Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka - E-Book

Die Breitseite des Lebens E-Book

Ingo Irka

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Beschreibung

Edgar ist seines monotonen Lebensalltags überdrüssig geworden. Als er eines Tages die Kontaktanzeige einer jungen Frau liest, beschließt er darauf zu antworten. Mit diesem unbedachten Schritt tritt er eine Lawine an fatalen Ereignissen los. Eine emotionale Achterbahnfahrt beginnt für ihn und seine Familie...

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Glückliche Familien ähneln einander. Aber jede glückliche

Familie ist auf ihre eigene Art und Weise unglücklich.

LEW N. TOLSTOJ

Irka Ingo

Die Breitseite des Lebens

Berichte eines Verbrechens in der Linzer Stahlstadt

© 2020, Ingo Irka

Autor: Ingo Irka

Umschlaggestaltung, Illustration: Ingo Irka

Lektorat, Korrektorat: Ingo Irka

Übersetzung: Ingo Irka

weitere Mitwirkende: Nina Kurz, Tobias Kurz, Niklas Kurz,

Iris Loitzberger

ISBN: 978-3-347-07712-6 (Paperback)

ISBN: 978-3-347-07713-3 (Hardcover)

ISBN: 978-3-347-07714-0 (e-Book)

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

PROLOG

Jede Entscheidung ist der Tod tausend anderer Möglichkeiten

Mit einer neuen Frau im Haus, tauscht man nur den Teufel aus

Wer die Wahl hat, hat die Qual

Ordnung ist das halbe Leben

Home, sweet home

Wie man das Bäumchen biegt, so wächst es

In der Lüge liegt die Kraft

In vino veritas

Liebe geht durch den Magen

Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde?

Arbeite nur, die Freude kommt von selbst

Lieber die Taube auf dem Dach, als den Spatz in der Hand

Und wenn du denkst es geht nicht mehr, von wo kommt dann das

Lichtlein her?

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste

Gelegenheit macht Diebe

Schlafes Bruder

… und trübe war das Aug‘ und wollt‘ nicht recht mehr sehen

ZWISCHENBERICHT

(K)ein Silberstreif am Horizont

Schlaf, Kindlein schlaf!

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Die Polizei, dein Freund und Helfer

…und wehe, wenn Sie losgelassen

Halb erlistet ist nicht ganz gewonnen

Wer suchet, der findet

Blut ist dicker als Wasser

Fürchtet nicht das Gesetz, fürchtet den Richter

Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende

EPILOG

PROLOG

Konrad feilte immer noch herum an einer passenden Einleitung für seine Linzer Tagesberichte. Langsam, aber sicher war Eile geboten. Es war ja schließlich nicht so, dass es mit diesen ersten paar Zeilen schon wieder abgetan gewesen wäre. Auch das Schreiben der ganzen Berichte stand ihm noch bevor. Also hieß es, schleunigst in die Gänge zu kommen. Er musste beginnen, bevor der Verlag ihm Druck machen würde. Wenigstens war es diesmal ein dankbares Thema.

Dieses Mal würden seine Berichte sich um das Schicksal eines Familienvaters drehen. Ein Mann, der vorhatte, aus seinem unerfüllten Leben auszusteigen und es neu aufzustellen. Nur ein frommer Wunsch, wie sich alsbald herausstellen sollte. Denn die Realität hielt nach diesem missglückten Ausstieg etwas ganz anderes als Glück und Freude für ihn bereit. Was genau, das war noch Zukunftsmusik. Das würde sich nach und nach erst weisen. Für den Augenblick jedenfalls hieß es, überhaupt erst einmal etwas zu Papier zu bringen.

Er griff nach einem Stift und fing an: Wir alle sind Baumeister. Die Homo faber unseres eigenen Lebens. Jeder von uns. Ohne Ausnahme. Unser ganzes Dasein ist darauf ausgerichtet, etwas zu schaffen. Oder noch besser, etwas zu erschaffen. Wir halten unentwegt Ausschau nach dem richtigen Werkzeug, um die Baustelle, die sich “Leben“ nennt, zu bearbeiten und zu ebnen. Wir versuchen Stein für Stein präzise und unverrückbar zu setzen. Auf dass auf diesem sicheren Fundament das Lebenswerk eine gefestigte Ausprägung erfahre. Wie man sich bettet, so liegt man schließlich. Und wer möchte schon freiwillig mit dem Nagelbett eines Fakirs tauschen, wenn er doch auf einem weichen Satinkissen zu ruhen vermag.

So sind wir unentwegt auf der Suche nach dem besten Material mit dem wir unseren Traum vom eigenen Lebenswerk erfüllen wollen. Wir legen Grundbausteine aus Geld, Arbeit, Familie, Liebe und anderen Idealen. Wir verbinden sie mit Ordnung, Moral, Motivation oder Disziplin, kurz den Werkstoffen, die das Leben für uns bereithält. Jeden Morgen stehen wir auf und gehen all unseren Verpflichtungen nach. Wir fahren zur Arbeit, erledigen unseren Job, kochen mittags das Essen und kümmern uns am Nachmittag um den Nachwuchs. Und dann, wenn endlich der Abend Einzug gehalten hat, setzen wir getrost einen neuen Stein auf unser Gebäude. So lange, bis es hoch genug ist und unseren eigenen Ansprüchen genügt. Erst wenn die oberste Dachschindel befestigt ist und die goldenen Fähnchen aus den Fenstern wehen, dann ist das Bauwerk komplett. Dann ist die Baustelle einem stattlichen Haus gewichen in dem es sich gut leben lässt.

Wer jedoch denkt, dass damit schon der Abschluss gefunden wäre, der irrt. Das bloße Errichten seiner Welt ist nur die halbe Miete. Schließlich gehört sein Eigentum auch beschützt und verteidigt gegen allerlei Einflüsse von außen. Niemand kann ernsthaft wollen, dass jemand ungefragt in sein Leben eindringt und sich einfach seiner Habe bemächtigt.

Und was wäre wohl die beste Maßnahme, als einfach eine riesengroße Blase rund um diese unsere Welt zu stülpen. Wie eine Käseglocke, die jedem Befall von außen trotzt. Also wird alles eingepackt in diese Blase und versiegelt mit dem Wunsch nach Ruhe und Glückseligkeit. Garantierter Schutz auf allen Linien.

Wenngleich damit nun neue und weitaus dringlichere Fragen auftauchen: Wer schützt uns jetzt eigentlich vor uns selbst? Was, wenn der Feind nicht von außen zuschlägt, sondern sich vielmehr in den eigenen Reihen befindet? In einem selbst? Was, wenn mit der Zeit all die Ideale verblassen oder die Werkstoffe allesamt unauffindbar sind?

Dann beginnt am Haus der Verputz zu bröckeln und der harte Beton zerbröselt zu feinem Staub. Alles wird instabil, Verbindungen lösen sich und das gesamte Werk droht einzustürzen. Wollen wir dann überhaupt noch weiterhin darin wohnen? In einem Gebäude, das nicht mehr hält, was es einst versprochen hat? Wohl kaum. Nein, dann kommt die Zeit in der wir einfach ein Loch in die Blase schneiden und aussteigen aus dieser Welt. Wir zimmern uns unseren eigenen Ausgang.

Was wir dabei jedoch nicht bedenken ist, dass wir mit dem Loch gleichsam auch einen Einstieg geschaffen haben. Einen Einlass für all jene, die wir doch niemals hier haben wollten. Für all die ungebetenen Subjekte, die selbst auf der Suche sind nach einer besseren Welt als der ihren und sich wie ein Kuckuck ins gemachte Nest setzen wollen. Sie steigen ein in unsere Welt und beginnen unser Haus umzugestalten. Sie verändern alles nach ihrem eigenen Geschmack. Sie sind die neuen Baumeister, die unserem Haus ihren Stempel aufdrücken.

Und wenn wir dann nach einer Weile überdrüssig von der erfolglosen Ausschau nach neuen Idealen zurückkommen, folgt das böse Erwachen. Unsere Blase ist besetzt. Unser Haus, so wie wir es kannten, gibt es nicht mehr. Und obgleich wir alles unternehmen würden, um die Zeit zurückzudrehen oder die Wiederholungstaste zu drücken, ist es zu spät. Wir sind keine aktiven Besitzer unseres eigenen Lebens mehr. Nein, uns kommt fortan lediglich die Rolle des passiven Betrachters zu. Nur eine falsche Entscheidung hat dazu geführt, dass wir in der Blase statt unseres Lebenswerkes nur noch eine Ruine erblicken. Ein verfallenes Monument, das vielleicht niemals wieder in all seinem früheren Glanz erstrahlen wird.

Und wie viele solche Trümmerhaufen menschlicher Existenzen dabei so manche Blase auf unsrer Erde ausfüllen. Unzählige! Wie Mahnmäler erscheinen sie an jeder Ecke und bezeugen das unheilvolle Schicksal so manch armer Seele. Sie sind an allen Orten zu finden. Überall auf der Welt. Angefangen von den Megalopolen über die Großstädte bis hin zu den Dörfern und Siedlungen. Kein Fleckchen Erde ist sicher.

Nicht einmal das schöne kleine Linz an der Donau. Gerade hier, zwischen Postkartenidylle und dem Funkeln der Wasserkristalle, präsentierte sich bis vor kurzem sogar eine dieser Blasen, die düsterer und verfallener nicht sein könnte. Das Trümmerfeld eines Menschen, der mit einer unbedachten Handlung dem Verderben Tür und Tor geöffnet hatte. So weit, dass er nicht mehr wusste, wie er dieses Übel je wieder aus seiner Welt schaffen konnte. Ja, diese Blase war nicht nur düster und verfallen. Diese Blase drohte sogar zu zerplatzen.

BERICHT 1

Montag, 3. Juli, 6: 45 Uhr

Jede Entscheidung ist der Tod tausend anderer Möglichkeiten

Edgar schlug missmutig seine Augen auf und ließ den Blick im Zimmer umherwandern. Seine Stimmung war am Tiefpunkt. Daran konnten selbst die Sonnenstrahlen nichts ändern, die sich bereits ihren Weg durch die Schlafzimmergardinen gebahnt hatten. Sie schmerzten ihn sogar.

Wie auch der Anblick seiner immer noch schlafenden Ehefrau neben ihm. Zerknirscht musterte er sie von oben bis unten. Ihre viel zu dick geratenen Zehen mit dem billig wirkenden Nagellack. Die schwarzen Haarstoppel auf ihren Beinen. Ihr obligates Nachthemd. Ihre zu kleinen Brüste darin. Und schließlich ihr halbgeöffneter Mund aus dem es roch, als würde eine tote Ratte darin verwesen.

„Und täglich grüßt das Murmeltier! Und das für den Rest deines Lebens“, hörte er sich sagen, ehe er wieder von ihr abließ und seine Decke beiseiteschob.

Mit einem tiefen Seufzer rollte er sich aus dem Bett. Langsam schlich er in Richtung Badezimmer, wo der Spiegel bereits wartete, sein verhärmtes Antlitz zu reflektieren. Was war nur aus ihm geworden? An welcher Weggabelung hatte ihn das Leben falsch abbiegen lassen? Wo war der eloquente und fröhliche Mensch abgeblieben, der er einmal war? Er wusste es selbst nicht. Doch seine tiefen Falten und schwarzen Ringe unter den Augen ließen vermuten, dass es bereits vor langer Zeit gewesen sein musste.

Trotz anfänglich gutem Start. Als er und Lydia sich kennen und lieben gelernt hatten, hing der ganze Himmel noch voller Geigen. Keine Wolke trübte das junge Glück. Nein, die Zeit war geprägt von einer Leichtigkeit des Seins. Man liebte sich einfach. So, wie es sein sollte. Doch irgendwann verstimmten sich die Geigen. Und dann verstummten sie ganz. Die Leichtigkeit des Seins erlosch und die Schwere des Lebens hielt schleichend Einzug. Und daran konnte nicht einmal die Geburt seiner beiden Töchter etwas ändern. Ganz im Gegenteil.

Seitdem war er vielmehr nur noch das fünfte Rad am Wagen. Das fünfte Rad, das keine Bedeutung mehr hatte. Ab diesem Zeitpunkt kippte sein Leben. Sophia und Clara wurden älter. Lydia und er wurden älter. Und ihre Ehe alterte doppelt so schnell. Alles raste dahin und wenn er nicht abbremste, würde es bald vorüber sein. Das Ende seiner Ehe nahte. Und dieses Ende würde wie eine Mauer daherkommen. Mit dem Schluss, dass er demselben Schicksal geweiht sein würde wie Millionen anderer Väter auch. Dem Schicksal eines einsamen, geschiedenen Wochenendvaters.

„Guten Morgen, du Loser“, brummte er mürrisch sein Spiegelbild an und schob sich die Zahnbürste in den Mund.

Das Weiß der Zahnpasta hob sich merklich ab vom Braun seiner nikotingefärbten Zähne. Aber es war ihm gleichgültig. Was sollte es schon für einen Unterschied machen, ob er noch ein strahlendes Lächeln hatte oder nicht, wenn es ihm ohnedies vergangen war. Selbst die Tatsache, dass sich jeden Morgen sein Zahnfleischblut mit in das Waschbecken mischte, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Zumindest blutete er für sich und für niemand anderen. Außerdem, wem sollte er nach dieser langen Zeit noch gefallen? Lydia? Nein, er brauchte ihr nicht mehr zu gefallen. Er brauchte niemandem mehr zu gefallen. Nicht einmal sich selbst. Ein Mensch, der sich selbst zum Wurm machte, durfte sich nicht wundern, wenn auf ihn hinauf getreten wurde. Bedächtig legte er die Zahnbürste zurück in die Lade und wusch sich die letzten Reste einer unruhigen Nacht aus seinem Augenwinkel.

„Guten Morgen, du Loser“, fluchte er nochmals, ehe er seinem Spiegelbild den Rücken kehrte und in die Küche schlenderte.

Alles, was jetzt an Handgriffen und Bewegungen anstand, war bereits pure Routine und folgte einem stringenten Ablauf: Das Betätigen der Kaffeemaschine. Das Eingießen des gebrühten Kaffees in den Becher. Das Öffnen der Balkontüre. Das Anstecken der ersten Zigarette. Der erste Schluck aus dem Becher. Der erste kräftige Lungenzug des Tages. Und im Anschluss, der allmorgendliche Blick in die Tageszeitung. Schließlich musste man genügend Inhalte aufnehmen, um die ganze Welt getrost verdammen zu können. Genau diese gesamte Chronologie war bereits in Fleisch und Blut übergegangen und bestimmte seit Jahren die ersten Minuten seines Tagesablaufs.

So auch diesen Morgen. Und doch sollte der heutige Tagesbeginn sich etwas anders gestalten, als zunächst vermutet. Nicht etwa, dass die Horrorprognosen zum Klimawandel weniger geworden wären. Nein, daran lag es nicht. Es lag auch nicht daran, dass die Anzahl der Verkehrstoten wieder drastisch angestiegen war. Auch das war nicht der Grund.

Nein, die Ursache, weshalb dieser Morgen sein Leben nachhaltig verändern sollte, war vielmehr im lokalen Mittelteil der Zeitung zu finden. In der Rubrik der Kontaktanzeigen. Noch nie zuvor hatte er sein Augenmerk auf diesen Teil der Zeitung gelegt. Niemals hatte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, sich eine dieser Anzeigen auch noch zu lesen. Wer war schon so verzweifelt, sein Glück über eine Annonce finden zu wollen? Höchstens schwule Buchhalter oder dicke Hausfrauen. Menschen, deren Selbstwert am Nullpunkt war und die zu faul, zu feige oder zu fett waren auf konventionellem Weg einen Partner zu finden. Was sollte er von solch einem Typus Mensch halten? Eigentlich nichts.

Doch just an diesem Morgen stoppten seine Augen unweigerlich an dieser Seite. Er konnte gar nicht anders. Es war ein Foto, das ihn beinahe magisch in den Bann zog. Das Foto einer Frau, die mit ihrem Lächeln und ihrem sanften Blick direkt in sein Herz traf. Sie hatte auf den ersten Anblick das, was man das gewisse Etwas nennen konnte. Wie vom Donner gerührt stierte er auf ihr makelloses Konterfei. Es war einer dieser Momente in dem schlagartig das schlechte Gewissen in ihm hochfuhr. Ein Moment in dem sein Blick sofort zur Türe ging, um sich zu vergewissern, dass niemand kam. Ein Moment der selbstaufoktroyierten Schuldigkeit. Doch es kam niemand. Seine Frau schlief noch seelenruhig und auch die Kinder waren noch in ihren Zimmern. Und das war auch gut so.

Seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Foto: Romana, 35 Jahre, blondes Haar, sportliche Figur, großer Busen und ein offensichtlich guter Geschmack, was Mode anbelangte. In ihrem roten Kleid und den offenen langen Haaren hatte sie sogar eine frappierende Ähnlichkeit mit seiner ersten Jugendliebe. Auch sie hatte wallendes blondes Haar und ihr Faible für Rot war ihm heute noch im Gedächtnis. Ganz gleich, welches Shirt oder Jäckchen sie damals trug, es war rot. Egal, welches Haarband ihren Zopf zusammenhielt, es war rot. Die Halskette: rot. Und selbst ihre Socken, daran konnte er sich noch peinlich genau erinnern, waren rot. Mit eingestickter Mickey Mouse!

„Hallo, mein Name ist Romana und ich komme aus Linz. Ich bin eine selbstbewusste und spontane Person, die eine eigene Firma im Webbereich leitet. Ich habe eine Tochter mit siebzehn Jahren, die nächstes Jahr im Gymnasium in Urfahr maturieren wird. Ich bin nun bereits seit mehr als zwei Jahren Single und suche einen Partner mittleren Alters, der meine Vorlieben mit mir teilt. Ich fahre leidenschaftlich gerne mit dem Mountainbike und spiele gerne die eine oder andere Runde Golf.“

Er stoppte und rekapitulierte. Bis hierher hatte er noch nichts gelesen, das ihn zum Aufhören bewegt hätte. Alles schien soweit ganz gut. Nicht einmal die Tatsache, dass scheinbar eine Tochter mit von der Partie war bereitete ihm Unbehagen. Ganz im Gegenteil. So würden seine beiden Töchter eine ältere Schwester bekommen, die sich glänzend um die beiden kümmern könnte. Und er würde zur Belohnung die Mutter einheimsen. Bis hierher also die besten Voraussetzungen. Seine Augen suchten die nächsten Wörter.

„Ich reise auch sehr gerne und möchte viel von der Welt sehen. Was ich hingegen gar nicht ausstehen kann, sind Reisen in den hohen Norden. Ich bin eher der Sonnenscheintyp und fühle mich im Süden wohl. Ach ja, eine meiner großen Schwächen ist auch die italienische Küche und wenn ich nicht gerade selbst am Herd stehe, dann suche ich schon einmal den Italiener um die Ecke auf. Soviel nun zu mir. Wenn du ein großer und sportlicher Mann bist, der so in etwa die gleichen Vorlieben hat wie ich, dann würde ich mich freuen, von dir zu hören. Und wenn du noch dazu aus der näheren Umgebung bist, dann würde es mich noch mehr freuen, von dir zu hören. Mach es gut, Romana.“

Das hatte gesessen. Das war es, was einen guten Morgen ausmachte. Er lehnte sich gelöst zurück, trank einen Schluck Kaffee und ließ seine Gedanken kreisen: Linz, Reisen, Italien, Sonnenscheintyp.

Dann blickte er nochmals auf das Bild. Musste es nicht irgendwo eine Kontaktadresse geben? Ein Kennwort oder eine Chiffre Nummer? Er fand etwas. „Falls Sie Kontakt mit der Person aufnehmen wollen, dann senden Sie eine E-Mail an “[email protected]“ mit dem Kennwort “Romana, 35, Linz“ und hängen Sie “Ziffer 4“ hinten an. Wir leiten Ihre Mail dann weiter, übernehmen aber keine Gewährleistung, dass die kontaktierte Person sich bei Ihnen rückmeldet.“

In seinem Kopf begann es plötzlich zu arbeiten. Ein Gedanke begann den nächsten zu jagen. Was würde eigentlich im schlimmsten Fall passieren, würde er wirklich Kontakt mit ihr aufnehmen? Würde seine Frau Verdacht schöpfen? Was, wenn Romana wirklich antworten würde und sich mit ihm treffen wollte? Sollte er absagen? Sollte er gleich in die Offensive gehen? Oder sollte er es einfach nur lassen, um den familiären Frieden nicht zu gefährden? Er blickte erneut zur Türe und fühlte seinen Puls schneller werden. Doch immer noch war alles ruhig.

Seine Augen wanderten nervös zurück zur Kontaktadresse. Wie fremdgesteuert tippte er die ersten Buchstaben des Kennwortes in seinen Computer: Romana, 35, … er hielt kurz inne. Was sollte er eigentlich genau zurückschreiben? Und vor allem musste er es so schreiben, ohne dabei gleich verzweifelt oder anstößig zu wirken. Seine Finger tippten weiter in die Tastatur.

„Hallo, liebe Romana! Mein Name ist Edgar und ich bin siebenundvierzig Jahre alt. Beruflich bin ich als Einkaufsleiter bei einer internationalen Maschinenbaufirma tätig und für die Zulieferung der Rohstoffe zuständig. Ich delegiere einen Mitarbeiterstab von rund zwölf Personen und weiß was es heißt in einer leitenden Funktion tätig zu sein. Außerdem teile ich dieselben Vorlieben wie du: Reisen, Golfspielen und Mountainbike. Ich habe zwei aufgeweckte Töchter im Alter von dreizehn und fünfzehn Jahren, die beide das Gymnasium Landwiedstraße besuchen.“

Er runzelte die Stirn. Sollte er wirklich all diese Informationen preisgeben? Es kam ihm vor wie ein Seelenstriptease, den er gerade beging. Schlussendlich öffnete er sich peu a peu einer bis dato Unbekannten. Sollte er dieser Person überhaupt alles anvertrauen? Er begann alles nochmals im Kopf durchzuspielen. Doch wie er es auch drehte und wendete, jeder Gedanke endete bei einer inneren Stimme, die ihn mit einem bestimmenden “Mach weiter, du Weichei!“ zum Weiterschreiben drängte. Er war schließlich selbst immer noch sein kompetentester Berater. So klopfte er die nächsten Zeilen in die Tasten.

„Ich wohne am Römerberg in einer Dachterrassenwohnung und bin dort abends bevorzugt bei einem guten Gläschen Wein am Balkon anzutreffen. Ich blicke dabei über die Dächer auf die Donau. Ich könnte mir jedoch sehr gut vorstellen, das nächste Glas in deiner netten Gesellschaft beim Italiener mit dir zu trinken. Nachdem auch ich ein Fan der mediterranen Küche und Kultur bin, würde sich so ein netter Abend doch anbieten, oder? Wenn du also mit einem sportlichen und sympathischen Mittvierziger ein paar unvergessliche Stunden verbringen möchtest, dann würde ich mich riesig freuen, von dir zu hören bzw. zu lesen. Bis dahin wünsche ich dir alles Liebe und Gute, Edgar.“

Geschafft! Er hob seinen Blick und ließ ihn über das Geschriebene wandern. Alles passte. Keine Rechtschreibfehler. Keine Überlänge in den Sätzen. Und vor allem keine plumpen Floskeln oder abgedroschene Phrasen. Er hasste solche verbalen Banalitäten. Sätze, wie “Ich möchte mit dir im zarten Mondschein in den

Sonnenuntergang segeln.“ oder “Ich habe ein Leben lang nur auf dich gewartet.“ In diesen Sätzen spiegelte sich keinerlei Echtheit wider, keine Authentizität. Nur Ideenlosigkeit und der Unwille, einer gewissen Kreativität Raum zu geben. Diese Ecke wollte er jedenfalls nicht bedienen. Und sein Spruch mit dem Italiener schien ihm auch passender, als ein langweiliges “Willst du mit mir einmal essen gehen?“ Insofern passte alles zusammen. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, um die Sache ins Rollen zu bringen, war das Drücken der Entertaste.

Doch plötzlich hörte er Schritte draußen im Flur, die immer näher in Richtung Esszimmer kamen. Schlurfend und laut hörbar die Pantoffel hinten nachziehend. Einmal flappte der eine, dann der andere. Bis nur noch ein dunkler Schatten das Glas in der Tür verdunkelte und die Klinke sich langsam nach unten bog.

„Guten Morgen!“, drang es an sein Ohr. „Nur damit du es weißt, du musst die Kinder heute nach der Schule zum Reitunterricht bringen und um spätestens vier Uhr wieder abholen. Clara muss noch die letzten Vokabeln lernen und Sophia kennt sich bei den Bruchrechnungen nicht aus. Vielleicht kannst du ihr ja bei ein paar Beispielen helfen. Du kennst dich ja so gut aus mit Mathematik. Gott sei Dank ist bald Ferienzeit. Dann hat der ganze Stress ein Ende. Ich treffe mich heute mit den Mädels und komme erst gegen neun. Also braucht Ihr mit dem Essen nicht auf mich zu warten. Die Rinderfilets sind noch im Tiefkühler. Vielleicht kannst du den beiden ja ein paar Pommes dazu machen. Du weißt ja, das mögen sie so. Die Kartoffeln dazu sind in der Speise. Oder du machst ihnen einfach Reis. Das überlasse ich dann dir.“

Die Esszimmertüre fiel wieder in das Schloss. Ein Zucken huschte über sein Gesicht. So, als hätte er vergessen, die Herdplatte vor einer Reise abzudrehen.

„Oder nein, mach ihnen lieber Pommes“, hörte er es nochmals vom Flur, ehe die Schritte in Richtung Badezimmer verhallten.

Das war knapp. Ein Schritt weiter in das Esszimmer und sie hätte direkt auf den Bildschirm geblickt und die ersten unangenehmen Fragen des Tages gestellt. Doch er kam mit dem sprichwörtlichen Schrecken davon. Nochmals starrten seine Augen auf die Eingabetaste. Sollte er drücken oder nicht? Sollte er das Risiko eingehen? Konnte er seiner Frau und den Kindern noch in die Augen sehen, wenn eine Notlüge nach der anderen seine Lippen verlassen würde? Oder würde es ihm egal sein? Würde ihm ein flüchtiges Treffen mit einer schönen Unbekannten mehr wert sein, als seine Ehe? Italienische Vulkanausbrüche oder Bruchrechnungen? Golf oder Reiten? Pasta oder Pommes? Edgar blickte nochmals zur Türe. Dann drückte er Enter.

BERICHT 2

Montag, 3. Juli, 7: 32 Uhr

Mit einer neuen Frau im Haus, tauscht man nur den Teufel aus

Nachdem Edgar den Laptop zugeklappt hatte, erledigte er die letzten Handgriffe zuhause. Dann schloss er alles ab, stieg in den Aufzug und fuhr in die Tiefgarage hinunter. Als er im Auto am Weg zur Arbeit saß, wirkten Lydias Worte aus der Küche noch nach. Er fühlte, dass erneut ein Tag der Fremdbestimmung für ihn begonnen hatte. Wie so oft. Das Gedudel aus dem Radio tat das Übrige für seine Stimmung.

„Always look at the bright side of life“, schallte es durch das Auto.

Er drehte den Lautstärkeregler zurück. Wenigstens hielt der Verkehr sich an diesem Morgen in Grenzen. Nur ein paar vereinzelte Autos hier und da. Ansonsten kein gröberes Aufkommen. Es war vielerorts Betriebsurlaubszeit und das machte sich auch auf den Straßen bemerkbar.

Ursprünglich hätte auch er jetzt bereits seinen Urlaub antreten können. Doch zu Gunsten eines Kollegen hatte er sich bereit erklärt, für ihn einzuspringen und die nächsten paar Tage freiwillig den Journaldienst zu übernehmen. Er bog auf die Hauptstraße und drückte etwas auf das Gas. Immer noch waren fast keine Autos zu sehen. Freiwillige Dienste waren sonst ja nicht so seine Sache. Aber in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie diesen, konnte es nicht schaden hin und wieder seinen guten Willen zu heucheln. Nicht, dass es ihm so erging wie seinem Arbeitskollegen Mike, der auf der Abschussliste der Firma stand, weil er nicht einmal ordentlichen Kaffee für die Belegschaft brühen konnte.

Doch im Grunde genommen hatte er es relativ gut erwischt. Dienstzeiten von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und an den Freitagen bis drei Uhr. Dabei fünf Wochen Urlaub im Jahr bei vierzehn Gehältern. Und nachdem er bereits seit mehr als zehn Jahren in diesem Unternehmen arbeitete, fiel er bereits in die dritte Lohnstufe der internen Bonuszahlungen. Somit also ein solider Rahmen. Wenn er sich überdies nicht ganz dämlich anstellte, dann würde nächstes Jahr sein Urlaubskontingent sogar auf sechs Wochen erhöht werden. Bezahlt, verstand sich. Alles in allem war seine Arbeitsstätte demnach so etwas wie eine Insel der Seligen im weiten Meer der vielen anderen unglücklichen Arbeitssklaven.

Zuhause durfte er das natürlich nicht zu laut herausposaunen. Hier musste der Eindruck geweckt werden, dass die Arbeit unmenschlich und kolossal anstrengend wäre. Hier hatte der Job als unglaubliche Belastung verkauft zu werden. Die Belohnung dafür war hin und wieder abendlich auf der Couch den Opferstatus genießen zu können und sich der Rolle des Lakaien entledigen zu können. Und wenn es ab und an auch noch einen frei erfundenen Stau bei der Heimfahrt gab, dann war ihm vielleicht sogar der gewünschte Fernsehkanal sicher. Ja, in der Art hatte er sich seine Vorteile und Freiräume zu schaffen. Mit inszenierten Geschichten und kleinen Lügen.

Er passierte den Bahnhof, wo nebst Zugverkehr auch das öffentliche Busnetz der Innenstadt zusammenlief. Schon als Kind wusste er, dass hier der Dreh - und Angelpunkt von Linz war. Wenn damals die angekündigte Verwandtschaft abzuholen war, dann war sie hier zu holen. So etwa, wenn Tante Birte und Onkel Detlev aus dem deutschen Bremerhaven per Zug zum unverhofften Besuch anreisten. Diese Stippvisiten der “Piefke - Bagage“, wie sein Vater sie abschätzig zu nennen pflegte, markierten dann den Punkt, an dem er verstimmt in das Auto stieg und sie hier in der großen Bahnhofshalle in Empfang nahm.

Doch auch wenn Onkel Adi aus Sandl sich mit dem Bus ankündigte, traf man sich hier. Der lustige Onkel Adi mit dem schmucken Oberlippenbärtchen und den schwarzen Springerstiefel. Und meistens im Schlepptau seine noch lustigere Tante Eva, die immer lauter lachte, je später der Abend wurde. Zu fortgeschrittener Stunde konnte sie sogar in einer Fremdsprache reden. So dachte er als Kind zumindest. In Wirklichkeit war sie nur zu betrunken, um noch einen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen. Das wusste er heute. Aber ganz gleich, wer mit Bus oder Bahn kam, hier war immer die Zusammenkunft.

Und exakt hier, an diesem Bahnhof, hatte auch er einige Jahre später viele seiner Stunden zugebracht und seine großen Lebensträume geschmiedet. Wie oft saß er in Zukunftsvisionen versunken an den Bahnsteigen und wartete zu, dass sein Zug ihn zu den Vorlesungen an der Universität brachte. Wie viele Male hatte er die Lautsprecherdurchsagen gehört, während er in der Wartehalle über seinen Skripten und Büchern brütete. Und für was? Für dieses Leben, das schon so gebraucht daherkam? So gelebt?

Eine Hupe riss ihn kurz aus den Gedanken. Ein Kleinwagen war mit einem Laster touchiert und blockierte die Gegenseite der Fahrbahn. Überall lagen Glassplitter und Blechteile. Eine Frau saß weinend am Straßenrand. Sie gestikulierte wild und war völlig aufgelöst. Scheinbar war es ihr Auto, das nun reif für die Schrottpresse dastand. Die Motorhaube war keine Motorhaube mehr, sondern glich vielmehr einer aufgerollten Sardinenbüchse. Das Blech faltete sich überall zusammen und aus dem Innenraum qualmte und nebelte es heraus. Doch zumindest schien der Frau nichts passiert zu sein, so energisch wie sie den Fahrer mit Schimpfwörtern aller Art bedachte. Edgar schüttelte nur den Kopf und reihte sich auf der Spur zum Gewerbepark ein.

Ursprünglich wäre ohnedies alles ganz anders gelaufen für ihn. Ursprünglich säße er heute nicht in einem grobgepolsterten Bürosessel, sondern in einem lederüberzogenen Chefsessel, in dem nur er bestimmen würde, wem eine sechste Woche Urlaub gebühren würde. Doch wie so vieles in seinem Leben war auch dies nur ein geplatzter Traum im Becken voller herber Enttäuschungen und Illusionen. Er sollte damals in die Jagd - und Sportgerätefirma seines Bruders Henrik einsteigen. Er hätte mit ihm gemeinsam den österreichischen Markt mit Jagdgewehren, Sportbögen oder Fischereibedarf bedienen sollen. Er hätte einen tollen Job. Doch er war es letztlich, der durch die Finger schaute und nichts vom Kuchen abbekam.

„Willkommen im Land der Versager“, ratterte es in seinen Windungen, „der einzige Einwohner hier bist du!“

Und das alles, weil ihm nebst vielen Stärken leider auch eine große Schwäche mit auf den Lebensweg gegeben worden war. Eine fast grenzenlose Toleranz gegenüber den Frauen dieses Planeten. Konnte er noch so rational, clever und durchdacht an gewisse Sachen herangehen, so gefühlsgeleitet und infantil war er, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Als würde sich ein lauwarmer Mister Hide aus dem sonst so kühlen Doktor Jekyll schälen, um sich selbst den Garaus zu machen.

So auch im Falle seiner letzten großen Liebe Yvonne, die das Band zwischen ihm und Henrik jäh zerschnitt als er erfuhr, dass sie ihn mit ihm betrog. Sie, die ihm immer vorgaukelte ihn innig zu lieben und zu unterstützen, wo es nur ging. Sie, die nur Augen für ihn hätte und nur allzu gerne mit einem Ring am Finger die Beziehung auf eine höhere Ebene gebracht hätte. Sie, die sogar Kinder von ihm haben wollte. Geradewegs sie zeichnete sich damals verantwortlich dafür, dass seine Welt in Trümmern lag. Trümmer, die auch die Beziehung zu seinem Bruder begruben. Wie sollte er ihm noch länger in die Augen sehen können? Einem Menschen, der allem Anschein nach dachte, Wasser sei dicker als Blut. Gar nicht. Und so trug es sich auch zu, dass er seit mehr als zwanzig Jahren schon keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.

Er lebte sein eigenes Leben. Ein Leben mit Lydia, zwei Töchtern, einer Eigentumswohnung am Römerberg und seinem Job als Bereichsleiter bei Stratham - Machines. In diesem Betrieb fühlte er sich auch wohl und seine Arbeitskollegen waren ihm über die Jahre hinweg direkt an das Herz gewachsen.

Allen voran Tristan, ein anderer Angestellter dieser Firma. Er hatte seine Sympathie damals im Handumdrehen gewonnen, als er erfuhr, dass auch ihn das Schicksal nicht gerade mit glückseligen Momenten überhäuft hatte. Auch er hatte eine unliebsame Trennung hinter sich. Und auch bei ihm spielte ein Mitglied der Familie dabei eine entscheidende Rolle. Nur, dass es in seinem Falle nicht der Bruder, sondern vielmehr sein Vater war. Sein eigener Vater war es, der ihm seine damalige Partnerin abspenstig machte und sie letzten Endes sogar vor den Traualtar führte. Ja, solch kühne und abstruse Späße mochte das Leben zeitweilig spielen. Im Gegensatz zu ihm hatte Tristan sich von diesem Spaß jedoch nie wieder erholt und schwor der Frauenwelt seitdem zur Gänze ab. „Lieber ohne Frau und nur halbwegs glücklich, als mit Frau und todunglücklich“, so seine Maxime.

Edgar bog rechts ab und fuhr auf das Firmengelände. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönte ihm die Stimme aus dem Navi entgegen. Wie automatisch steuerte er seinen Parkplatz an. Dann ging er über das halbleere Areal hin zum Hauptgebäude. Die Schotterkörner dort pressten sich in die Rillen seines Schuhabsatzes. Jeder Schritt wurde von einem Knacken begleitet. Doch plötzlich hörte es auf zu knacken. Edgar blieb stehen und sah auf seinen Absatz. Er war in Hundekacke getreten. „Na, das passt ja zum heutigen Tag wie die Faust aufs Auge“, murrte er angewidert. Dann putzte er in der Wiese notdürftig seinen Schuh ab und ging weiter zum Eingang, wo schon Tristan beim Kaffeeautomaten auf ihn wartete. Er hatte sich auch bereit erklärt für die nächsten paar Tage den Journaldienst zu übernehmen. Warum auch nicht? Er hatte Zeit im Übermaß und niemand wartete auf ihn zuhause. Da sah er den Zusatzdienst sogar eher als Aufbesserung seines Kontostandes, denn als Belastung an.

„Salve, du Sack“, überfiel er Edgar gleich mit einem verschmitzten Lächeln. „Und, hast du deine Urlaubsvorbereitungen schon abgeschlossen? Oder wisst ihr immer noch nicht wohin die Reise gehen soll?“

Er reichte ihm einen Pappbecher mit Cappuccino, als er plötzlich die Nase rümpfte.

„Sag mal, hier riecht es, als hätte sich jemand angekackt. Das ist ja ekelhaft. Riechst du das auch?“, sah er ihn fragend an.

Edgar schüttelte nur verschämt den Kopf, obgleich der Gestank auch ihm bereits aufgefallen war. Er griff nach dem Becher, bedankte sich und nippte kurz.

„Das Einzige, das ich rieche, ist der Ärger bei uns zuhause“, überging er seine Frage einfach. „Du weißt ja, dass wir vorgehabt hätten, nach Griechenland zu fliegen. Alle vier. Aber du kennst ja auch Lydia und ihre utopischen Forderungen. Alles muss inkludiert sein. Vom Essen bis zum Trinken. Von den Liegen bis zu den Schirmen.“

Er rollte verständnislos seine Augen.

„Kreta, Heraklion oder Mykonos fallen vorneweg schon flach. Da wimmelt es ihr von zu vielen Touristen. Ein Pool und Meeresblick vom Hotelzimmer aus sind für sie Grundvoraussetzungen. Und außerdem dürfe es kein billiger Standardurlaub sein. Die Kosten könnten sich heuer ruhig einmal im oberen Segment bewegen. Für zwei Wochen, versteht sich.“

Seine Finger formten sich zu einer Pistole, die er sich an die Schläfe hielt und abdrückte.

„Da kann ich mir gleich die Kugel geben. Mit diesen Kriterien werde ich sicher nichts Entsprechendes finden. Also werden wir auch heuer unter dem Strich nicht umhin kommen, wieder einmal nach Kroatien zu fahren. Mir graut jetzt bereits davor, wenn ich nur an die Autofahrt und ihre Launen denke.“

„Tolle Voraussetzungen für harmonische vierzehn Tage also“, entgegnete ihm Tristan sarkastisch. „Warum bleibt ihr nicht einfach daheim und du verbringst deine freien Tage am Donausteig? Ist doch auch ganz in Ordnung. Es stimmt schon, hier hast du zwar keine Schönwettergarantie wie in Griechenland oder Kroatien. Dafür hast du eine Schönweibergarantie. Ein paar Brüste und knackige Ärsche für das Auge. Ein paar Bierchen in der Kantine. Und statt dem Meeresblick, eine nicht zu verachtende Aussicht auf unsere schöne Donau. Das kann sich doch auch alles sehen lassen, oder?“

„Wenn es nach mir gehen würde“, antwortete er, „dann würde ich die zwei Wochen sogar auf einem heruntergewirtschafteten Bauernhof mit dreiäugigen Kühen und Albinoschweinen im ukrainischen Hinterland verbringen. Hauptsache ich bin dabei alleine und höre und sehe nichts von Lydia.“

Edgar schnaufte angestrengt durch. Man konnte an seiner Miene regelrecht ablesen, dass die Situation zuhause ihn mehr als nur belastete. Die ewigen Sticheleien und der permanente Kleinkrieg mit Lydia nagten an ihm.

„Es ist einfach nur mühsam. Erst letzte Woche hat sie mir wieder vorgeworfen, ich würde ihr und den Kindern viel zu wenig Beachtung mehr schenken und mich auch nicht genug in den Haushalt einbringen. Ich würde mich mehr und mehr zu einem Egoisten entwickeln und das Hauptaugenmerk nur auf mein persönliches Wohlempfinden richten.“

In seiner Stimme schwang pure Resignation mit.

„Dabei bin ich es wohlgemerkt, der fast täglich den Chauffeur für Clara und Sophia spielt. Ich bin es, der das Abendessen macht. Und ich bin es auch, der wohl bald ein dickes Minus am Konto haben wird, weil alle Anschaffungen von meiner Karte abgebucht werden. Ich kann dir nur sagen, wenn das so weitergeht, dann…“ Er stoppte an dieser Stelle.

„Was ist dann?“, fragte Tristan neugierig nach, während er ein paar Schritte am Gang auf und ab ging und wie ein Hund den Boden beschnüffelte.

Immer noch roch es untrüglich nach Fäkalien.

„Willst du dich dann etwa scheiden lassen von deinem Hausdrachen? Du wärst doch der Letzte, der seine goldenen Handschellen gegen ein Singledasein eintauschen würde. Außerdem liegt der Sachverhalt in deinem Falle etwas anders als bei mir. Du hast nämlich Kinder, mein Freund. Ich kann am Abend meine Wohnungstüre mit ruhigem Gewissen aufsperren und bin froh darüber, dass mich lediglich das Echo der leeren Räume begrüßt. Du hingegen“, er stellte sich wieder neben ihn und schwenkte den Kaffeebecher in Edgars Richtung, „du würdest wahrscheinlich nicht einmal den Schlüssel im Schloss umdrehen, wenn du nicht wüsstest, dass deine zwei Töchter warten.“

„Na, da täusch dich mal nicht“, konterte Edgar, während er andächtig seinen Ehering auf dem Finger hin und her schob. „Vielleicht steuert mein Leben in der nächsten Zeit schon in eine andere Richtung.“

„Wie meinst du das? Hast du etwa ein neues Leben vererbt gekommen?“, lachte Tristan laut auf und verschüttete beinahe seinen Kaffee.

Dabei streckte er seine Hände in die Höhe, als wolle er ein Stoßgebet für seinen Kollegen in den Himmel schicken.

„Deine neue Richtung heißt höchstens Hinrichtung. Im Gefangenenlager, das sich Ehehafen nennt“, grinste er ihn an, „und das war es dann auch schon für dich.“

Edgar überlegte einen Moment lang. Sollte er es ihm erzählen? Sollte er ihm anvertrauen, was sich heute Morgen bei ihm zugetragen hatte? Dass er ganz offensichtlich vorhatte, seiner Frau die Treue zu brechen? Oder sollte er seinen Freund unbehelligt lassen und das kleine Geheimnis für sich behalten? Schließlich kannte er seine Lydia ja auch. Etwa von dem einen oder anderen Besuch bei ihnen zuhause oder von diversen Firmenfeiern. Ein unachtsames Wort von ihm und schon hätte sie ihn bei den sprichwörtlichen Eiern und würde so schnell nicht loslassen. Sie würde ihm drohen, vorerst mit den Kindern zu ihren Eltern nach Traun zu ziehen. Dann stünde unweigerlich die Auflösung des extra eingerichteten Familienkontos im Raum. Als nächsten Schritt würde sie ihre Verwandtschaft und den Freundeskreis gegen ihn mobilisieren. Und dann, wenn die Wellen von ihr hochgepeitscht waren, dann würde sie darauf reiten und ihn langsam unter sich begraben. Wieder und wieder. Bis er keine Kraft mehr hätte und irgendwann kläglich unter ihnen ersaufen würde. Die Wellen, die niemals brachen - seine letztliche Hinrichtung.

Und dennoch. Trotz dieser unliebsamen Möglichkeit, trotz des Unbehagens, das er beim Gedanken an all das verspürte, brach es mit einem Mal aus ihm heraus.

„Hör mir zu, wenn du mir hoch und heilig versprichst, dass du deine Klappe hältst, dann sage ich dir, was gerade so läuft bei mir.“

„Als ob dein Leben so interessant wäre, dass es sich lohnen würde, darüber mit anderen zu reden“, gab Tristan sich fast verärgert und öffnete den Eimer für den Plastikmüll. „Du kannst von Glück reden, dass du überhaupt jemanden hast dem du deinen Kram andrehen kannst. Und außerdem, mein Freund“, er zeigte auf den Mistkübel, „kannst du deine Schuhe gleich mit meinem Becher mitentsorgen. Du bist nämlich in Hundescheiße getreten. Daran besteht kein Zweifel. Der bestialische Gestank, der von deinen Sneakers ausgeht und die braunen Spuren hier am Fliesenboden bezeugen es.“

Er sah ihn angeekelt dabei an und hielt sich die Nase zu.