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Väter, Bestien, Werwölfe – die Frauen in Märchen haben seit jeher kein einfaches Los. In Angela Carters Kult-Nachdichtungen von etwa Blaubart, Der gestiefelte Kater oder Die Schöne und das Biest wird die traditionelle Rollenverteilung nicht nur umgekehrt, sondern in die Luft gejagt. Hier werden Frauen zu Tigerbräuten und Schöne zu Biestern, Erlkönige mit dem eigenen Haar erwürgt und Werwolfsgroßmütter von ihren Enkelinnen erledigt. Die Antiheldinnen und Heldinnen dieser Märchen sinnen in gleichem Maße auf Rache, wie sie nach Liebe streben.
Angela Carter ist die Godmother der feministischen (Horror-)Literatur. Ihre abgründig-erotischen Neuerzählungen von Märchen bestechen auch mehr als fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen mit unvermittelter Wucht.
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Seitenzahl: 289
Veröffentlichungsjahr: 2025
Angela Carter
Die blutige Kammer
Erzählungen
Aus dem Englischen von Maren Kames
Mit einem Nachwort von Mithu Sanyal und Illustrationen von Julia Kissina
Suhrkamp Verlag
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Nick Teplov
Julia Kissina, Hunting Lodge, Zeichnung, Tusche auf Papier, 30×40 cm, 2021
eISBN 978-3-518-78203-3
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Die blutige Kammer
Die Avancen des Mr Lyon
Die Tigerbraut
Der gestiefelte Kater
Der Erlkönig
Das Schneemädchen
Die Herrscherin im Haus der Liebe
Der Werwolf
Die Gemeinschaft der Wölfe
Wolfsalice
Mithu SanyalRadical Carter
Informationen zum Buch
Ich erinnere mich, wie ich in jener Nacht im Bett des Schlafwagens wach lag, hibbelig und entzückt, meine glühende Wange in das makellose Leinen des Kopfkissens presste und mein Herzschlag dem Stoßen der großen Kolben folgte, die unablässig den Zug antrieben, der mich durch die Nacht brachte – fort von Paris, fort aus meinen Mädchentagen, fort aus der weißen, umfriedeten Ruhe der Wohnung meiner Mutter, hinein ins unbekannte Land der Ehe.
Und ich erinnere mich, dass ich mir zärtlich vorstellte, wie in genau diesem Moment meine Mutter langsam in meinem engen Zimmer umhergehen würde, das ich für immer hinter mir gelassen hatte, wie sie all meine kleinen Habseligkeiten zusammenlegte und beiseiteräumte, verstreute Kleider, die ich nicht mehr brauchen würde, Partituren, für die in meinen Koffern kein Platz gewesen war, liegengebliebene Konzertprogramme; sie würde über dieser zerrissenen Schleife und jener vergilbten Fotografie innehalten, mit all den halb seligen, halb sorgenvollen Gefühlen einer Frau am Hochzeitstag ihrer Tochter. Und inmitten meines bräutlichen Triumphs spürte ich den stechenden Schmerz eines Verlusts, ganz so, als hätte ich, als er mir den Trauring an den Finger steckte, in gewisser Weise aufgehört, ihr Kind zu sein, indem ich seine Frau wurde.
Bist du dir sicher, hatte sie mich gefragt, als das gigantische Paket mit dem Hochzeitskleid geliefert wurde, das er mir gekauft hatte, eingeschlagen in Seidenpapier und rotes Schleifenband, wie eine Schachtel kandierter Früchte zu Weihnachten. Bist du dir sicher, dass du ihn liebst? – Es gab auch ein Kleid für sie; schwarze Seide, prismatisch und trüb schimmernd wie Öl auf Wasser und feiner als alles, was sie seit ihrer abenteuerlichen Kindheit in Indochina als Tochter eines reichen Teebauern getragen hatte. Meine adlerartige, unbeugsame Mutter. Welche andere Schülerin am Konservatorium konnte sich damit brüsten, dass ihre Mutter einem Haufen chinesischer Piraten die Stirn geboten, ein ganzes Dorf durch eine Pestepidemie hindurch gepflegt und eigenhändig einen menschenfressenden Tiger erschossen hatte – und all das, bevor sie so alt war wie ich?
»Bist du dir sicher, dass du ihn liebst?«, fragte sie.
»Ich bin sicher, dass ich ihn heiraten will«, sagte ich. Und sagte sonst nichts. Sie seufzte, als sähe sie nur widerwillig ein, dass damit wenigstens das Schreckgespenst der Armut von seinem Platz an unserem bescheidenen Tisch verbannt wäre. Denn meine Mutter hatte sich selbst freimütig, skandalträchtig und trotzig für die Liebe ruiniert; eines schönen Tages war ihr galanter Soldat nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt, seiner Frau und seinem Kind ein Vermächtnis von Tränen hinterlassend, die nie ganz trockneten, dazu eine Zigarrenkiste voller Orden und jenen antiken Dienstrevolver, den meine Mutter, in der Not exzentrisch geworden, stets in ihrer Damenhandtasche bei sich trug, für den Fall – wie ich sie foppte –, sie würde auf dem Rückweg vom Gemischtwarenhändler von Straßenräubern überrascht.
Ab und an brach ein Strahlenkranz aus Lichtern durch die zugezogenen Vorhänge, als hätte die Eisenbahngesellschaft sämtliche Stationen, die wir passierten, zur Feier der Braut hell erleuchten lassen. Ich hatte mein seidenes Nachthemd gerade erst aus seinem feinen Papier gewickelt; es war über meine mädchenhaft spitzen Schultern und Brüste geglitten, geschmeidig wie ein Gewand aus schwerem Wasser, und nestelte jetzt neckend, lockend und ungeheuer andeutungsvoll zwischen meinen Schenkeln, während ich mich unruhig auf meiner schmalen Pritsche wälzte. Sein Kuss, sein mit Zunge, Zähnen und etwas Barthaar garnierter Kuss war mir, wenngleich von derselben vornehmen Zurückhaltung wie das mir von ihm überreichte Negligé, Vorbote unserer Hochzeitsnacht gewesen, die lüstern aufgeschoben würde, bis wir uns in seinem großen Ahnenbett in dem meerumschlungenen, von Zinnen gekrönten Anwesen befänden, das noch immer weit jenseits meiner Vorstellungskraft lag … dieser magische Ort, das Märchenschloss mit seinen gischtumspülten Mauern, die sagenumwobene Behausung, in der er geboren worden war. Der ich wohl eines Tages einen Erbfolger gebären würde. Unser Ziel, mein Schicksal.
Über dem synkopischen Rattern des Zuges konnte ich sein ruhiges, gleichmäßiges Atmen hören. Nur die Verbindungstür trennte mich von meinem Ehemann, und sie stand offen. Würde ich mich auf meinen Ellbogen stützen, könnte ich die dunkle, löwenartige Silhouette seines Kopfes sehen, und meine Nasenlöcher erhaschten einen Hauch jenes opulenten männlichen Geruchs nach Leder und Gewürzen, der ihn immer begleitete und mir manchmal, während der Zeit seines Werbens, der einzige Hinweis darauf war, dass er die Wohnstube meiner Mutter betreten hatte, denn auch wenn er ein großer Mann war, bewegte er sich doch so leise, als wären seine Schuhsohlen mit Samt bezogen, als würden seine Schritte den Teppich in Schnee verwandeln.
Mit Vorliebe überraschte er mich in meiner entrückten Einsamkeit am Klavier. Er sorgte dafür, dass niemand ihn ankündigte, öffnete geräuschlos die Tür und schlich sich leise hinter mich, mit einem Bouquet Gewächshausblumen oder einer Schachtel glacierter Maronen und legte dann seine Gabe auf die Tasten und seine Hände über meine Augen, während ich in ein Debussy-Präludium versunken war. Doch dieser Duft nach würzigem Leder verriet ihn jedes Mal, sodass ich mich nach dem ersten Schreck stets dazu gezwungen sah, überrascht zu tun, damit er nicht enttäuscht wäre.
Er war älter als ich. Er war deutlich älter als ich; silberweiße Strähnen durchzogen seine dunkle Mähne. Aber sein seltsames, schweres, fast wächsernes Gesicht war nicht von Erfahrung gezeichnet. Vielmehr schien die Erfahrung es vollkommen glattgewaschen zu haben, wie einen Stein am Strand, dessen Rillen von den aufeinanderfolgenden Gezeiten abgeschliffen worden waren. Und manchmal, wenn er mir still beim Spielen zuhörte, die Lidfalten tief über die Augen gesenkt, die mich immer mit ihrer absoluten Abwesenheit von Licht verstörten, schien mir sein Gesicht wie eine Maske – als würde sein wahres Gesicht, das Gesicht, das alles Leben spiegelte, das er in der Welt geführt hatte, bevor er mich traf, bevor ich überhaupt geboren wurde, als würde dieses Gesicht unter dieser Maske liegen. Oder irgendwo sonst. Als hätte er das Gesicht, mit dem er so lange Zeit gelebt hatte, abgelegt, um meiner Jugend ein Gesicht zu bieten, in dem die Jahre nicht sichtbar waren.
Anderswo könnte ich ihn vielleicht unverstellt sehen. Nur wo?
Vielleicht in jenem Schloss, zu dem uns der Zug jetzt brachte, das herrliche Schloss, in dem er geboren worden war.
Selbst als er mich fragte, ob ich ihn heiraten wolle und ich »Ja« sagte, verlor er nicht seine schwere, fleischliche Beherrschung. Ich weiß, der Vergleich eines Mannes mit einer Blume mag merkwürdig erscheinen, aber manchmal wirkte er auf mich wie eine Lilie. Ja. Eine Lilie. Umgeben von der seltsamen, unheilvollen Ruhe empfindlicher Pflanzen, wie eine jener kobraköpfigen Begräbnislilien, deren weiße Kelchblätter sich aus einem Fleisch winden, das ebenso zäh und elastisch ist wie Pergament. Als ich sagte, ich würde ihn heiraten, rührte sich nicht ein Muskel in seinem Gesicht – aber er stieß ein langanhaltendes Seufzen aus. Ich dachte: Oh!, wie sehr ihm nach mir verlangen muss! Und mir schien, als hätte das unermessliche Gewicht seines Begehrens eine Kraft, der ich nicht widerstehen könnte; nicht wegen der von diesem Begehren ausgehenden Gewalt, sondern wegen seiner schieren Anziehungskraft.
Er bewahrte den Ring in einer mit purpurnem Samt ausgekleideten Lederschatulle auf, einen Feueropal von der Größe eines Taubeneis, eingelassen in ein kunstvolles Gewinde aus dunklem, antikem Gold. Mein altes Kindermädchen, das noch immer bei meiner Mutter und mir lebte, betrachtete den Ring misstrauisch; Opale bringen Unglück, sagte sie. Aber dieser Opal hatte seiner Mutter gehört, davor seiner Großmutter und davor deren Mutter und war einem seiner Vorfahren von Caterina de’ Medici vermacht worden. Jede Braut, die ins Schloss kam, trug diesen Ring, seit undenklichen Zeiten. Und hat er ihn dann auch seinen anderen Frauen angesteckt und später wieder abgenommen?, fragte mich die Alte barsch; aber sie war auch ein Snob. Sie verbarg ihre ungläubige Freude über meinen Heiratsantrag – ihre kleine Marquise – hinter einer Fassade aus Argwohn. Doch damit traf sie mich. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich trotzig ab. Ich wollte nicht daran erinnert werden, wie er vor mir andere Frauen geliebt hatte, aber der Gedanke daran brachte mein fadenscheiniges Selbstvertrauen häufig ins Wanken, wenn ich nachts wach lag.
Ich war siebzehn und wusste nichts von der Welt. Mein Marquis war zuvor bereits verheiratet gewesen, mehr als einmal, und ich war immer noch irritiert davon, dass seine Wahl nach diesen anderen jetzt auf mich gefallen sein sollte. Trauerte er nicht eigentlich noch um seine letzte Frau? Tss, tss, machte mein altes Kindermädchen. Und selbst meine Mutter sah nur widerwillig mit an, wie ihr Mädchen von einem Mann fortgenommen wurde, der erst so kürzlich zum Witwer geworden war. Eine rumänische Gräfin, eine Dame von Welt. Nur drei Monate bevor ich ihn kennenlernte, war sie bei einem Bootsunfall in der Nähe seines Anwesens in der Bretagne ums Leben gekommen. Ihre Leiche wurde nie gefunden, aber ich durchforstete sämtliche Ausgaben der Klatschblätter, die mein altes Kindermädchen in einer Truhe unter seinem Bett aufbewahrte, und fand darin eine Fotografie. Das spitze Schnäuzchen eines hübschen, gewitzten, verruchten Äffchens; der einnehmende, bizarre Charme eines wilden, dennoch weltgewandten Geschöpfs, dessen natürliches Habitat ein luxuriöser Innenausstatter-Dschungel gewesen sein musste, bestückt mit Topfpalmen und gezähmten, kreischenden Papageien.
Die Frau davor? Ihr Gesicht gehört zum öffentlichen Eigentum. Alle hatten sie gemalt. Der Stich von Redon, Wandernder Abendstern am Rande der Nacht, gefiel mir am besten. Angesichts ihrer skeletthaften, mysteriösen Anmut hätte man niemals vermutet, dass sie eine Bardame auf dem Montmartre gewesen war, bis Puvis de Chavannes sie entdeckte, und sie ihre flachen Brüste und langen Schenkel vor seinem Pinsel entblößte. Und doch wurde ihr der Absinth zum Verhängnis, so erzählte man sich zumindest.
Die allererste seiner Frauen? Diese mondäne Diva; ich hatte sie die Isolde singen hören, frühreifes musikalisches Kind, das ich war, als wir zu einem meiner Geburtstage in die Oper gingen. Meine erste Oper. In welch gleißender Inbrunst hatte sie auf der Bühne gestanden! Man sah ihr an, dass sie jung sterben würde. Wir saßen weit oben, gewissermaßen auf halbem Weg zum Himmel und zu den Göttern, und doch ließ sie mich aus der Ferne halb erblinden. Mein Vater, damals noch quicklebendig (wie lang ist das her!), griff im letzten Akt nach meiner kleinen klebrigen Hand, um mich zu beruhigen – aber ich nahm nichts wahr als die strahlende Herrlichkeit ihrer Stimme.
Ganze drei Mal war er während meiner eigenen kurzen Lebensspanne verheiratet gewesen, mit drei verschiedenen Grazien, und jetzt lud er, wie zur Demonstration seines eklektischen Geschmacks, mich in die Galerie dieser schönen Frauen ein – mich, das Kind einer armen Witwe, mit meinem mausfarbenen Haar, das noch Knicke von den Zöpfen trug, von denen es gerade erst befreit worden war, mich, mit meinen knochigen Hüften und meinen nervösen Pianistinnenfingern.
Er war reich wie Krösus. In der Nacht vor unserer Hochzeit – eine schlichte Angelegenheit im Rathaus, seine Gräfin war schließlich erst kürzlich verstorben – nahm er meine Mutter und mich, welch seltsamer Zufall, mit in Tristan und Isolde. Mein Herz schwoll und schmerzte während des Liebestods so sehr, dass ich dachte, ich muss ihn wahrhaftig lieben. Ja. Das tat ich. Ging ich an seiner Seite, waren alle Augen auf mich gerichtet. Die flüsternde Menge im Foyer teilte sich wie das Rote Meer, um uns hindurchzulassen. Meine Haut knisterte unter seiner Berührung.
Wie hatten sich meine Lebensumstände verändert, seit ich das erste Mal diese hingebungsvollen Akkorde gehört hatte, Akkorde so voll von tödlicher Leidenschaft! Jetzt saßen wir in roten Samtsesseln in einer Loge, und in der Pause servierte uns ein Lakai mit geflochtener Perücke eisgekühlten Champagner in einem silbernen Kübel. Der Schaum sprudelte über den Rand meines Glases und benetzte meine Hände, ich dachte: Du schenkest mir voll ein. Und ich trug ein Kleid von Poiret. Er hatte meine widerwillige Mutter schließlich überredet, mir meine Aussteuer schon zu diesem Anlass kaufen zu dürfen; und worin hätte ich sonst vor ihn treten sollen? In doppelt geflickter Unterwäsche, verblasster Baumwolle, ausgebesserten Röcken und aufgetragenem Zeug? So erschien ich zur Oper also in einem Kleid aus fließendem, weißen Musselin mit einem Seidenband, das unter den Brüsten zur Schleife geflochten war. Und alle starrten mich an. Und sein Hochzeitsgeschenk.
Sein Hochzeitsgeschenk, das mir wie eine Klammer um den Nacken hing. Ein enganliegendes Rubincollier, zwei Daumen breit, wie ein äußerst wertvoller Halsabschneider.
Nach der Terrorherrschaft der Revolution, in den Anfängen des Direktoriums, kam unter den Aristokraten, die der Guillotine entkommen waren, die ironische Mode auf, sich ein rotes Band um den Hals zu binden, genau dort, wo die Klinge ihn durchtrennt hätte, ein rotes Band, wie zur Erinnerung an eine Wunde. Und seine Großmutter, die von dieser Idee angetan war, ließ sich ihr Band mit Rubinen besetzen; welch luxuriöser Ungehorsam! Diese Nacht in der Oper kommt mir immer wieder in den Sinn … das weiße Kleid; das zerbrechliche Kind in ihm; und die purpurn leuchtenden Juwelen um seinen Hals, hell wie Arterienblut.
Ich sah, wie er mich über die goldumrandeten Spiegel betrachtete, mit dem prüfenden Blick eines Kenners bei der Inspektion von Pferdefleisch oder dem einer Hausfrau auf dem Markt, die die Schlachtplatte begutachtet. Ich hatte diesen Blick an ihm nie zuvor gesehen oder ihn mir nicht eingestanden, diese unverhohlene Fleischeslust; und sie war seltsam vergrößert durch das Monokel, das vor seinem linken Auge klemmte. Als ich bemerkte, wie er mich derart wollüstig ansah, schlug ich die Augen nieder, doch während ich sie von ihm abwandte, erblickte ich mich selbst im Spiegel. Und plötzlich sah ich mich, wie er mich sah – mein blasses Gesicht, die wie dünner Draht hervorstehenden Halsmuskeln. Ich sah, wie sehr diese schreckliche Kette zu mir passte. Und zum ersten Mal in meinem unschuldigen, begrenzten Leben spürte ich in mir das Potenzial einer Verderbtheit, die mir den Atem raubte.
Am nächsten Tag heirateten wir.
Der Zug wurde langsamer und kam ächzend zum Stehen. Lichter; metallisches Klirren; eine Stimme kündigte den Namen einer unbekannten, gottverlassenen Station an; die Stille der Nacht; sein schweres Atmen, neben dem ich von nun an für den Rest meines Lebens schlafen würde. Und ich fand keinen Schlaf. Verstohlen setzte ich mich auf, zog den Vorhang ein wenig beiseite, lehnte meinen Kopf an die kalte Scheibe, die von meinem Atem beschlug, und starrte auf den dunklen Bahnsteig, in die heimelig erleuchteten Fensterquadrate des Bahnwärterhauses, die Wärme und Beisammensein ausstrahlten, hinter denen zum Abendessen in einer Pfanne auf dem Herd die Würstchen für den Bahnhofsvorsteher brutzelten, während seine Kinder gut zugedeckt in ihren Betten schliefen, in einem Backsteinhäuschen mit bunt gestrichenen Fensterläden … Attribute einer beschaulichen, alltäglichen Welt, von der ich mich durch meine so fantastische Heirat selbst ausgeschlossen hatte.
In die Ehe, ins Exil. Ich spürte es; ich wusste es – von hier an würde ich für immer einsam sein. Es war Teil des mir bereits vertrauten Gewichts jenes Feueropals, der wie die Kristallkugel einer Wahrsagerin an meinem Finger schimmerte, sodass ich meine Augen nicht von ihm abwenden konnte, wenn ich Klavier spielte. Dieser Ring, die verfluchte, mit blutroten Rubinen besetzte Halskette, meine Garderobe von Poiret und Worth, sein Duft nach russischem Leder – all das hatte sich verschworen, mich so ganz und gar zu verführen, dass ich nicht einen Funken Wehmut nach der Welt von Mamans Butterbroten verspürte, die sich gerade von mir entfernte, als würde sie wie ein Kinderspielzeug an einer Schnur von mir weggezogen, während der Zug wieder zu stampfen begann, in freudiger Erwartung der Strecke, die er mich weiter fortbringen würde.
Die ersten bläulichen Streifen der Morgendämmerung zeichneten sich am Himmel ab, und ein unheimliches Halblicht sickerte in den Eisenbahnwaggon. Ich registrierte keine Veränderung in seinem Atem, aber meine geschärften, aufgewühlten Sinne sagten mir, dass er wach war und mich anstarrte. Ein großer, ein enormer Mann, und seine Augen, dunkel und regungslos wie jene, die Ägypter auf ihre Sarkophage malten, waren auf mich gerichtet. Ich spürte, wie sich etwas in meiner Magengrube zusammenzog, unter diesem Blick, diesem stummen Blick. Ein Streichholz flackerte auf. Er steckte sich eine Zigarre an, dick wie ein Babyarm.
»Bald«, sagte er mit seiner wie von einem Glockenschlag nachhallenden Stimme, und mit einem Mal spürte ich die Vorahnung eines Schreckens, der nur so lang anhielt, wie das Streichholz brannte. Im schwachen Schein sah ich sein weißes, breites Gesicht, als würde es körperlos über den Laken schweben, von unten beleuchtet wie ein grotesker Karnevalskopf. Dann erlosch die Flamme, die Zigarre glühte im Dunkeln und füllte das Abteil mit einem Geruch, der mich an meinen Vater erinnerte, wie er mich als kleines Mädchen im warmen Dunst einer Havanna umarmte, bevor er mich küsste und zurückließ und starb.
Sobald mein Ehemann mich an der Hand aus dem Zug geleitete, roch ich die feuchte Salzigkeit des Meeres. Es war November; die unter den Atlantikwinden knorrig gewordenen Bäume waren kahl und der Bahnsteig menschenleer, bis auf seinen Chauffeur, der in lederner Montur stoisch neben einem schnittigen schwarzen Automobil wartete. Es war kalt; ich zog meinen Pelz enger um den Körper, ein schwarz-weißer Überwurf aus Hermelin und Zobel, aus dessen Kragen mein Kopf hervorragte wie der Kelch einer Wildblume. (Ich schwöre, bis ich ihn getroffen hatte, war ich nie eitel gewesen.) Die Bahnglocke ertönte; der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung und ließ uns an dem einsamen Ort zurück, an dem nur er und ich ausgestiegen waren. Oh, welch Wunder, dass diese schiere Masse aus Eisen und Dampf hier nur seinetwegen zum Stehen gekommen war. Der reichste Mann Frankreichs.
»Madame.«
Der Chauffeur musterte mich; verglich er mich jetzt missbilligend mit der Gräfin, dem Malermodell und der Opernsängerin? Ich verkroch mich hinter meinem Pelz wie hinter einem Schutzwall aus weichem Schild. Mein Ehemann mochte es, wenn ich meinen Opal über dem Glacéhandschuh trug, eine protzige, theatrale Geste – aber sobald der spöttische Chauffeur den rot leuchtenden Ring aufblitzen sah, lächelte er, als wäre das der untrügliche Beweis dafür, dass ich die Gemahlin seines Herrn war. Und wir fuhren durch die aufklarende Morgendämmerung, die mittlerweile den halben Horizont mit einem kühlen Bouquet aus Rosenpink und Tigerlilienorange überzog, als hätte mein Gatte beim Floristen einen Himmel für mich bestellt. Der Tag brach rings um mich an wie ein kalter Traum.
Meer; Sand; ein Himmel, der sanft ins Meer überging – eine Landschaft aus diesigen Pastelltönen, die aussah, als wäre sie immer kurz davor, zu zerfließen. Wie angefüllt mit den schmelzenden Harmonien eines Debussy, dessen Etüden ich ihm vorgespielt hatte, die Träumerei, die ich an jenem Nachmittag im Salon der Prinzessin gespielt hatte, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, zwischen Teetassen und kleinen Kuchen – ich, die Waise, aus Mitleid engagiert, ihnen ihren musikalischen Digestif darzubieten.
Und oh!, sein Schloss. Die feenhafte Einsamkeit des Ortes mit seinen blauen, nebelverhangenen Türmchen, dem Vorhof, dem mit spitzen Zacken besetzten Tor, sein inmitten einer Meeresbucht gelegenes Schloss, um dessen Zinnen kreischende Möwen schwärmten, dessen Fensterflügel sich zu den flüchtigen, grünvioletten Ausläufern des Ozeans hin öffneten und das die Hälfte des Tages durch die Gezeiten vom Festland abgeschnitten war … dieses Schloss, das weder ganz auf dem Land noch ganz in den Wellen zuhause war, ein mysteriöser, amphibienhafter Ort, an dem sich die Grenze zwischen Erde und Wasser aufzulösen schien, von der Melancholie einer Meerjungfrau, die auf ihrem Felsen hockt und endlos auf ihren Liebsten wartet, der vor langer Zeit, weit weg von hier, ertrunken war. Dieser liebliche, traurige, sirenenhafte Ort!
Es war Ebbe; zu dieser Stunde im frühen Morgengrauen wand sich die Zufahrtsstraße aus dem Meer den Berg hinauf. Als der Wagen auf das nasse, noch von Wasser umspielte Kopfsteinpflaster einbog, griff er nach meiner Hand, an der sein heißblütiger, hexenartiger Ring steckte, und drückte und küsste sie mit außergewöhnlicher Innigkeit. Sein Gesicht war ruhiger, als ich es je gesehen hatte, ruhig wie ein zugefrorener Teich, doch seine Lippen, die zwischen den schwarzen Fransen seines Bartes immer seltsam rot und nackt aussahen, verzogen sich jetzt leicht. Er lächelte; er hieß seine Braut in seinem Zuhause willkommen.
Kein Zimmer, kein Korridor, in dem nicht das Rauschen des Meeres zu hören war, und alle Decken, die Wände, an denen seine Ahnen in schwerem Ornat mit ihren dunklen Augen und weißen Gesichtern aufgereiht waren, wurden vom gebrochenen Licht der Wellen berieselt, die sich unablässig in Bewegung befanden; dieses leuchtende, murmelnde Schloss, dessen Herrin ich sein würde. Ich, die kleine Musikstudentin, deren Mutter allen Schmuck, selbst ihren Ehering verkauft hatte, um ihr ein Studium am Konservatorium bezahlen zu können.
Es begann mit einer kleinen Zerreißprobe – meine erste Unterredung mit der Haushälterin, die diese außerordentliche Maschine, diesen ankernden, burgförmigen Ozeandampfer in Schuss hielt, egal, wer auf der Kommandobrücke stand. Wie wenig ich hier zu sagen haben würde! Unter ihrer für die Region typischen, tadellos gestärkten Leinenhaube steckte ein nichtssagendes, blasses, unangenehmes Gesicht. Ihre Begrüßung, angemessen höflich, aber leblos, ließ mich frösteln; in einem blitzartigen Tagtraum wagte ich es, meinen Status zu überschätzen … überlegte kurz, wie ich mein altes Kindermädchen, heißgeliebt, wenn auch vollends inkompetent, an ihrer Stelle installieren könnte. Schlecht bedachter Plan! Er erklärte mir, die Frau sei seine Ziehmutter gewesen und seiner Familie in höchster feudaler Verschworenheit verbunden. »Sie gehört so sehr zu diesem Haus wie ich selbst, meine Liebe.« Jetzt schenkten mir ihre schmalen Lippen ein stolzes kleines Lächeln. Sie wäre meine Verbündete, solang ich die seine wäre. Sie wäre mir so lange zugetan, wie ich es ihm wäre. Und damit hatte ich mich zufriedenzugeben.
Doch hier würde es leichtfallen, zufrieden zu sein. Von dem Turmzimmer, das er ganz für mich allein vorgesehen hatte, konnte ich über den ungestümen Ozean blicken und mir vorstellen, ich wäre die Königin der Meere. Im Musikzimmer stand ein Bechstein für mich, und an der Wand gegenüber, ein weiteres Hochzeitsgeschenk, hing ein frühes flämisches Tafelbild der jungfräulichen Cäcilia an ihrer himmlischen Orgel. Im sittsamen Charme dieser Heiligen mit ihren fülligen, blassen Wangen und ihrem gelockten Haar sah ich mich so, wie ich vielleicht gerne gewesen wäre. Ich erwärmte mich für seine liebevolle Empfindsamkeit, die ich bislang nicht an ihm vermutet hatte. Dann führte er mich über eine filigrane Wendeltreppe zu meinem Schlafzimmer hinauf. Bevor sie sich diskret zurückzog, brachte die Haushälterin ihn in einheimischem Bretonisch mit einem, ich wage zu behaupten, unzüchtigen Segenswunsch für Frischvermählte zum Kichern. Den ich nicht verstand. Den er sich lächelnd weigerte zu übersetzen.
Und dort stand das prachtvolle Ehebett aus seinem Familienerbe, annähernd so groß wie mein kleines Zimmer zuhause, verziert mit Fabelwesen und Dämonen, die in die Oberflächen aus Ebenholz, zinnoberrotem Lack und Blattgold geschnitzt waren; die weißen Tüllvorhänge um das Bett bauschten sich in der Seebrise. Unser Bett. Und umringt von so vielen Spiegeln! Spiegel an allen Wänden, in imposanten Rahmen aus gewundenem Gold, in denen sich mehr weiße Lilien spiegelten, als ich in meinem Leben je zuvor gesehen hatte. Das ganze Zimmer hatte er damit füllen lassen, zur Begrüßung der Braut, der jungen Braut. Die junge Braut, die sich in den Spiegeln zu einer Vielzahl identischer Bräute vervielfältigte, in maßgefertigten marineblauen Kostümen, für Reisen, Madame, oder für ausgedehnte Spaziergänge. Um die Pelze hatte sich ein Dienstmädchen gekümmert. Von nun an würde sich um all meine Angelegenheiten ein Dienstmädchen kümmern.
»Schau«, sagte er mit einer Geste in Richtung der eleganten Spiegeldamen. »Einen ganzen Harem habe ich mir erworben!«
Ich merkte, dass ich zitterte. Das Atmen fiel mir schwer. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen und wandte den Kopf ab, aus Stolz, aus Scheu, und sah in zwölf Spiegeln zwölf Ehemänner auf mich zukommen, sie langsam, systematisch, verführerisch die Knöpfe meiner Jacke lösen und die Jacke von meinen Schultern streifen. Genug! Nein, mehr! Mein Rock fiel zu Boden, dann die apricotfarbene Seidenbluse, die mehr gekostet hatte als das Kleid meiner Erstkommunion. Das Wellenspiel draußen in der kalten Sonne funkelte in seinem Monokel; seine Bewegungen kamen mir absichtlich derb vor, vulgär. Das Blut schoss mir wieder ins Gesicht und blieb dort.
Und doch, ich hatte es ja geahnt – musste es zum rituellen Entkleiden der Braut kommen, einer Szene wie aus dem Bordell. So behütet mein Leben gewesen war, selbst in der Welt der prüden Bohème, aus der ich kam, waren mir Gerüchte über seine Welt nicht entgangen.
Er entblätterte mich wie eine Artischocke, Vielfraß, der er war – man denke dabei aber nicht an Finesse; weder war diese Artischocke ein besonderer Leckerbissen für ihn, noch war er besonders gierig. Er machte sich eher mit müdem Appetit an diese ihm altbekannte Mahlzeit. Und als nichts mehr übrig war als mein scharlachroter, zitternder Kern, sah ich im Spiegel das lebendige Abbild einer Radierung von Rops aus seiner Sammlung, die er mir gezeigt hatte, als wir während unserer Verlobungszeit einmal allein gewesen waren … das Kind mit seinen staksigen Gliedern, nackt bis auf die Schnürstiefel und die Handschuhe, sein Gesicht mit einer Hand abschirmend, als wäre es der letzte Hort seiner Schamhaftigkeit; vor ihr der alte, Monokel tragende Lüstling, der sie Glied um Glied untersuchte. Er im englischen Maßanzug, sie nackt wie ein Lammkotelett. Pornographischste aller Gegenüberstellungen. So packte mein Käufer sein Schnäppchen aus. Und wie schon in der Oper, als ich meinen Körper das erste Mal mit seinen Augen gesehen hatte, war ich entsetzt über meine eigene Erregung.
Plötzlich schloss er meine Schenkel wie ein Buch, und wieder sah ich diese merkwürdige Bewegung seiner Lippen, die andeuten sollte, dass er lächelte.
Nicht jetzt. Wir warten. Vorfreude ist die schönste Freude, kleiner Liebling.
Ich begann zu beben wie ein Rennpferd vor dem Rennen, und doch auch ein wenig aus Angst, denn beim Gedanken an die Liebe spürte ich eine seltsame, unpersönliche Lust und zugleich eine nicht unterdrückbare Abscheu vor seinem weißen, schweren Fleisch, das viel zu viel gemein hatte mit den riesigen Liliensträußen in meinem Schlafzimmer, diesen Begräbnislilien mit ihrem schweren Blütenstaub, der die Finger bedeckt, als hätte man sie in Kurkuma getunkt. Jene Lilien, die ich immer mit ihm verbinde. Weiße Lilien, die einen beflecken.
Diese Szene aus dem Leben eines Lüstlings war nun also abrupt beendet. Es stellte sich heraus, dass er sich um Geschäfte zu kümmern hatte, seine Ländereien, sein Unternehmen – auch während der Flitterwochen? Auch dann, kam es aus den roten Lippen, die mich küssten, bevor er mich mit meinen verwirrten Sinnen allein ließ – ein letztes feuchtes, sanftes Streifen seines Barts, ein Hauch von Zungenspitze. Missmutig zog ich ein Negligé aus antiker Seide über und nippte von der heißen Schokolade, die mir das Zimmermädchen zum Frühstück gebracht hatte; danach wusste ich mich entsprechend meiner zweiten Natur nirgendwo anders hinzubegeben, als ins Musikzimmer, wo ich mich bald am Klavier niederließ.
Doch unter meinen Fingern erklang nur eine Reihe leichter Misstöne: verstimmt – nur leicht verstimmt, aber ich war mit dem absoluten Gehör gesegnet und konnte es nicht ertragen, weiterzuspielen. Seeluft ist schlecht für Klaviere; wenn ich meine Studien fortsetzen wollte, brauchte es einen Klavierstimmer im Haus! In einem Anflug von Enttäuschung warf ich den Klavierdeckel zu; was sollte ich jetzt tun, womit die langen, vom Meer erhellten Stunden verbringen, bis mein Gatte mich zu Bett bringen würde?
Bei dem Gedanken daran bebte ich wieder.
Die Bibliothek war offenkundig die Quelle seines Geruchs nach russischem Leder. Lange Reihen kalbslederner Einbände, braun und olivfarben, mit goldgeprägten Buchrücken, die kleineren Ausgaben in glänzendem Saffianleder. Ein dick gepolstertes Ledersofa, in dem man versinken konnte. Außerdem ein Lesepult, aus einem schweren Holzblock zum Adler mit ausgebreiteten Schwingen geschnitzt, auf dem eine aufgeschlagene Ausgabe von Huysmans’ Là-bas lag, eine besonders wertvolle Sonderausgabe, wie ein Messbuch mit Metall beschlagen und mit Schmucksteinen aus farbigem Glas verziert. Auf dem Boden Teppiche aus Isfahan und Buchara, in den tiefen, pulsierenden Blautönen des Himmels und einem Blutrot wie aus der Mitte des Herzens; die dunkle Wandvertäfelung schimmerte; vor den Fenstern spielte das Meer sein einschläferndes Lied, im Kamin knackten Apfelholzscheite. Die Flammen flackerten über Buchrücken in einer Vitrine, in der neue, kaum gelesene Exemplare standen. Éliphas Lévi – der Name sagte mir nichts. Ich überflog ein oder zwei Titel: Die Riten der Initiation, Ein Schlüssel zu allen Mysterien, Die geheimnisvolle Büchse der Pandora, und gähnte. Nichts, das eine Siebzehnjährige hätte ablenken können, die auf ihre erste Umarmung wartet. Am liebsten hätte ich einen Groschenroman zur Hand gehabt; ich wollte mich auf dem Teppich vor dem lodernden Feuer zusammenrollen, mich in einen billigen Schmöker vertiefen und klebrige Schnapspralinen essen. Wenn ich danach läutete, würde mir eines der Mädchen welche bringen.
Schließlich öffnete ich die Türen der Vitrine trotzdem und stöberte gelangweilt darin herum. Und ich glaube, ich ahnte es schon; noch bevor ich den schmalen Band ohne Titelei auf dem Rücken aufklappte, ließ mich ein Kribbeln in den Fingerspitzen wissen, was ich darin finden würde. Hatte er mir nicht zu verstehen gegeben, dass er ein Kenner in diesen Dingen war, als er mir den neu erstandenen, hochpreisigen Rops aus seiner Sammlung zeigte? Doch hiermit hatte ich nicht gerechnet. Ein Mädchen, dem die Tränen wie aufgestickte Perlen im Gesicht hingen, ihre Vagina eine gespaltene Feige zwischen den mächtigen Kugeln ihres Gesäßes, das kurz davor war, von einer neunschwänzigen Katze ausgepeitscht zu werden, während ein schwarz maskierter Mann mit einer freien Hand sein Glied befingerte, das so steil nach oben ragte wie der Krummsäbel, den er in der anderen hielt. Das Bild trug den Titel Gegeißelte Neugier. Meine Mutter hatte mir mit der ganzen Präzision und Ausführlichkeit ihres exzentrischen Wesens erklärt, was sich zwischen Liebenden abspielte; ich war zwar unschuldig, aber nicht naiv. Die Abenteuer der Eulalie im Harem des Großtürken war dem Impressum zufolge 1748 in Amsterdam gedruckt worden und ein seltenes Sammlerstück. Hatte es irgendein Vorfahre persönlich aus der Stadt im Norden mitgebracht? Oder hatte es mein Ehemann selbst erworben, in einem der staubigen kleinen Buchläden links der Seine, wo ein alter Mann durch zentimeterdicke Brillengläser seine Kundschaft beäugt und darauf lauert, ob man es wagt, einen seiner Schätze in die Hand zu nehmen … In ängstlicher Erwartung blätterte ich die Seiten um, die Lettern waren rostfarben. Ein weiterer Kupferstich: Die Opferung der Frauen des Sultans. Ich wusste genug, dass mir das, was ich im Buch sah, den Atem verschlug.
Plötzlich wurde der penetrante Ledergeruch in der Bibliothek noch intensiver; sein Schatten fiel über das Gemetzel auf der Buchseite.
»Hat meine kleine Nonne die Gebetbücher gefunden?«, fragte er in einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Wollust; als er meine qualvolle, wilde Verwirrung sah, lachte er mich laut an, riss mir das Buch aus den Händen und warf es aufs Sofa.
»Haben die schmutzigen Bilder meine Kleine verängstigt? Sie soll doch nicht mit Erwachsenensachen spielen, bis sie lernt, wie man damit umgeht, nicht wahr?«
Dann küsste er mich. Und dieses Mal ohne Zurückhaltung. Er küsste mich, schob seine Hand unter mein antikes Seidennegligé und griff mir herrisch an die Brüste. Ich stolperte die gewundene Treppe zum Schlafzimmer hinauf und geradewegs auf das geschwungene, vergoldete Bett zu, in dem er gezeugt worden war. Albern stammelte ich: Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen, es ist helllichter Tag …
Umso besser kann ich dich sehen.
Er ließ mich das Collier umlegen, Familienerbstück einer Frau, die dem Fallbeil entkommen war. Mit zitternden Fingern schloss ich das Ding um meinen Hals. Es war eiskalt und ließ mich frösteln. Er drehte mein Haar zum Zopf und hob ihn von meinen Schultern, um die flaumigen Falten unterhalb meiner Ohren besser küssen zu können; ich zitterte. Er küsste auch die strahlenden Rubine. Er küsste sie, bevor er meinen Mund küsste. Entrückt deklamierte er: »Die Teure war nackt / Und nichts mehr trug sie am Leib / als den klingenden Schmuck«.
Ein Dutzend Ehemänner spießten ein Dutzend Bräute auf, während die kreischenden Möwen vor den Fenstern sich auf unsichtbaren Trapezen durch die leere Luft schwangen.
Das Schrillen des Telefons brachte mich wieder zu Sinnen. Er lag neben mir wie eine gefällte Eiche und röchelte im Schlaf wie nach einem Kampf. Im Verlauf dieses einseitigen Gefechts hatte ich seine tödliche Selbstbeherrschung wie Porzellan an einer Wand zerschellen sehen; ich hatte ihn auf dem Höhepunkt kreischen und gotteslästern gehört; ich hatte geblutet. Und vielleicht hatte ich das Gesicht hinter seiner Maske gesehen. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls war ich völlig derangiert vom Verlust meiner Jungfräulichkeit.
Ich sammelte mich, griff in das Telefonschränkchen neben dem Bett und nahm den Hörer ab. Sein Agent in New York. Dringend.
Ich rüttelte ihn wach, rollte mich auf meine Seite des Betts und umschlang meinen verausgabten Körper mit den Armen. Seine Stimme surrte wie ein entfernter Bienenschwarm. Mein Ehemann. Mein Ehemann, der mein Schlafzimmer vor lauter Liebe mit Lilien füllen ließ, bis es aussah wie eine Aufbahrungshalle. Diese schläfrigen Lilien, die ihre schweren Köpfe wiegten und ihren opulenten, aufdringlichen Duft verströmten, der an verwöhntes Fleisch erinnerte.
Als er mit dem Agenten fertig war, drehte er sich zu mir und strich über die Rubinkette, die mir den Hals zuschnürte, diesmal aber mit solcher Zärtlichkeit, dass ich nicht mehr zusammenzuckte. Er liebkoste meine Brüste. Mein Liebling, kleiner Liebling, mein Kind, hat es ihr wehgetan? Es täte ihm so leid, welch Ungestüm, es hatte ihn übermannt, weißt du, er liebt sie so sehr … sein Liebesflöten brachte meine Tränen zum Fließen. Ich klammerte mich an ihn, als könnte nur derjenige, der den Schmerz ausgelöst hatte, mich darin trösten. Eine Weile redete er in einer Stimme auf mich ein, die ich noch nie an ihm gehört hatte, sanft wie der beruhigende Zuspruch der Wellen. Doch dann nestelte er meine Haarsträhnen von den Knöpfen seines Smokings, wo sie sich verfangen hatten, küsste mich einmal kurz und heftig auf die Wange und teilte mir mit, der Agent aus New York habe in so dringenden Angelegenheiten angerufen, dass er aufbrechen müsse, sobald die Flut weit genug zurückgegangen sei. Das Schloss verlassen? – Das Land verlassen! Und zwar für mindestens sechs Wochen.
»Aber es sind doch unsere Flitterwochen!«