Die Braut von Ashbyrn House - Amy Cross - E-Book

Die Braut von Ashbyrn House E-Book

Amy Cross

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

So lange habe ich auf dich gewartet. In England, meilenweit entfernt von der nächsten Stadt, steht ein verlassenes Haus. Seit vielen Jahren wagt niemand, es zu betreten. Es heißt, dass an einem der Fenster manchmal ein bleiches, totes Gesicht zu sehen ist, das geduldig hinter einem seidenen Brautschleier wartet ... Bis Owen Stone, um seinem hektischen Alltag in London zu entfliehen, Ashbyrn House kauft. Er glaubt nicht an Geister oder andere übernatürliche Mächte. Er ahnt nicht, dass Katinka Ashbyrn dort vor über 100 Jahren an ihrem Hochzeitstag starb und seither durch das Haus irrt, weil sie einen Ehemann sucht. Und ihre Präsenz beobachtet jede seiner Bewegungen.  Wenn dir DIE FRAU IN SCHWARZ gefallen hat, wirst du die Geistergeschichten von Amy Cross lieben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Aus dem Englischen von Marcel R. Bülles

Impressum

Die englische Originalausgabe The Bride of Ashbyrn House

erschien 2016 im Verlag Dark Season Books.

Copyright © 2022 by Blackwych Books Ltd.

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: Hannes Klein / 99designs unter Verwendung von

captblack76/AdobeStock, KAL’VAN/AdobeStock und

Leigh Prather/AdobeStock

Lektorat: Joern Rauser

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-252-0

www.Festa-Verlag.de

Vorwort

Er kehrt zurück. Ich wusste längst, dass er heimkehren würde. Geduldig habe ich in diesem leeren, finsteren Haus gewartet und immer erwartet, dass er wiederkommen würde. Wie auch nicht?

Absolute Stille herrscht im Haus, während ich am Fenster stehe. Nicht mal mehr Staub schwebt durch die Luft. Wenn ich ehrlich bin, vermute ich, dass sich in all den Jahren kein einziges Staubkorn in diesem Gebäude bewegt hat. Manchmal kriechen Spinnen an den Außenseiten des Fensters vorbei, aber im Inneren des Gebäudes sind sie schon seit Langem ausgestorben. Und ich habe gewiss nichts aufgewirbelt, auf meinen unaufhörlichen Wegen von einem leeren Raum zum nächsten und durch die Gänge, mit einer Geduld, die vollkommen rein ist.

Immer wartend.

Immer hoffend.

Immer wissend.

Und jetzt kehrt er doch zurück. Ich nehme Geräusche auf der anderen Seite der Mauer wahr, in der Nähe des Tors. Obwohl das Haus selbst noch in Finsternis gehüllt dasteht, glitzert der Rasen bereits im frühen Sonnenschein. Ashbyrn House ist so schön, wie es das zu allen Zeiten war. Das Einzige, was noch fehlt, ist die Rückkehr seines rechtmäßigen Besitzers und dass er an seinem großen Mahagonischreibtisch Platz nimmt.

Dann kann er seine Arbeit wieder aufnehmen. Es hat mich nie gestört, auf ihn zu warten, denn ich wusste schon seit langer Zeit, dass ihn sein Herz zu mir zurückbringen würde.

Endlich sehe ich ihn in der Ferne, auf der anderen Seite des Gartens. Vorsichtig nähert er sich dem Tor, fast schon ängstlich, aber ohne Zweifel ist er es. Er wirkt jetzt älter, aber seine Haltung hat sich nicht geändert, als er dort stehen bleibt und einen Blick auf den Rasen wirft. Warum zögert er? Warum schließt er nicht schon das Tor auf, um seinen Grund und Boden zu betreten? Vielleicht ist er eingeschüchtert. Vielleicht kann er noch nicht glauben, dass er nun zu Hause ist. Also, ich vermute, ich werde mich weiter in Geduld üben müssen. Immerhin gehört Geduld zu meinen größten Stärken. Neben Loyalität, Mitgefühl und einem ausgeglichenen Temperament.

»Willkommen zurück«, flüstere ich und erlaube mir ein sanftes Lächeln. »Willkommen in …«

Plötzlich sieht er mich direkt an und einen Atemzug später weicht er einen Schritt zurück. Ich spüre, wie sich eine Angst in mir ausbreitet … Das ist eine unerträgliche Last. Und dann wird mir klar, dass er aus irgendeinem Grund seine Meinung geändert hat. Ich ermahne mich, jetzt nicht in Panik zu geraten, denn zweifellos wird er seinen Fehler bemerken und zu mir zurückkehren. Doch dann weicht er einen weiteren Schritt zurück. Es sieht fast so aus, als ob er …

… wieder geht?

»Nein«, flüstere ich und mein Entsetzen verwandelt sich in Zorn. »Nein, das darfst du nicht! Ich habe doch gewartet. Du musst wieder zu mir kommen!«

Er wendet sich ab, und jetzt bleibt mir nur noch übrig, laut aufzuschreien. Er muss zurückkehren, er muss einfach, und dennoch sehe ich einen Augenblick später, wie sein Fahrzeug am Tor vorbeifährt, in Richtung Straße. Ich schreie und schreie und schreie, weil ich ihm seinen Fehler vor Augen führen will, aber allmählich kann ich spüren, wie er sich immer weiter von mir entfernt. Ich stürze durch das Fenster, fliege über den Rasen bis zum Tor, doch als ich dort ankomme, sehe ich nur noch sein Fahrzeug hinter der nächsten Ecke verschwinden. Ich schreie noch einmal, obwohl ich längst weiß, dass er zurückkehren wird. Das muss er einfach.

Er hat keine Wahl.

1

Owen – Heute

»Erzählen Sie mir nichts von Geistern. Für so etwas interessiere ich mich nicht. Allein die Vorstellung ist abergläubischer Unsinn.«

»Natürlich, aber …«

»Dann hören Sie doch bitte damit auf, das immer wieder anzusprechen.«

»Okay, aber ich möchte …«

»Denn wenn Sie noch einmal das Thema Geister ansprechen, hat es sich mit diesem Verkauf erledigt. Haben Sie verstanden? Noch ein einziges Mal, und das war’s.«

Ich bleibe am Rand des ziemlich großen Teichs stehen, drehe mich um und blicke zum Haus zurück. Eine dichte Baumreihe bietet dem eindrucksvollen Ashbyrn House hier am Rande der Stadt ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit. Sofern ich ein paar ›Betreten verboten!‹-Schilder aufstelle, werden mich die Einheimischen wohl kaum stören. Vielleicht sollte ich mir auch einen großen Hund zulegen. Einen, der dem Briefträger richtig Angst einjagt.

Natürlich habe ich mich noch nicht entschieden, ob ich dieses Anwesen auch tatsächlich kaufen werde.

»Sie sind ein vernünftiger Mann, Mr. Stone«, bemerkt der Makler in seinem wie immer munteren Ton. »Das ist gut, ich bewundere Ihre Entschlossenheit. Allerdings möchte ich nicht versäumen, Ihnen gegenüber die Vergangenheit von Ashbyrn House zu erwähnen.«

»Vergangenheit ist doch bloß Vergangenheit«, brumme ich und sehe mit zusammengekniffenen Augen zum Dach hoch. »Ich interessiere mich viel mehr für das Praktische. Wenn ich das richtig verstehe, steht Ashbyrn House unter Denkmalschutz, oder?«

»Das stimmt. Es gilt also, bei allen Renovierungsarbeiten, die Sie möglicherweise durchführen wollen, gewisse Auflagen zu beachten.« Er gibt ein leises, trillerndes Lachen von sich. Zumindest glaube ich, dass es ein Lachen ist. »Darum dürfen Sie es nicht einfach abreißen und einen Neubau errichten.«

»Ich habe überhaupt nicht vor, etwas zu verändern. Ich denke nur über einige Reparaturarbeiten nach.«

»Familie Ashbyrn hat das Haus auch recht gut in Schuss gehalten«, fügt er hinzu. »Und in Anbetracht der Tatsache, dass hier seit mehreren Jahrzehnten niemand mehr gewohnt hat, kann man in der Frage des Verschleißes …«

»Können Sie mir noch mal sagen, warum?«, frage ich und wende mich ihm zu. »Warum zum Teufel lässt eine Familie einen solchen Ort ungenutzt?«

Er setzt zur Antwort an, aber etwas scheint ihn zurückzuhalten.

»Lassen Sie mich raten«, schlage ich stattdessen vor. »Aberglaube?«

»Etwas in der Art …«

Ich kann mir einen Seufzer nicht verkneifen. »Sie wollen mir tatsächlich erzählen, dass ein Herrenhaus im Wert von fünf Millionen Pfund seit ein paar Jahrzehnten vor sich hin schimmelt, weil ein paar arrogante Möchtegernschauspieler nachts irgendwelche Geräusche gehört haben?«

»Na ja …«

Er zögert erneut.

»Das stimmt so auch nicht ganz«, fährt er schließlich fort. »Die Familie war lange nicht willens, Ashbyrn House zu verkaufen, denn es befindet sich nun schon seit einigen Jahrhunderten in ihrem Besitz. Es ist ihr Familiensitz. Bedauerlicherweise sind sie aufgrund der aktuellen Wirtschaftslage aber gezwungen, das Haus auf den Markt zu bringen.« Er schluckt schwer. »Mr. Stone, mein Gewissen zwingt mich dazu, Ihnen die Geschichte dieses Hauses zu erzählen. Wenn Sie sich zu diesem Kauf entscheiden, wäre ich ausgesprochen unglücklich darüber, wenn Sie später das Gefühl hätten, hinters Licht geführt worden zu sein.«

»Und ich fühle mich gezwungen, Ihnen mitzuteilen«, antworte ich, »dass meiner Ansicht nach die Vergangenheit nichts ist als … vergangen. Ich glaube ebenso wenig an Geister wie an fliegende Untertassen oder Einhörner. Und jetzt muss ich bald nach London zurück. Wenn Sie also nichts dagegen haben, zeigen Sie mir bitte noch den Rest des Anwesens, bevor ich aufbreche? Und lassen Sie uns bei den Tatsachen bleiben. Ich brauche keine Geistergeschichten.«

***

Einige Minuten später erreichen wir die Rückseite des Hauses, und dort stelle ich mit Überraschung fest, dass sich zwischen den Bäumen die Ruine einer Kirche befindet. In dem Immobilienexposé war zwar eine Art Außengebäude erwähnt worden, dabei hatte ich aber bloß an ein paar alte Ziegelsteine oder Steinbrocken gedacht. Stattdessen erheben sich hier im Schein der Mittagssonne mehrere halb zerfallene Mauern, und der noch erhaltene Gebäudekern ist weit größer, als ich es erwartet habe.

»Und voilà!«, sagt der Makler und dreht sich mit einem nervösen Lächeln zu mir um. »Die Ruine von St. Helen. Die hiesige Gemeindekirche befindet sich nun in dem Dorf, nur ein paar Kilometer entfernt. Aber man geht davon aus, dass bereits im 18. Jahrhundert hier auf dem Anwesen von Ashbyrn House eine Kirche gestanden hat. Wie Sie sehen können, ist sie allerdings ziemlich heruntergekommen. Irgendwann im 19. Jahrhundert wurde ein Großteil des Gebäudes abgerissen, um die Steine verkaufen zu können. Die Zeiten waren schlecht, verstehen Sie? Ich bedaure das natürlich, aber mehr ist nun mal nicht von ihr übrig.«

»Ist der Rest denn noch sicher?«, frage ich, als ich in den Schatten der Ruine trete.

»Sicher?«

»Oder ist es wahrscheinlich, dass sie beim nächsten Sturm umkippt?«

Als ich mich gegen eine der kaputten Mauern lehne, fühlt sie sich stabil an.

»O nein. Überhaupt nicht. Man hat die Fundamente vor dem Verkauf ausführlich untersucht. Sie sind so solide wie die des Hauptgebäudes.«

»Und ist dies geweihter Boden?«, frage ich.

»Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt«, lautet seine Antwort. »Wahrscheinlich war das mal der Fall. Ich habe aber keine Ahnung, ob es sich hier um etwas handelt, das nach einiger Zeit … abläuft. Vielleicht müsste man es noch mal auffrischen, sozusagen.«

»Eine alte Kirche im Garten«, murmle ich und empfinde die Situation als ziemlich seltsam. »Ich bezweifle, dass es viele Häuser im Land gibt, die so etwas zu bieten haben.«

»Sind Sie ein gläubiger Mensch, Mr. Stone?«

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Nein«, antworte ich, während ich immer noch zu dem beschädigten Turm hinaufschaue. »Das bin ich nicht.«

»Wenn ich das richtig verstehe, dann arbeiten Sie im Verlagswesen?«

»So was in der Richtung, ja. Ich schreibe.«

»Wie faszinierend! Was schreiben Sie denn?«

»Worte.«

Ich höre, wie er sich mir nähert und über die schützende Schicht aus gefallenen Blättern auf mich zugetrampelt kommt. Er bleibt direkt neben mir stehen und schaut einen Augenblick lang gemeinsam mit mir zur Ruine hinauf. Der weitläufige, herbstliche Garten von Ashbyrn House hüllt sich in Schweigen, nur unterbrochen durch gelegentliches Blätterrauschen und das leise flüsternde Schilf. Einige Eichhörnchen scheinen unterwegs zu sein.

»Ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen noch von den Glocken erzählen sollte«, ergreift der Makler schließlich das Wort.

»Den Glocken?«

»Genau, den Glocken.«

»Gehört das auch zu einer Geistergeschichte?«

»Nun …«

»Wenn ja, dann möchte ich sie nicht hören.«

Er seufzt. »Mein Gewissen …«

»Ach, Sie und Ihr Gewissen«, brumme ich, und nun bin ich an der Reihe mit dem Seufzen. »Ich bin wirklich nicht an Aberglauben interessiert«, füge ich hinzu, trete an ihm vorbei und gehe an der einen Seite der alten Kirche entlang. Das Dach ist natürlich nicht mehr vorhanden, aber Teile der Fundamente sind noch zu erkennen und auf der anderen Seite befinden sich einige alte Treppenstufen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies vor langer Zeit ein ziemlich großes Gebäude gewesen sein muss. Und natürlich habe ich keine Verwendung für eine zerstörte Kirche, auch wenn ich kurz darüber nachdenke, wie sehr sich Vanessa darüber gefreut hätte, ein solches Anwesen kaufen zu können.

Sie hätte die wundervollsten Gartenfeste organisiert.

»Ich muss Ihnen aber von den Glocken erzählen«, sagt der Makler plötzlich.

Als ich mich zu ihm umdrehe, bemerke ich eine Spur von Angst in seinem Blick.

»Wahrscheinlich ist es unwichtig«, fährt er fort, »aber eine von den vielen Geschichten zu diesem Ort …«

Ich warte darauf, dass er weiterspricht, aber davor scheint er plötzlich zu große Angst zu haben. Ich habe ja zuerst gedacht, dass er diese Geistergeschichten nur erzählen will, um mein Interesse zu wecken und den Preis nach oben zu treiben. Aber nun wird mir klar, dass er diesen Unsinn wirklich glaubt.

Dann spricht er vorsichtig weiter. »In einigen Nächten werden Sie vielleicht kurz hören, dass an diesem Ort die Glocken ertönen. Manchmal nur ein paar Sekunden lang, manchmal eine Minute oder zwei. Andere Leute haben sie im Laufe der Jahre auch schon gehört. Nicht nur im Haus selbst, sondern … Das haben auch Menschen erwähnt, die rein zufällig auf der Hauptstraße vorbeigefahren sind oder auf dem Weg neben dem Anwesen.«

»Glockengeläut?«, frage ich mit skeptisch erhobener Augenbraue.

Er wirft einen Blick zu dem zerstörten Turm hinauf.

»Offensichtlich gibt es hier keine Glocke«, erklärt er. »Wahrscheinlich hat es einmal eine gegeben, als die Kirche noch genutzt wurde, aber wie gesagt … das ist schon lange her. Trotzdem haben mehrere Leute – und zwar vernünftige Leute – berichtet, dass sie sie gehört haben.«

Ich warte einen Augenblick, für den Fall, dass diese absurde Geschichte noch weitere Details bietet, kann mir am Ende aber ein schwaches Grinsen nicht verkneifen.

»Ist das die dramatische Geschichte dieses Hauses?«, frage ich. »Geisterglocken?«

»Na ja, es gibt noch mehr«, nimmt er den Faden wieder auf. »Man sagt, dass das Haus selbst …«

»Ich nehme Ihnen alles ab«, entgegne ich.

Er wirkt schockiert und starrt mich mit offen stehendem Mund an.

»Nein, nicht diese seltsame Geistergeschichte«, fahre ich fort. »Ich meine Ashbyrn House. Das Haus und das Anwesen. Ich kaufe alles, bar, und zwar den geforderten Preis. Es ist fernab vom Schuss, also sollte ich hier in der Lage sein, mit meiner Arbeit voranzukommen. Und sofern es keine weiteren Verpflichtungen gibt, werde ich hoffentlich schnell einziehen können. Allerdings habe ich eine Bedingung. Und diese Bedingung lautet, dass Sie nie wieder auch nur ein einziges Wort über Geister, Ghoule oder eingebildete Glocken verlieren dürfen. Wenn ich aus Ihrem Mund noch einmal so etwas höre, bevor der Vertrag unterschrieben ist, dann verabschiede ich mich und suche mir ein anderes Haus. Verstehen wir uns?«

Er scheint einen Augenblick zu zögern, bevor er schließlich nickt.

»Ich freue mich, dass wir uns verstehen«, bemerke ich. »Also setzen Sie bitte die Verträge auf und schicken Sie sie meinem Anwalt. Hoffentlich können wir dann alles noch vor Monatsende unterschreiben.«

»Natürlich«, murmelt er und notiert sich das auf seinem Klemmbrett. Er wirkt nervös und scheint noch etwas loswerden zu wollen, aber ehrlich gesagt ist mir seine abergläubische Furcht inzwischen egal. Ashbyrn House wird schon seinen Zweck erfüllen, und ich möchte nur möglichst wenig Komplikationen und Stress damit haben. Ich kann hier ungestört arbeiten und meinen Kontakt zum Rest der Menschheit auf ein Minimum beschränken.

Ich will einfach bloß meine Ruhe.

»Und werden ausschließlich Sie hier einziehen?«, fragt mich der Makler, während er sich weiter Notizen macht. »Oder …«

Ich drehe mich zu ihm um.

»Nur ich«, sage ich einen Augenblick später. »Und glauben Sie mir, das ist genau das, was ich mag.«

2

Katinka – 1859

Manchmal denke ich, es kann auf der gesamten Welt keinen schöneren Ort geben. Ashbyrn House ist in jederlei Hinsicht vollkommen. Das Haus überragt einfach alles, gleichgültig was geschieht. Ich vermute sogar, dass unser bescheidenes Zuhause zu einem positiven Signal in unserer ganzen Gegend geworden ist und dass manche Leute aus verschiedenen Nachbarorten ihm mit Bewunderung begegnen, wenn sie hier vorbeikommen. Das Haus ist solide gebaut, verlässlich und strahlt sogar eine gewisse Ehre aus. In dieser Hinsicht erinnert mich Ashbyrn House ganz an Vater.

Ich hebe mein Kleid leicht an, damit der Saum nicht durch den Schlamm gezogen wird, und gehe durch den Wald am Fuß des Gartens. Das Sonnenlicht tänzelt schillernd über den Rasen, als sich die Baumwipfel in der kühlen Brise sanft hin und her wiegen. Vor mir eilt ein Eichhörnchen einen Baum hinauf, und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als es auf halber Höhe anhält. Es hat etwas in seinem Maul, ohne Zweifel eine Nuss. Zu sehen, wie es mit seiner Arbeit vorankommt, ist ein angenehmer Anblick.

»Hallo, Herr Eichhörnchen«, sage ich grinsend. »Lassen Sie sich nicht von mir stören. Bitte machen Sie ruhig weiter.«

Als hätte es meine Worte verstanden, klettert es höher nach oben und verschwindet schließlich im Gewirr der Äste. Ich bemerke es noch einmal kurz, als es Anlauf nimmt und zum nächsten Baum springt, und dann ist es im Baumkronendach schon nicht mehr zu sehen.

»Das Leben geht weiter«, flüstere ich. »Vater mag nicht mehr da sein, aber das Leben …«

Einen Augenblick lang breitet sich die Trauer in meiner Brust aus. Es ist genau ein Jahr her, dass Vater in seinem Arbeitszimmer tot umfiel. Ich habe schon lange erwartet, dass ich ein wenig schwermütig werden würde. Die anderen dagegen scheinen es ganz leicht vergessen zu können, aber Vaters Tod verfolgt mich immer noch. Ich vermisse ihn, aber wenigstens kann ich mich über das Haus freuen, das er baute, und über das Anwesen, um das er sich so liebevoll gekümmert hat.

»Wachst du über mich, Vater?« Ich spreche die Worte laut aus, sehe mich um und blicke zum Wald hinüber. »Kannst du mir ein Zeichen geben? Egal was. Nur ein Zeichen …«

Ich warte.

Nichts passiert.

Vielleicht bin ich naiv, weil ich glaube, dass der Tod mehr ist als nur absolutes, vollständiges Vergessen. Es gibt keine Spur mehr von Vater, außer dem, was ich in meinem Herzen für ihn empfinde.

Nun gut, es ist ein schöner Tag und ich zwinge mich schnell, mich daran zu erinnern, dass ich in vielerlei Hinsicht die glücklichste Frau überhaupt bin. Immerhin wird Ashbyrn House mein Eigentum sein, sobald ich heirate, und dieser schicksalhafte Termin steht nun fest. Es mag sein, dass mein Ehemann die Kontrolle über den Besitz erhält, aber niemand wird mir jemals Ashbyrn House nehmen. Das Gesetz dieses Landes verlangt, dass ich einen Ehemann haben muss, wenn ich in diesem Haus bleiben möchte. Glücklicherweise habe ich genau den richtigen Mann gefunden.

Hier werde ich leben und hier werde ich heiraten. Dies ist mein Zuhause. Für immer.

Als ich einen goldgelben Fleck am Boden entdecke, bleibe ich stehen und knie mich hin, um einen weiteren herrlichen Pfifferling zu pflücken. Wir haben solches Glück, dass diese Delikatessen auf unserem Boden in einer solchen Menge gedeihen. Einige Menschen hungern nach Trüffeln, aber für mein Empfinden ist der Pfifferling ein wesentlich verlockenderer Fund. Vater hatte mich als Kind mit nach draußen genommen, um nach diesen Pilzen zu suchen, und selbst jetzt kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich weitere frische Exemplare auf meine Handfläche fallen lasse.

Vater wäre sehr stolz auf mich.

Ich stehe wieder auf und gehe auf der Suche nach weiteren Pfifferlingen zwischen den Bäumen hindurch. Doch nach nur kurzer Zeit höre ich ein Ächzen ganz in der Nähe. Ich bleibe gerade noch rechtzeitig stehen, um nicht in den Mann hineinzulaufen – einen Mann von der Straße, der sich auf unserem Anwesen befindet und auf unserem Grund und Boden gerade ebenfalls Pilze sammelt. Er wirkt hager und schmutzig, und seine Kleidung scheint bedauernswert abgetragen. Es dauert einen Moment, bevor er plötzlich aufgeschreckt herumwirbelt und mich anschaut.

»Wer sind Sie?«, frage ich und weiche mit pochendem Herzen einen Schritt zurück.

»Ich …«

Er scheint wie erstarrt, doch einen Augenblick später bemerke ich, dass neben ihm ein kleiner Stoffbeutel liegt. Offensichtlich ist er über die Mauer unseres Anwesens gestiegen und stiehlt nun Pilze von unserem Land.

»Machen Sie, dass Sie wegkommen!«, bringe ich in dem Versuch, nicht in Panik zu geraten, stotternd hervor. Zur gleichen Zeit überwältigt mich der Gedanke beinahe, vergewaltigt und ermordet zu werden. »Ich werde schreien, wenn Sie das nicht tun! Das Haus ist voller Leute und …«

Dann höre ich noch ein schlurfendes Geräusch in der Nähe. Ich drehe mich um und sehe, wie ein Junge auf uns zukommt. Er ist genauso dünn und hager wie der Mann, und es scheint, dass seine letzte vernünftige Mahlzeit schon eine Weile her ist. Es ist ein recht verstörender Anblick.

»Sind das diese, Papa?«, fragt er, geht zu dem Mann hinüber und hält ihm zitternd seine Hand hin. Mich betrachtet er mit Vorsicht.

Der Mann mustert mich kurz und wendet sich dann dem Jungen zu, um dessen Pilzsammlung zu begutachten.

»Den hier und den hier«, sagt er und hebt zuerst zwei Pfifferlinge hoch. Dann nimmt er einen anderen Pilz zur Hand und sagt: »Aber nicht den. Der würde dir einen Tag und eine Nacht lang Bauchschmerzen bereiten, vielleicht sogar länger.«

Der Junge zögert, bevor er die Pfifferlinge in den Beutel seines Vaters fallen lässt.

»Es tut mir leid«, sagt der Mann, als er aufsteht. Er nimmt seine Leinenmütze ab. »Wir sind nur auf der Durchreise. Ich weiß, dies ist Privatbesitz, aber wir, nun ja, wir hatten gehofft, ein wenig sammeln zu können. Verstehen Sie, wir brauchen etwas zu essen.«

»Sie können aber nicht einfach auf unser Land kommen und sich nehmen, was Sie wollen«, tadele ich ihn.

»Nein, da haben Sie recht.« Er hält inne. »Es war falsch, hierherzukommen, und es tut mir aufrichtig leid. Wir werden das, was wir gesammelt haben, hier zurücklassen. Ich bin mir sicher, wir werden auch im Wald jenseits Ihrer Mauern etwas finden. Es ist bloß so, dass wir sehr hungrig sind. Und als wir an Ihrem Tor vorbeikamen, habe ich mehrere Pfifferlinge gesehen, und sie wirkten im Sonnenschein so schön …«

Er verstummt allmählich.

»Papa?«, flüstert der Junge. »Was tun wir jetzt?«

»Wir werden diese feine Dame in Ruhe lassen, Joe«, antwortet der Mann und macht sich mit dem Jungen auf den Weg. »Es war nicht recht von uns, hier einzudringen.«

Sie wirken dermaßen elend und arm, schlimmer als alles, was ich je zuvor in meinem Leben gesehen habe.

Ich habe wohl gehört, dass es solche Menschen gibt, natürlich. Aber ich habe immer gedacht, es gäbe sie nur in den Städten.

Ich hätte nie erwartet, auch hier auf sie zu treffen, auf dem Grund und Boden meines eigenen Zuhauses.

Schließlich rufe ich ihnen hinterher: »Sie können die genauso gut mitnehmen!«

Beide drehen sich zu mir um.

»Die Pilze, die Sie bereits gesammelt haben«, fahre ich fort, entsetzt von der dürren Gestalt des Jungen und dem Gefühl, dass er mit Sicherheit verhungern wird, wenn er nicht bald etwas zu essen bekommt. »Ich bin kein kaltherziger Mensch und mir sind die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse durchaus bewusst. Nehmen Sie die Pilze, aber nur unter der Bedingung, dass Sie nie wieder etwas von unserem Land stehlen. Verstehen wir uns?«

»Sind Sie sicher?«, fragt der Mann. »Wir haben kein Geld, um sie zu bezahlen.«

»Nehmen Sie sie«, antworte ich, »und jetzt gehen Sie. Sollte ich Sie je wieder auf dem Land meiner Familie entdecken, lasse ich die Hunde auf Sie los. Haben wir uns verstanden?«

Natürlich haben wir keine Hunde, aber das kann der Mann ja nicht wissen. Er nickt, murmelt etwas von Dankbarkeit und schnappt sich den Stoffbeutel. Dann gehen er und sein schmerzlich dürrer Sohn zur Mauer, klettern hinüber und verschwinden aus meinem Sichtfeld.

Ich lehne mich an einen Baum, um mein Herzrasen in den Griff zu bekommen. Ich hatte großes Glück, diesen Tag nicht als blutendes Bündel auf dem Boden zu beenden. Meiner Vermutung nach war es meine Geste der Großzügigkeit, die sie freundlich gestimmt hat. Offensichtlich sind das obdachlose Landstreicher, und ich hätte sie verjagen sollen, ohne ihnen ihre Beute zu überlassen. Aber der Junge wirkte so verloren und verschüchtert. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er bald schon verhungern könnte. Außerdem würde ich die Pilze, die ihre dreckigen Finger berührt haben, sowieso nie essen wollen. Ich hätte mir gewiss irgendeine furchtbare Krankheit eingefangen.

Als ich höre, wie sich das Haupttor öffnet, drehe ich mich um und bemerke, dass eine Kutsche am Haus angehalten hat. Erleichtert stelle ich fest, dass mein Porträt nun endlich angekommen ist.

***

»Das wird aber auch Zeit!«, murmle ich, während ich in Richtung Flur gehe. »Ich verstehe nicht, warum der alte Mann so lange gebraucht hat. Er hat fast ein ganzes Jahr an dem Gemälde gearbeitet. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass es nicht rechtzeitig zur Hochzeit fertig werden würde!«

»Du sollst dir doch nicht so viele Sorgen machen«, antwortet Pippa und keucht leise, während sie mit mir Schritt zu halten versucht. »Meine liebe Schwester, du wirst noch krank werden, wenn du so weitermachst!«

Ich übergehe ihre Worte und gehe schneller in der Hoffnung, dass sie nicht mehr mit mir Schritt halten kann.

»Außerdem«, fährt sie fort und klingt ein wenig außer Atem, »wenn du dem Künstler mehr gezahlt hättest, hätte er seinem Werk sicher auch eine höhere Priorität eingeräumt.«

»Alles muss perfekt sein!«, fauche ich und erreiche endlich den Flur, an dessen anderem Ende das Gemälde an der Wand lehnt. Es ist in braunes Papier gehüllt, das die Lieferanten nur Momente später wegziehen. Endlich kann ich das fertige Gemälde sehen. »Ich werde Zeit haben, mich zu entspannen, wenn ich …«

Ich bin von der Schönheit des Bildes vor mir wie vom Blitz getroffen und bleibe schlagartig stehen. Natürlich ist es nicht das Gemälde an sich, denn das ist eine armselig ausgeführte, ganz gewöhnliche Angelegenheit, aber die dargestellte Figur ist wirklich außerordentlich. Ich muss dem Künstler im vergangenen Jahr mindestens zwei Dutzend Mal Modell gestanden haben, und er hat meine Eleganz, Anmut und Haltung originalgetreu wiedergegeben. Ganz abgesehen von meiner besonders schlanken und attraktiven Gestalt. Meine Taille allein ist ein wahres Kunstwerk, und ich bin mir sicher, dass alle Damen in London vor Neid erblassen würden.

»Es ist hübsch«, sagt Pippa, die neben mir stehen geblieben ist. »Sogar sehr hübsch.«

Ich kann ihr nicht antworten. Von meiner eigenen Schönheit bin ich wie verzaubert.

»Sehr, sehr hübsch«, spricht sie weiter. »Das ist eines der hübschesten Gemälde, welche ich je gesehen habe.«

»Hübsch?«, bringe ich schließlich heiser hervor und trete einen Schritt näher an das Gemälde heran. Ich kann mich an meiner eigenen Gestalt gar nicht sattsehen. »Ist das alles, was du zu sagen hast? Hübsch?«

»Es ist reizend!«

Jemand hustet in der Nähe, und als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass die Lieferanten auf etwas warten.

»Ich glaube, sie erwarten, bezahlt zu werden«, flüstert Pippa mir zu. »Dafür, dass sie es hierhergebracht haben.«

»Ach was«, antworte ich lautstark, weil allein der Vorschlag mich beleidigt. »Verschwinden Sie, beide! Wenn jemand Sie für Ihre Arbeit bezahlen soll, dann doch wohl Henry Canterwell selbst, der Maler! Von mir bekommen Sie nichts, nicht mal einen Shilling!«

Die beiden Männer scheinen überrascht.

»Verschwinden Sie sofort aus meinem Haus!«, rufe ich. »Raus!«

Sie wenden sich ab und eilen durch die Vordertür hinaus, besitzen allerdings noch die Frechheit, unzufrieden zu murren.

»Warum ist die Arbeiterklasse denn nur ständig auf Geld fixiert?«, murmle ich, bevor ich mich wieder dem Gemälde zuwende. »Dabei sollte es ihnen eine Ehre sein, ein so wundervolles, gewaltiges Kunstwerk geliefert zu haben. Tatsächlich hätte ich nicht übel Lust, sie zurückzurufen und zu verlangen, dass sie mich für dieses Privileg bezahlen! Schau mich an! Ich bin doch absolut … großartig!«

»Ja, Katinka«, sagt Pippa schüchtern und klingt wieder wie sonst: unsicher und nichtssagend. »Es ist ein wirklich bezauberndes Gemälde, wirklich! Sehr hübsch, und … ganz bemerkenswert!«

»Es muss an einen Ehrenplatz«, hauche ich und trete an die Leinwand heran. »Es muss alles überstrahlen, sodass Besucher es nicht übersehen können. Manchmal sollte ein schlichter Verstand dazu gebracht werden, die ihm Übergeordneten anzuerkennen.«

»Aber natürlich«, sagt Pippa leise. »Was immer du damit meinst. Aber erst mal solltest du Mutter fragen.«

»Unsinn. Das geht sie gar nichts an.«

»Aber sie …«

»Sie hat nur noch eine Woche lang das Sagen«, füge ich hinzu. »Danach gehört das Haus Charles und mir. Es wäre besser für Mutter, sie würde sich an diese Tatsache gewöhnen.«

»Na ja, vermutlich«, antwortet Pippa, auch wenn sie meine Begeisterung nicht zu teilen scheint. »Du könntest sie ja vielleicht trotzdem fragen, bevor du das Gemälde aufhängst. Aus reiner Höflichkeit.«

»Ich bin so schön.« Ich neige meinen Kopf leicht zur Seite, um das Gemälde besser betrachten zu können. »Manchmal vergesse ich das. Ich werde nächste Woche die wunderschönste Braut abgeben. Und dann ist Ashbyrn House gerettet. Die Familie wird nie wieder Gefahr laufen, es zu verlieren.«

3

Owen – Heute

»Du ziehst wohin?«, fragt Charlie, als ich meine Aktentasche auf dem Schreibtisch ablege. »Cornwall? Warum zur Hölle sollte irgendjemand nach Cornwall ziehen? Da gibt es doch … nichts!«

»Genau«, lautet meine Antwort, als ich die Tasche öffne und meine Unterlagen hervorhole. Zwei Wochen sind seit meinem Besuch in Ashbyrn House vergangen. Alle notwendigen Unterlagen sind inzwischen unterschrieben und das Haus gehört mir. Einige zusätzliche Pfund haben die Abwicklung noch beschleunigt, und jetzt muss ich nur noch die Schlüssel abholen. »Na ja, natürlich gibt es dort auch ein paar Leute, aber ich habe ein Haus gefunden mit einem großen Anwesen, und bis zur nächsten Stadt ist es ein ganzes Stück. Ich hoffe also, auf so wenige Leute zu treffen wie möglich.«

»Aber Cornwall! Das sind doch Hunderte von Kilometern! Du wirst einen Koller kriegen!«

»Ich werde definitiv einen Koller kriegen, wenn ich in London bleibe«, murmle ich und werfe einen Blick durch das Fenster, während von draußen der Verkehrslärm hereindringt. Selbst aus dem ersten Stockwerk sehe ich 20, vielleicht 30 Menschen auf der Straße. Wenn ich in Cornwall meine Trümpfe richtig ausspiele, dann sehe ich dort vielleicht das ganze Jahr über 20, höchstens 30 Menschen. Ich kann es kaum erwarten, London so weit wie möglich hinter mir zu lassen.

»Wie wär’s, wenn wir in den Pub gehen und noch mal drüber quatschen?«, fragt Charlie und kommt zu mir herüber. »Du bist da vielleicht ein bisschen zu voreilig.«

»Meine Entscheidung steht.«

»Aber gehen nicht bloß Leute nach Cornwall, die sterben wollen?«

»Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist.«

»Was ist die größte Stadt in Cornwall? Haben die überhaupt Städte? Oder gibt es da nicht nur Dörfer und alte Zinnminen? Kennen die schon Strom?«

Ich werfe ihm einen Blick zu. »Du hast London noch nicht oft verlassen, oder?«, gebe ich zu bedenken.

»Auf jeden Fall bin ich noch nie in Cornwall gewesen«, antwortet er in einem Tonfall, als wäre allein die Idee albern. »Ich musste auch noch nie dahin. Da ist ja nix.« Er hält einen Augenblick inne und sieht mir zu, wie ich die Unterlagen sortiere, die ich bereits im Zug ausgefüllt habe. »Du machst das wirklich, oder?«, fragt er mich einen Augenblick später. »Du hast schon eine ganze Zeit lang gesagt, dass du keine Lust mehr auf Leute hast, aber ich dachte immer, du bluffst nur. Das Haus, in das du ziehst … Ich vermute mal, dass es ziemlich abgelegen ist.«

»Sehr abgelegen.«

»Aber du hast kein Auto, Owen.«

»Es gibt ja auch keinen Ort, zu dem ich fahren muss.«

»Gibt es wenigstens einen Pub in der Nähe?«

»Ich glaube, schon. Im nächsten Ort.«

»Und wirst du da vielleicht mal hingehen?«

»Wenn ich den Bedarf nach menschlicher Gesellschaft habe. Was aber unwahrscheinlich ist. Um ganz ehrlich zu sein, ich hoffe, dass ich mit niemandem reden werde außer mit der Person, die mir einmal in der Woche meine Lebensmittel liefert. Ich werde ganz allein in Ashbyrn House herumwerkeln.«

»Ashbyrn House? Das Ding hat sogar einen eigenen Namen? Wie groß ist das denn?«

»Zu groß, aber damit komme ich bestimmt klar. Ich bleibe einfach nur in einem Teil des Hauses. Ich wollte keine Zeit damit verschwenden, noch nach was anderem zu suchen.«

»Das heißt, du hast das gesamte Geld von den Filmrechten für dein letztes Buch dafür verplempert?«

»Einen Teil davon.«

Ich kümmere mich wieder um meine Unterlagen, doch Charlie folgt jeder meiner Bewegungen. Nur kurze Zeit später spüre ich, wie meine Laune in Ärger umzuschlagen beginnt.

»Was denn?«, frage ich schließlich.

»Hat das mit Vanessa zu tun?«

Ich drehe mich zu ihm um.

»Hat es doch, oder?«, spricht er weiter. »Owen …«

»Es ist genau das, was mir vorschwebt«, sage ich entschieden und in der Hoffnung, ein weiteres qualvolles Gespräch über Vanessa zu vermeiden. »Ich bleibe nach wie vor mit dem Büro in Kontakt, per E-Mail, und ich habe auch ein Telefon. Ich habe noch nicht mal was gegen einen gelegentlichen Besuch, aber von London habe ich die Nase voll. Ich bin lang genug hier gewesen. Ich bin mittlerweile fast 45, und ich glaube, ich habe es mir allmählich verdient, mein Leben so zu führen, wie ich es führen möchte. Ich habe versucht, so zu tun, als ob ich mich in der Nähe anderer Menschen wohlfühlen würde, aber das funktioniert einfach nicht.«

»Du hast mit anderen Leuten etwas unternommen, als du mit Vanessa zusammen warst.«

»Ihr zuliebe. Ich habe jede Sekunde dieser bescheuerten Partys gehasst.«

»Lügner. Du bist glücklich gewesen.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Ich mache mir nur Sorgen, dass du dich aus dem Leben zurückziehst.« Er seufzt. »Schon seitdem das mit Vanessa ins Auge gegangen ist, bin ich beunruhigt.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komm schon klar.«

Ich gehe zur Tür und drehe mich dann noch einmal zu ihm um.

»Und nur damit du’s weißt«, sage ich, »ich werde in Ashbyrn House nicht allein sein. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass sich in meinem Haus ein Geist herumtreibt. Nicht dass ich an so was glaube, aber ich bin sicher, dass andere das tun. Hör mir zu. Ich weiß, dass ich zugesagt habe, heute Abend auf ein paar Drinks mitzukommen. Und ich weiß auch, dass du bereits planst, eine Abschiedsparty für mich zu veranstalten. Aber um ehrlich zu sein, möchte ich mich nicht betrinken. Ein paar Bier müssen reichen, und dann gehe ich wieder nach Hause, okay?«

»Was immer du sagst, Chef«, antwortet er grinsend und schnappt sich seine Jacke vom Haken. »Denk aber dran, dass eine Abschiedsparty nicht nur für die Person bestimmt ist, die weggeht. Die ist auch für die armen Arschlöcher gedacht, die zurückgelassen werden. Und ob du’s nun glaubst oder nicht, Owen … ein paar von uns werden dich wirklich vermissen! Und das, obwohl du in den letzten sechs Monaten ein echt mürrischer Mistkerl gewesen bist. Hier wird’s ohne dich nicht mehr wie früher sein.«

Ich blicke ihm auf seinem Weg durch den Flur nach und für einen Moment spüre ich einen kurzen Stich des Bedauerns in meiner Brust.

»Ich kann mich nicht an die Vergangenheit klammern«, murmle ich, wende mich ab und ziehe die Bürotür hinter mir zu. »Das war’s für mich mit London.«

***

Als ich die Augen öffne, nehme ich mit Entsetzen den grauen Morgenhimmel außerhalb meiner Wohnung wahr. Ich blinzele in dem Versuch, mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Aber als ich mich aufrichten will, wird mir sofort übel und mein Kopf meldet sich lautstark mit erstaunlichen Schmerzen.

Whiskey.

Charlie hat mich mit Whiskey abgeschossen.

Während ich mich umschaue und leise schmerzerfüllt stöhne, stelle ich fest, dass ich auf meinem Sofa eingeschlafen sein muss. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist eine Bar in Soho, wo ich Charlie erlaubt habe, ein paar Drinks auszugeben. Danach flackern hier und da einige Erinnerungen auf, aber nichts wirklich Zusammenhängendes. Ich glaube, ich habe mich auf der Toilette eines Pubs übergeben, und ich glaube außerdem, es hat mich jemand gefragt, ob es mir gut geht. Ich erinnere mich auf jeden Fall nicht daran, wie ich nach Hause gekommen bin. Allerdings entdecke ich einen Augenblick später eine leere Tüte auf dem Tisch, die mich vermuten lässt, dass ich mir auf dem Heimweg etwas zu essen gekauft habe. Als ich auf mein Hemd hinabblicke, entdecke ich einen braunen Fleck. Mir wird noch übler, als ich feststelle, dass er nach Curry stinkt.

»Na toll«, brumme ich, ziehe mich hoch und kippe dabei fast um. Ich warte einen Augenblick, um mein Gleichgewicht zu finden, und stolpere dann ums Sofa herum in die Küche.

Ich erstarre, als ich einen Karton auf dem Tisch entdecke, dessen Inhalt überall auf der Arbeitsfläche verteilt liegt. Noch bevor ich an die Sachen herantrete, weiß ich, was ich finden werde. Ich hatte ein paar von Vanessas Sachen in diesen Karton gepackt, um sie vor meinem Umzug nach Cornwall einzulagern. Anscheinend hat mein betrunkenes Ich aber entschieden, in der letzten Nacht alles auszupacken und sich die Sachen noch mal anzuschauen. Und tatsächlich liegen neben dem Herd einige gerahmte Fotos. Als ich Vanessa lächeln sehe, meldet sich der Kummer schlagartig zurück.

»Was zum Teufel habe ich mir dabei bloß gedacht?«, flüstere ich, während ich mir sofort die Fotos schnappe und sie mit der Vorderseite nach unten in den Karton zurücklege.

Und dann entdecke ich die beiden Eheringe auf dem Boden.

»O Gott«, sage ich und seufze, denn mir wird klar, dass ich mir letzte Nacht erlaubt habe, wirklich sentimental zu werden. Als ich um den Tisch herumgehe und mich bücke, um die Ringe aufzuheben, stöhne ich leise. Dann halte ich einen Augenblick inne und starre auf meine rechte Handfläche hinab, auf der die Ringe nun liegen.

Ich erinnere mich an den Tag, als ich Vanessa den Antrag gemacht habe.

Ich erinnere mich an ihr Lächeln.

Ich habe noch nie jemanden so glücklich gesehen. Sie hat tatsächlich geweint. Ich dachte immer, Menschen könnten nie vor Glück weinen. Zumindest nicht im wahren Leben.

Ich balle meine Hand zur Faust, gehe zum Karton hinüber und lasse die Eheringe hineinfallen. Ich habe mir das schon so oft angetan, dass ich es mir, verdammt noch mal, nicht erneut antun muss. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich diesen Karton überhaupt mit nach Cornwall nehmen soll. Aber jetzt wird mehr als deutlich, dass es besser ist, ihn zurückzulassen. Wenn ich erst mal ganz allein durch Ashbyrn House schleiche, kann ich es auf keinen Fall gebrauchen, noch so eine betrunkene Nacht zu durchleben, nur um die Vergangenheit heraufzubeschwören. Offen gesagt bin ich versucht, mir den Karton zu schnappen, ein paar Ziegelsteine hineinzustopfen und ihn in die Themse zu werfen. Aber irgendwo tief in mir drin ist mir bewusst, dass ich mich erwachsener verhalten sollte. Ich werde den Karton und den ganzen anderen Müll, den ich nicht mit nach Cornwall nehme, einlagern. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Plötzlich höre ich ein Stöhnen in meiner Nähe. Ich drehe mich verwundert um, bevor mir klar wird, dass ich das Stöhnen erkannt habe.

Seufzend gehe ich den Flur entlang und bleibe an der Badezimmertür stehen. Charlie liegt zusammengesackt vor mir auf dem Boden. Er beginnt sich zwar zu bewegen, befindet sich aber offensichtlich in noch schlimmerer Verfassung als ich. Was mich ein wenig tröstet. Typisch Charlie. Egal wie sehr ich mich betrinke, ich kann mich immer darauf verlassen, dass es ihm noch viel, viel schlechter geht.

»Wasser«, keucht er. »Gott, ich brauche Wasser.«

»Hol’s dir selbst«, murmle ich, drehe mich um und kehre in die Küche zurück. »Ich muss erst ein paar Kartons in meine Lagerbox bringen. Wenn ich wieder zurück bin, solltest du wenigstens wie ein Mensch aussehen. Dann können wir zu Wetherspoon’s und uns zum letzten Mal ein Katerfrühstück genehmigen, bevor ich diese gottverdammte Stadt hinter mir lasse.«

***

Warum behalte ich das ganze Zeug? Ernsthaft, was stimmt nicht mit mir?

Ich lasse den Karton mit Vanessas Sachen auf einige andere Kartons gleiten, die ich schon in der letzten Woche hierhergebracht habe. Ich dachte immer, ich hätte nie viel ausgegeben und wäre keiner von diesen Leuten, die einfach ›Zeug‹ ansammeln, aber irgendwie muss ich es geschafft haben, 16 große Kartons zu befüllen, und das war noch nicht mal alles. Ich vermute, dass das lange Zusammenleben mit Vanessa dazu führte, dass ich hier und da weitere Gegenstände kaufte, sodass ich schließlich drei verschiedene Nachttischlampen besaß.

Drei Nachttischlampen!

Wer zur Hölle braucht drei Nachttischlampen?

Ich auf keinen Fall. Und das ist der Grund, warum sie jetzt alle hier im Mietlager sind und es auch auf absehbare Zeit sein werden. Ich werde nur mit leichtem Gepäck nach Cornwall fahren. Tatsächlich denke ich darüber nach, mit dem zurechtzukommen, was ich im Zug nach Truro mitnehmen kann. Ich verstehe diesen Umzug als eine Gelegenheit, mit meinem alten Leben zu brechen und es ordentlich zu entrümpeln. Das Leben mit Vanessa mag wundervoll gewesen sein, aber diese Frau hatte definitiv ein Händchen dafür, Sachen in meine Wohnung zu schleppen. Ich schwöre, dass es keine Woche gab, in der nicht neuer Nippes, ein kleiner Teppich oder bunte Kissen ihren Weg in meine Wohnung fanden.

Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was sie angestellt hätte, wenn sie Ashbyrn House in die Finger bekommen hätte. Das hätte sich zu einer Lebensaufgabe entwickelt.

»Wir müssen dafür sorgen, dass sich unser Haus mehr nach einem Zuhause anfühlt«, höre ich sie in meiner Erinnerung sagen. »Wir müssen darüber nachdenken, wie die Dinge zusammenpassen.«

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass auch der letzte Karton sicher untergebracht ist, gehe ich zu den Regalen am anderen Ende des Mietlagers.

Mein Kater umnebelt immer noch meine Gedanken, sodass ich einen Augenblick brauche, bis mir wieder einfällt, dass ich eigentlich nach meiner alten Lederreisetasche suchen wollte. Ich glaube, ich habe sie aus Versehen weggeräumt. Allerdings habe ich auch, ehrlich gesagt, keine große Lust, alles noch mal zu durchforsten. Ich strecke mich und ertaste mit den Fingerspitzen den Rand eines Kartons auf dem höchsten Regal, um ihn hervorzuziehen und einen schnellen Blick hineinzuwerfen. Sollte ich die Tasche nicht finden, würde ich mir eine neue kaufen. Aber obwohl ich mich auf die Zehenspitzen stelle, fällt es mir schwer, den Karton nach vorn zu ziehen. Schließlich entscheide ich mich, es anders zu versuchen.

Ich weiche einen Schritt zurück und schubse den Stapel vorsichtig … in der Hoffnung, den Karton allein durch die Schwerkraft bewegen zu können. Wenn ich nur …

Plötzlich kippt der Stapel nach vorn, auf mich zu. In letzter Sekunde begreife ich, welche Gefahr mir droht, aber da stürzen die Kartons schon auf mich herab. Ich knie mich blitzschnell hin und lege die Arme schützend um meinen Kopf, als der gesamte Stapel auf mich fällt. Ein schwerer Karton nach dem anderen kracht mir auf den Rücken, und als ich mich umzudrehen versuche und leise dabei stöhne, knallt ein letzter Karton auf meine Schultern. Ich warte angespannt, für den Fall, dass noch mehr folgen sollten. Aber dann ist mir klar, dass das Bombardement vorüber ist. Ich schätze, ich habe gerade so überlebt.

Ich kann kaum glauben, dass ich dumm genug war, den Stapel umzustoßen. Als ich nun aufzustehen versuche, merke ich, dass mich mehrere Kartons auf dem Boden festnageln.

»Na toll«, fluche ich und stöhne, versuche erneut aufzustehen und muss erkennen, dass diese Kartons ein bisschen schwerer sind, als ich geglaubt habe. Da ist vor allem einer, der auf meiner Schulter lastet, aber ich möchte auch nicht wie ein gottverdammter Idiot um Hilfe schreien.

Ich winde mich, um mich zu befreien, doch plötzlich stürzt ein weiterer Karton herab, prallt mir gegen die Brust und quetscht mich gegen die Wand.

»Verdammt noch mal!«, fluche ich, halte inne und versuche, wieder zu Atem zu kommen. Ich wühle mich bestimmt aus diesem Chaos heraus, aber erst mal muss ich mich zusammenreißen. Die symbolische Bedeutung meiner Situation ist mir auch nicht entgangen. Ich verlagere mein Gewicht unter den Kartons, atme mehrfach tief durch und mache mich dann bereit, mich aufzurichten.

Doch bevor ich die Kartons zur Seite drücken kann, bemerke ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Ich drehe mich und befürchte, mich jetzt auch noch mit dem Mitarbeiter des Mietlagers herumschlagen zu müssen. Doch zu meiner Überraschung sehe ich am anderen Ende des Raums eine Frau an der Tür stehen. Sie trägt ein weißes Hochzeitskleid.

Ich blinzele, und sie ist verschwunden.

Ich warte noch kurz, höre aber keine Schritte. Fast scheint es so, als wäre die Frau nie hier gewesen, aber ich weiß doch, was ich gesehen habe. Und ich habe ganz bestimmt keinen Hang zu Halluzinationen. An der Tür stand eine Frau in einem Hochzeitskleid, ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen. Ich konnte ihr Gesicht zwar nicht richtig sehen, aber ich habe bemerkt, dass sie einen kleinen Blumenstrauß in ihren Händen hielt. Sie war ganz sicher real.

»Hallo?«, rufe ich.

Stille.

Ich warte noch ein paar Sekunden, denn ich bin überzeugt, dass sich gleich eine vernünftige Erklärung finden lässt. Als das aber nicht passiert, konzentriere ich mich darauf, mich unter diesen Kartons herauszukämpfen. Ich atme erneut tief durch und schiebe den schwersten Karton zur Seite, um in die Freiheit klettern zu können. Die restlichen Kartons krachen hinter mir herunter, aber wenigstens habe ich es geschafft, zu entkommen, ohne mir mehr anzutun als eine schmerzende Schulter. Wenn man die Umstände bedenkt, hatte ich vermutlich sogar Glück, nicht schwerer verletzt zu sein.

»Vielen Dank für die Hilfe«, murmle ich, denn die Frau hätte mir wenigstens kurz helfen können.

Als ich wieder auf die Beine komme, klopfe ich mich zuerst ab und beginne dann, die Kartons wieder in die Regale zu wuchten. Ich kann es mir nicht verkneifen, ein paar Blicke über meine Schulter zu werfen für den Fall, dass die Frau im Hochzeitskleid noch mal auftaucht. Aber sie scheint schon längst weg zu sein. Weiß Gott, was sie hier gemacht hat. Aber vermutlich bringen alle möglichen Leute alle möglichen Dinge hier ins Mietlager. Sogar im Hochzeitskleid. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der alten Ballast loswerden muss.

4

Katinka – 1859

»Katinka? Wo bist du? Bist du im …«

Ich höre, wie sich Schritte der Tür nähern und dann Stille herrscht.

»Oh, da bist du ja«, fährt Pippa fort. »Möchtest du mitkommen und draußen auf dem Rasen Krocket spielen? Mutter und ich haben gedacht, es könnte Spaß machen, ein paar Stunden etwas ganz Albernes zu tun.«

Ich kann mich nicht mal dazu überwinden, auf einen so dummen Vorschlag zu reagieren. Stattdessen starre ich weiterhin auf das Gemälde, das schon seit mehreren Stunden meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Tatsächlich war ich, seit es am Morgen geliefert wurde, gar nicht in der Lage, mich von dem Anblick zu lösen. Ich weiß zwar, dass man sich von solchen Dingen nicht so vereinnahmen lassen sollte, aber ich habe einfach das Gefühl, dass dieses Gemälde ganz besonders schön ist.

»Katinka?«

Ich höre, wie sie von hinten an mich herantritt.

»Bist du in Ordnung?«, fragt sie. »Ich bin mir nicht mal sicher, dass du dich von dieser Stelle wegbewegt hast seit …«

Allmählich verstummt sie.

»Einem Jahr«, flüstere ich schließlich. »So lange hat es gedauert, bis es fertig war.«

»Ich weiß.« Sie kichert leise. »Eine sehr lange Zeit, wenn du mich fragst. Eine Fotografie wäre schneller gewesen.«

»Das bin nicht mehr ich«, fahre ich fort und betrachte zum hundertsten – vielleicht tausendsten – Mal die Konturen meines Kleides, wie sie auf dem Gemälde dargestellt sind. »Nicht mehr. So habe ich vor einem Jahr ausgesehen.«

Ich sitze einen Augenblick schweigend da.

»Ist das ein Problem?«, fragt Pippa schließlich und wirkt ein wenig unbedarft und verwirrt.

»Bis jetzt ist mir gar nicht aufgefallen«, antworte ich, »wie sehr man sich in einem Jahr verändern kann. Wenn sich jemand dieses Gemälde anschaut und dann mich ansieht, so wie ich heute aussehe, dann würde er einen Unterschied bemerken. Schwester, ist dir nicht aufgefallen, dass ich gealtert bin, seitdem dieses Porträt gemalt worden ist?«

»Na ja, das sind wir doch alle. Du warst 26, als du das erste Mal für den Künstler Modell gestanden hast. Jetzt bist du 27.«

»Genau. Und im Verlauf dieses Jahres habe ich mich wohl kaum verbessert. Mit der Zeit verdirbt die eigene Schönheit. Glaubst du denn nicht, Pippa, dass die Schatten unter meinen Augen inzwischen ein bisschen dunkler ausfallen? Und dass ich etwas an Gewicht zugenommen habe? Und dass mein Gesicht, seitdem dieses Porträt gemalt wurde, ein wenig an Farbe verloren hat?«

»Ähm …«

»Sei jetzt ehrlich. Erspar mir keine Scham.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, antwortet sie und kichert dann. »Katinka, ich glaube, dass du zu viel über diese Dinge nachdenkst. Warum kommst du nicht mit nach draußen und spielst ein wenig mit uns? Mutter wartet schon. Es ist nicht gut für dich, von diesem Gemälde so besessen zu sein, und ehrlich, du siehst ganz gut aus. Sogar sehr gut!«

»Ganz gut?«, platzt es aus mir heraus, als ich zu ihr herumwirble. »Ganz gut? Nächste Woche ist meine Hochzeit, und du denkst, ich sehe bloß ganz gut aus? Und hübsch?«

»Ich meinte das nicht böse«, fährt sie fort und wirkt noch immer amüsiert. »Ich glaube nur, wenn man sich zu lange über solche Dinge Gedanken macht, entdeckt man stets ganz natürliche Makel hier und da. Ein Jahr ist eben ein Jahr, liebe Schwester, und es bringt für uns alle Veränderung. Ich bin mir sicher, dass Charles immer noch ziemlich froh sein wird, dich zu heiraten.«

»Du weißt nicht, wovon du da sprichst«, brumme ich finster. »Du magst damit ja glücklich sein, dich mit der Zeit verkümmern zu lassen, aber ich muss besser als mein Porträt aussehen, oder die Leute werden über mich tratschen.«

»Ach, hör doch auf!«

»Das werden sie ganz bestimmt!«

»Wer wird tratschen?«, fragt sie. »In der Stadt kräht doch kein Hahn nach uns. Wir sind nicht gerade Gutsherren, Katinka. Wir sind keine mächtige Adelsfamilie. Wir sind bloß …«

»Sei nicht dumm!«, unterbreche ich sie fauchend, ohne den Blick vom Gemälde zu nehmen. »Wir sind im Umkreis vieler Kilometer die wichtigste Familie!«

»Sind wir das wirklich?«

»Aber natürlich!«

Sie lacht und packt mich am Arm, als wollte sie mich aus dem Zimmer führen.

»Liebe Katinka«, sagt sie dann, »ich befehle dir hiermit, mit uns nach draußen zu kommen und auf dem Rasen Spiele zu spielen. Als deine Schwester kann ich nicht zulassen, dass du dir hier drinnen Sorgen machst, während draußen an einem herrlichen Tag die Sonne scheint.«

»Lass mich in Ruhe!«, zische ich und befreie mich aus ihrem Griff.

Sie packt mich erneut.

»Katinka …«

»Lass mich in Ruhe!« Diesmal kann ich mein Temperament nicht mehr zügeln, stehe auf und verpasse ihr einen Stoß gegen die Brust, der sie rückwärtsstolpern und auf dem Boden zusammenbrechen lässt. Immer noch wütend überrage ich sie drohend, doch der Schreck in ihren Augen sorgt endlich dafür, dass ich mich beruhige.

»Ich wollte doch bloß helfen«, bringt sie stotternd hervor und bleibt noch einen Augenblick auf dem Boden liegen, als hätte sie Angst, wieder aufzustehen. »Du musstest nicht so gemein sein. Ich dachte, du hättest damit aufgehört! Ich dachte, du wärst jetzt freundlicher!«