Die blaue Grenze - Konstantin Ferstl - E-Book

Die blaue Grenze E-Book

Konstantin Ferstl

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Beschreibung

Fidelis Lorentz ist Komponist und verdient sein Brot mit Titelmelodien für Fernsehfilme. Als er einen Anruf von seiner großen Liebe J. erhält, ahnt er, dass sie sich trennen will, und steigt kurzerhand in den Zug. Sein Ziel: Pyeongyang, denn wenn man gegen die Zeit anrennen will, dann nur gen Osten. Während die verschneiten Weiten Sibiriens an ihm vorbeiziehen, reist er gedanklich in die Vergangenheit: zu seinem Urgroßvater, in dessen Fernweh Fidelis sich wiederfindet – ein Träumer aus dem Bayerischen Wald, der als Matrose zur See fuhr und später im Dorfteich ertrank. Zur Großmutter, selbst beim Beten pragmatisch, die nichts von Heiligen hielt und sich immer direkt an die höchste Instanz wandte. Zu ihrem Mann, Berufssoldat in der Wehrmacht, der den Anblick von Waffen nicht ertrug. Sie alle waren tief von der Härte des 20. Jahrhunderts geprägt, und doch rebellierten sie auf ihre Weise gegen die provinzielle Enge und die Erwartungen an sie, behaupteten ihr eigenes Leben. Nach und nach enthüllt sich auch die Gegenwart – und Fidelis' verlorene Liebe zur mysteriösen J. Angekommen in Nordkorea, einem Land wie eine Filmkulisse, das in einer verherrlichten Vergangenheit feststeckt, muss sich Fidelis endlich der Gegenwart und der Zukunft stellen. Konstantin Ferstl erzählt sprachgewaltig, dabei voller Zärtlichkeit und Witz über die Liebe, das Scheitern und das widerspenstige Leben der Menschen auf dem Land. Ein virtuoses Familienepos, eine deutsche Mythologie des 20. Jahrhunderts.

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Konstantin Ferstl

Die blaue Grenze

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Fidelis Lorentz ist Komponist und verdient sein Brot mit Titelmelodien für Fernsehfilme. Als er einen Anruf von seiner großen Liebe J. erhält, ahnt er, dass sie sich trennen will, und steigt kurzerhand in den Zug. Sein Ziel: Pyeongyang, denn wenn man gegen die Zeit anrennen will, dann nur gen Osten. Während die verschneiten Weiten Sibiriens an ihm vorbeiziehen, reist er gedanklich in die Vergangenheit: zu seinem Urgroßvater, in dessen Fernweh Fidelis sich wiederfindet – ein Träumer aus dem Bayerischen Wald, der als Matrose zur See fuhr und später im Dorfteich ertrank. Zur Großmutter, selbst beim Beten pragmatisch, die nichts von Heiligen hielt und sich immer direkt an die höchste Instanz wandte. Zu ihrem Mann, Berufssoldat in der Wehrmacht, der den Anblick von Waffen nicht ertrug. Sie alle waren tief von der Härte des 20. Jahrhunderts geprägt, und doch rebellierten sie auf ihre Weise gegen die provinzielle Enge und die Erwartungen an sie, behaupteten ihr eigenes Leben. Nach und nach enthüllt sich auch die Gegenwart – und Fidelis’ verlorene Liebe zur mysteriösen J. Angekommen in Nordkorea, einem Land wie eine Filmkulisse, das in einer verherrlichten Vergangenheit feststeckt, muss sich Fidelis endlich der Gegenwart und der Zukunft stellen.

Konstantin Ferstl erzählt sprachgewaltig, dabei voller Zärtlichkeit und Witz über die Liebe, das Scheitern und das widerspenstige Leben der Menschen auf dem Land. Ein virtuoses Familienepos, eine deutsche Mythologie des 20. Jahrhunderts.

Vita

Konstantin Maria Ferstl, geboren 1983 im Altmühltal, ist Regisseur, Autor und Musiker. Studium der Regie in München, bereits sein Abschlussfilm «Trans Bavaria» kam ins Kino und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb: «Eine genial versponnene Rebellenphantasie mit Kultfilmpotenz.» Für «Finis Terrae», einen Essayfilm mit dem Philosophen Alain Badiou, reiste er einmal um die Welt. «Die blaue Grenze» ist sein Debütroman, für den er das Münchner Literaturstipendium erhielt. Konstantin Ferstl lebt in München, Rom und in der Hallertau.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Zitate folgen Hannes Wader, «Damals», S. 151 f.; «Manche Stadt», S. 377

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung David Edwards

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01709-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für J.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen.

Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.

Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

 

Ingeborg Bachmann

I

Lektionen in Vergeblichkeit

Der Urgroßvater war Seefahrer, ansonsten sind keine Sentimentalitäten in meiner Familie bekannt. Mit Träumereien durfte man sich nicht aufhalten. Entscheidungen traf man ungern. Die Geschichten, die man sich erzählte, hatten lustig zu sein. Tränen waren etwas für Sportler bei den Olympischen Spielen und Abschied ein Ritual, das man in geübter Beiläufigkeit vermied.

Die Großmutter war pragmatisch, sogar beim Beten. Zuständigkeitsbereiche von Heiligkeit, etwa Antonius von Padua für Verlorenes oder Sankt Blasius von Sebaste für Halsschmerzen, hielt sie für unnötiges Kompetenzwirrwarr. Sie betete nur zur höchsten Instanz, die würde notfalls schon an die Sektionsleiter delegieren, sagte sie. Das sparte Zeit, und die war ohnehin immer knapp, wie auch das Geld. Einzig für Straßenmusiker hatte sie immer eine Münze übrig. Wenn wir an einem vorbeiliefen, drückte sie mir ein Markstück in die Hand, das ich verschämt in Hüte und Instrumentenkoffer fallen lassen durfte. Wobei der traurige Akkordeonist für seine einarmige Diatonik genauso viel bekam wie die Cellistin für ihre Bach-Suite. Wer sieben Söhne großziehen muss, darf keine Unterschiede machen. Schwärmerei verbot man sich seit Generationen, bei der Partnerwahl war die Erbmasse immer größer als die Liebe. Nur ihr Vater wollte aufs Meer.

Der Urgroßvater entstammte einer Gastwirtsfamilie im Bayerischen Wald. Die Bahnhofsrestauration lag am Endpunkt des Streckennetzes der königlich-bayerischen Eisenbahn. Ein Sackbahnhof, der nur existierte, um das geschlagene Holz wegzuschaffen. Die Grobheit von Natur und Manieren hielt Reisende davon ab, dort Station zu machen: Hier lag das östliche Ende des Landes, die grüne Grenze der Monarchien von Habsburg und Wittelsbach. Das Bahnhofsgebäude, eine Fantasie des Generaldirektionsrats Friedrich Bürklein, war viel zu groß für das kleine Tal, und seine byzantinischen Kolonnaden überragten die Häuser des Dorfes bei Weitem. Steinerne Viadukte führten die einspurige Strecke in diesen bewaldeten Hinterhof des Königreichs, nicht so hochtrabend wie ihre alpinen Pendants, alles eine Nummer kleiner, ein missglücktes Zitat in unausgewogenen Proportionen. In welche Himmelsrichtung auch immer die Geschichte über diesen Ort hinweggefegt war, er war immer nur Rand gewesen, zur Peripherie verdammt für alle Zeit.

Der Wirt nannte seinen einzigen Sohn Franz, und weil in diesem Tal immer nur der Hausname etwas galt, hieß er Bahnhofsfranzl. Auch später noch, als er längst zur See fuhr, blieb ihm dieser Beiname wie ein unangenehmer Geruch. Er wuchs zwischen den verrauchten Tischen der Wirtsstube auf, mit der erlernten Härte einer Mutter, die sich vor den betrunkenen Holzknechten keine Zärtlichkeit erlauben durfte. An der Stirnseite des Gastraumes hatte Architekt Bürklein als Hommage an Byzanz ein großes Mosaik angebracht, vor dem der Knabe immer sehnsüchtig stand. Bücher konnte er nicht lesen, Landkarten schon. In ravennatischer Kunstfertigkeit prangte dort das königliche Eisenbahnnetz, das die böhmischen Wälder mit München, Prag und Wien verband. Das Meer kam nicht vor.

Das Dorf war eine Ansammlung geduckter Häuser, die sich um einen kleinen See gruppierten. Die Straße war nicht befestigt, und bei Regen verwandelte sie sich in eine Schlammpiste. Der Bahnhof stand etwas abseits, ein massiger Fremdkörper, dessen Pilaster aus Juramarmor vor dem dampfenden Wald beinah geckenhaft wirkten. Über allem thronte das Kloster, ein konvertiertes Fürstengut, das Mutterhaus der Dominikanerinnen vom heiligsten Herzen Jesu. Nach lebenslangem Dienst in der afrikanischen Mission sandte der Orden seine Schwestern hierhin zum Sterben zurück, von einem Ende der Welt zum anderen. Bisweilen begegnete man den alten Frauen auf dem Weg zum Dorfweiher. Der Saum ihres immer strahlend weiß gestärkten Habits fing allzu leicht den Schmutz der kleinen Straße ein. Die rhodesische Sonne hatte ihre Haut verbrannt und ihr etwas Echsenhaftes verliehen, und wenn der Bahnhofsfranzl in die uralten Gesichter der Frauen sah, der Zeitgenossinnen von Metternich und Marx, glaubte er, in einem Dorf der Hundertjährigen zu leben. Auf seinen Landkarten zeichnete er die Reiseroute der Schwestern über die Meere nach: Triest, der Suezkanal, die Straße von Mosambik, und ein Gefühl ergriff ihn, das man Fernweh nannte.

Ich bin nur ein einziges Mal dort gewesen. Die Enge, die den Bahnhofsfranzl fortgetrieben hatte, konnte ich nicht spüren. Das Kloster war zu einem Heimatmuseum umfunktioniert, im Refektorium standen alte Dreschflegel, zu Exponaten befördert, die kein Eintrittsgeld rechtfertigten. Hierhin ging man nicht einmal mehr zum Sterben – dafür hatte man in der nahen Kreisstadt ein aseptisches Hospiz in Fertigbauweise errichtet, das sämtliche EU-Richtlinien für Gebäudedämmung erfüllte. Der Bahnhof war immer noch viel zu groß für den Ort – statt Holz verlud man hier nun eine Handvoll Fahrradtouristen im Rentenalter, die sonnengegerbte Haut mit aktivatmender Systemkleidung bedeckt. Die Restauration war geschlossen, im Schaukasten hing ein Stück Speisekarte, das einen scheinbar ewigen Genussmonat März bewarb. Ans südliche Ende des Perrons grenzte der ehemalige Garten. Wilder Holler wuchs durch den Zaun, der Wald hatte dieses gewesene Hindernis längst überwunden. Der Boden war übersät mit verdorrten Fichtennadeln, deren bleiches Braun das Terrain markierte wie auf einer Landkarte. Der kaputte Zaun als letztes Zeugnis des Versuchs meiner Familie, diesen Flecken der Natur abzuringen. An jenem Nachmittag war nichts zu hören als der Wind in den Bäumen. Die Sommerhitze stand im Tal, und es roch nach frisch geschlagenem Holz. Als ich später in Mexiko über die ausgetretenen Steine des Kirchenbodens von San Andrés Larráinzar lief, die für eine Zeremonie feierlich mit Fichtennadeln bedeckt waren, glaubte ich, den Duft jenes stillen Tages im Dorf zu riechen, und ich dachte an die gusseiserne Vergeblichkeit des alten Gartenzauns und an den Bahnhofsfranzl aus Thanried am See.

Geografie ist Vorsehung. Seine unbekannte Sehnsucht führte ihn aus den dunklen Wäldern der Šumava ans Meer. Schon immer hatte er von Wellen und Schiffen geträumt, wo nur Bäume waren. Vielleicht wäre er in anderen Zeiten ein Sänger geworden oder Magellan. Aber das Romantischste, was ihm einfiel, war die kaiserliche Kriegsmarine. Schwimmender Stahl im Chinesischen Meer. So band er sein Sehnen nach der Weite an das, was er zu kennen glaubte – wenn auch nur von Sammelbildern aus den Zigarettenschachteln. Eines Morgens bestieg er den Zug und fuhr nach Norden.

Seine Eltern konnten nicht verstehen, was den Bahnhofsfranzl aufs Meer hinauszog. Sie waren beide noch nicht einmal bis München gekommen – die Geometrie der sie umgebenden Waldwege war ihre Welt. Schwärmereien blieben ihnen fremd – ihnen, die gelernt hatten, mit duldsamer Stoa die Tage zu verleben und nicht Glück, sondern höchstens Trost zu suchen: in dem matten Gold der Seitenaltäre, wo die Schutzheiligen der Dörfer auf Postamenten aus marmoriertem Gips standen, bekrönt von fremden Namen in Kirchenlatein. Milde Königin, gedenke. Obendrein hielt die Mutter nicht viel von militärischem Gepränge, schon gar nicht von Preußen. Der überdimensionale, zweigeteilte Rauschebart des kahlköpfigen Admirals Alfred von Tirpitz, den er mit eitler Sorgfalt über die Schärpe um seinen Pour le Mérite wallen ließ, erschien ihr lächerlich. Wie konnte man mit solchen Zotteln überhaupt arbeiten? Schlimmer noch war für sie der bleiche Kaiser. Ihre Bauernschläue schien durch den polierten Brustpanzer zu blicken, und sie sah ein furchtsames Herz. Einem solchen Kerl zu huldigen, ging ihr nicht ein – sie kniete höchstens vor der seligen Zenzl von Kaufbeuren, wenn ein schweres Gewitter bevorstand.

Die Post kam auf jenem einspurigen Gleis in das Tal und brachte die Briefe aus Montevideo und Kiautschou. Die Mutter machte sich keine Mühe, auf der Weltkarte nachzusehen, wo das lag. Wozu auch, wenn ein Ozean dazwischen war? Die Entfernungen konnte sie ohnehin nicht begreifen. Meridiane waren ihr fremd, sie durchmaß die Welt mit den Füßen, Schritte waren das Metrum ihrer Zeit. Dann kam der Krieg. Über dem Tresen hing eine Fotografie des Bahnhofsfranzl, in Kaisers Rock mit Matrosenmütze und mit einer Pfeife im Mund. Seine nachkolorierten Augen blickten über die gedrungene Wirtsstube, als suchten sie ferne Ufer hinter den klobigen Tischen, an denen abends die Holzknechte ihren Lohn vertranken; als wäre der elende Qualm aus ihren Virginia-Stumpen der Nebel der Geschütze im Skagerrak, durch den sein Schiff in den Kampf pflügte. Und während die Admiräle in ihren Rauchsalons unter düsteren Ölgemälden die großen Seeschlachten beschworen, Salamis, Actium, Lepanto, ertranken ihre Seeleute im Nordmeer, und ihre Schiffe sanken auf den Grund.

Mochten die Uniformen noch an nautische Romantik erinnern, die Schlacht vor der Küste Jütlands war nichts als ein brüllendes Inferno in Dieselwolken, nicht viel anders als die Bombardements der in die Erde gegrabenen Stellungen von Flandern und der Champagne. Dem Bahnhofsfranzl brannten die Augen, und er schrie vor Angst. Krieg war nach vierzig Jahren brüchigem Frieden eine verklärte Jugenderinnerung der Alten gewesen, allenfalls aufgefrischt mit dem Blut der Herero in Afrika. Im Generalstab saßen alte Herren mit langen Bärten und guten Tischmanieren, die Veteranen einer fernen Epoche, und rüsteten sich mit modernen todbringenden Maschinen. Sie waren besessen von antiken Gemetzeln und von Hannibal, entwarfen ihre Pläne nach der Literatur: Bei Titus Livius umfassten die Barkiden ihre Feinde in großen Zangen, also übertrugen sie die Wirkungsgrade von römischen Pferden und punischen Kriegselefanten auf Haubitzen und Maschinengewehre der Firma Krupp. Die Pläne für alle kommenden Kriege lagen fertig in massiven Aktenschränken und wurden an die Nachfolger vererbt, zusammen mit erlerntem Feinddenken. Nicht nur der Krieg, auch der Grund dafür war nur noch eine Erinnerung für die ewig Nachgeborenen. Der traurige Julius Moltke verbrachte sein Leben damit, vom Fenster auf die Rückseite des Reiterstandbilds seines glorreichen Onkels zu blicken, des Siegers von Sedan. Im Schatten von Ruhm und Pferdehintern führte er die Schlachten der Zukunft mit Zinnsoldaten auf Landkarten. Als der wirkliche Blutrausch begann, ging er alsbald in den Ruhestand. Wenn wir schon untergehen, dann wenigstens anständig.

Kurze Zeit später trugen sie in Wien diese alte Welt endgültig zu Grabe. Der greise Kaiser war tot, die Gloriette schwarz umflort, und acht Rappen zogen den Sarg. Der tiefe Glockenton der Pummerin schwebte über der Stadt, die Josephinische Glocke, gegossen aus den eingeschmolzenen Kanonen längst verlorener Kriege, sie hatte mehr als vierzig Jahre geschwiegen, doch nun gaben ihre dunklen Schläge den Takt für das letzte Geleit. Die Trauernden säumten die Ringstraße, Joseph Roth stand dort und auch Bruno Kreisky, er war noch ein Knabe von fünf Jahren und senkte den Kopf, als der Katafalk vorbeifuhr. Dahinter defilierten ein letztes Mal die Herrscher des so langen neunzehnten Jahrhunderts, als wäre es ihr eigenes Begräbnis, lebendig hinter der eigenen Leiche gehend, die herausgeputzte Komparserie eines Stummfilms. Ihre Herrschaftsgeschichte in polierten Ordenszeichen auf der Brust, unter maßlosen Epauletten und Helmbüschen aus weißem Rosshaar. All die Habsburger, Wittelsbacher, Hohenzollern, von denen in zwei Jahren kein Einziger mehr auf seinem Thron sitzen würde.

Als ich mit J. bei Fidel Castros Trauerzug in Havanna stand, dachte ich an diese Bilder: Hinter dem Sarg liefen die ergrauten Revolutionäre Lateinamerikas, aus Bolivien, Venezuela und Nicaragua, alte Männer in weiten Hemden allesamt, wie ein letztes, morbides Klassentreffen. An den Wänden die verblassenden Fresken alter Kämpen wie Che Guevara und Camilo Cienfuegos, längst keine Gegenwart mehr, sondern nur noch Nostalgie, wie das Bild des alten Kaisers im Radetzkymarsch. Dereinst würden sie besichtigt werden wie pompejanische Mosaike, eine Instagram-Fototapete für billigfliegende Tagestouristen. Die Umstehenden weinten und salutierten. Der Malecón war die Ringstraße und die Auffahrt zur Kapuzinergruft. Wer begehrt Einlass? Compañero Fidel, ein armer Sünder. In Havanna ging der letzte Zeitstrang des zwanzigsten Jahrhunderts zu Ende, in Wien jener lange, der das neunzehnte war. Und mochten sie auch noch ein letztes Mal einen neuen Kaiser krönen für ein paar Tage, hieß er Karl oder Raúl, die Ikonoklasten der alten Welt waren bereits unterwegs: Lenin reiste aus dem Exil nach Russland, und am Malecón standen schon die Kräne für ein Trump-Hotel.

Er hatte seine Lektionen in Vergeblichkeit gelernt, der Bahnhofsfranzl. Als die Matrosen auf der Kronprinz meuterten und mit roten Fahnen nach Berlin fuhren, um den Kaiser endlich zum Teufel zu jagen, blieb er an Deck des Schiffs, anstatt auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – die Träume von einer gerechteren Welt waren nicht seine Träume. Er konnte nur an Wellen und Gischt glauben, weil er die dunklen Wälder so hasste, aus denen er gekommen war. Und so blieb ihm am Ende nur, seinem eigenen Traum das letzte Geleit zu geben: Weil der Vertrag von Versailles das Ende der Flotte bedeutete, dampften die verbliebenen Geschwader nach Norden und gingen in der Bucht von Scapa Flow ein letztes Mal vor Anker. Und der Bahnhofsfranzl aus den böhmischen Wäldern blickte über die flache Küste vor South Ronaldsay, und das Archipel der Orkneys lag vor ihm in einer banalen Selbstverständlichkeit, die sein Fernweh nicht zu fassen vermochte. Drei Monate versah er nutzlose Deckwachen und schlug nachts die Glasen, in der Dunkelheit die massigen Schiffskörper der verbliebenen Flotte erahnend, deren Namen er vor sich hin in den Wind murmelte: Prinzregent Luitpold, Kronprinz, König – die Nomenklatur einer alten Welt, die in der Ferne gerade ihr Leben aushauchte. Manchmal, wenn er Landgang hatte, wanderte er alleine über die Insel und sog den Duft der Farne ein. Damit wäre seine Rolle zu Ende gewesen, hätten sich die Deutschen in ihrer tumben Nibelungenhaftigkeit nicht so sehr nach Abgründen gesehnt. Vielleicht hatte der Konteradmiral von Reuter auch nur zu oft Wagners Rheingold gehört – jedenfalls salutierten die Kapitäne in sinnlosem Trotz vor der Welt von gestern und versenkten ihre Schlachtschiffe auf den Grund des Meeres. Der Bahnhofsfranzl öffnete die Flutventile seines Schiffs und ließ den Atlantik herein. Unter den Schmerzenslauten der Tonnage versank der kaiserliche Knabentraum im Nordmeer, darunter auch Seiner Majestät Schiff Kronprinz. Noch vor einem Jahr hatten die Kinder die Bilder dieser Schiffe gesammelt und in Alben geklebt, nun legte sich die See über Decks und Gefechtstürme, im Feuer geschweißt in den hanseatischen Werften, und das Ächzen des Stahls drang über die nächtliche Bucht von Scapa Flow. Als die britischen Bewacher bemerkten, was vor sich ging, eröffneten sie das Feuer auf die Schiffe, und der Große Krieg forderte noch einmal Menschenopfer – neun Monate nach seinem Ende.

Als man den Bahnhofsfranzl aus dem Gefängnis auf der Insel entließ, brachte ihn ein Fischerboot auf das schottische Festland, und er passierte bei Ebbe ein letztes Mal das Seegrab der Kronprinz. Die riesigen Schornsteine ragten aus den Wellen, und die Korrosion überzog den Stahl bereits mit einer orangen Reptilienhaut. Weil er nicht wusste, wo er hinsollte, stand er eines Tages wieder auf dem Perron vor der Bahnhofsrestauration seines Vaters, deren Namen er trug. Das königliche Wappen war heruntergeschlagen, die Eisenbahn fuhr nun ohne monarchischen Zusatz in einer Republik, deren letzter Herrscher sie fluchtartig im Automobil verlassen hatte. Für einen Tag hatte über dem Wirtshaus sogar die Rote Fahne geweht. In München riefen die Literaten die Räterepublik aus. Lenin schickte eine Depesche aus Moskau und grüßte seine Genossen in Sowjetbayern, weshalb der Pusl Schosch aus Roding vorschlug, jetzt doch auch irgendetwas zu wählen. Marx hatte er nicht gelesen, und auch Kolchosbauer wollte er keinesfalls werden. Irgendjemand müsse aber den Chef machen, befand er, auch in solch einer neuen Räterepublik. Die Bauern und die Holzknechte trafen sich in der Wirtsstube und bestimmten den Bahnhofswirt zu ihrem Vertreter. Sie hängten eine Rote Fahne neben die bestickte Ehrenstandarte des Leibschützenregiments und tranken acht Flaschen Marillenschnaps auf das Neue. Am nächsten Morgen brachte der Sternecker Sepp die Zeitung aus München, in der vom Ende der Räterepublik und der Wiederherstellung von Recht und Ordnung geschrieben wurde. Der Bahnhofswirt hängte die Rote Fahne ab und verstaute sie im Kartoffelkeller. Niemand verlor mehr ein Wort darüber. Böhmen war am Meer gelegen, für eine kleine Weile.

Nach seiner Rückkehr heiratete der Bahnhofsfranzl, was trotz seines irreparablen Rufs als Träumer keine große Schwierigkeit war – alle jungen Männer des Dorfes lagen in flandrischen Gräbern. Zur Hochzeit stutzte er seinen Bart und trug einen zivilen Zweireiher. Als die Großmutter zur Welt kam, lebte er nicht mehr lange. Der Bezwinger des Skagerrak ertrank an einem Sonntagnachmittag beim Schwimmen im Dorfweiher zu Füßen des alten Klosters. «Hitzschlag», sagte der Pferdedoktor aus Bruck. Weil niemand den Leichnam bergen wollte, beschloss der Bürgermeister, es als Seebestattung zu deklarieren. Das wäre sicherlich auch im Sinne des Bahnhofsfranzl gewesen, behauptete er und machte die Sentimentalität auch aktenkundig. Die Glocken des nahen Klosters läuteten durch das Tal, und die uralten Nonnen standen mit Kerzen in den Fenstern und blickten hinunter. Die Bewohner des Dorfes warfen Blumen in den See, dessen Oberfläche so glatt war wie polierter grüner Marmor.

J. war die Einzige, die mich in meiner seltsamen Zuneigung zum Bahnhofsfranzl verstand. Immer wieder ließ sie sich davon erzählen. Eines Tages malte sie diese Geschichte als Bild und schenkte sie mir. Unter einem Firnis und unzähligen Schichten aus blauem Acryl lagen das Meer und auch der Wald. Wann immer Freunde oder Gäste ratlos vor dem Bild standen und nichts anderes sahen als das Blau, dann lächelte sie nur, als machte es ihr Freude, ein Geheimnis zu verwahren. Sie verstand es nur zu gut. Ihr Großvater war fürstlicher Leibjäger in den Alpen gewesen. Als sich das Rotwild in einem bitterkalten Winter in den Bergwäldern zum Sterben niederlegte, lief er mit einem Dutzend Knechte hinauf und trug die Hirsche und Kühe hinunter ins Tal, wo er sie in Ställen und Heuschobern durch den Winter brachte. Im Frühjahr ließ er sie frei, um sie im Herbst dann auf der Jagd zu erschießen. Diese brutale Vergeblichkeit rührte mich immer an. Es wäre mir niemals eingefallen, darüber zu spotten. Wir wussten beide, was es hieß, einer verlorenen Sache anzuhängen.

II

Eine verlorene Sache

Der Herbst ist ein Meister aus Deutschland. Nicht nur wegen Mogadischu oder Gudrun Ensslin, sondern vor allem wegen dieser botanischen Vergänglichkeitsmelancholie der Romantik. Wo Schiller noch mit Armeen in der Faust um die Liebe kämpfte, bevorzugte man nun das Besingen des Verlusts, den Blick nur noch zurückgerichtet. Einsame Schwermut in verwelkender Kulisse, die Verlorene Sache als herrschende Ideologie. Mit künstlichen Ruinen und erfundenem Mittelalter kann ich nicht viel anfangen, aber wenn ich mir in meinen Ängsten den Abschied von J. ausgemalt hatte, dann war es immer Herbst gewesen.

Doch es ist Februar, am Todestag der Großmutter. Der Kapitalismus rückt dem alten Friedhof auf den Leib und umschließt ihn mit einem Kordon von Autohäusern und Baumärkten aus Wellblech. Das einst so dichte Spalier der Gräber lichtet sich immer mehr, die Endgültigkeit des Todes scheint nichts gegen auslaufende Mietverträge. Vor der Aussegnungshalle steht eine Abordnung Blechbläser der Knappschaftskapelle. Ihre Intonation kämpft gegen die Amberger Feuchte und schleppt die brüchigen Stimmen der Alten durch den Choral. Wir sind nur Gast auf Erden. Vor dem Grab der Großmutter versammeln sich Menschen, deren Gesichter ich nicht kenne. Es sind die Namen aus den Geschichten meines Vaters, ein inzwischen hüftsteifes Defilee. Die roten Nelken, die ich auf das Grab lege, werden morgen erfroren sein. Der Winter hat dem Herbst längst die Farbe entzogen, und die entlaubten Bäume stehen wie Scherenschnitte in der Dämmerung, als ich den Friedhof verlasse, um zurück nach Marienstein zu fahren. Dann klingelt mein Telefon.

 

Der Weltuntergang kommt mit dem Zug aus Antwerpen, und er kommt morgen. Als J. mich anruft und mir sagt, dass wir sprechen müssen, bleibt mir mein müder Witz über das Klischee im Halse stecken. Das Sachliche verbietet bereits der Anrede die Zärtlichkeit. Ich höre Entschlossenheit in ihrer Stimme und weiß, dass es keinen Kampf mehr geben wird, nur noch Vollzug.

Ich habe Routine bei Abschiedsszenen, habe Dutzende von ihnen mit Musik unterlegt. In Filmen, versteht sich. Die Kompositionslehre gliedert die Emotionen mathematisch in einem Periodensystem der Schwermut. Für Abschiede empfiehlt sie g-Moll, die Königin der Traurigkeit. Oder c-Moll, pour tous les sujets lamentables. Die Instrumentierung unterliegt dem Zeitgeist. Trotzdem werden es am Ende meistens Streicher. Con sordino. Ich habe nur ein Klavier. Und für meinen eigenen Abschied habe ich die Worte noch nicht gefunden.

Der Flügel heißt Alfonsito und kommt aus Leipzig. Trotz seiner großbürgerlichen Erscheinung hat er eine untadelige sozialistische Herkunft aus dem VEB Piano Union, wie die Intarsien des Deckels verraten. Ein staatenloses Klavier aus einem verschwundenen Land. Wenn man ihn öffnet, riecht es nach Zedernholz wie das Deckblatt in einer Zigarrenkiste.J. sagte immer, dies sei ein verkapptes Geschenk der kubanischen Gastarbeiter gewesen, deshalb nannte sie den Flügel Alfonsito. Ich hatte für Depardieu oder Oblomow plädiert, was mir angesichts von fünfhundert Kilogramm Gewicht passender erschien. Aber J. blieb hartnäckig bei ihrem Namen, bis mich die Gewohnheit überstimmt hatte. Und das Vorschlagsrecht lag nicht umsonst bei ihr: Sie hatte den Flügel bei eBay Kleinanzeigen von einem jähzornigen Schrotthändler erfeilscht, hatte ihn umgarnt und charmiert, bis er ihn uns am Ende schenkte. Als wir das Klavier im überladenen Kleintransporter über die Autobahn fuhren, war ihr Gesicht gerötet vor Stolz. «Da hast du dein Salonmöbel», sagte sie und grinste.

Sie mochte es, neben Alfonsito zu sitzen. Ganze Abende ließ sie mich immer wieder Chopin spielen, Fantaisie-Impromptu, und ich bekam es kein einziges Mal fehlerlos hin. Der Raum verwahrt ihre Geschichte, ihre Bilder an den Wänden. Bisweilen, wenn sie länger fort war, versuchte ich, Gegenstände für ihre Rückkehr zu inszenieren. Ich drapierte einen bretonischen Krug, den sie mochte, oder eine kleine Schale mit Zitronenkeksen. Ließ ein bestimmtes Buch offen liegen, um von ihr bemerkt zu werden. Ich frage mich, was ich heute noch tun könnte, um eine warme Erinnerung in ihr zu wecken, aber ich fürchte die Antwort so sehr, weil sie die Erkenntnis bergen könnte, dass ich damit alleine bin. Ihre Nostalgie scheint aufgebraucht.

Es gibt nur mehr eine Flasche Wein im Haus, und das ist unglücklicherweise der untrinkbare Riesling aus dem südpfälzischen Weinberg meines Onkels Theo, eines stolzen Vertreters des teutonischen Glykolismus. Offenbar ziemt sich die Önologie als Hobby für gestresste Manager, doch sein Wein erinnert mich immer etwas ungut an eine dumpfe Rheinpromenade, an große Schoppen und die zweite Strophe des Deutschlandlieds.J. fertigte ihm eine Radierung, die er auf die Etiketten drucken ließ, was die plumpe Bouteille Schweighofener Kirchhöhe seltsam anmutig aussehen ließ. Wir verwendeten den Wein immer als Gastgeschenk bei unliebsamen Anlässen und freuten uns kindisch über die fachmännischen Lobpreisungen. Vielleicht ist es ja sogar passend, dass ich am Ende diesen Kelch selbst leeren muss.

Ich wurde in einer katholischen Bischofsstadt geboren, auf den Ausläufern des Jurameeres im Mesozoikum, an einem langsam mäandernden Fluss. Dem stark übergewichtigen Fürstbischof Johann Anton erschienen die häufigen Dienstreisen nach Rom allzu beschwerlich, doch das Ultramontane gehörte zum Berufsbild. Außerdem war bereits im achtzehnten Jahrhundert, lange vor dem Aufkeimen des Tourismusmanagements, die unselige Phrase von der nördlichsten Stadt Italiensauch beim Klerus en vogue. Also lockte Johann Anton den lombardischen Baumeister Maurizio Pedetti nach Bayern, um dort in der Provinz eine begehbare Passionsspielkulisse aus Marmor zu errichten, ganz im Sinne seines biblischen Wappenspruchs: Jeder lebe so, wie Gott ihm zugeteilt, Klassismus aus dem ersten Korintherbrief. Vor der viel zu pompösen Residenz steht ein Brunnen, auf dem ein steinerner Neptun eine Gruppe verängstigter Nymphen mit Wasser übergießt. Davor verabredeten wir uns das erste Mal.

Der Winter nimmt keine Rücksicht auf den Barock und macht aus der nördlichsten Stadt Italiens die südlichste Schottlands. Noch zwanzig Stunden. Es ist wie der Abend vor der Schlacht. Als ich das Haus verlasse, hat es zu dämmern begonnen. Die Kälte legt sich auf mein Gesicht. Morgen kommt sie, und dann wird es das Ende sein. Dann wird sie die Worte sprechen und das vollziehen, was wir längst ahnten und was ich fürchtete, seit dem ersten Tag, als ich sie traf. Es ist mein letzter Abend vor dem Ende, und ich dehne die Zeit, als vermochte ich so, diese gescheiterte Liebe zu verlängern, als bestünde sie noch bis morgen wie ein gültiger Vertrag. Ich brauche den Herbst nicht zu suchen. Es scheint, als wolle er mich finden.

Ich starre auf die Wand hinter dem Flügel namens Alfonsito, wo das blaue Bild vom Bahnhofsfranzl in Acryl hängt, das sie mir geschenkt hat. Trotz beginnt sich zu regen. Ich bin Empfänger einer Nachricht, die ich nicht hören möchte. Und wenn ich es schon nicht verhindern kann, dann will ich das Nichts wenigstens nach meiner Façon: Wenn ich keine Wahl mehr habe, dann will ich davonlaufen und anrennen gegen die Zeit.

Vielleicht wäre es besser, sich zur Fremdenlegion zu melden. Aber da virile Gewalttaten nicht meine größte Stärke sind und es vermutlich kein Képi in meiner Hutgröße gibt, beschließe ich, nach Nordkorea zu fahren. Heute Nacht noch, um J. nicht mehr zu begegnen.

 

Wenn Bruce Chatwin damals Internet gehabt hätte, wäre er nie nach Patagonien gefahren. Eine halbe Stunde Recherche tötet jeden romantischen Impuls, man fährt nicht nach Nordkorea, man wird hindurchgeführt: vierzehn Tage Rundreise mit Vollpension, die letzte Studienfahrt für pensionierte Geschichtslehrer. Dazu kommen wochenlange Wartezeiten auf das Visum, der Pädagoge im Ruhestand plant offenbar gerne weit im Voraus. Nur eine einzige etwas dubiose Seite gibt Anlass zur Hoffnung, Blue Frontier Travel, das Reisebüro von zwei britischen Expats in Peking: Dan und Yani sehen eher so aus, als läge ihre Expertise bei Surfbrettern und Pazifik. Doch statt Byron Bay ist ihr Angebot das kondensierte Abenteuer mit Packliste: eine Woche Nordkorea, die schnelle Auszeit vom Kapitalistischen Realismus, zwischen zwei Projekten oder nach einer langen Beziehung. Dazu versprechen mir Dan und Yani ein Visum in nur zehn Tagen, unbürokratisch und schnell, persönliche Übergabe am Bahnhof von Peking, direkt vor Abfahrt des Zuges nach Pyeongyang.

Es wäre machbar, denke ich, wenn ich mit dem Zug nach Peking fahre: erst nach Moskau, dann weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn, das erkauft mir die Zeit für das Visum. Wenn es denn überhaupt echt ist und nicht irgendeine betrügerische Masche, vielleicht rangieren falsche Nordkoreareisen längst gleichauf mit dem Erbe nigerianischer Prinzen. Es wirkt alles bestenfalls halbseiden, die Website, die flapsigen Sprüche und die Selfies von Hipster-Pärchen vor Kim Il-sungs Marmorstatue: achtundvierzig Fotos zufriedener Kunden. Aber entweder ich fahre jetzt, oder ich fahre gar nicht. Mich in einem menschenleeren Grandhotel in Ligurien vor J. zu verstecken oder an irgendeinem Strand auf der Südhalbkugel, das ist keine Option. Und ein letztes Gespräch mit Abschiedsfloskeln und «Lass uns Freunde bleiben» noch weniger. Ich buche die Classic Standard Tour, drücke auf Bezahlen, überweise Dan und Yani ein Monatsgehalt ins Blaue, erwarte schon, von irgendwoher schallendes Gelächter zu hören, doch es kommt nur eine computergenerierte Bestätigungsmail.

Auf der Landkarte fahre ich mit dem Finger die Strecke ab, von dem kleinen Haus in Marienstein über Moskau, Sibirien, Peking bis nach Pyeongyang. Die Einsamkeit per Platzkarte. Es könnte gehen, sage ich mir. Ich habe keine Bilder von diesem Land, zumindest keine wahrhaftigen. Aber ich hoffe, dass es anders ist als jene mir nur allzu gut bekannte Schwermut von alteuropäischem Möwengekreisch und lisboetischer Saudade, vor der ich fliehen will. Vielleicht ist es auch das Klischee von jenem Grau, das mich anzieht – ich möchte keine Sonnenuntergänge auf bleichem Marmor mehr sehen. In meiner Fantasie werde ich bereits als Dissident verhaftet, und J. hört meinen Namen in den Abendnachrichten. Ich stelle mir vor, wie sie bangend vor dem Fernseher sitzt, der letzten Worte für alle Zeit beraubt. Würde das etwas ändern? Ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, weil ich Angst habe, die Tagesschau könnte meinen Namen falsch aussprechen.

Die Großmutter hatte sieben Söhne. Bei der Namenswahl hatte sie auf jegliche Emotionalität verzichtet und in ihrem legendären Pragmatismus lediglich in den Kalender geschaut. Vermutlich war ich der Erste, dessen Name aus einer Art von Sentimentalität vergeben wurde, wenngleich auch in ideologischer Uneinigkeit. Die Mutter forderte, in ihrer Funktion als Schriftführerin der örtlichen K-Gruppe, einen politisch korrekten Kampfnamen, während der Vater aus altphilologischem Ethos auf griechisch-römisch bestand. Nachdem die Mutter Aeneas und Nestor erfolgreich als reaktionären Kitsch abgeschmettert hatte, einigten sie sich in sozialdemokratischer Pädagogentradition auf Fidelis, weil so beide ihr Gesicht wahren konnten. Die Mutter kannte die Last der Namen, sie selbst trug den ihrer Großmutter.

Ich weiß um meine Verwundbarkeit bei Sentimentalitäten, obwohl ich die Sprache der Ironie erlernt habe. Ich bekomme feuchte Augen bei linken Parteitagsreden, wenn der Antifaschismus beschworen wird – egal wie unbeholfen die Rednerin sein mag. Es ist die vergebliche Ernsthaftigkeit, die mich rührt. Wie bei den Liedern der Mutter, wenn sie abends alleine mit ihrer Gitarre gegen die innere Verhärtung ansang. We are the children of the Eighties von Joan Baez, damals schon in Würde ergraut und müde von den verlorenen Kämpfen, doch sie lieh der Mutter ihre gebrauchte Zuversicht. Wir waren die Spätgeborenen des Jahrhunderts, und die Mutter kämpfte nach der Arbeit unermüdlich gegen die Ernüchterung. Später sang sie nicht mehr, sondern kaufte sich eine Getreidemühle.

Bevor ich aufbreche, klappe ich Alfonsitos Klavierdeckel zu. Ich packe den Rucksack, das alte, lederne Ding aus der Stadt über den Wolken, das Nötigste nur. An seiner Seite kündet eine Narbe von einem glücklichen Tag in einer Landschaft mit unbegehbaren Bergen, sie ist für jeden sichtbar, aber nur J. kennt ihre Geschichte. Ob sie diesen Tag noch erinnert?

Die verlorene Sache. Ich rufe meinen Freund Gabriel in Moskau an. Es ist bereits Mitternacht dort, und ich sage, dass ich auf dem Weg zu ihm bin. Dann schalte ich das Telefon aus, um für J. und auch den Bratschen-Hubert nicht mehr erreichbar zu sein. Wenn ich jetzt aufbreche, verabschiede ich mich aus der Gleichzeitigkeit. Vielleicht ist der Gedanke nicht besonders schlau, aber er wärmt.

Ein Gemälde kommt mir in den Sinn, ein schwülstiger Ölschinken von einem Maler namens Cederström, das in einem alten Buch im Bücherschrank meiner Eltern abgedruckt war und das ich als Kind immer wieder hervorholte, weil mich die Dramatik der Szenerie so gefangen nahm: Die Heimfahrt der Leiche Karl XII. Durch eine Eiswüste des Nordens wälzt sich ein geschlagener Heerbann bis zum Horizont, eine zerlumpte Karawane kriegsmüder Soldaten, die ihren gefallenen König heim nach Schweden tragen. In einer lebensfeindlichen Umgebung aus Eis und Schnee wahren sie ein seltsames Protokoll und halten den toten Karl auf ihren Schultern, als wären sie die Prozession der letzten Goten am Vesuv. An den Felsen hängen große Eiszapfen wie gefrorene Tränen, die Stalaktiten einer versunkenen Welt. Der Bannerträger kann das Panier kaum halten, weil es viel zu groß ist und der Nordwind daran zerrt wie an einem Segel. Und allen voran schreitet ein einsamer Offizier, der in zeremonieller Nutzlosigkeit einen blank gezogenen Säbel in der Rechten trägt.

Der Frühling lässt auf sich warten, und ich breche auf in den Winter und das Eis. Und obwohl ich weiß, dass Liebeskummer und ein Lederrucksack noch keinen Chatwin machen, hinterlasse ich ihr nichts als ein Stück Papier an der Türe: Bin nach Pyeongyang gefahren.

III

Auf verlorenem Posten

J. hatte die alte Haustüre blau angestrichen. Sie war damit nicht ganz fertig geworden, die Farbe war ihr am Ende ausgegangen. Das linke untere Eck an der Innenseite blieb frei, dort schaute noch das alte Rotbraun hervor wie die undeutliche Ahnung eines anderen Sediments der Geschichte, die abgestoßene Farbschicht aus dem Baumarkt von Marienstein, die der Vater früher alle drei Jahre mit soldatischer Akribie erneuert hatte. Bin nach Pyeongyang gefahren. Ich hätte ihr den Zettel auch auf den Küchentisch legen können oder auf den Flügel. Doch ich weiß, dass J. die Türe nicht mehr öffnen wird, obwohl sie einen Schlüssel besitzt.

Unser Haus, das war es nie gewesen. Mein Haus, auf dem Papier vielleicht. Das Haus meiner Eltern, das war es nicht mehr. Das Haus meiner Kindheit, das trifft es am besten, und ich verlasse es zum zweiten Mal.

Es war das Haus meiner Eltern gewesen, doch Elternhaus, dieses Wort wäre mir nie über die Lippen gekommen. Elternhäuser kannte ich nur von Leuten, die damit ein Seegrundstück mit langer Auffahrt meinten, Einträge in Denkmalschutzlisten, zweiflüglige Türen und schwere Teppiche, Stillleben von Weintrauben und rotem Fleisch und im Treppenhaus die Galerie der verblichenen Hausherren. In Wien hatte ich einige Kommilitonen mit solchen Elternhäusern gehabt, das war eine Nebenwirkung des Kompositionsstudiums. Manchmal war ich auch dorthin eingeladen gewesen, an den Mondsee, ins Weinviertel oder in ein pannonisches Prunkhaus mit Esterházy-Plakette am Hoftor. Die Eltern lebten noch darin, hießen Alfred, Gisbert oder Theresa und schienen wie selbstverständlich mit dem Inventar verwachsen, als hätten sie mit der Zeit die Farben der Wandvertäfelungen und Sitzbezüge angenommen. Sie stellten teuren Wein auf den Tisch und setzten sich weltläufig zu den Studienkollegen ihrer Kinder, «ach, Sie sind der mit dem Klavier, wir haben uns ja schon bei Wolfgangs Soiree kennengelernt, die Solistin war ganz wunderbar, finden Sie nicht?» Das Gespräch war angenehm, doch irgendwann kam immer die Wendung: «Wenn Sie mögen, wir suchen noch einen Pianisten für unser Sommerfest. Da kommt dann auch der Landeshauptmann mit Gattin, ein netter Job für Studenten, wäre das nichts für Sie?» Die Gönnerhaftigkeit kam so kultiviert daher, aber sie verletzte immer noch. Ich leerte den Wein und kam nie wieder. Auf dem Rückweg nach Wien dachte ich an den graubraunen Teppichboden im Haus meiner Eltern. Dorthin lud man niemals jemanden ein, zu keiner Zeit.

Die Eltern hatten keine Erbstücke besessen, es gab ein paar Möbel aus ihrer Studentenzeit, ansonsten begann die Geschichte in den Achtzigern neu, als spielten all die verlorenen Orte in den Geschichten ihrer beider Vorfahren keine Rolle für sie. Es hingen keine Familienfotos an den Wänden. Sie hatten auch niemals gemeinsam in Wohnzeitschriften geblättert, versucht, ihre Träume in Mörtel und Ziegel zu übersetzen. Es war ein Haus, es hatte sie zwar beherbergt, aber niemals verkörpert. Es war einfach zum richtigen Zeitpunkt frei geworden, angemietet über viele Jahre, dann irgendwann erworben, als sich die Möglichkeit dazu ergab.

Der Gebietsdirektor der Raiffeisenbank Marienstein war ein kleiner Mann mit auberginefarbenem Schnurrbart, der Wittmann Toni, genannt Donerl, der trotz Anzug und Einstecktuch immer wie eine textile Verlängerung des Teppichbodens in der Bankfiliale aussah: blaugrau und seltsam fusselig. Er las in Kontoauszügen wie in einem Buch, aus den Markennamen und Orten formte er die Lebensläufe der Menschen in seinem Kopf, wie oft wurde Bargeld im Ausland abgehoben, welche Tageszeitung im Abo, wie oft zahlte man beim Essen mit der Karte, eher beim Italiener oder eher beim Griechen, so entschied er über Kreditwürdigkeit. Die Eltern saßen ihm gegenüber, die Handflächen schwitzig vor Aufregung, er blätterte durch ihren Kreditantrag, in genussvoller Langsamkeit, mit der Macht des Sachbearbeiters. Einmal, ein einziges Mal, hatte er einen großen Auftritt gehabt, zum zweihundertjährigen Jubiläum der Schlacht von Marienstein, wo Napoleon eine österreichische Reiterschwadron in die Flucht schlug, die sich im Nebel verirrt hatte. Dieses weltgeschichtliche Ereignis feierte man mit einem Festumzug, da setzte man den Donerl, den all die Jahre gehänselten Zwerg, auf ein Pferd und ihm einen Zweispitz auf, und aus dem Filialleiter wurde Napoleon Bonaparte, für einen Tag. Da thronte er auf dem gemieteten Rappen vom Reiterhof Strobl, war sich der Bedeutung des Moments bewusst, der ihn würde einziehen lassen in all die noch zu druckenden Festschriften und Ortschroniken, in denen die Kinder der Zukunft ihn aufrecht auf diesem riesigen Pferd erspähen würden. Insgeheim hoffte er, der Name Napoleon würde an ihm haften bleiben, als Spitzname beim Schafkopf oder beim Volksfest, servus, Napoleon, er würde dann grüßend den Finger an den unsichtbaren Hut legen, doch es war nur ein rauschhaftes Wochenende. Als der Umzug vorbei war, am Montag danach, trug er wieder sein Teppichbodensakko, und er wurde wieder zum Donerl, der er immer gewesen war. Die Eltern bekamen den Kredit für das Haus, und für uns als Familie gab es fortan keine Flugreisen und keine Übernachtungen in Hotels, dafür zu Weihnachten eine Grußkarte von der Kreditabteilung der Raiffeisenbank Hallertau-Jura.

Es war kein besonderes Haus. Den Plan hatte kein Architekt gemacht, sondern ein Bauzeichner aus dem Nachbarort, der dafür in fleischigen Naturalien bezahlt worden war. Zuletzt hatte es einem frühpensionierten Realschullehrer gehört, der sich mit der Miete sein Leben auf Samothraki finanzierte. Irgendwann wollte er dort in eine Ölmühle investieren, so kamen die Eltern zum Haus. Es war ein unscheinbares Gebäude mit Satteldach, in den Jahren nach dem Krieg aus dem gemauert, was gerade da war. Die Wände waren dünn, und in den Zwischenböden steckte Stroh, weshalb man jeden Schritt im ganzen Haus hörte. Später, als ich ausgezogen war, leisteten sich die Eltern nicht nur einen Hund, sondern auch einen neuen Holzboden, für dessen Existenz sie immer glaubten, sich rechtfertigen zu müssen. Als der Kredit nach fünfzehn Jahren abbezahlt war, gab es eine Einladung zum örtlichen Italiener in Marienstein, sie prosteten sich mit Apfelschorle zu, der Vater aß kalte Vorspeisen, die Mutter Salat, so war es immer gewesen. Später wurde der Grund in der kleinen Stadt teurer, die Häuser größer, die neu gebauten Nachbarhäuser pressten sich an die Grundstücksgrenzen wie adipöse Kinder in zu enge Kleidung, in dieser veränderten Umgebung, zwischen überdimensionalen Garagen und versteinerten Vorgärten, wirkte das Haus in seiner schmucklosen Schlichtheit mit einem Male stilvoll und wohlproportioniert.

Die Nachbarn von früher waren längst aus ihren Häusern hinausgestorben. Auch der alte Kauz von nebenan, Kurt Hirsch hieß er, als Kind hatte ich Angst vor ihm gehabt. Er schoss manchmal mit einer Schrotflinte auf die Baumstümpfe in seinem Garten, das Blei sollte verhindern, dass sie neu austrieben. Die Holzverkleidung seines Schuppens strich er jedes Jahr neu mit Altöl, bis er von der Leiter fiel. Er erzählte seltsame Geschichten, er sei auf der Flucht vor der Stasi, die hätten ihn bis nach Australien verfolgt. Auch sein Sohn habe ihn umbringen wollen, das Komplott habe er im Halbschlaf belauscht, trotzdem kam der Sohn alle vier Wochen zu Besuch, wir sagten Leichenwagen zu seinem Auto, ein schwarzer Saab mit Münchner Kennzeichen, der aussah, als wäre auch er mit Altöl gestrichen worden. Nach dem Tod des Nachbarn fand man unter dem kleinen Schuppen einen Keller voller Spiritusfässer, mehrere Tausend Liter. Das Bombenkommando rückte an und räumte das Haus, «die ganze Straße hätte er in die Luft jagen können», sagte der Kreisbrandmeister und zog an seiner Zigarette. Warum der Herr Hirsch die ganze Straße hätte in die Luft jagen sollen, sagte uns niemand. Man fand auch keine Hinweise auf seine politische Gesinnung. Nur in seinem Schlafzimmer waren sorgsam ausgeschnittene Bilder an die Tapete geklebt: Sexszenen aus Trucker-Zeitschriften, muskulöse Männer mit geölten Körpern. Über deren lustvoll verzerrte Gesichter hatte er Fotos von seinem eigenen Kopf geklebt, analoges Pornokino vor dem einsamen Schlaf, Kurt Hirsch in allen Stellungen, immer mit dem gleichen verkniffenen, schmalen Mund. Das Haus wurde abgerissen, und an seiner Stelle entstand der Lebenstraum zweier Ingenieure mit vierzehn Monatsgehältern, Smart Home, neun Zimmer, mit Hobbyraum. Das klinisch saubere Entree ließ die Vermutung zu, dass die Sexualität an diesem Ort mit der Kurt-Hirsch-Tradition brechen und fortan ähnlich aseptisch stattfinden würde.

Es war bloßer Zufall, dass die Eltern in diesem Ort gelandet waren. Sie hatten sich nicht für die leicht heruntergekommene Altstadt interessiert, auch nicht für die liebenswerte Lebensart der Einheimischen, die der Bürgermeister in seinem weihnachtlichen Infobrief beschwor, oder für das reiche Angebot an Fachgeschäften und Einkaufsspaß (laut der Infobroschüre des Werbekreises Marienstein). Auch die umgebende Landschaft war nichts Besonderes, flurbereinigte Geometrie und pflegeleichte Natur. Es war einfach die geografische Mitte zwischen dem Dienstort des Vaters und dem Studienort der Mutter gewesen. Der Pragmatismus dieser einen Entscheidung hatte ihr ganzes Leben bestimmt, niemals hätten sie sich später zum Vergnügen einen anderen Ort zum Leben ausgesucht, mit besserem Wetter, schönerer Aussicht oder noch reicherem Angebot an Fachgeschäften und Einkaufsspaß. Und selbst wenn sie es gewollt hätten, gab es immer genug Gründe, es nicht zu tun. In all diesem Pragmatismus wäre auch J. niemals vorgesehen gewesen.

J. war ebenfalls in einer Kleinstadt aufgewachsen, eine Stunde weiter nördlich, am Rande eines Truppenübungsplatzes. Hier probte die NATO für den Ernstfall, Manöver Swift Revenge, Afghanistan im Oberpfälzer Fichtenwald. Schüsse hallten durch die Nacht, der Boden bebte unter den Ketten der schweren Fahrzeuge, Detonationen ließen die Fensterscheiben zittern. Ihr Vater war amerikanischer Soldat gewesen, als Koch im Irakkrieg, insgesamt dreißig Jahre Mac and Cheese. Ihre Mutter arbeitete als Sekretärin in der Verwaltung, dem CSU-Bürgermeister gefiel es, ihren amerikanischen Nachnamen laut auszusprechen, «bitt’ schön, Frau Connell», das gab ihm das Gefühl, als stünde er auf dem Teppich des Oval Office und nicht auf dem Linoleumboden des Dienstzimmers von Hohenfels. Das Erste, was J. malte, war das Haus ihrer Eltern. Es lag am Rande einer Waldsiedlung aus den Sechzigern, schwarze Dächer, die Giebel mit braunem Holz verkleidet. Ich war der Erste, den sie jemals mit dorthin nahm. Für viele Jahre.

Ich kenne niemanden, der so malen kann wie J. Vor einem halben Jahr war sie durch die Aufnahmeprüfung der Akademie gefallen, zum zweiten Mal. Seither war etwas in ihr zerbrochen. Ihre Bilder waren immer noch die gleichen, aber sie wusste: Solange sie nicht an dieser Akademie studierte, würde sie niemand in ein Elternhaus einladen, würde kein gepflegter Samtwestenträger nach ihrer Herkunft fragen, «wie kommt man mit diesem Hintergrund dazu, solche Bilder zu malen?», und am Ende des Abends dann diskret den Kauf abwickeln; als Genmaterial für den Enkel wäre sie nichts, aber doch zumindest eine nette Geschichte, die Tochter eines Kochs bei der US Army und einer bayerischen Gemeindesekretärin, «da spürst du richtig diese existenzielle Tiefe, mit diesem Hintergrund, sehr beachtlich, das muss man doch unterstützen».

Ich hatte vergeblich versucht, ihr die Sehnsucht nach diesen Erfahrungen auszureden. Sie war davon überzeugt, sie machen zu müssen. Ich wusste, dass das Haus meiner Kindheit, das Haus ohne Eltern, keine Möglichkeit für sie war. Aber ich hatte gehofft, es könne ihr ein Schutz sein, ein künstlicher Hafen für eine kleine Weile. Wie damals, als wir gemeinsam in den Nebelwäldern des lakandonischen Hochlandes saßen, wohin sich die Zapatistas zurückgezogen hatten nach der gescheiterten Revolution in ein Biwak der ewigen Geduld. Sie nannten ihre neue Heimat Caracoles, Schnecken, und sie machten die Schnecke zu ihrem Wappentier. Eine bebrillte Schnecke, klein, langsam, mit Fühlern statt Fäusten, das war bemerkenswert, nicht nur im Vergleich mit den martialischen Adlern und sonstigem heraldischen Geflügel, sondern auch mit den roten Sternen der vorangegangenen Revolutionen des Jahrhunderts: Fragend schreiten wir voran. Wir sahen nur ihre Augen, sie nahmen ihre schwarzen Sturmhauben nicht ab, nicht einmal zum Rauchen. Nur die Kinder waren nicht vermummt, sie spielten mit zwei wilden Hunden auf der Wiese unterhalb des Tores. Die kleinen Häuser waren bunt bemalt, und über der Schule stand Die Algebra der revolutionären Erziehung ist die Dialektik. Vielleicht eine bessere Kinderstube als manche der Elternhäuser mit Vestibül und Ahnengalerie.

In Stein gebaute Träume gehen oft fehl. Nach dem Sieg der Revolution baute sich Fidel Castro keinen Triumphbogen, nicht einmal eine Straße erhielt seinen Namen. Er hätte ein Zeppelinfeld bauen können oder einen Führerpalast, wahlweise in Neuer Pyeongyanger Sachlichkeit oder im Stil der Braunauer Schule. Stattdessen baute er in Havanna eine Eisdiele, Coppelia, einen Pavillon mit einem kleinen Park, an die Straßenecke von La Rampa, wo die lange Avenue von der alten Nekropole aus weißem Marmor hinunterläuft und steil zum Meer abfällt. Wobei Eisdiele eine ziemliche Untertreibung ist für diese Kathedrale, ein Palast für sechsundzwanzig Geschmackssorten, gebaut im steinernen Optimismus der Zeit mit demselben Pathos, mit dem Niemeyer Parlamente und Gerichtssäle baute.

Am Tag nach Fidel Castros Beerdigung war die Schlange vor Coppelia zwei Straßenblöcke lang. Ich stand gemeinsam mit J. in dieser Schlange, stundenlang, es gab keine sechsundzwanzig Sorten mehr, nur noch Vanilleeis, aber irgendetwas schien trotzdem richtig gewesen zu sein. Der Wind kam vom Meer herauf, und sie drückte wortlos meine Hand.

IV

Moskau glaubt nicht an Tränen

Als ich erwache, bin ich allein.An den Fenstern die ersten Kristalle von Raureif. Die blassen Vorhänge mit dramatischem Faltenwurf wie ein Gebirgskamm der Sierra Maestra. Kalte Luft vom Gang her. Draußen ziehen stumm die Wälder vorbei. Fünf Grenzen habe ich passiert. Die letzte heute Morgen, hinter schwindenden Barockstädten, Etappenposten eines verlorenen Reiches, wo einst Joseph Roths kakanische Beamten den Schnaps gegen die Langeweile leerten. Der verbeulte Zug trägt etwas hochtrabend den Namen von Frédéric Chopin. So liegt mir all das Altwelthafte, vor dem ich doch fliehen möchte, sogar per Fahrplanarithmetik wie ein nasser Mantel drückend auf den Schultern. Nocturne.

Die Klavierlehrerin hatte ein apfelwangiges Gesicht, wenn sie mit betonter Distinktion Chopin sagte, mit dem aristokratischen Wohlklang ihres polnischen Akzents. Chopin. Béthoven. Mózart. Aleksandra hieß sie. Ihre akkurat gepflegten Hände auf dem Elfenbeinimitat der Klaviatur wie in einem alten Danziger Salon trotz des jämmerlichen Furniers des Musikschulklaviers, trotz der unansehnlichen Nützlichkeit des Mobiliars im staatlichen Klassenzimmer, mit Benimmregeln auf verblichenem Papier und einem ausgestopften Habicht in Jägerpose. Ihr Parfum besiegte die Kreide. Zu Beginn jeder Stunde kontrollierte sie meine Fingernägel. Erschienen sie ihr zu lang, schrieb sie mit ihrem Bleistift schwungvoll über jede Partitur Fingernägel schneiden bitte. Das Nebeneinander von Chopins Nocturne und der Weisung zur Maniküre war kaum erträglich, weshalb ich sie sofort und mit großer Sorgfalt ausradierte. Bisweilen entfuhr ihrem Mund ein halb entrüsteter Seufzer. «Fidelis, du hast die Hände von einem Metzger.» Méetzger, sagte sie. Metzger passte selbstverständlich nicht zu Chopin. Doch das war Dareks Schuld. Ehemals Olympionike, jetzt Schleifer: Darek war das Gegenteil des Danziger Salons, er war eher das Industrierevier von Kattowitz. Wenn die Innenflächen meiner Hände blutige Fetzen vom Reckturnen aufwiesen und das Weiß von Magnesiumcarbonat aus den verkrusteten Schrunden herausleuchtete, dann wegen ihm. Darek nannte Chopin Schopn. Wenn er mir sagen wollte, dass ich in seinen Augen viel zu schwach für eine anständige Bodenkür war, konstatierte er immer nur: «Spielst du zu viel Schopn.» Und machte eine lächerliche Bewegung in der Luft, die wohl Klavierspiel darstellen sollte. Stattdessen ließ er Rockmusik aus der knarzenden Anlage dröhnen. Das symphonische Frühwerk von Van Halen und Foreigner. Wir waren um die Gleichzeitigkeit gebracht: Die brünftigen Balladen aus den Achtzigern erfüllten die Turnhallen, und wir waren die Apologeten der muskulösen Jugend unserer Betreuer. Während draußen der Sozialismus verschwand und die Landschaften erblühen sollten, blieben wir fünfmal die Woche musikalisch verhaftet in der Reagan-Ära, als Männer mit Stirnband und Falsettstimme über die Liebe sangen. Aber wenn Darek am Barren turnte, dann sah er so filigran aus wie eine Schwanensee-Ballerina vom Bolschoi. Er ächzte kokett, genoss die bewundernden Blicke seiner Schüler, wenn wir uns wie ein Theaterpublikum an den abgewetzten Saum der Matten lehnten, aus deren unergründlicher Weichheit uns ein Moderduft entgegenstieg. Zehntausend Schweißtropfen seit Turnvater Jahns letzter Kreishocke. Für Darek, der uns bisweilen strafend auf die Zehen schlug, weil die Socken nicht richtig saßen, hätte ich mir sogar die Fußnägel gefeilt. Waren sich diese beiden Lehrmeister meiner Kindheit jemals begegnet, damals, in Marienstein, ihrer beider Exil?

Nun habe ich, der Vertriebene in meiner eigenen Geschichte, im Zug namens Frédéric Chopin ihre alte Heimat durchquert. Mit all den Meilen bin ich nun auch zeitlich entrückt, habe drei Stunden zwischen mich und meine Vergangenheit gebracht. Wenn man gegen die Zeit anrennen möchte, dann nur nach Osten. Als wir die grauen Straßen der Schlafstädte passieren, weiß ich nicht recht, wohin mit meiner überzogenen Moskau-Ehrfurcht und der Suche nach dem Wiedererkennen. Der Blick verliert sich in Felswänden aus Beton, in den zerklüfteten Kolonien des Realsozialismus, das Auge vermag all die Architektur nicht zu durchdringen. Ich hatte vergessen, wie maßlos dieser Moloch von Stadt ist. Dann endlich erreicht Chopin den Weißrussischen Bahnhof. Vor dem Herbst bin ich geflohen, im Moskowiter Winter betrete ich den Vorplatz. Der Schnee türmt sich zu beiden Seiten der Straße, und wo einst die Panzer der Heeresgruppe Mitte in der Rasputiza stecken blieben, fahren heute die teutonischen Importwägen auf Breitreifen in die Stadt hinunter. Ein paar Stunden bleiben mir bis zur Weiterfahrt.

Ich weiß nicht, ob es Einfallslosigkeit oder Symbolik ist, die mich zum Roten Platz zieht, aber ich möchte Weite sehen, bevor ich mich in die transsibirische Mönchszelle einschließe. Die Tverskaja hinunter, dann sehe ich die Türme und die Eisschollen auf dem Fluss. Unter diesem goldenen Kuppelgebirge fühlt sich das Flanieren an, als stünde ich auf einer verschneiten Version des Quai d’Orsay, als staatenloser Diplomat meiner längst verlorenen Sache. Der Rote Platz ist beinahe menschenleer, was ihn wie eine Pappkulisse wirken lässt. Vor dem Mausoleum stehen Lenin und Stalin und posieren für die Touristen. Lenin trägt einen schwarzen Anzug und Schiebermütze. Der Kinnbart ist unsauber ausrasiert und rot gefärbt. Die Kappe verdeckt das Haar und erhält meiner Fantasie die Möglichkeit einer revolutionären Stirnglatze, Modell Uljanow. Stalin hat einen breiten Seehundschnauzer, eine Marschalluniform und eine Pfeife. Ich frage sie, was ein Foto kostet. Lenin hat seinen Preis planwirtschaftlich festgesetzt, und er weigert sich mit bolschewistischer Härte, einem armen Reisenden entgegenzukommen. Aber Stalin zwinkert mir freundlich zu. Großväterlich posiert er vor meiner alten Rolleiflex und hält seine leere Pfeife unbeholfen an den Mund. Ich muss lächeln und biete ihm etwas von meinem Bahnhofsfranzl-Gedächtnistabak an. Orkney-Aroma. Abwehrend hebt er die Hände. Rauchen sei gefährlich, sagt er. Sein Ausdruck ist ehrlich geschockt. Ich drücke ihm die Hand und wünsche mir, dass das Foto ordentlich belichtet war. Zwölf Fotos habe ich zur Verfügung, zwölfmal kann ich den alten Verschluss klicken lassen, dieses westdeutsch-mechanische Präzisionsschnarren. Zwölf Bilder für zehntausend Kilometer. Das muss genügen, den Rest muss ich mir einbrennen. Doch ein emphatischer Stalindarsteller erscheint mir eine gute Wahl. Als die Dämmerung einsetzt, flammen die Lichter auf, und das Grau des Tages weicht der halogenen Traurigkeit. Es schneit. In der einsetzenden Dunkelheit denke ich an den bayerischen Exilanten Oskar Maria Graf, als er aus dem Fenster seines Moskauer Hotels blickte, die Nachricht vom Tode seiner Mutter im Ohr: Der Bäckerjunge vom Starnberger See verbot sich seinen Schmerz mit der Losung Moskau glaubt nicht an Tränen, diesem martialischen Credo einer kalten Stadt, die sich die Sentimentalität nicht erlaubt. Nicht an J. zu denken, will mir nicht gelingen.

Vom Dach des Jaroslawler Bahnhofs leuchten immer noch Hammer und Sichel durch den Reklamebrei des großen Vorplatzes. In der Wartehalle sitzen die Leute in Theaterbestuhlung vor der großen Anzeigetafel. Die schlichte Sachlichkeit des hohen Raumes rührt an. Ich denke an jene verschwundene Marmorhalle im Salzburger Bahnhof, in der ich bisweilen meine Sonntage verhockte, wenn ich auf J. wartete. Ich war mit dem Zug aus Wien gekommen, saß an einem Tisch vor blindem Silberbesteck und verstopften Salzstreuern und blickte auf das Gemälde an der Stirnseite des Raumes: die vielen Windungen der Großglockner Hochalpenstraße, das alpine Dreitausenderpanorama in Öl, alles mit der Patina von siebzig Jahren Beisl und Zigaretten. Wo der Kellner Herr Josef hieß und in der Karte statt Cola nur Jugendgetränk stand. Diese gastronomische Sentimentalität ist verschwunden, mitsamt dem alten Bahnhofsperron, die marmorne Hülle nummeriert und fachmännisch eingelagert in einem Depot der Österreichischen Bundesbahn. So wie die einen ihre mumifizierten Führer einlagern, so archivieren die anderen ihre verblichene Gastlichkeit.

An einem Flügel mit altmodisch gedrechselten Füßen sitzt ein älterer Herr und klimpert in den Saal hinein: Strangers in the Night, Sinatra, der auch ohne Gesang hier einen russischen Akzent hat. Noch im Frühling war ich mit J. in einem alten, italienischen Hotel gewesen, ein leerer Saal mit verlebter Grandezza, und während die Nachtschicht die Stühle hochstellte, saß ich an einem alten Klavier mit träger Mechanik und verschwendete eine traurige Fantasie in g-Moll, ohne zu wissen, dass ich zum letzten Mal für sie spielte.

Und dann steht er doch vor mir. «Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es schaffe», hatte Gabriel gesagt. Jetzt ist er da, und wir treten hinaus in den leichten Schneefall der Nacht, auf den großen Platz, wo der bronzene Lenin steht. Er hat Zigaretten mitgebracht, wir rauchen eine Weile die beißenden Sobranies, schweigend. «Eine Schnapsidee», sagt er nach einer Weile. Der schwere Plastikvorhang vor dem Eingang einer Spelunke schlägt im Nachtwind eine Falte. Wir betreten das Lokal, eine Reminiszenz an jene Vergangenheit, in der wir unbekümmert die Welt der Alten bevölkerten, als wir im Keller des alten bayerischen Landgasthofs seiner Familie im Zigarettenqualm davon träumten, die Bühnen der Welt zu erobern. «Du könntest auch eine Weile hierbleiben», sagt Gabriel, obwohl er meine Antwort schon kennt. Er schiebt mir einen alten Walkman über den Tisch. «Gegen Sibirien», sagt er. «Du wirst Musik brauchen.» Als wir auf unserer ersten gemeinsamen Reise Amerika durchquerten, hatten wir nur eine einzige Kassette dabei. Superhits of the Eighties. Von Chicago bis Arizona saßen wir Schulter an Schulter, teilten uns den Kopfhörer wie rationiertes Wasser in der Wüste und sangen die immer gleichen Lieder. Nun hat er mir genau diese Kassette überspielt: mit der alten Bandmaschine, die wir vor zwanzig Jahren einem depressiven Tontechniker abgekauft hatten, der Meditationsmusik für katholische Kindergärten aufnahm und nach Karamellbonbons roch. «Depp», sage ich, «wie soll ich das mit diesem Kitsch aushalten?» Er grinst. «Du musst dir nur vorstellen, dass Karl Marx jedes Lied singt. Keine Lieder über die Liebe, nur über den Kommunismus. Alles eine Frage der Perspektive. Time After Time.» Seine Hände umfassen die klobige Tasse mit dem grässlichen Kaffee. Diese riesigen Hände, mit denen er schon früh mühelos Oktaven greifen konnte, als er noch auf den verstimmten Kirchenorgeln der umliegenden Dörfer das Te Deum spielte, ein mächtiges Brausen zu den dünnen Stimmen aus den Holzbänken. Diese Hände, deren Fingerkuppen so oft blutig waren von durchübten Nächten und den Stahlsaiten der Gitarre. Für einen Augenblick möchte ich mich in den Schutz dieser Hände begeben, in ihr stilles Protektorat der ewigen Geduld. Doch ich wage es nicht, sie zu drücken. Es ist in diesem Augenblick, dass ich mein Vorhaben, Einsamkeit mit Einsamkeit zu bekämpfen, ernsthaft bezweifle. Wenn du gehen musst, dann geh nicht allein, Churchill könnte es gesagt haben, vielleicht auch Gandalf. Stattdessen mache ich ein Foto von ihm zum Abschied. Nicht, dass ich mich an sein Gesicht erinnern müsste. Aber der Gedanke, dass er zumindest in Silberbromid mit mir fährt, ist ein tröstlicher.

Auf dem Bahnsteig, bevor ich einsteige, drückt mir Gabriel die braune Tüte in die Hand, die er die ganze Zeit bei sich getragen hatte. «Nur ein paar Kleinigkeiten», sagt er. Ich muss schlucken, und ich finde die großen Worte nicht, als der Zug Nummer 4 der Transsibirischen Eisenbahn an diesem Abend des 5. Februar mit größtmöglichem Pathos Moskau verlässt. Von hinten grüßt der große blaue Schriftzug MOCKBA durch den Schnee wie ein filmischer Abspann, und am Bahnsteig hebt mein Freund noch einmal die Hand. «Take care», sagt er. Dann fährt der Zug an, und er verschwindet aus meinem Blickfeld.

V

Niobe

Als Lenin am 1. Mai 1919 seine Rede am Roten Platz hielt, beschwor er darin eine neue Achse, die durch ihre gemeinsame Stärke fortan dem englischen Imperialismus die Stirn bieten könne: Sowjetrussland, Sowjetungarn und Sowjetbayern. Diese Staaten waren vor Kurzem alle noch die Kronlande uralter Dynastien gewesen, von Romanows, Habsburgern und Wittelsbachern. Noch wohnten die jungen Republiken wie Hausbesetzer in den leeren Palästen der vertriebenen Herrscher. Doch schon die Enkelkinder würden jene Monumente des Kapitalismus dereinst nur noch als dekadente Kuriositäten bestaunen, sagte Lenin – im aufblühenden Kommunismus, einer glücklichen Zukunft, die er selbst nicht mehr erleben werde. Aber noch während er diese Rede hielt, gab es Sowjetbayern bereits nicht mehr.

Zuvor hatte er den bayerischen Genossen Ratschläge für dringend notwendige Sofortmaßnahmen erteilt: Einführung des Sechsstundentages, Verdreifachung der Löhne für Arbeiter und Kleinbauern, der Leitfaden zur Paradieswerdung. Doch die Münchner Revolutionäre saßen im Schlafzimmer des Kronprinzenpalais und schoben verschämt das Prunkbett der ehemaligen Prinzessin von Modena beiseite, unschlüssig, wohin mit sich unter dem ausladenden Deckenfresko eines Trinkgelages wollüstiger Kentauren. Statt wie aus Moskau vorgeschlagen die Kommandohöhen der Wirtschaft zu besetzen, feilten sie an diplomatischen Noten an den Vatikan. Die Textsicherheit bei Marienliedern war größer als bei der Internationalen. Vielleicht konnte sich Wladimir Iljitsch Uljanow sogar noch an dieses sentimentale Zaudern der Bayern erinnern – aus seiner Zeit im Münchner Exil, als er über der Gastwirtschaft Zum Onkelgewohnt hatte. Damals nannte er sich noch nicht Lenin, sondern Mayer. Die deutsche Konterrevolution dagegen zauderte nicht. Sie marschierte im Gleichschritt in Rätebayern ein und hatte ein weißes Hakenkreuz auf ihren Stahlhelm gemalt.

Auch wenn in den Wäldern um Thanried am See niemand ernstlich seine Hoffnungen an rote Fahnen gehängt hatte, so war doch die Lektion rasch gelernt. Träume welken schnell, «nur der Glaube ist ein Fels», sagte der Pfarrer. An das Abhängen irdischer Götter war man gewöhnt, lediglich die Zyklen wurden kürzer: Den Porträts der Monarchen folgten nun Demokraten im praktischen Wechselrahmen. Nur das Bild vom Bahnhofsfranzl in der Seemannsuniform hing weiter in der Gaststube wie ein Mahnmal. Und die Speisekarte blieb die gleiche, auch wenn nun jemand anderer das Regiment führte.

Die Bahnhofsrestauration ging an die jüngere Schwester Auguste, genannt Tante Gustl, mit breitem Unterkiefer und wenig Zug zum Ozean. Man billigte der Witwe mit dem kleinen Kind lediglich eine Kammer unter dem Dach zu, bei Hofe nur geduldet wie eine gefallene Prätendentin. Dafür musste sie in der Wirtsstube arbeiten, die Haare streng geknotet, von der Gustl misstrauisch beäugt. Die Großmutter kannte ihren Vater nur von jenem einen Bild. Als Kind stand sie bisweilen davor und versuchte, eine Ähnlichkeit mit den strengen Zügen auszumachen. Sie fand keine. Man sprach auch nicht vom Bahnhofsfranzl. Sie wusste nur, dass er auf dem Grund des Sees unterhalb des alten Klosters lag, und sie hatte Angst vor dem dunklen Wasser.

Die wenigen Gegenstände, die er besessen hatte, bekamen nicht die Zeit, zu Erinnerungsstücken zu reifen. Sie wurden von der Nützlichkeit beschlagnahmt und taten stumm ihren soldatischen Dienst im Alltag des Wirtshauses – ein Tornister als Futtertasche im Stall und Bierkrüge mit Panzerkreuzern darauf, in denen rostige Nägel aufbewahrt wurden. Reliquien des Pragmatismus, fern von allen Meeren. Einzig ein Stück behielt sich die Theres und gab es der Großmutter: eine kleine, rotgoldene Taschenuhr, auf deren Rückseite der Name des versunkenen Schiffes eingraviert war, ein geheimnisvolles Wort aus einer anderen Zeit: Kronprinz.