Die Bierhexe - Nick Stein - E-Book

Die Bierhexe E-Book

Nick Stein

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Beschreibung

Salthall, 1151. Die unbeschwerte Jugend der jungen Amalia endet abrupt, als ihre Eltern sie verheiraten wollen. Weil sie nicht die Frau eines Schweinebauern, sondern Heilerin und Brauerin werden will, bleibt ihr nur die Flucht, um ihre Lehre bei der berühmten Hildegard von Bingen abzuschließen. Doch der Weg dorthin ist weit. Ein Zufall führt sie auf die Winzenburg, wo sie Bischof Bernhard von Hildesheim kennenlernt. Zwar kann sie ihn von einigen Leiden kurieren, doch weist sie seine Avancen zurück und macht sich damit einen mächtigen Feind …

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Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nick Stein

Die Bierhexe

Historischer Roman

Zum Buch

Auf der Flucht Salthall im Jahre des Herrn 1151. Schweinehüten, den Haushalt führen und einem Mann, der ihr zutiefst zuwider ist, Kinder schenken: So plant ihr Vater die Zukunft der vierzehnjährigen Amalia. Dabei will sie von klein auf Heilerin werden. In ihrer Tante Elisabeth, einer gebildeten und angesehenen Nonne aus dem Kloster Corvey, findet sie eine Mentorin, die ihr alles über Heilkräuter und Spiritualität beibringt. Um ihren Traum zu bewahren, bleibt ihr nur die Flucht über die Leine in Richtung Bremen, wo sie im Paulskloster Heilbiere brauen und Kontakt zur berühmten Hildegard von Bingen aufnehmen möchte. Doch auf dem Fluss geschieht ein furchtbares Unglück, das sie auf die Winzenburg verschlägt. Dort macht Amalia Bekanntschaft mit Bernhard, dem Bischof von Hildesheim. Der Geistliche zwingt sie mit seinen unschicklichen Avancen erneut zur Flucht. Die Zurückweisung und der Tod einer Vertrauten, an dem Amalia beteiligt ist, wecken den Zorn des mächtigen Geistlichen. Er sinnt auf Rache …

Nick Stein lebt mit seiner Frau und zwei Hunden im Süden Niedersachsens in der Nähe der Bierstadt Einbeck und von Salzderhelden, der Romanvorlage für Salthall. Nach dreißig Jahren in China widmet er sich heute dem Schreiben und dem Naturschutz. Er hat über zwanzig Krimis und sozialkritische Werke veröffentlicht. Als Hobby erforscht er die Geschichte der Region, braut historische Biersorten nach alten Rezepten und beschäftigt sich mit Heilkräutern, was ihn zu seinem Roman »Die Bierhexe« inspiriert hat.

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © Marco Attano / stock.adobe.com und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Falstaff_choosing_his_recruits_(Cawse,_1818).jpg

ISBN 978-3-7349-3322-6

Widmung

Bier ist eine wahrhaft göttliche Medizin

– Paracelsus

Karte

Karte Legende

Saxonia: Sachsen (Name der damaligen Provinz, heute im Wesentlichen aus Niedersachsen bestehend, ohne das heutige Sachsen)

Angaria: Engern. Name des Gebietes und des germanischen Volksstammes, der dort siedelte

Ostfalia: Ostfalen, im heutigen Süd- und Ostniedersachsen

Wisera: Die Weser (Fluss)

Lagina: Die Leine (Fluss)

Hanovere: Hannover (Stadt)

Hildinisheim: Hildesheim (Stadt)

Alvelde: Alfeld (Stadt)

Fredenon: Freden (Ort)

Salthall: Salzderhelden (Ort)

Corbeia: Corvey (Kloster)

Gandershm: Gandersheim (Kloster)

Hart: Harz (Gebirge)

Gutinga: Göttingen (Stadt)

Gruona: Grone (Pfalz Grona, heute Teil von Göttingen)

Fredelsloh: Fredelsloh (Nonnenkloster)

Kapitel 1

»Der Weg von der Heilerin zur Hexe ist kürzer als der Strick des Henkers. Sobald dir einer unter den Händen stirbt oder elend wird, ob du schuld bist oder nicht, stehst du am Pranger.«

Amalia hatte gar nicht richtig hingehört. Die Arme weit von sich gestreckt, betastete sie mit den Fingerspitzen das weiche Moos und die Blumen um sich herum. Auf ihrer Haut prickelten die warmen Strahlen der Herbstsonne. Sie seufzte vor lauter Glück, so überwältigt war sie. Sie konnte gar nicht anders, als die würzige Luft einzusaugen und in einem einzigen seligen Atemzug aus ihren Lungen zu entlassen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte ihre Tante Elisabeth lachend. »Hörst du mir überhaupt zu?«

Amalia öffnete langsam die Augen und sah verträumt zu ihrer Lehrmeisterin hinüber. Sie schloss sie wieder und ließ den Kopf tief ins Moos sinken. »Als ob ich eins mit Mutter Erde bin«, murmelte sie. »Als ob ich ihre Kraft in mir spüre. Wie sie aus der Tiefe in mich hineinströmt, weißt du? Und dass ich all die Kräuter hier kenne wie meine Schwestern, dass ich weiß, wie sie sind, wie sie duften, was sie mit uns verbindet, wie sie uns helfen. Meine Familie. Ich liege hier auf der Wiese und doch ist mir, als schwebte ich über der Welt.«

Sie sog erneut die Luft ein, die nach wildem Majoran und Thymian duftete und nach vielen anderen Kräutern und Wildblumen, die auf dieser sonnenbeschienenen, leicht ins Tal abfallenden Wiese standen. Bienen summten in der samtigen Luft, durch die weit oben Kraniche zogen und einander Geheimnisse zuriefen. Es roch nach den letzten warmen Stunden des Herbstes, nach Mysterien, die sich Amalia alle erschließen wollten, wenn sie nur richtig zuhörte, hinsah und alle Poren ihrer Wahrnehmung weit öffnete, wenn sie Licht, Kraft und Düfte tief in sich eindringen ließ.

Sie hörte Elisabeth leise lachen. Nicht über sie, dazu war das Lachen zu freundlich und warm. Ihre Tante freute sich und doch hatte Amalia das Gefühl, dass sie nicht ganz ernst genommen wurde.

»Du darfst dennoch nicht leichtsinnig werden, Amalia. Gerade im Überschwang passieren dir Fehler und dann bist immer nur du schuld. Wenn du heilen willst, musst du so nüchtern wie möglich sein, meine Kleine.«

Sofort spürte Amalia alles nur noch halb so intensiv und setzte sich auf, die Arme nach hinten ins Gras gestemmt. Warum gönnte ihr Elisabeth dieses Erlebnis nicht?

»Du glaubst mir nicht.«

Ihre Tante lachte nur, drei leise, glucksende Laute, während sie Amalia aus ihren dunkelgrünen Augen mit warmem Blick ansah. »Doch, doch.« Sie setzte sich ihrer Nichte im Schneidersitz gegenüber. »Ich kenne das Gefühl, glaube mir. Aber die Welt wird es dir nicht leicht machen, dir das alles zu erhalten und weiter zu nähren. Die Welt ist nicht so gut, wie wir sie uns wünschen, Amalia. Nicht nur, weil es immer wieder ein paar schlechte Menschen gibt. Nicht einmal die Guten können immer das tun, was sie möchten, und manche finden das Gute gar nicht mehr wieder.«

Elisabeth pflückte ein paar Gänseblümchen und begann, daraus einen Haarkranz für Amalia zu flechten. »Wir sind in diese Welt geworfen, Amalia, und sie zwingt uns vieles auf. Wir Frauen haben es besonders schwer und wenn wir dazu noch Heilerinnen sind, ist es nicht weit, bis wir als Hexen verrufen werden. Es gibt so viel Neid und Missgunst, so viel Wunsch nach Macht, Reichtum und Herrschaft und wir kommen als Erste unter die Räder.«

»Ich bin doch schon lange vierzehn«, warf Amalia ihr trotzig entgegen. »Also schon eine junge Frau. Ich weiß, was du meinst, Tante. Aber …« Sie sah zu Boden und spielte mit den Fingern mit der blauen Blütenkugel eines Teufelsabbisses.

Sie sah wieder auf. »Aber ich spüre doch die Kraft der Natur in allem, Tante. Wir können doch fast alles heilen, wenn wir sie kennen und richtig anwenden, oder? Wenn wir mit ihr verbunden sind, was soll uns die Welt groß anhaben können? Warum sollte uns jemand etwas antun, wenn wir gut sind? Wir können doch viel Schlechtes und Krankes zum Guten wenden. Das Böse in den geplagten Menschen abklingen lassen und zur Ruhe bringen, das gehört doch dazu. Das Licht durchdringt das Dunkel, nicht umgekehrt, das hast du mir selbst so gesagt. Und wenn ich alles richtig mache, wird es schon keinem schlecht ergehen. Sie werden mir dankbar sein und einen kleinen Fehler verzeihen.«

Jetzt war es an ihrer Tante zu seufzen.

»Schon. Aber ist es nicht gerade das Licht, das den Schatten wirft? Sieh, unten im Tal scheint die Sonne schon nicht mehr. Und in der Nacht, da ist kein Licht.«

»Mond und Sterne. Genauso herrlich wie der Tag«, warf Amalia ein.

»Dennoch, es ist kalt und viel dunkler als am Tage«, erwiderte ihre Tante. »Manchmal ist es mit dem Leben, als ob du nachts mit einem schwachen Talglicht durch das Schneegestöber über den Hof musst. Jeden Moment kann der Wind es dir ausblasen. Das Dunkel hat viele Gestalten und das Erschreckende ist, dass es auch in uns wohnt, nicht nur draußen. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Nicht alles kannst du mit Kräutern und Substanzen heilen, so sehr wir uns das auch wünschen. Auch das Böse sucht sich seine Wege.«

Amalia schüttelte den Kopf. »Doch am Morgen kommt der neue Tag. Schau doch nur. Selbst nach einem langen Winter kommt alles wieder hervor. Sie ist unbesiegbar, diese ganze Herrlichkeit um uns herum! Wir müssen nur mit der Erde verbunden bleiben. Dann kann uns das Dunkel nichts anhaben. Und in uns lassen wir es erst gar nicht wachsen.«

Sie warf sich wieder zurück auf die blühende Wiese, atmete tief ein und sah zu den Wolken empor. »Du hast mir so viel beigebracht, Tante, ich kenne nun schon so gut wie alle Heilpflanzen und sogar viele der giftigen, die anderen werde ich auch noch lernen, mir ist, als kennte ich sie jetzt schon. Und dann werde ich die beste Heilerin. Die allerbeste! Alle werden zu mir kommen und ich werde sie von all ihren Leiden befreien!«

Kapitel 2

Amalia war die Liebe zu den Kräutern, die viele Jahre verschüttet gewesen war, nicht erst durch ihre Tante zugeflogen, sie war seit Kindesbeinen in ihr gewachsen. Erst ein trauriges und einschneidendes Erlebnis hatte dazu geführt, dass sie erneut und mit Macht in ihr Leben trat. Es war nun zwei, drei Jahre her.

Amalia hatte nicht weinen wollen und doch waren ihr die salzigen Tränen in die Mundwinkel gelaufen und hatten ihr die Wimpern verklebt. Sie wischte sie sich mit der Rechten ab, die Linke lag fest in der warmen Hand ihrer Mutter, die diese immer wieder drückte und Amalia damit zu trösten versuchte.

»Lasset uns beten«, sagte der Priester.

Sie nahm die Hände herunter und faltete sie vor ihrem Bauch, die Augen fest geschlossen. Die Tränen rannen ihr trotzdem die Wangen herunter. Seit drei Tagen.

Der Priester, ein ausgemergelter ehemaliger Mönch mit schütterem Haarkranz, schlechter Haut und schwärzlichen Zähnen, stimmte das Vaterunser an, das Amalia, ohne nachdenken zu müssen, mitsprach.

Kurz darauf musste sie zusehen, wie der schlichte Brettersarg mit Seilen ins Grab hinabgelassen wurde, wo er mit einem knirschenden Geräusch aufsetzte.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben«, intonierte der Priester in einem monotonen Singsang.

Die ersten Trauergäste, voran der Priester selbst, begannen damit, mit einer Schaufel Erde auf den Sarg zu schütten. »Erde zu Erde, Asche zu Asche«, murmelte er. Eine Frau warf gleichzeitig einen Strauß mit selbst gepflückten Blumen hinein, die von der nächsten Schaufelladung unzeremoniell begraben wurden.

Amalia begann laut zu schluchzen.

»Psst!« Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Sei ruhig, Kind.«

Amalia schluchzte nur um so lauter. Sie würde ihre Hulda niemals wiedersehen. Schaufel um Schaufel verschwand sie in der kalten Erde, wo sie von Gewürm und Madengezücht aufgefressen werden würde. Ihre Hulda, ihre Freundin, ihre Amme, ihre Lehrerin, ihr Vorbild, ihre gütige Ersatzmutter von Anfang an.

Sie hatte sie an ihrem Busen genährt, als ihre Mutter keine Milch mehr gehabt hatte und auch sonst kaum etwas zu essen da gewesen war. Drei Jahre lang. Amalia hatte das verschwommene Bild noch vor sich, wie sie an ihrer Brust gelegen und ihr ins runde, freundliche Gesicht gesehen hatte. Huldas eigenes Kind und ihr Mann waren an den Blattern gestorben. Hulda hatte dagegen nichts ausrichten können und doch ihr freundliches Gemüt bewahrt; vielleicht auch, weil sie trotz des Verlustes ein Kind stillen konnte.

Die Familie war dankbar dafür gewesen. Vor Amalia war nur ihr Bruder Johann am Leben geblieben, zwischen ihm und ihr waren alle Kinder gestorben, an der Schwindsucht, am Mangel, gleich bei der Geburt. Ihre Mutter hatte eines Winterabends davon gesprochen und dann nie wieder, es nahm sie zu sehr mit.

Amalia hatte von Kindesbeinen an mitarbeiten müssen. Holz aus dem Wald holen, Wasser schleppen, Lehm wässern und in Ziegelformen pressen, die Ziegen hüten, waschen, der Mutter den Spinnfaden halten und vieles mehr. Aber an zwei Tagen in der Woche hatte sie nachmittags Hulda geholfen, das war die Familie der Kräuterfrau schuldig. Und das war ein völlig anderes Leben gewesen.

Nicht nur, dass Hulda sich mehr wie eine Mutter angefühlt hatte als Agathe. Sie strahlte Wärme und Zuversicht aus, hatte immer warme Hände, schien stets zu lächeln und von innen heraus zu leuchten, vor allem aus ihren nussbraunen Augen.

Amalia musste bei ihr auch nicht hart arbeiten. Hulda bekam Holz und Nahrungsmittel von den Menschen in Salthall gebracht, sie brauchte nur zu sagen, was ihr fehlte, schon stand es vor der Tür. Denn umgekehrt war es ja genauso. Die Menschen sagten ihr, was ihnen fehlte, und in den meisten Fällen hatte Hulda etwas, womit es ihnen bald besser ging. Gegen die schweren Krankheiten hatte auch sie keine Mittel, aber alles andere konnte sie heilen oder zumindest lindern.

Geheimnisse rankten sich um sie, darüber wurde jedoch nur getuschelt. Amalia hatte es nie verstanden. Es ging um Frauen, um Kinder, um Männer. Vor allem die Frauen der neu entstandenen Ortschaft Salthall hielten stets zu ihr.

Und nun war sie tot, an der Schwindsucht gestorben wie so viele andere. Es war niemand da gewesen, der ihr hätte helfen können.

Amalia dachte daran, wie sie durch die Wiesen gezogen waren und Kräuter, Pilze, Blumen und Beeren gesammelt hatten. Und jedes Mal hatte sich Hulda die Zeit genommen, Amalia, ihrem Milchmädchen, alles zu zeigen, was an jeder noch so kleinen Pflanze Besonderes war. Was sie vorher einfach nur als schön angesehen hatte – ein Blümchen beispielsweise –, hatte plötzlich viele Teile, aus denen es sich zusammensetzte. Die Blüten halfen gegen dieses Ungemach, die Blätter gegen ein anderes, den Fruchtknoten ließen sie stehen, der war für die Bienen.

Ein Wunder! Es gab so viele Kräuter und Beeren, die etwas bewirkten, andere, die böse waren, jedenfalls verstand sie es als Kind so. Sogar Borken und Rinden waren für oder gegen etwas gut.

Sie hatte Hulda einfach immer mit kindlichem Eifer geholfen und ihr zugehört, ohne wirklich etwas zu verstehen, aber darum war es Hulda auch gar nicht gegangen. Sie teilte einfach alles, auch ihr Wissen, freimütig, ob es angenommen wurde oder nicht. Manches plapperte die kleine Amalinda, wie sie mit Geburtsnamen hieß und zärtlich gerufen wurde, einfach nach und oft spielte sie einfach nur mit dem, was sie sammelten.

Die Namen einiger Pflanzen kannte sie immerhin schon. Im Laufe der Jahre waren es mehr geworden und dann war doch Arbeit dazugekommen. Hulda sammelte nicht nur Pflanzen, sie bereitete daraus auch Tinkturen, Säfte, Salben und Pulver zu. Amalia musste dabeistehen und auf Zuruf etwas suchen, es abwiegen und Hulda geben. Wenn sie dabei etwas nicht richtig machte, konnte Hulda auch mal mürrisch oder sogar ärgerlich werden.

Doch nach ein paar Jahren, Amalia war gerade sieben geworden, hatte ihr Vater gesagt, dass es nun gut wäre und sie zu Hause dringender gebraucht würde. Ein weiteres Mädchen hatte noch ein paar Jahre bis zu einem schrecklichen Unfall überlebt, Maria, und nach ihr noch eines, Agnes. Alle, die danach noch gekommen waren, waren gestorben.

Die Arbeit war ihrer Mutter allein zu schwer geworden. Nun sah sie Hulda nur noch, wenn jemand von ihnen krank wurde und sie zu ihr laufen musste, zu ihrem schönen Haus am Ortsrand, das der Graf von Katlenburg ihr geschenkt hatte, nachdem sie ihn von einem lebensbedrohenden Leiden geheilt hatte.

Jetzt war Amalia an der Reihe, die kleine Holzschaufel in die Hand zu nehmen und eine Handvoll Erde auf den schlichten Fichtensarg zu werfen. Die Klumpen fielen polternd auf ein freies Stück Holz. Es fühlte sich überhaupt nicht feierlich an, fand Amalia. Wie Dreck, den sie auf den Leichnam warf, wie eine Beleidigung, eine letzte Schmähung. Dabei hatte Hulda immerhin einen Sarg bekommen, den hatte der Graf gespendet, der vor dem Priester auch ein paar salbungsvolle Worte gesprochen hatte. Ihm gehörten Salthall, Bönickenhusen, wo die Familie früher gewohnt hatte, Oldendorp und weitere Orte ringsum. Die anderen Verstorbenen waren dagegen meist auf einem Brett oder eingenäht in ein Leintuch bestattet worden.

Jemand schob Amalia zur Seite und nahm ihr die Schaufel weg.

»Komm schon«, sagte ihre Mutter. »Es ist Waschtag. Wir müssen nach Haus.«

*

Zu Hause wartete der Vogt des Grafen auf sie, hoch zu Ross. Als sie näherkamen, stieg er ab. »Der Graf ist besorgt«, begann er. »Hulda war weit über Salthall hinaus als Kräuterweib und Heilerin tätig. Das Volk wird krank werden und leiden ohne sie. Der ganze Landstrich wird darben. Das möchte er nicht.«

Amalia sah, wie die Mundwinkel ihrer Mutter zuckten. Sie war nun mit elfeinhalb alt genug, um sich denken zu können, was Agathe durch den Kopf ging. Dann bekommt er wohl zu wenig vom Zehnten und andere Einnahmen, etwas in der Art. »Das verstehe ich«, sagte sie stattdessen. »Nur, Herr, was vermag ich dagegen zu tun?«

»Wir wollten uns vergewissern. Hat sie nicht eine heilkundige Schwester? Hulda hat einmal davon gesprochen. Wo finde ich sie?«

Agathe sah nicht ihn, sondern Amalia an. »Da müsst Ihr schon weit nach Westen an die Wisera reiten, Herr. Sie ist Nonne in Corbeia. Ob sie heilen kann, das weiß ich nicht. Sie war schon immer ganz anders als ich.«

Inzwischen war auch der Priester dazugestoßen, der die Beerdigung den Totengräbern überlassen hatte. »Sollten wir nicht besser einen richtigen Medicus nach Salthall holen, Vogt? Einen Mann Gottes, der ausgebildet ist?« Er räusperte sich. »Einen Mann der Reinheit?«

Agathe zog ihren Rotz aus dem Hals hoch, spuckte aber nicht aus. Es war auch so klar genug, was sie vom Pfaffen hielt, der Frauen generell als unrein und unfähig betrachtete. Als Wesen, die nur gut dazu waren, den Männern Söhne zu gebären, was ihm allerdings verwehrt geblieben war. Trotz der Frau, die er sich nach seiner Versetzung vom Kloster Walkenried nach Salthall genommen hatte.

Der Vogt hatte offenbar klare Anweisungen und beachtete den schmalbrüstigen Priester nicht weiter.

»Gut. Das ist einen Tagesritt entfernt. Sei bedankt, Agathe, und Gott befohlen.«

Er sprang auf sein Pferd, wendete es und ritt davon.

»Gott sei mit Euch«, rief ihm der Priester hinterher.

»Ja, ja«, antwortete der Vogt leise, als er seinem Pferd die Sporen gab und in Richtung Huldersse davonstob.

*

Eine Woche später hörte Amalia am Abend Hufgeklapper vor dem Haus. Sie war mit Kochen an der Reihe, die anderen waren noch draußen und gingen ihrem Tagwerk nach. Sie lief hinaus, um nachzusehen.

Gerade stieg eine Nonne schwungvoll aus dem Sattel, einer der anderen Berittenen beugte sich vom Pferd aus zu ihr hinüber und hielt ihr die Hand. Sie sprang aus dem Steigbügel und ließ die Hand los. »Ich danke Euch, Herr. Gehabt Euch wohl, möge Gott Eure Wege beschützen«, rief sie ihm zu. Die Reiter nickten nur und ritten langsam weiter zur Brücke über die Lagina.

Die Nonne drehte sich um und streifte ihre Gugel ab, die Kapuze ihres Habits. Amalia fiel die Kinnlade herunter. Da stand ihr Ebenbild in größer und schöner vor ihr, mit dunkelrotem struppigem Haar, das anders als ihr eigenes nur stoppelkurz war. Grüne Augen sahen sie an, dunkelgrün mit goldenen Einsprengseln, genau wie ihre eigenen, dazwischen eine schmale, aber keck aus dem Gesicht herausragende Nase, steil und kantig wie ein Felsvorsprung, links und rechts von Sommersprossen eingerahmt. Darunter ein breiter und voller dunkelroter Mund.

Der Nonne fiel ebenfalls die Kinnlade nach unten. »Wer bist du denn?«, fragte sie ungläubig. »Doch nicht Agathes Tochter, oder? Ich glaube es nicht!«

Sie streckte ihre Hand aus und fuhr Amalia über ihre Haarpracht, die ihr über die Schultern fiel. Abends löste sie ihren Zopf und ihre drahtigen Haare standen sofort ab wie die Schlangen der Medusa.

»Doch. Ich heiße Amalia. Amalinda, eigentlich. Aber alle nennen mich Amalia.«

»Dann bist du meine Nichte!« Die Nonne trat zu ihr und schloss sie in die Arme. »Ich freue mich, Amalinda. Wo ist denn deine Mutter?«

»Du bist meine Tante? Eine Nonne? Geht das überhaupt, können Nonnen Tanten werden?« Amalia trat einen Schritt zurück. »Du siehst ja aus wie ich!«

»Wie meine Großmutter, deine Urgroßmutter«, sagte die Nonne lächelnd. »Die sah auch so aus. Ich bin übrigens Elisabeth. Was für eine Überraschung! Komm, wir gehen deine Mutter suchen.«

*

Schon am nächsten Tag zog Tante Elisabeth ins schöne Häuschen von Hulda, als neue Heilerin für Salthall.

Der Ort war in der letzten Zeit rasch gewachsen, nachdem ein Salzsieder aus dem benachbarten Sülbeck, nach einem salzhaltigen Bach benannt, eine weitere Quelle entdeckt hatte, nicht allzu weit von der Lagina entfernt. Und schon waren nach und nach Menschen aus den in der Nähe liegenden Orten Bönickenhusen, Oldendorp und Jeinsen dorthin gezogen, weil es mit der Salzherstellung ein einträglicheres Leben gab, als Knecht oder Magd oder Hintersasse von leibeigenen Bauern zu sein.

Ein paar Tage nach Elisabeths Ankunft beschloss ihr Vater, dass Amalia abends zu ihr gehen und dort essen und schlafen sollte, denn seine schmale Hütte war ohnehin schon viel zu klein für so viele Menschen und im Winter zusätzlich noch die Tiere, die ihnen Wärme spendeten. Natürlich musste sie tagsüber ihre Hausarbeiten verrichten, aber wenn sie damit fertig war, durfte sie zu Elisabeth und auch ihr ein wenig zur Hand gehen.

Für Amalia war es, als ob sich die Erde aufgetan und ihre Hulda wiederauferstanden wäre, in Gestalt ihrer Tante Elisabeth. Sicher, sie sah ganz anders aus und verhielt sich anders. Wo Hulda rundlich, gütig und warm gewesen war, war Elisabeth strenger, belehrender und viel öfter als Hulda ins Gebet vertieft, als ob sie noch im Kloster wäre. Und doch verspürte Amalia vom ersten Moment so etwas wie Liebe zu ihr. War Hulda ihre Erde und ihr Wasser gewesen, wurde Elisabeth zu ihrem Himmel, ihrer Luft und ihrem Feuer, statt einer Mutter zur Lehrerin und Vertrauten.

Die Salthaller waren Elisabeth anfangs misstrauisch gegenübergetreten. Das legte sich jedoch rasch, nachdem sie die ersten Kranken behandelt hatte, und dabei war sie eher wie Hulda, fand Amalia. Weich und gütig, sanft und forschend, aber bestimmter und entschlossener. Der Erfolg gab ihr recht und bald kamen alle zu ihr und ließen sich behandeln. Sie liebten sie nicht wie Hulda, dafür verdiente sie sich ihre hohe Achtung.

Amalia konnte ihre früheren Runden durch Berge und Wiesen mit ihr fortsetzen, die sie so vermisst hatte. Vieles, was ihre Tante ihr zeigte, wusste sie schon. Einiges war ihr neu. Elisabeth schien ein wesentlich fundierteres Wissen zu haben als Hulda. Wo diese einer Tradition gefolgt war, von Kräuterfrau zu Kräuterfrau weitergegeben, hatte Elisabeth im Kloster auch von anderen, aber auch sehr viel aus Büchern gelernt, von denen sie sogar ein paar hatte mitnehmen dürfen, von ihr selbst in freien Stunden kopiert.

»Ja, da fließt etwas zusammen, das auch zusammengehört«, antwortete sie Amalia eines Abends auf ihre drängenden Fragen. »Weißt du, das Wissen über die Heilkraft von Pflanzen ist alt, viel älter als das Christentum. Seit jeher haben die Menschen auf das Wissen der Kundigen vertraut. Vieles hat sich erhalten, vor allem auf dem Lande.«

Sie runzelte die Stirn, als überlege sie, ob sie ihrer Nichte ein Geheimnis anvertrauen könne. »Richtig erforscht haben das schon die Griechen vor vielen, vielen Jahrhunderten. Und die haben es sogar aufgeschrieben, es war in alten Bibliotheken aufbewahrt. In Alexandria in Ägypten zum Beispiel.«

Amalia hatte noch nie von diesen Ländern gehört. Elisabeth erklärte es ihr und fuhr fort: »Doch die ist abgebrannt, ein unersetzlicher Verlust. Das Wissen kam dann über die arabischen Länder zu uns, das ist im Norden von Afrika und das ist ganz weit weg, zurück nach Europa, zu den Römern. Und dann ist es wieder verloren gegangen, als das Römische Reich unterging.«

»Und woher hast du es dann?« Amalia rauchte der Kopf.

»Nun, das ist auch wieder eine lange und zwiespältige Geschichte, Amalinda. Unsere Kirche spielt dabei auch eine Rolle. Manche Überlieferung wurde verworfen, manche angenommen, aber ganz vieles war nach wie vor unauffindbar. Doch es gab immer wieder Kontakte, denn die Kulturen berühren sich, vor allem ganz unten im Reich, in Sizilien, Apulien und Kalabrien, tief unten im Mittelmeer. Dort gibt es sogar eine Universität dafür, in Salerno, dort arbeiten Sarazenen, Christen, Juden und andere zusammen, und stell dir vor, auch Frauen dürfen dort studieren und sogar lehren. Von dort aus wurde ganz viel von diesem Wissen zusammengetragen und in die Welt verstreut, und durch die Klöster kommt es auch wieder zu uns. Und da trifft es sich mit dem, was Frauen wie Hulda noch wussten, denn so verschieden ist das alles gar nicht. Oder doch.«

Amalia hatte kein Wort verstanden und sagte das auch.

»Es gibt ja mehr als nur das Wissen über die Kräuter, weißt du?«, erklärte Elisabeth. »Da ist die Chirurgie, das ist eine ganz andere Kategorie. Und da gibt es noch den Teil der Lehre, der von der Kirche akzeptiert wird, so etwas wie eine offizielle Doktrin. Das ist auch alles nicht falsch, aber es schließt manche Dinge aus, die durchaus richtig sein können. Zur anerkannten Schulmeinung gehört die Lehre von den vier Säften, die durch den Körper kreisen und im Gleichgewicht sein müssen. Ist das nach der Meinung der Ärzte nicht der Fall, lassen sie die Patienten zur Ader oder schröpfen sie. In so manchem Fall hätte die richtige Medizin viel besser geholfen.«

»Dann leugnen die Ärzte die Kräuter?«, schloss Amalia aus ihren Worten.

»Nein. Es ist alles recht verzwickt, weißt du. Sie sehen sie anders. Das und das Kraut fördert oder behindert die gelbe oder die schwarze Galle, das Blut oder den Schleim und dann werden sie auch entsprechend eingesetzt. Das hat sich oft so entwickelt, dass die Kräuterkundigen und die Medici zu den gleichen oder ähnlichen Schlüssen kommen, aber oft ist es eben auch nicht so. Dann bekommt der Medicus meist recht. Das ist dann meistens ein Mann und das Kräuterweib steht dumm da.«

»Und was glaubst du?«, drang Amalia in sie. »Ich merke dir doch an, dass dir das nicht passt.«

Elisabeth lachte und trank einen Schluck Bier. »So kannst du das auch nicht sagen. Man muss sich schon vertragen. Aber tief im Inneren bin ich der Überzeugung, dass das über lange Jahre erworbene Wissen genauer ist. Was in hundert Fällen gegen ein Gebrechen geholfen hat, hilft auch beim nächsten, selbst wenn die Doktoren aus Gründen der Theorie, also der Säftelehre, anders urteilen.« Sie seufzte.

»Weißt du, Frauen und Männer sind da oft anderer Meinung. Frauen vertrauen eher dem alten Wissen, die Männer häufig der Theorie. Ich maße mir aber nicht an, sie deshalb zu verurteilen. Es ist ja bei weitem nicht alles falsch, was sie sagen.«

Amalia schwieg eine Weile und saß mit geschlossenen Augen da. Draußen sangen die Amseln ihre Lieder, ein Rotkehlchen zwitscherte, die Heimchen zirpten, ansonsten war es still.

»Ich habe bei Hulda viel gelernt«, sagte sie schließlich. »Ich habe nicht alles verstanden, was du gesagt hast, Tante, aber ich sehe es auch so. Das Aufschneiden und Aderlassen hat sicher auch seine Zeit, aber mit dem Herzen vertraue ich dem, was die Natur uns schenkt. Hulda hat immer gesagt: ›Gegen alles ist ein Kraut gewachsen.‹ Ich möchte das alles lernen und auch anwenden können, wenn ich groß bin.«

»Amen«, meinte ihre Tante lächelnd. »Zeit fürs Abendgebet, Amalia. Und dann ist Bettruhe. Morgen sehen wir weiter. Ich sage dir schon mal Gute Nacht.« Sie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, atmete tief ein und aus, sank dann auf ihre Knie und schloss die Augen.

*

Inzwischen war Amalia mit Elisabeth so vertraut, als würde sie sie schon von Kindesbeinen an kennen. Elisabeth sah ihre Nichte mit schiefgelegtem Kopf an, als zweifele sie daran, dass Amalia in ihre Fußstapfen treten könne.

»Schön, dass du daran glaubst, Heilkundige zu werden. Bewahre dir diesen Geist, Amalia. Aber vergiss nicht, du bist nicht allein. Wir hatten mehr als zwei schöne Jahre miteinander, aber heute Abend musst du mal wieder nach Haus, dein Vater fragt nach dir. Und wie du schon sagst: Du bist jetzt eine junge Frau. Er wird dich schon bald verheiraten. Ich habe da was läuten hören. Sei auf der Hut.«

»Nein!« Amalia lief es kalt den Rücken herunter. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

Ihre Tante zog die Augenbrauen hoch und nickte bedächtig. »Leider doch. Glaube mir. Du bist im richtigen Alter. Er wird dich wohl kaum einem reichen Mann, sondern einem von ähnlichem Stande geben. Wenn du Glück hast, einem Bauern oder Handwerker. Bei Letzterem könntest du vielleicht in einer Stadt leben als Freie. Bei einem Bauern hast du mehr zu essen, bist aber unfrei wie jetzt auch. Du könntest es schlechter treffen.«

»Ich will aber Heilerin werden. Und das werde ich auch, Tante.« Amalia langte in die Wiese und rupfte ein Büschel unschuldiges Gras aus. »Ich lasse mir das nicht gefallen.«

Elisabeth blieb unbeeindruckt.

»Und dann wirst du hart arbeiten müssen. Kinder bekommen, von denen du die meisten gleich wieder beerdigen musst. Du wirst deinem Mann gehorchen müssen, bis du alt und grau bist. Wenn er vor dir stirbt, kannst du froh sein, wenn ein paar Kinder von dir überlebt haben, die dir Brot geben. Denk an deine Freundin Martha. Oder an die kleine Josepha. Die spüren nichts mehr von ihrer Jugend und ihren Träumen, Amalia. Warum sollte es dir besser ergehen?«

Amalia sah sie lange an, immer noch auf dem Boden liegend, mit einem Grashalm im Mundwinkel, auf dem sie nachdenklich herumkaute. Dann spuckte sie ihn trotzig aus.

»Du sagst das, weil du mich prüfen willst, Tante, oder? Natürlich weiß ich das alles, aber vom Wesen her ist der Mensch frei, hast du selbst gesagt. Man kann das Beste aus seinem Schicksal machen, du bist ihm nicht vollständig unterworfen, oder etwa nicht?«

Sie lachte triumphierend auf. Wobei sie selbst bemerkte, dass in diesem Triumph eine gehörige Portion Unsicherheit mitschwang. Aber sie gab nicht auf.

»Du bist doch selbst auch Heilerin geworden. Es geht also. Ich werde das schaffen, du wirst schon sehen. Und wenn ich dazu selbst einen Beruf ergreifen muss, dann mache ich das eben. Ich kann doch Bier brauen, sogar ganz gut. Das ist zwar Hausfrauenarbeit, aber ich kann das zu meinem Beruf machen. Dann mache ich eben sehr gutes Heilbier, das allen hilft. Damit kann ich meine Mitmenschen nicht nur nähren, sondern auch ihre Gebrechen heilen. Sie werden alle zu mir kommen, weil sie mich brauchen. Genauso werde ich das machen. Ich werde das hinkriegen, Mann oder nicht, ich werde einfach die beste Heilerin werden. Dann muss er mir dienen, falls ich einen nehmen muss. Ich drehe den Spieß einfach um!«

Elisabeth lachte, schluckte ihr Lachen jedoch gleich wieder hinunter. »Sei dir nicht so sicher, Amalia. Gut, die Zeiten ändern sich, aber nur langsam. Es gibt und gab starke und unabhängige Frauen wie Hildegard von Bingen oder Roswitha aus dem nahen Gandersheim, aber wie viele sind das? Trota von Salerno, eine Heilerin, die sogar Professorin wurde. Eine Handvoll gegen Abertausende von leibeigenen Mägden, Bauersfrauen, Dirnen und Dienerinnen. Dein Vater bestimmt, dagegen kannst du nichts machen. So ist das saxonische Recht nun mal.«

Amalia setzte sich wieder auf und zog eine Schnute. »Und du? Warum sollst du etwas können, was ich nicht kann?«

»Na, hör mal. Das war bei mir anders, Amalia. Deine Großmutter war noch die Tochter eines Landvogts, ihr Vater hatte hier etwas zu sagen, selbst sein Schwiegersohn hatte ihm zu gehorchen. Bis er beim Grafen in Ungnade fiel und danach gar nichts mehr hatte. Aber er hat mich, seine Enkelin, schon vorher in einem Kloster unterbringen lassen, wo ich all das gelernt habe, was ich dir in den letzten beiden Jahren beigebracht habe. Und meine Schwester, deine Mutter Agathe, hat er gut verheiratet, wie er dachte. Mit einem jungen Mann, von dem jeder glaubte, dass er es im Salzgewerbe mal weit bringen würde. Ich rede von deinem Vater, ob du es glaubst oder nicht. Er war in jungen Jahren schon Pfänner in Sülbeck mit drei eigenen Salzpfannen. Bis er bei Lieferungen betrogen hat, jedenfalls laut dem habgierigen Grafen, und überdies noch schwer krank wurde. Die Blattern hat er um ein Haar nicht überlebt. Und schon war es vorbei mit seinem Fortkommen. Er hatte Glück, dass er beim Gerhard arbeiten und sich dort zu Tode schuften darf.«

»Das weiß ich alles. Aber du durftest im Kloster bleiben. Und bist jetzt unsere Heilerin hier in Salthall.«

Elisabeth legte die Hände in den Nacken und dehnte sich, bis ihre Knochen knackten, während sie die Augen schloss und tief einatmete. »Ich hatte Glück. Mein Großvater hat gut für das Kloster bezahlt, als Mitgift, und damit war das erledigt. Als hier vor zwei Jahren dringend eine neue Heilerin benötigt wurde, habe ich das Kloster Corbeia verlassen. Mir ist es gut ergangen. Sonst hätte ich dich nie bei mir aufnehmen können, Amalia.«

Amalia schluckte. Sie war ja dankbar dafür. Seit Elisabeth wieder da war, musste sie nicht mehr mit ihrer kleinen Schwester Agnes in einem winzigen und zugigen Verschlag schlafen und im Winter halb erfrieren, weil in der ebenso winzigen Kate, in der die Familie hauste, auch so schon zu wenig Platz für die Eltern und das Vieh war. Für die kleine Agnes reichte es gerade noch, wenn sie, Amalia, nicht da war. Ihr Bruder Johann konnte zum Glück bei seinem Brotherrn nächtigen. Am Essen sparten die Eltern auch, viel war nie da.

Zwar musste sie tagsüber ihrer Mutter helfen, aber zwischendurch, wenn sie mit ihrem Tagwerk fertig war, und am späten Nachmittag durfte sie zu Elisabeth, mit ihr das Abendbrot einnehmen und mit ihr lernen. Wenn es hell war, auf den Wiesen und in den Wäldern. Wenn es regnete oder schneite und auch abends beim Kerzenschein, aus dem Buch, ihrem liber, wie ihre Tante es nannte. Es war die Abschrift eines brandneuen Werkes eines gewissen Matthaeus Platearius, eine große Kostbarkeit namens circa instans, die sie als Abschiedsgeschenk aus dem Kloster Corbeia hatte mitnehmen dürfen. Es war eines der Werke aus der Medizinschule von Salerno, der einzigen Universität für Heilkunde im Reich.

Elisabeth hatte es selbst in monatelanger Arbeit abgeschrieben und all die Zeichnungen von den Pflanzen und sonstigen Mitteln, die die Heilkunde kannte, minutiös kopiert. Amalia hatte beim gemeinsamen Studium dieses kostbaren Buches etwas Latein gelernt und konnte sogar ein paar Worte schreiben. Das konnte sonst kaum jemand in dem kleinen Ort Salthall. Und das gab ihr die große Hoffnung, dass sie mit ihren Fähigkeiten dem Los anderer Mädchen entgehen konnte. Denn im Reich gab es bisher nur wenige Kopien dieses Kompendiums. Aber würde ihr Vater das verstehen?

»Dann gehe ich eben auch ins Kloster. Oder ich laufe weg, in eine größere Stadt. Ich weiß jetzt fast so viel du über das Heilen und es wird schon ein Kloster oder ein Infirmarium geben, das mich auch ohne Eintrittsgeld aufnimmt. Bestimmt. Fredelsloh ist nicht weit. Das schaffe ich zu Fuß.«

»Wenn du wegläufst, bist du entweder in ein paar Wochen verhungert oder erfroren oder du wirst von Tagedieben genötigt und endest als billige Hure oder bestenfalls Schankmaid, was kaum besser ist. Tu das bloß nicht! Und ohne Empfehlung und einen schönen Batzen Gold nimmt dich kein Kloster auf. Die Nonnen dort gehören fast ausnahmslos dem Adel an. So ist das heutzutage leider, Amalia.«

Elisabeth stand auf. Es würde bald dunkel werden, sie mussten zurück ins Tal. »Hör zu. Ich werde mich etwas umhören, vielleicht finde ich einen Weg für dich. Dein Bruder lebt und arbeitet doch im Gruthaus in Einbeeke, vielleicht kann sein Brotherr de Gruyter noch Hilfe gebrauchen. Falls ich eine Gelegenheit zum Reisen finde, könnte ich auch in Corbeia ein gutes Wort für dich einlegen. Mein Name hat dort immer noch etwas Gewicht. Aber das kann dauern. Solange musst du dich fügen, Amalia. Erzürne deinen Vater nicht. Sonst geht es dir schlecht. Versuche, Zeit zu gewinnen. Tu nichts Unüberlegtes. Und jetzt erhebe dich, du Erdgeist! Wir müssen zurück, sonst holen uns noch die Wölfe. Und gegen die helfen unsere Kräuter nicht.«

Sie hatten Salthall beinahe erreicht, als Elisabeth stehen blieb und Amalia am Arm zurückhielt. »Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Bartholomäus. Mit dem hat dein Vater neulich in der Schenke lange gesprochen, hat man mir zugetragen. Worüber, weiß ich nicht. Mit dem hat er sonst rein gar nichts zu tun. Weißt du, was ich denke?«

Amalia stemmte die Fäuste in die Seiten und trat empört einen Schritt zurück. »Nein! Der Sohn vom Abdecker, dieser Stinker! Das darf er nicht!«

»Das wäre in der Tat schrecklich. Aber abgesehen vom Geruch verdient er mit der Seife, die er aus den Kadavern kocht, immerhin einen schönen Batzen Geld. Und mit dem Leder, das er aus den Häuten fertigt, noch mehr. Sogar ein hübsches Haus hat er. Und Pferde. Sogar lebendige.« Elisabeth lachte, um ihre Nichte aufzumuntern. Doch die blieb unbewegt.

Amalia kamen stattdessen fast die Tränen. »Wehe! Dann laufe ich wirklich weg. Den heirate ich nicht! Oder ich nehme Gift.«

Sie blieben beide wie angewurzelt stehen und sahen sich ratlos an. Vor ihnen plätscherte die Lagina dahin, deren Brücke sie fast erreicht hatten. »Aber wen gibt es noch bei uns, der nicht so schlimm ist?«, fragte Elisabeth.

Amalia stampfte mit dem Fuß auf. »Jetzt tust du auch schon so, als ob ich heiraten sollte, und ich komme vom Regen in die Traufe, Tante! Ich will das nicht, hast du das nicht gehört?«

Elisabeth strich ihr über das widerspenstige dunkelrote Haar, das Amalia in einen dicken Zopf gezwängt hatte, der ihr über die Schulter hing. »Du hast ja recht. Ich fände das auch schrecklich, abgesehen davon, dass es eine verdammte Verschwendung des Talents wäre, das ich in dir sehe. Aber was können wir tun?«

»Du wolltest nach Corbeia und da nachfragen«, erinnerte Amalia sie.

»Das kann dauern. Wir müssen bis dahin etwas finden, das deinen Vater von einer Entscheidung abhält. So lange, bis wir einen Ausweg gefunden haben, Amalia. Wir müssen ihn uns gewogen machen. Fragt sich bloß, wie.«

»Du wolltest auch mit diesem de Gruyter sprechen. Das geht doch bestimmt schneller. Du sammelst doch Kräuter für ihn.«

»Ja«, bestätigte Elisabeth. »Das mache ich auch, gleich morgen. Und hör zu. Dein Vater wird immer kränker, vermutlich hat er es deshalb so eilig damit, dich unter die Haube zu bringen, bevor er gar nicht mehr kann. Wir sollten etwas für seine Gesundheit tun. Dafür muss er dir dann etwas Zeit lassen, denn dazu musst du bei ihm im Haus sein.«

»Aber er ist in der letzten Zeit so grob und unnachgiebig, er schlägt uns immer öfter, richtig bösartig. Widerspruch reizt ihn nur noch mehr.« Amalia kniete sich hin und schlang ihre Arme um die Knie. »Dabei hatte ich ihn immer so gern. Er ist so anders geworden. Ich will das alles nicht!«

»Genau!« Elisabeth schien einen Plan zu haben. »Das ist so, weil er krank ist, nicht, weil er böse ist. Genau deshalb müssen wir ihm helfen. Wenn es ihm besser geht, wird er uns dankbar sein und mit sich reden lassen, Amalinda.«

Amalia sah ihre Tante an. Wenn sie und ihre Mutter Agathe sie Amalinda nannten, bei ihrem Taufnamen, war etwas Ernstes im Gange, sonst würden sie sie nicht besänftigen wollen. Oder wollte Elisabeth sie wirklich nur trösten?

Amalia rief sich das Bild ihres Vaters vor Augen. Wie er gewesen war, als sie noch klein war: groß, mit dichtem schwarzem Haar, guten Zähnen, gebräunter Haut und strahlenden blauen Augen, mit einer Brust wie ein Bär und Händen wie Schaufeln, immer gütig, immer zu einem Scherz bereit. Ein stolzes Mannsbild, trotz seiner Narben. Sonntags nach dem Kirchgang hatte er ihr die Vögel in der Feldmark gezeigt und ihr deren Gesang beigebracht, er hatte fast alle nachahmen können. Manche kamen sogar zu ihm in die Nähe, wenn er rief, bevor sie den Betrug bemerkten und schimpfend davonflogen. Wie er dann gelacht hatte!

Er hatte ihr auch ihren Raben mitgebracht, den sie mit Würmern und Käfern großgezogen hatte. Anton, der anders als all die anderen Raben einen weißen Kopf hatte. Vielleicht hatten seine Eltern ihn deshalb verstoßen. Er konnte mehr Worte sprechen, als sie lateinische Wörter schreiben konnte. Sie fühlte sich jetzt wie er, ein Vogel mit falschen Farben, ein Außenseiter.

Und heute? Ihr Vater hatte nur noch dünnes, fast durchsichtiges Haar an wenigen Stellen auf dem Kopf. Immerhin hatte er dort, wo früher Haare gestanden hatten, auf der gräulich-blassen Haut keine Pockennarben, die sein Gesicht so entstellten. Er hatte auch nur noch zwei brandig aussehende Eckzähne, zwei wacklige Schneidezähne, einen oben und einen unten, und drei oder vier Backenzähne, so genau sah sie da nicht hin. Seine Augen waren immer noch blau, aber es war ein Vorhang gefallen, das Leuchten war verschwunden, darin glomm nur noch Asche, kein Feuer mehr. Ja, er war krank. Daran, dass ihr eigener Vater krank werden konnte, hatte sie noch nie gedacht. Krank waren immer nur andere.

»Er ist tatsächlich krank«, hauchte sie. »Aber was hat er nur? Und was können wir dagegen tun?«

Elisabeth griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Ich glaube, man nennt es die Bergmannssucht oder Saturnismus. Er hat viel mit Blei zu tun, das ist ein Gift. Manche Frauen nehmen es, um ihr Kind im Leibe abzutöten, so stark ist dieses Gift. Es schwächt die gesamte Konstitution. Es führt zu Taubheit und irgendwann zur Verblödung. Tut mir leid. Er kann gar nichts dafür, der Arme.«

Amalia erhob sich und stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist so gemein! Und was können wir machen, damit er das wieder loswird?«

Elisabeth seufzte und ging mit Amalia ans Ufer des Flusses, wo sie sich beide an einem Geländer festhielten, das zur Brücke führte. »Es ist schwer zu heilen. Er müsste aufhören, an den Bleipfannen zu arbeiten. Eisen- oder Kupferpfannen wären besser. Er müsste viel Milch trinken, wie Galen empfiehlt. Und ich habe in Corbeia gelernt, dass es bestimmte Teiche gibt, stille Gewässer, in denen leicht grünliches Wasser steht. Dieses Wasser soll auch helfen. Wir müssten es nur finden. Und er müsste es ungekocht trinken.«

»Das darf man nicht«, warf Amalia ein. »Deshalb trinken wir ja alle Dünnbier, weil das Wasser krank macht!«

»Wenn es ein sauberer Teich ist, wo weder Mensch noch Tier ihre Notdurft verrichten, sollte es schon gehen. Und ein wenig Durchfall ist immer noch besser als die Bergmannssucht.«

»Den hat er jetzt schon ständig«, erinnerte sich Amalia. »Gut. Wir könnten das versuchen. Du kannst doch mal mit Pfänner Gerhard sprechen, und Vater bekommt ab jetzt die ganze Ziegenmilch, die wir haben.«

Elisabeth schwieg, dachte nach und sah dabei gedankenverloren zwei Enten zu, die am Rand der Lagina gründelten.

»Ganz werden wir ihm nicht mehr helfen können. Außerdem wird es viele Monde dauern, bis es anfängt zu wirken. Wir machen das so, aber wir wollen ja auch Zeit für dich gewinnen, Amalia. Wir geben ihm also auch noch ein paar andere Mittel, die vielleicht nicht direkt gegen die Bergmannssucht helfen, aber seine Schmerzen lindern. Wir kochen morgen zusammen einen Sud aus Weidenrinde, Johanniskraut, Mädesüß und ein paar anderen Dingen, die sein Wohlbefinden verbessern. Aber nun ist es Zeit. Geh nach Haus, wir sehen uns zur Schlafenszeit und können dann weiter über alles sprechen. Bis nachher.«

»Ja, bis nachher.« Amalia ließ das Geländer und Elisabeths warme Hand los, ihre letzten Worte und die Aussicht auf das baldige Wiedersehen waren nun ihr bester Halt.

Sie setzte einen Fuß auf die Holzbohlen der Brücke über den Fluss, laut seufzend, nur diesmal vor Enttäuschung und Sorge statt vor grenzenlosem Glück. Gerade hatte sie noch die Welt umarmt und nun erschien ihr jeder weitere Schritt über das ausgelaugte schwarze Holz tückisch und gefährlich. Zaghaft ging sie weiter, durch die Lücken zwischen den Bohlen auf das schwarze Wasser unter ihr starrend, und drehte sich erst um, als sie das andere Ufer erreicht hatte.

Tante Elisabeth war bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Kapitel 3

»Wieso kommst du denn erst jetzt? Hat Elisabeth dir nicht gesagt, dass du heute früh zu Haus sein sollst?«

Ihre Mutter stand in der offenen Haustür und schien auf sie gewartet zu haben. »Dein Vater kommt bald nach Haus. Sieh zu, dass du die Tiere versorgst, Holz für das Feuer holst und den Tisch deckst, wir erwarten einen Gast. Und hol frisches Bier und stell es auf den Tisch!«

Es fehlt nur noch, dass sie husch, husch sagt, dachte Amalia. Aber ihre Mutter hatte ja recht. Sie hatte so viele andere Dinge zu tun.

Amalia ging hinter die schmale Hütte, die ihr Zuhause war, und zerrte das Holz, das ihre Mutter im Wald gesammelt hatte, unter ein Vordach, unter dem auch der Schweinekoben lag, in dem das magere Schwein Schecke schon erwartungsvoll grunzte. Amalia schüttete ihm einen großen Scheffel Eicheln und Kastanien in den Trog. Sie band die Ziege Martha wieder an, die ihren Strick durchgeknabbert hatte, im Pflaumenbaum saß und dort die letzten Blätter abfraß, molk sie und brachte den Milchkrug ins Haus.

»Bier sollst du holen, nicht Milch!«, schimpfte ihre Mutter. »Und Holz! Wo hast du nur wieder deinen Kopf!«

Amalia eilte erneut hinaus, diesmal zu dem windschiefen kleinen Schuppen, in dem Anton auf sie wartete. »Guten Tag«, krächzte er. »Guten Tag. Hast du Hunger, Anton?« Sie hatte im Wald und auf der Wiese ein paar Leckereien für ihn gesammelt, Käfer und vor allem eine Handvoll Walnüsse, die er so gern aufknackte und fraß. Er krächzte etwas Unverständliches, das wohl »danke« heißen sollte.

»Ich habe heute leider keine Zeit für dich, Anton«, entschuldigte sie sich, während sie bereits nach dem Beil griff und damit Holz klein hackte, bis sie einen Armvoll beisammenhatte. »Wir sehen uns morgen, da darfst du wieder mit mir raus und fliegen. Ja?« Der Rabe war damit beschäftigt, eine Nuss aufzuhämmern, und beachtete sie nicht weiter. »Na gut. Dann eben nicht.«

Ihr Vater war noch nicht zu sehen. Amalia brachte das Holz ins Haus und häufte es neben der Feuerstelle auf, zwei Scheite legte sie unter den Topf, in dem heute Hafergrütze mit dicken Bohnen und etwas Speck vor sich hin köchelte. Sie griff nach zwei Krügen, eilte wieder hinaus, ging zu dem, was sie Keller nannten, und schöpfte dort Bier aus dem Fass in die Krüge. Der Keller war ein besseres Loch im Hang hinter dem Haus, hatte aber immerhin eine Tür mit Riegel, außerdem lag er immer im Schatten, sodass es dort selbst im Sommer kühl blieb. Das Fass war fast leer. Morgen war Brautag und Zeit, es wieder zu füllen. Amalia zog trotzdem den Deckel wieder aufs Fass, damit keine Spinnen oder Erde hineinfielen.

»Hol gleich noch Schalen und Löffel«, forderte ihre Mutter sie auf, als sie das Bier abgestellt hatte. »Du isst heute wieder bei Elisabeth, wir haben zu wenig Platz. Agnes ist dieser Tage bei der Großmutter in Ahlshausen, der geht es nicht so gut. Du kannst dann gleich gehen. Bist du draußen fertig?«

»Ja.« Amalia blieb stehen. »Ich muss mit dir reden, Mutter.«

»Jetzt nicht. Dein Vater kommt gleich. Du musst zu Elisabeth. Und vergiss nicht, morgen sehr früh hier zu sein. Wir sind an der Reihe mit Backen und Brauen.«

»Ich weiß«, entgegnete Amalia. »Vaters Gesundheit macht mir Sorgen. Darüber habe ich heute mit Tante Elisabeth gesprochen. Uns ist etwas aufgefallen und wir glauben, wir können etwas für ihn tun. Und er sollte wirklich lieber die Milch statt Bier trinken. Wegen der Bergmannssucht. Die hat er nämlich. Glaubt Tante Elisabeth.«

Ihre Mutter lachte. »Vater und Bergmannssucht? Wie kommt ihr denn auf solchen Unsinn? Er ist doch kein Hauer im Berg! Hat Elisabeth dir wieder einen Floh ins Ohr gesetzt? Und Milch? Die würde er nicht trinken, die verträgt er nicht. Und nun los! Spute dich!«

Amalia ging hinaus und zur Brücke über die Lagina. Jedenfalls so lange, wie ihre Mutter ihr noch durch die offene Tür nachsah. Dann kehrte sie wieder um und schlich auf Umwegen zurück zum Schuppen und ihrem Raben, der seine Nuss verzehrt hatte und laut »Amala!« krächzte. Sie hielt ihm den Schnabel zu.

»Ruhig, Anton. Wir müssen jetzt ganz still sein.«

Es dauerte nicht lange und ihr Vater kam nach Hause. Schwankend, als ob er schon getrunken hätte, und kreidebleich im Gesicht. Neben ihm ging ein großer, dicker Mann, den Amalia nicht erwartet hatte. In Salthall redeten viele nur hinter vorgehaltener Hand über ihn. Walther. Ein Bauer und Schweinezüchter, der außerhalb des Ortes einen Hof hatte, auf dem sich vieles abspielte, was entweder der Wahrheit entsprach oder was die Leute ihm angedichtet hatten. Beispielsweise, dass er sowohl der Vater als auch der Großvater von Volkmar war, seinem Sohn. Oder Enkel, wenn man so wollte, denn Walthers Tochter war mit dickem Bauch herumgelaufen, ohne verheiratet zu sein oder den Hof jemals verlassen zu haben.

Einen Knecht hatte Walther nicht. Er hatte mal einen gehabt, aber der war angeblich erschlagen am Lagina-Ufer gefunden worden, lange vor Amalias Zeit. Mägde hatte er dagegen gleich drei, zum Melken seiner Kühe und für die Schweine, zum Saubermachen und für alles andere. Zwei davon hatten ebenfalls Kinder bekommen, ohne Mann, die aber alle sofort nach Geburt tot gewesen waren.

So einer war Walther.

Amalia kannte Volkmar, Walthers Enkelsohn, aus der Kirche. Er war genauso dick wie sein Vater, roch nach Schwein, sabberte den ganzen Tag und redete unverständliches Zeug, konnte aber wunderbar und fehlerfrei Psalmen singen. Walther verprügelte ihn oft und manche meinten, die vielen Schläge hätten Volkmar so gemacht, wie er war.

Aber was wollte Walther von ihrem Vater? Salz für seine Schweine? Ihr Vater bekam als Teil seiner Entlohnung auch ab und zu einen Sack mit Salz, das genauso viel wert war wie Gold, wenn man dem Pfänner Gerhard, seinem Dienstherrn, Glauben schenken wollte.

Wegen diesem Bauern hatte sie aus dem Haus gemusst? Sie hatte gedacht, das zweite Bier wäre für den Abdecker Bartholomäus gedacht gewesen. Ihr Vater konnte doch unmöglich mit Walther über eine Heirat sprechen! Oder doch? Amalia sank das Herz. Und noch etwas anderes meldete sich. Sie musste dringend in das kleine Wäldchen am Bach und sich dort erleichtern.

Danach schlich sie zurück zu der kleinen Kate und zum Abzugsloch der Feuerstelle. Dort konnte sie lauschen, wenn das Feuer nicht so laut prasselte. Die Kate hatte auch ein Fenster mit einem Pergamentrahmen, das ebenfalls offen stand. Dort hätte man sie aber sofort gesehen.

Der Bauer sprach einen Dialekt, den sie kaum verstehen konnte. Es ging um eine Kuh und ein Schwein. Also um Vieh, nicht um sie. Amalia fiel ein Stein vom Herzen.

Eine Kuh, das wäre wundervoll, dachte sie. Frische Milch für den Vater, damit er das Blei in seinem Körper wieder loswurde und endlich wieder genas. Und ein zusätzliches Schwein? Wo sollte das hin? Im Koben war gerade mal Platz für eines. Ins Haus? Wahrscheinlich mussten Agnes und sie dann wieder Lehmziegel backen und einen neuen Koben bauen. Immerhin hatten sie dann im Winter mehr Fleisch und Wurst.

Dann hörte sie ihren Namen. Und den von Volkmar. Dass er bald erben würde. Stimmt, dachte sie. Walther ist schon über fünfzig Jahre alt. So alt wurde kaum einer. Dann sollte sie also die Herrin über einen der größten Höfe in der Gegend werden? Fast fühlte sie so etwas wie Stolz in sich aufsteigen. Sie war dem Volkmar doch weit überlegen, in allem, außer beim Gesang in der Kirche. Dem würde sie es notfalls schon zeigen. Sie würde die Oberhand haben und vom Hof aus ihre Heilkunde betreiben.

Doch dann krampfte sich ihr Magen zusammen, die Säure schoss ihr in den Hals und ließ sie würgen. Zum Glück hörte sie niemand.

Sie stellte sich vor, wie der sabbernde Schwachkopf sich auf sie wälzte, um das zu machen, was sie bei den Ziegen immer sah. Und beim Vater, aber das war schon ein paar Jahre her, ihre Mutter hatte inzwischen Ruh. Ob das auch an seiner Bergmannssucht lag? Sollte sie die dann wirklich heilen?

Sie sah sich schon Schweine füttern und Jungeber entmannen und den ganzen Tag Schweinescheiße schaufeln, in der sich dicke, sabbernde Kinder wälzten und sich damit bewarfen. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu erbrechen.

Nein, nein, und nochmals nein, sagte sie sich. Um Gottes willen nicht! Niemals! Und was, wenn doch? Sie würde nie wieder Zeit haben, sich ihren Kräutern und Blumen zu widmen, ihrem Bier, ihrer Tante, dem Wissen um das Heilen. Sie musste ihrem Vater das wieder ausreden. Zusammen mit Elisabeth. Ihm eine bessere Lösung bieten, als sie gegen eine Kuh und ein Schwein einzutauschen.

Sie hatte genug gehört und schlich sich wieder davon in die Dunkelheit. Aus dem Abzugsloch hatte es nach Essen gerochen, sie verspürte Hunger und Durst. Elisabeth hatte bestimmt schon etwas vorbereitet. Sie musste dringend mit ihr sprechen.

*

»Tante Elisabeth, es ist noch viel schlimmer, als ich dachte«, beichtete sie ihr, nachdem sie ihr Abendessen zu sich genommen hatten, Brot mit Wurst und Käse, einen Salat mit Kräutern und je zwei Gläser Dünnbier. Sie erzählte ihr, was sie gehört hatte und was für Schlüsse sie daraus zog.

»Durchaus nicht dumm von deinem Vater, das muss man ihm lassen«, fand Elisabeth. »Den Dummkopf steckst du in die Tasche, du wärst dann eine einflussreiche Frau in Salthall. Aber eben eine Schweinebäuerin, dann kannst du bestenfalls noch Borstenviecher von irgendwas heilen. Also ich fände das reichlich eklig. Wir werden etwas dagegen unternehmen. Hör zu.«

Amalia saß auf dem Bett und lauschte.

»Mit dem Bauern werde ich reden. Ich kann immer noch für die Benediktiner sprechen. Der Mann hat eine Erbsünde begangen und der Hellste ist er ohnehin nicht. Ich werde ihm das ausreden und ihm das ewige Fegefeuer androhen, wenn er nicht Buße tut und auf mich hört. Das mache ich morgen Nachmittag.«

»Dann findet der Vater einen anderen Schwachkopf, an den er mich verheiraten will«, warf Amalia ein. »Wir müssen etwas finden, was ich will. Was ich machen möchte. Was zu mir passt. Und dann müssen wir alles tun, damit der Vater es für seinen eigenen Einfall hält. Nur so komme ich da raus, fürchte ich.«

»Du bist ja schon fast so klug, wie du aussiehst.« Elisabeth grinste. »Trotzdem müssen wir als Erstes die Idioten loswerden. Hör zu. Morgen früh stehen wir in aller Herrgottsfrühe auf und sammeln im Moor Grut für das Gruthaus, besondere Kräuter, mit denen wir bei de Gruyter Eindruck schinden können. Und dann spannen wir den für uns ein. Du könntest seine neue Grutsammlerin werden, statt meiner. Damit hättest du ein Auskommen und musst nicht gleich verheiratet werden. Du weißt ja, mein Augenlicht nimmt immer weiter ab, ich kann das nicht mehr lange machen. Und du bist bestens geeignet als meine Nachfolgerin.«

»Haha«, lachte Amalia. »So, so. Deine Blindheit ist mir auch schon aufgefallen. Jeder Luchs wäre stolz auf deine Augen, Tante. Gefällt mir so weit. Und vielleicht kann de Gruyter Vater anbieten, ihn bis ans Lebensende mit Bier zu versorgen. Außerdem kann Johann dort auf mich aufpassen. Lass uns das so machen!«

»Dann hättest du ein eigenes Einkommen, könntest weiter bei mir wohnen und dir einen Mann suchen, wenn dir danach ist. Aber das Haupthindernis ist immer noch dein Vater. Er muss zustimmen. Er hat das Recht, dich zu verheiraten, wie er es für richtig erachtet, so ist das nun mal in der heutigen Zeit. Aber auch da gibt es Mittel und Wege. Ich kann mit Pfänner Gerhard reden. Er muss einsehen, dass dein Vater krank ist, und ihm empfehlen, sich behandeln zu lassen. Von mir und dir. Und dann muss ich mit Agathe und schließlich mit ihm selbst sprechen. Wir reden ihm das aus, vertraue mir.«

Amalia hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Sie dachte nach.

Plötzlich schreckte sie auf und starrte Elisabeth an. »Du hast gesagt, das ist die Bergmannssucht. Denk doch mal an unseren Priester. Der sieht auch so aus wie Vater, kaum noch Haare, wenige Zähne, er hat auch diese schwarzen Ränder am Zahnfleisch und ist genauso blass. Der war doch Bergmann in Walkenried, oder? Ist das bei dem auch die Bergmannssucht? Dann könnte er Vater ins Gewissen reden.«

Elisabeth dachte einen Moment lang nach, das Kinn auf die Hände gestützt. »Du hast recht, Amalia. Er war dort bei den Zisterziensern. Und die haben auf dem Sankt-Andrews-Berg eine Mine, wo sie seit etlichen Jahren Galenit abbauen. Sie nennen das Bleiglanz. Er war dort Mönch, aber auch Bergmann. Du könntest richtigliegen. Dann weiß er Bescheid. Aber hilft uns das? Mit deiner Verheiratung hat das doch nichts zu tun.«

Amalia seufzte. »Da hast du leider auch wieder recht. Aber er könnte zustimmen, dass ich für Vaters Behandlung noch zu Haus bleiben muss. Ich würde Zeit gewinnen.«

»Jetzt haben wir schon vier Ansatzpunkte. Den Bauern, den Priester, Pfänner Gerhard und de Gruyter. Und Corbeia, also fünf. Eins davon muss einfach gelingen. Wir nehmen das gleich morgen in Angriff. Und jetzt lass uns noch das Komplet beten und dann zu Bett gehen. Morgen haben wir viel zu tun. Du bist jetzt erwachsen, Amalinda. Morgen entscheidet sich, wie dein Leben weitergeht.«

Nach dem Gebet gingen sie für ihre Notdurft nach draußen auf den Abtritt, wuschen sich und legten sich bald hin. Elisabeth verlangte striktes Silentium nach der Komplet; Amalia konnte trotzdem nicht gleich einschlafen. Etwas piekste sie aus der Matratze, die Decke kratzte und die Gedanken flatterten wie ein aufgeregter Spatzenschwarm durch ihren Kopf. Allen war eines gemein: Sie wollte auf keinen Fall verheiratet werden.

Wenn, dann wollte sie sich selbst einen Mann aussuchen, der ihr gefiel, wenn es an der Zeit war. Sie wollte weder einen Bauern noch einen Ritter oder Grafensohn noch den allerschönsten Mann aus dem Orient. Sie wollte Heilerin werden. Selbst wenn sie dann als alte Jungfer oder gar Hexe galt. Sie wollte die beste Medizin herstellen und verabreichen. Das beste Bier brauen, in dem sie ihre Heilmittel darreichen konnte. Eine Brauhexe, die auf wundersame Weise alle Gebrechen nur durchs Trinken heilen konnte, denn trinken mussten alle. Und Bier war besser und gesünder als Wasser. Eine Bierhexe, das wollte sie sein. Und wenn dann einer des Weges kam, der ihr wirklich gefiel und gut zu ihr war, konnte sie sich den immer noch zum Manne nehmen.

Neben ihr schnarchte Elisabeth bereits. Amalia konzentrierte sich darauf, endlich einzuschlafen. Wenigstens einmal wollte sie mitbekommen, wie das ging, das Einschlafen. Und wieder einmal entging es ihr.

Kapitel 4

Elisabeth war lange vor ihr wach geworden, saß bereits am Fenster auf einer Bank und betete mit geschlossenen Augen. Neben ihr lagen Bündel mit frischen Kräutern, sie war also schon allein unterwegs gewesen.

Amalia stand leise auf, zog sich ihre warmen Sachen über und schlich hinaus ins Nebenzimmer, um sich zu waschen, ihren Mund mit Elisabeths Mundwasser auszuspülen und die Zähne mit einem Tuch abzutrocknen. Das Wasser enthielt verschiedene Kräuter, darunter Minze, Rosmarin, Nelken und gestoßene Fenchelsamen, und ließ sie gut aus dem Mund riechen.

Neben dem Mundwasser stand eine kleine Karaffe mit einem stark duftenden Getränk. Amalia schnupperte daran. Es roch nach Thymian und Melisse. Daneben lagen auf dem Tisch Johanniskrautblüten, zwei Dolden des Baldrianstrauches und eine Ranke des Hopfenstrauches. Aha, dachte sie. Das soll ganz gewiss der Besänftigung dienen. Die Tante will doch nicht etwa, dass ich mich in mein Schicksal füge?

Aber nein. Sie schüttelte ihr noch offenes Haar und korrigierte sich. Das musste für ihren Vater sein. Schlau, die Tante denkt doch wirklich an alles. Das kann ich ins Bier geben, das er trinkt. Wenn sie dann heute Abend mit ihm spricht, oder wir beide, ist er uns gewogen. Er muss es nur rechtzeitig trinken.

Von hinten legte sich eine Hand auf ihre Schulter. »Du hast mein kleines Geheimnis also schon entdeckt, Amalinda«, sagte Elisabeth.

»Für Vater, oder?«

»Genau. Kluges Kind. Du hilfst deiner Mutter heute beim Brauen. Gib das noch in das alte Bier zu Hause, sobald du da bist, nicht erst heute Abend, am besten gleich in den Krug, den du ihm heute Abend hinstellst. Und nun ab mit dir, wir haben viel vor. Iss noch einen Happen, bevor du gehst, es ist noch Brot und Käse von gestern da. Komm sofort zu mir, wenn du mit dem Brauen fertig bist. Ich gehe als Erstes zum Bauern.«

»Gut. Ich bin gespannt! Kannst du mir vorher bitte noch den Zopf flechten? Das geht schneller, als wenn ich es selbst tue.«

Wenig später, nach einem einfachen Frühstück und ordentlich gekleidet, zogen sie beide los.

*

Elisabeth war alles andere als zuversichtlich, was Amalias Zukunft anging. Sie ordnete Amalias Vater dem cholerischen Temperament zu, ihre Mutter dem phlegmatischen. Von ihrer Schwester war deshalb wenig Unterstützung zu erwarten. Sie arbeitete klaglos den ganzen Tag, ließ sich alles gefallen und gab nie Widerworte. So völlig anders als sie selbst. In ihren Adern floss das Blut ihrer Großmutter.