang zur kleinen Einliegerwohnung und den Treppenabgang zum Keller. Links führte der schmale Flur zum Wohnzimmer und zur Treppe nach oben, wo sich noch zwei Stockwerke draufsattelten.
Oben war Tamara nur einmal, als in der Einliegerwohnung, die erst seit kurzem mit dem Wohnbereich verbunden wurde, der Wasserhahn den Geist aufgegeben hatte und sie im Bad in der ersten Etage Wasser holte.
Die Hauseingangstür war nicht abgeschlossen, nur zugezogen. Dabei legte Frau Netzler viel Wert drauf und verlangte auch von Pflegekräften, dass sie zwei Mal den Schlüssel umdrehen sollen. Tamara stellte ihre Tasche ab, zog die Schuhe aus, lief zur geschlossenen Tür zum Wohnzimmer und stieß sie vorsichtig auf. Schwüle abgestandene Luft drängte ihr entgegen. Der Rollladen, den sie gestern Mittag beim Gehen zur Hälfte runtergelassen hatte, war immer noch in dieser Stellung. Gegen ihre Gewohnheit, sich zuerst einen Kaffee aus der Küche zu holen – Frau Netzler, die Hausherrin, ließ immer eine Tasse übrig –, schob sie die Tür in der Trennwand zur Seite und wurde von der Dunkelheit eingefangen. Die Fenster ließen kein Licht durch. Gestern, als sie um zwei gegangen war, hatte sie die Kammer abgedunkelt. Seitdem hatte sich hier nichts geändert.
Tamara machte sich auf das Schlimmste gefasst und schlug auf den Lichtschalter.
Das angenehme Licht der LED-Leuchte zerriss die dicke Luft und fiel auf die Umrisse des langen Körpers auf dem Bett. Tamara schlüpfte an der Wand zum Fenster durch und wollte den Rollladen hochziehen. Bis ihr einfiel, dass der ferngesteuert war. Ihre Augen machten eine Runde durchs Zimmer und fanden die Fernbedienung auf der Nachtkommode. Das monotone Summen des Motors befreite Schlitz für Schlitz das bodenhohe Fenster und ließ die schon am frühen Morgen mächtige Sonne rein. Und zwei stechende Strahlen neugieriger Augen. Herr Schmitz stand an der Grundstücksgrenze und winkte ihr zu.
Schmitz verbrachte fast den ganzen Sommer im Garten. Frau Netzler hatte Tamara mal erzählt, dass der Nachbar seit Jahren in Frührente war und durch seinen Artikel in der Lokalzeitung zur Berühmtheit geworden war. Wenn auch mit etwas negativem Nebenton. Er hatte nämlich in der Presse vorgeschlagen, alle Autofahrer im Winter dazu zu zwingen, vor jedem Schneefall ihre Wagen zu waschen. Denn: Wird der Schnee von Dach, Heck und Motorhaube runtergefegt, landen mit ihm auch Schmutz und sonstiger Dreck auf dem Boden und den Wiesen. Seine Idee fand sowohl Anhänger als auch Gegner. Der Vorschlag wurde von einem Leserkommentar begraben, in dem ein paar Einzelheiten aus dem Privatleben des Herrn Schmitz preisgegeben wurden. Die Familie – drei Personen – besaß drei Autos, dabei war er selber ohne Beschäftigung, seine Frau arbeitete in der Stadt – zehn Minuten mit dem Bus, und die Tochter machte eine Ausbildung in der Nähe. Bei sich sollte er anfangen und nicht bei anderen den Fehler suchen, so einige Kommentare.
Der Briefkasten vom Schmitz war mit Aufklebern übersät, wie „Atomstrom? Nein, danke!“, „Für eine grüne Welt!“, „Tierwohl zuerst“. Dabei hatte Tamara noch nie die zum Trocknen aufgehängte Wäsche gesehen – weder im Vorgarten noch unter dem Terrassendach. Was vermuten ließ, dass im Keller sich ein besonders „umweltfreundlicher“ Trockner versteckte, der mehr Energie fraß als die Waschmaschine selbst.
Schmitz winkte ihr nochmal zu, nun etwas aufdringlicher. Für ihn hatte Tamara jetzt keine Zeit. Sie drehte sich zum Bett. Das Zimmer war im selben Zustand, wie sie es gestern verlassen hatte. Auf dem Nebentisch stand das Wasserglas mit dem Strohhalm, ganz voll, die Tablettenschachtel lag unberührt daneben. Auch Herr Netzler erstarrte in der Position, in die sie ihn gestern Mittag vorm Gehen gebracht hatte. Achtzehn Stunden waren seitdem vergangen. Hieß es, dass Frau Netzler seit gestern noch nicht zu Hause war? Unglaublich, wenn man bedachte, wie gewissenhaft und aufopferungsvoll die Frau sich um ihren außer Gefecht gesetzten Ehemann kümmerte.
„Herr Netzler? Jürgen …?“ Tamara neigte sich zum Bett runter. Sie vernahm das leise, kaum erkennbare Atmen aus der wie aus Marmor geschnittenen proportionalen Nase, griff zum Telefon und wählte den Notruf. In diesem Moment blitzten auf dem bleichen Gesicht zwei schnelle Augen auf, die ihr einen Befehl schickten: Nein. Die vertrockneten Lippen öffneten sich und ließen ein dumpfes, kaum hörbares Flüstern durch. Niemand außer Tamara und Frau Netzler wäre in der Lage, dieses Murmeln zu verstehen. Noch vor Monaten war das Flüstern viel stärker und deutlicher gewesen; mit der schwächelnden Stimmenmuskulatur verwandelten sich die Töne in ein schlecht wahrnehmbares Geflüster, vor allem morgens.
Trinken! Klar, was denn sonst. Tamara hielt Jürgen das Glas mit dem Strohhalm hin, besann sich anders, holte ein Wattestäbchen aus der Schublade und fuhr mehrmals über seine geplatzten Lippen. Erst dann steckte sie den Halm zwischen seine Zähne. Schon bald war das Glas leer.
Herrn Netzlers Augen zeigten auf die große Wanduhr. Was ist los? Wo ist Lisa? Oder geht die Uhr falsch? – fragten sie.
„Jürgen, einen Moment bitte.“ Die Schwester ging aus dem Zimmer und kam sofort zurück.
„Sieht so aus, dass seit gestern Mittag noch keiner im Haus war. In der Küche steht alles so, wie ich es zuletzt gesehen habe, die Spülmaschine ist nicht ausgeräumt. Auch der Rollladen wurde nicht berührt. Ich verstehe es nicht. Ihre Frau schreibt mir normalerweise am Vorabend, wann ich meinen Dienst anfangen soll. Gestern habe ich von ihr keine Nachricht bekommen.“
Jürgens Augen huschten plötzlich zwischen der Nachtkommode und Tamaras Händen. Sie folgte dem Blick.
O. k., habe verstanden.
Sie füllte aus der Flasche das Glas, hielt es dem Kranken hin; mit der anderen Hand wählte sie am Telefon.
Wieder schwangen Jürgens Augen zum Telefon.
O. k., laut stellen.
Das Lautstellen hätte sie sich sparen können.
„Der Abonnent ist zurzeit nicht erreichbar …“ Die mobile Nummer der Frau Netzler antwortete nicht.
„Arbeit.“ Die Schwester vernahm das leise Flüstern aus Jürgens Mund.
„Moment. Ich hol aus dem Auto mein Notizbuch. Dort steht die Nummer der Klinik.“
Jürgen schüttelte mit dem Kopf. Seine Lippen bewegten sich schneller und die einzelnen Laute sind jetzt deutlicher geworden. „Vier, sieben, vier …“
In diesem Augenblick zerriss ein schriller Ton, den Tamara zunächst nicht zuordnen konnte, die abgestandene Luft. Bis sie wahrnahm, dass der Ton, genauer die Töne, gleichzeitig aus zwei Quellen ausbrachen. Synchron zwitscherten das Festnetztelefon und die Türklingel. Bis sie sich entscheiden konnte, ob sie zuerst den Hörer abnehmen sollte oder zur Tür laufen, drehte sich das Schloss in seiner Achse und die etwas laute Stimme der Frau Netzler füllte den Flur. Sekunden später stand die alte Dame im Türrahmen. Jürgens Mutter Sibille. Die kurze Hose, das viel zu schmale Top, durch das der leichte BH durchschaute, die Flip-Flops, hochgesteckte moderne Frisur – ihre Aufmachung kontrastierte deutlich mit den faltigen Wangen, die auch die ständigen Besuche bei der Kosmetikerin nicht glätten konnten. Kein Wunder – immerhin leitete sie letztes Jahr das achte Lebensjahrzent ein.
„Was ist denn bei euch los?“ Die Dame sprudelte sofort los.
Tamara hatte vergessen, dass sie den Anruf am Festnetztelefon entgegennehmen wollte. Jetzt war es sowieso zu spät. Der Anrufbeantworter sprang an; die Schwester verstand kein Wort, denn die Frau Netzler übertönte mit ihrer entenartigen Fistelstimme die aus dem Lautsprecher rauschenden Worte.
„Mich hat soeben das Krankenhaus angerufen. Hier nimmt ja keiner ab.“ Sibilles Stimme klang vorwurfsvoll, wenn sie das auch anders meinte. Sie wusste eigentlich, dass der Pflegedienst nur zwei, drei Stunden täglich anwesend war.
Tamara warf einen Blick auf das mobile Telefon. Das Kuvert-Symbol leuchtete. ‚Fünf entgangene Anrufe‘.
„Ich bin gestern um zwei gegangen. Und vor einer halben Stunde wiedergekommen. Frau Netzler hat sich gestern bei mir nicht gemeldet, ich wusste gar nicht, wann ich heute kommen sollte.“ Tamara fühlte sich sichtlich überrollt von den Manieren der alten Dame.
„Woher sollte sie sich denn melden? Vom Himmel?“ Sibille war in ihrem Element.
Erschrocken schlug Tamara die Hand vor den Mund.
„Was habe ich denn Schreckliches gesagt?“ Sibille Netzler interpretierte Tamaras Reaktion auf eigene Art. „Ach so … Nein, nein, Lisa ist nicht im Himmel. Nur im Krankenhaus. Die Krankenschwester hat es mehrmals hier versucht und dann mich ausfindig gemacht. Heute Morgen wird Lisa in die Lungenfachklinik verlegt.“
„In die Lungenklinik? Nach Beuren, wo sie vor einem halben Jahr so lange war? Ich glaube, im März war es?“
„Genau, nach Beuren.“
„Was ist denn pas…?“
„Ich werde die Sachen für Lisa packen.“ Sibille hörte gar nicht zu. „Wie geht es Jürgen? War er die ganze Nacht allein?“ Sibille deutete mit der Hand in Richtung der Trennwand.
„Jürgen?“ Tamara kannte Sibille relativ gut, fühlte sich trotzdem von ihrer Art überfallen. „Genau, Jürgen. Ich muss mich jetzt endlich um ihn kümmern.“
Frau Netzler lief der Schwester hinterher in die abgetrennte Ecke, tätschelte ihren Sohn an der Hand. „Hallo, Jürgen. Das muss sich ändern. Das kann nicht sein, Tamara, dass Sie gehen, bevor jemand die Wache übernimmt.“
Ehe die Krankenschwester antworten konnte, verließ Jürgens Mutter den Raum.
Geschickt schlug Tamara die Decke zurück, spürte dabei Jürgens bohrenden Blick.
„Was ist mit Lisa?“, flüsterte er.
„Sie ist im Krankenhaus.“
Der Mann schob die Augäpfel hoch, was bedeuten sollte: Das habe ich mitbekommen, so laut, wie die Mama war.
„Was ist mit ihr?“
Tamara schaute vom Bett hoch. Tatsächlich, was ist mit ihr? Frau Netzler hatte ja meine Frage gar nicht beantwortet.
„Das weiß ich nicht. Gleich kommt Ihre Mutter runter, dann frage ich sie nochmal.“
„Telefon“, murmelte er wieder.
Zunächst verstand Tamara nicht, was er meinte. Er bewegte seinen Kopf zum Mobilteil, das auf der Kommode lag.
Genau. Fünf verpasste Anrufe. Sie schlug die Decke wieder zu, nahm das Telefon, drückte auf das Kuvert-Symbol und dann auf die Abspieltaste.
„Hier ist das Krankenhaus Rittenburg. Ihre Frau … die Frau Lisa Netzler wurde heute Nachmittag mit dem Krankenwagen bei uns eingeliefert. Rufen Sie bitte unter der Nummer vier, sieben, null, null zurück. Wir brauchen den Allergiepass, den Röntgenpass, alles, was Sie finden.“
Nächste Nachricht.
„Hier ist nochmal das Krankenhaus Rittenburg. Ich weiß nicht, ob Sie die erste Nachricht abgehört haben. Frau Netzler ist bei uns stationär. Bitte rufen Sie unter der Nummer vier, sieben, null, null zurück.“
Tamara blättere zur letzten Nachricht vor, die erst vor einigen Minuten aufgenommen wurde.
„Hier ist das Krankenhaus Rittenburg. Wir haben mehrmals versucht, Sie zu erreichen. Frau Netzler war bei uns stationär und wird heute in die Lungenfachklinik nach Beuren verlegt. Ihre Schwiegermutter – Frau Sibille Netzler – weiß Bescheid. Wiederhören.“
Es folgte eine lange Pause.
„Was ist mir ihr?“ Jürgens Stimme schien an Kraft zu gewinnen.
„Gleich kommt Ihre Mutter runter, sie müsste es wissen. Aber jetzt schauen wir endlich nach der Windel.“
Tamaras Befürchtungen waren umsonst. Da der gelähmte Mann seit achtzehn Stunden keine Flüssigkeit zu sich genommen hatte, behielt die Windel alles in sich und die Haut war nur leicht gerötet. Gekonnt drehte die Schwester den dünnen Mann – der Fettanteil ging Richtung null, auch die Muskeln, vor allem am Unterkörper, hatten sich fast komplett aufgelöst – auf die Seite, salbte die geröteten Stellen und die Falten ein. Ihr Blick blieb wie immer kurz an dem Prachtstück zwischen seinen Beinen hängen –ihr Mann nannte es Valentinsstab als Anspielung auf den Tag der Liebenden –, das anscheinend von dem ganzen Unheil nichts mitbekommen hatte und sich im vollen Umfang präsentierte. Tamara hatte in ihrer zwanzigjährigen Tätigkeit als Pflegekraft Dutzende bedürftige Männer in unterschiedlichen Lagen gesehen; kein Körper war so anziehend wie dieser. Auch der von ihrem Mann nicht, mit dem sie letztes Jahr die silberne Hochzeit gefeiert hatte.
„So, dann hätten wir das schon mal erledigt, Jürgen. Ich schaue, ob ich was zum Frühstück finde. Sie bleiben so lange auf der Seite liegen.“
Jürgen schüttelte mit dem Kopf.
„Nicht jetzt.“ Er winkte in Richtung der Kommode, auf dem das schwarze Tablet mit dem angebissenen Apfel-Logo lag.
„Wie Sie möchten. Aber danach müssen wir doch in die Seitenlage. Wir wollen doch keine Wunden kriegen.“
Sie sprach immer von „wir“, als ob sie ein gemeinsames Ganzes waren.
Es dauerte nicht lange, bis das Tablet hochfuhr und die Startroutinen ausführte. Tamara lenkte den am Bett angebrachten schwenkbaren Arm, der wie ein Notenpult aussah, vors Gesicht des Mannes, holte einen Stift, der einem Bleistift ähnlich war, und schob ihn zwischen Jürgens Zähne. Der Patient startete sofort den Internet-Browser und tippte mit dem Stift ins Suchfenster. Dieses Antippen, das vor fünf, sechs Monaten noch eine riesige Anstrengung verlangt hatte – der Stift fiel nach nur zwei, drei Minuten aus dem Mund, die Lippen wurden steif –, passierte rein automatisch. Er hatte auch gelernt, während des Lesens Pausen einzulegen, indem er den Stift in den Mundwinkel schob und leicht anbiss. Alles spielerisch, außer er war erkältet und die Nase war zu.
Während er das erste Wort ins Suchfenster eintippte, tauchte die Krankenschwester wieder daneben auf.
„Ich finde nichts im Kühlschrank. Ich koche schnell einen Brei.“
Um die Essenszubereitung kümmerte sich normalerweise Frau Netzler; Tamara musste den Kranken nur füttern.
Plötzlich fiel Tamara auf, dass sie nur den silbenfarbigen metallischen Arm zu Jürgen rübergeschwenkt und ihm das Tablet gereicht hat; die Kopflehne hat sie nicht, wie üblich, höherstellen müssen. Die war schon oben! Dabei war sich die Schwester ziemlich sicher, nein, sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie gestern, bevor sie gegangen ist, das Kopfteil fast flach eingestellt hat, damit Jürgen die eine Stunde, bis seine Frau kam, sein Mittagschläfchen machen konnte. Wer hat es hochgestellt?
Dass zufällig ein Gegenstand auf den Steuerungsknopf runtergefallen ist und die Position geändert hat, war höchst unwahrscheinlich.
„Jürgen, war jemand … ich meine, hat jemand …“ Sie wusste nicht, wie sie den Satz formulieren sollte, um keine unnötige Unruhe reinzubringen.
„Kann sein, dass …“, versuchte sie es erneut.
In diesem Augenblick zerschnitt ein ohrenzerreißender Schrei die abgestandene Luft – in der ganzen Hektik war Tamara nicht dazu gekommen, endlich mal durchzulüften. Eine Tür in der oberen Etage wurde zugeknallt.
Der Schrei kam auch von oben. Jürgen riss den Mund auf, der gerade den Suchbegriff ‚Lungenklinik Beuren‘ ins Tablet eintippte, und ließ den Stift fallen.
„O Gott! O Gott! Heilige Scheiße! Tamara, schneller! Hier oben!“ Frau Netzler kam die Treppe runtergerannt.
Sie blieb mit ihren Flip-Flops an der Stufenmatte hängen, verlor das Gleichgewicht, rutschte an der Wand entlang und schlug mit dem Kopf unten auf. Zum Glück auf Tamaras Füßen, die in den Flur rannte und nun am Treppenaufgang stand. Eine hässliche Beule breitete sich augenblicklich über die kreideweiße Stirn der alten Frau aus, aber sonst schien sie nicht verletzt zu sein.
„Da oben ... Er ist, er ist, er ist …“
Sie fing an zu schluchzen und brachte kein Wort mehr heraus. Mit der Bluse ihrer Schwiegertochter, die sie immer noch in der Hand hielt, deckte sie ihr Gesicht zu. Tamara half ihr auf die Beine und setzte sie im Flur auf den kleinen Stuhl, auf dem üblicherweise Jürgens Nichte hockte, wenn sie den Onkel besuchte.
„Was ist da oben?“ Tamara fasste die alte Frau an den Händen und presste sie an ihre Brust.
„Der atmet nicht … glaube ich.“
„Wer?“
Frau Netzler brach wieder in Tränen aus. Mit der linken Hand zeigte sie nach oben.
„Bleiben Sie hier sitzen.“ Tamara ging zur Treppe. Sie überlegte, den Notarzt oder auch gleich die Polizei zu rufen, aber was würde sie ihnen sagen? Vielleicht war nur ein Kater dort oben? Oder ein Vogel? Es passierte schon mehrmals, dass eine Katze sich ins fremde Haus verirrte – vor allem, weil alle Häuser in der Siedlung innen gleich geschnitten waren.
Vorsichtig, Stufe für Stufe, den Kopf nach oben streckend, setzte sie sich in Bewegung. An der oberen Stufe angekommen, beugte sie sich nach rechts und spähte ins Schlafzimmer. Auf dem Doppelbett stapelten sich neben der Reisetasche Kleider, die Sibille Netzler für ihre Schwiegertochter zusammengesucht hatte. Vorsichtig tastete sich Tamara ins Zimmer vor, schaute hinter die Tür und unter das Bett. Nichts. Auch hinter den dicken rot-gelben Gardinen war nichts zu erkennen – sie versteckten nur das Sonnenlicht, das sich durch die halb runtergelassene Jalousie durchschmuggelte.
Die Verbindungstür zum Bad war zu. War das die Tür, die eben den Knall verursacht hat? Vorsichtig, mit ausgestrecktem Arm, drückte die Pflegerin die Klinke runter und zog diese langsam an sich. Sie musste den Raum nicht betreten, um das zu sehen, was Frau Netzler den Schrecken eingejagt hat. Genauer, nicht das, sondern den.
Auf dem dunkelgrünen Fliesenboden neben dem Waschbecken saß ein Mann in Jeans und ohne Hemd, in Schuhen, den Kopf hat er nach vorne gebeugt. Obwohl die schwarzgrauen Haare ins Gesicht fielen, verdeckten sie das attraktive Profil nicht. Die Statur – um die zwei Meter Größe – kam ihr bekannt vor, aber es war eindeutig niemand aus der Familie. Die Luft im Bad war viel frischer als unten im Wohnzimmer, was nicht nur daran lag, dass die Nasszelle zur Nordseite schaute und nicht von der übermächtigen Sonne aufgeheizt wurde. Das Fenster stand offen.
Ist er über das Fenster reingekommen? In den ersten Stock? Eher nicht.
Sie dachte wieder an die Haustür, die sie heute Morgen – anders als sonst – unverschlossen vorfand.
Tamara hob die Hand des Mannes und tastete nach dem Puls. Nichts. Legte den Finger an die Halsader. Nichts. Schmiegte das Ohr an die Brust. Das fremde Herz antwortete nicht.
Lisa öffnete die Augen – nur einen schmalen Schlitz – und schloss sie sofort. Zum wiederholten Male. Der Traum wollte nicht aufhören. Sie träumte, sie wäre in der Klinik, im selben Zimmer wie vor einem halben Jahr, als sie sich für eine Woche hier einsperren ließ, um sich einer Prozedur zu unterziehen, die Hyposensibilisierung hieß und die einzige Möglichkeit bot, die plötzlich in ihr Leben hereingestürmte Gefahr zu bändigen.
Diese Woche vor sechs Monaten war ein gewaltiger Kraftakt für sie gewesen. Nicht weil die Prozedur kompliziert und gefährlich wäre. Nein. Paar Spritzen täglich, Blutentnahme, Blutdruckkontrolle, Atemlabor – das war‘s. Aber für eine ganze Woche jemanden zu finden, der ihren Mann Jürgen betreuen würde – Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden –, war fast unmöglich gewesen. Die Krankenkasse hatte nur fünfzehn Stunden Pflegeleistungen in der Woche genehmigt; den Rest hatte sie selber erledigt. Hätte Lisa für diese sieben Tage keine qualifizierte Pflegekraft gefunden, müsste sie ihren Mann ins Heim abgeben. Das wollte sie ihm und vor allem sich ersparen. Zum Glück hatte sich Tamara, erfahrene und engagierte Fachkrankenschwester, die eigentlich ein Arztstudium und mehrere Jahre Krankenhaus-Erfahrung hinter sich hatte, bereit erklärt, die ganze Woche Jürgen zu versorgen. Ihr vertraute Lisa blind, nicht nur, weil Tamara noch vor kurzem auf der Intensivstation einer Klinik ihre Brötchen verdiente. Die Frau mit dem leichten osteuropäischen Akzent leistete nicht einfach Dienst nach Vorschrift, sie machte ihre Arbeit gern.
Einmal hatte Lisa die Krankenschwester gefragt, wieso sie denn nicht als Ärztin arbeitet.
„Dafür hätte ich mein Diplom aus dem Heimatland hier in Deutschland bestätigen lassen müssen – das heißt, noch drei Jahre die Uni-Bank drücken. Mit zwei kleinen Kindern war es damals, vor über zwanzig Jahren, als wir nach Deutschland gekommen waren, nicht einfach. Vor allem, weil wir noch keine Wohnung hatten und der Mann auf Arbeitssuche war. Habe mich für eine Ausbildung zur Fachkrankenschwester entschieden – die konnte ich machen, ohne die Familie allein zu lassen.“
„Und warum bist du aus dem Krankenhaus weg? Auf Intensivstation verdient man ja richtig gutes Geld“, hatte Lisa wissen wollen.
„Die Kinder sind erwachsen geworden, die Wohnung ist abbezahlt, zum Leben brauchen wir nicht viel. Mit dem Alter ist es immer schwerer geworden, die Nachtschichten auszugleichen. Und dazu die tragische Realität der Intensivstation – täglich dem Tod begegnen. Es verging selten ein Tag, an dem keine Trage mit weißem Leintuch die Station verlassen hat.“
Aus einem inneren Schuldbewusstsein Jürgen gegenüber hatte Lisa letztes Jahr mehrere Entscheidungen getroffen. Und immer zu Gunsten von anderen; die eigenen Wünsche mussten sich hinten anstellen. Der Klinikaufenthalt war der seltene Fall, bei dem ihre Bedürfnisse in den Vordergrund rutschten. Hatte sich aber damit getröstet, dass Jürgen es auch wenig nutzen würde, sollte ihr was passieren. Die Wahrscheinlichkeit dafür war ziemlich groß geworden …
Sie war noch nie Freund von Mücken, Wespen und sonstigen Insekten gewesen. Ein harmloser Mückenstich bedeutete für sie nicht nur eine schlaflose Nacht – der kleine Pikser verwandelte sich binnen Stunden in eine schmerzende blutende Wunde. Dabei half sie kräftig mit: Wenn das Jucken unerträglich wurde und keine Salbe mehr Linderung brachte, setzte sie ihre Fingernägel ein. Sie hatte das Haus nie ohne rettende Medikamente – Tropfen, Salben, Tabletten – verlassen.
Lisa hatte sich damit abgefunden, mit dem Gedanken leben zu müssen, dass sie mindestens zweimal im Sommer von einer Wespe gestochen wird. Vor zwei Jahren kurz vor Abreise in den Urlaub war sie barfuß über den Gartenrasen gelaufen, als das schwarz-gelbe Ungeziefer ihren großen Zeh attackiert hatte. Der Fuß schwoll zunächst an, irgendwann wurde er blau, dann dunkelrot, später ganz schwarz. Die ersten Urlaubstage waren für die Katz. Aber solche Vorfälle waren eher harmlos. Bis zum letzten Sommer.
Sie hatten mit Jürgen einen Radausflug zum Bodensee gemacht und waren auf dem Heimweg. Es war sehr warm. Der Schweiß schlängelte sich von Lisas Stirn als schmales Bächlein den Hals runter zur Achselhöhle; dort wurde das Bächlein noch stärker und breiter und lief weiter zur Hüfte runter. Sie radelten gerade während der Kaffee-und-Kuchen-Zeit an den Schrebergärten vorbei. Über den Zaun sahen sie, was die Gartenfreunde alles auf den Tischen hatten.
Bis nach Hause waren es noch paar Kilometer geblieben; zwanzig hatten sie bereits hinter sich gebracht. Lisa war etwas ermüdet, deswegen nahm sie den Stich im linken Oberarm nicht gleich wahr; es hatte sich eher wie ein Nadelstich angefühlt. Kurz, aber schmerzhaft. Eine Bremse, dachte sie. Die Viecher rochen den Schweiß aus meterweiter Entfernung. Sie befeuchtete, ohne anzuhalten, die Stichstelle mit Spucke. Kurz vorm Ziel spürte sie den Juckreiz zunächst an der Gürtellinie, dann an den Füßen. Es war kaum auszuhalten. Sie fing an, sich zu kratzen, und war so auf die juckenden Stellen fixiert, dass sie schier unter einem Auto gelandet wäre. Gut, dass Jürgen sie noch rechtzeitig gewarnt hatte.
Als Lisa zu Hause angekommen war, hatte sie sich die nassgeschwitzten Klamotten runtergerissen. Dutzende, vielleicht auch Hunderte kleine Auswuchtungen lugten von ihrer sonnenverwöhnten Haut entgegen. Gegen den ankommenden Schwindel kämpfend, legte sie sich hin, und sobald das Schwarze aus den Augen verschwand, nahm sie eine Dusche. Jürgen hatte inzwischen das Abendbrot zubereitet. Sie hatte nur am Tee genippt. Mehr kriegte sie nicht runter. Aber die Schwindelattacke, die Übelkeit, der Juckreiz – alles war vorbei gewesen.
Jürgen war ins Bett gegangen, Lisa wollte – trotz des anstrengenden Tages – noch nicht schlafen und hatte den Fernseher eingeschaltet. Mehrfach hatte sie sich beim Gedanken gefangen, dass sie nicht richtig mitbekam, was auf dem Bildschirm passierte. Das Druckgefühl auf der Brust, das sie kurz nach dem Stich verspürt hatte, kehrte allmählich zurück und wurde immer heftiger. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Bis sie überhaupt keine Luft mehr bekam. Sie war wie in Trance, oder vielleicht war sie in Trance. Denn auf die Idee, nach Jürgen oder dem Notarzt zu rufen, kam sie gar nicht.
Sie hatte sich aufs Sofa hingekniet. So ließ der Brustschmerz etwas nach. Sie wusste nicht mehr, wie spät es war, registrierte den Fernseher nicht, der in voller Lautstärke eine Sendung nach der anderen ablieferte, wusste nicht mehr, wo sie war.
Morgens, als sie aufwachte, war alles vorbei. Wirklich alles. Lisa hätte den Vorfall in paar Tagen wieder vergessen, wenn ihre neugierigen Augen nicht zufällig im Kaffeeraum eine Zeitschrift, genauer, die Titelseite, erfasst hätten. „Wespen- und Bienenstiche: Symptome einer Allergie“. Sie schlug die Zeitschrift auf. Ihr blieb der Atem weg. Als ob der Autor sie als lebendiges Beispiel für seine Ausführungen genommen hatte. Juckreiz, Hautrötung, Druckgefühl, Schwindel, Übelkeit, Atemnot. Alles, was sie an jenem Samstagabend erlebt hatte.
Lisa hatte sofort beim Hausarzt angerufen. Er verschrieb ihr ein Notfallset und überwies sie zum Lungenfacharzt. Der Lungenspezialist hatte sich ihre Geschichte sehr aufmerksam angehört.
„Sie haben verdammt viel Glück gehabt, Frau Netzler. Dass Sie morgens überhaupt aufgewacht sind, meine ich.“
Er nahm ihr Blut ab. Der Befund war eindeutig: nachgewiesene Antikörper. Biene und Wespe.
„Ich werde Sie in der Fachklinik anmelden. Dort wird man ausführliche Tests machen. Zunächst ambulant. Wenn sich das bestätigt, was ich vermute, dass Sie nämlich eine Insektenstichallergie haben, gibt es nur eine Lösung: Hyposensibilisierung. Ihnen wird drei Jahre lang in unterschiedlichen Dosen Bienen- beziehungsweise Wespengift gespritzt, um Ihren Körper widerstandsfähig zu machen.“
Zwischen dem Besuch beim Hausarzt und dem Termin beim Lungenarzt waren Monate vergangen. In denen einiges passiert war. Auch das Unheil mit Jürgen.
Die angeordneten Allergietests fanden alle an einem Tag in der Ambulanz der Lungenfachklinik statt.
Dort hatte sie IHN – nach mehreren Jahren – wiedergetroffen.
Der Hauptkommissar Sauter schaute ins Schlafzimmer rein, schwenkte seinen Blick über das moderne Doppelbett mit dem Edelstahlgestell und atmete tief ein. Ein ähnliches Bett stand in seiner Dreizimmerwohnung. Nur dass eine Hälfte seit zwei Monaten ungenutzt blieb. Kristina zog unerwartet aus, gerade zum Zeitpunkt, als der Kriminalinspektor dabei war, sein Leben einer Revision zu unterziehen und neu zu ordnen. Sogar Konflikte mit Vorgesetztem und Kollegen nahm er dafür in Kauf, die plötzlich enttäuscht waren, dass er nicht mehr in jede Bresche sprang und oft schon um sechs sein Büro abschloss.
An jenem Abend, als Kristina gegangen war, hatte er auch rein instinktiv zum Telefon gegriffen. Er hatte die Besonderheit, nach erster Runde im Bett mit seiner Freundin kurz einzunicken, bevor er den nächsten Anlauf unternahm. Gerade zum Zeitpunkt, als er nur kurz eingeschlafen war, klingelte das Telefon. Kristina war Feuer und Flamme, er aber – schlaftrunken wir er war – fasste nicht sie an, sondern sein Smartphone. Als sein Hirn registrierte, was gerade geschah, war sie schon aus dem Zimmer gestürmt.
Morgens bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstück hatte sie ihm vorgeworfen:
„Ich habe geglaubt, du wirst beruflich kürzertreten und dich mehr um mich kümmern. Anscheinend habe ich mich getäuscht. Deine Scheißarbeit ist immer noch höher angesiedelt als ich.“