Die Bruderschaft – Teil 1 und 2 - F. A. Brodbeck - E-Book

Die Bruderschaft – Teil 1 und 2 E-Book

F. A. Brodbeck

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Beschreibung

Das Königsberger Kloster leidet unter den Repressalien des herrschenden Königs. Nach einer Serie von Klosterbränden wird dem Abt klar, dass nur der Rückgriff auf ein uraltes Recht das Kloster bewahren kann. Um dieses in der Kaiserstadt einzufordern, werden der Klosterschüler Laurin und sein verträumt-genialer und immer für eine Überraschung guter Lehrer Pipin auf eine geheime Mission entsandt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-495-1

ISBN e-book: 978-3-99130-496-8

Lektorat: Falk-M. Elbers

Umschlagabbildungen: Agit77, Razvan Nitoi | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Teil 1 Die Flucht

Die abendlichen Wüstenwinde setzten langsam ein. Die Stadt Königsberg lag in einem gelblich staubigen Licht, die meisten Bewohner hatten sich wie üblich in ihre Häuser zurückgezogen.

Nur vereinzelt sah man noch Händler, die ihre Stände aufräumten und ihre Waren verstauten. Ein paar Gardisten standen noch an geschützten Stellen Wache, aber die Stadt war leergefegt.

Das Brausen des Windes hatte zugenommen, man hörte die Sandkörner gegen die Mauern prasseln, die Sicht wurde immer schlechter.

Man konnte ihn kaum erkennen, wie er sich, sein Pferd an den Zügeln führend, den Klosterberg hochkämpfte. Er trug einen graublauen Umhang, wie ihn die reisenden Gelehrten oft trugen, sein Gesicht war mit einer Dschallah verhüllt. Das Pferd war nur mit leichtem Gepäck beladen und sträubte sich immer wieder, wenn eine besonders kräftige Windböe über den Klosterberg blies.

Die Gardisten, die das Kloster auf Befehl des Königs bewachten, sahen ihn erst, als er beinahe schon beim Klostereingang angekommen war. Der wachhabende Offizier rief: „Halt, stehen bleiben!!“ – doch die verhüllte Gestalt schien dadurch nur noch mehr angespornt zu werden und eilte auf das Klostertor zu.

Sie riefen noch einmal „Halt!!“, dann gab der Offizier den Befehl, zu schiessen. Die Gestalt sank von mehreren Schüssen in den Rücken getroffen zu Boden, es gelang ihr jedoch noch, mit letzter Kraft einen Botschaftszylinder über das Klostertor zu werfen, bevor sie reglos am Boden liegen blieb.

Der Offizier fluchte und rannte mit ein paar Gardisten näher. Die letzten paar Schritte nahmen sie vorsichtig und der Offizier stiess die reglose Gestalt zaghaft mit seinem Fuss an. Erst als keine Reaktion erfolgte, stiess er heftiger zu. Doch die Einschüsse am Rücken, das mit Blut verfärbte Gewand liessen keine anderen Schlüsse zu, als dass ein Toter am Boden liegen musste.

Sie drehten ihn um und zogen ihm die Dschallah herunter.

Der Schreck fuhr ihnen in die Glieder. Die Gardisten drehten sich um und küssten schnell ihre Amulette. Dem Offizier entfuhr: „Bei den Göttern, ein Bruder. Wir haben einen Bruder getötet!”

***

Als Laurin am nächsten Morgen den Klostergarten durchquerte, hatte er keine Ahnung, was in der letzten Nacht passiert war. Er war auf dem Weg zu seiner Morgenlektion bei Bruder Pipin.

Bruder Pipin war eigentlich kein richtiger Bruder, da er die Bruderprüfung trotz dreier Versuche noch nicht bestanden hatte. Aber da er schon seit Jahrzehnten im Kloster war, nannte man ihn automatisch „Bruder“.

Er war immer sehr zerstreut und mit hochwichtigen Experimenten beschäftigt.

Bruder Bonifaz hatte Laurin einmal erzählt, dass er auch wegen seiner Zerstreutheit durch die Prüfungen gefallen war. Man habe ihn gefragt, wer der erste Abt des Klosters Königsberg gewesen sei – eine Frage, die jedes Kind beantworten konnte: natürlich Salpinaster – und was er über ihn wisse.

Er habe geantwortet: „Das Kloster ist vor 2250 Jahren von Sal…“ Dann habe er jenen wohlbekannten abwesenden Blick bekommen, die Hände verworfen, dazu „… ja … natürlich!!” ausgerufen und sei zurück zu seinem Experiment geeilt.

Der Abt und die aus Mitbrüdern bestehende Prüfungskommission hätten sich hilflos angesehen, dann habe der Abt nur tief geseufzt und die Prüfung wieder abgebrochen.

Pipin war zwar ein schwieriger Lehrer, da er oft vom Thema abschweifte, aber Laurin mochte ihn von allen seinen Lehrern am meisten. Vielleicht lag es auch daran, dass Pipin der einzige Mensch war, der Laurins Mutter je gesehen hatte, als sie ihn damals, nur in Windeln und ein blaues Tuch gehüllt, an der Klosterpforte abgegeben hatte.

Er betrat den alten Klostertrakt, in dem man Pipin, wohlweislich weit entfernt von anderen genutzten Räumen, einen Arbeitsraum zugewiesen hatte. Schon von weitem hörte Laurin, wie Pipin an irgendetwas herumhämmerte und – klopfte.

„So, das sollte genügen“, sagte Pipin gerade, als Laurin den Raum betrat.

Pipin betrachtete ihn kurz mit abwesendem Blick und sagte ohne Begrüssung: „Hier, halte mal.“

Laurin sagte: „Guten Morgen, Bruder Pipin“, als jener ihm eine Schüssel mit einer undefinierbaren graublauen Masse in die Hände drückte.

Hinter ihnen blubberte eine rötliche Flüssigkeit in einem Reagenzglas, aus dem Pipin mit einer langen Pipette hastig eine Probe entnahm, sie mit einem gelblichen Pulver aus einer alten Blechdose auf einer Schale vermischte und dann mit leicht zittrigen Händen und hochkonzentriertem Gesicht eine milchigweisse Flüssigkeit tropfenweise aus einem zylindrischen Metallbehälter hinzufügte. Die Flüssigkeit nahm eine himbeerrote Farbe an, dann begann sich ein ätzender Geruch auszubreiten. Pipin riss Laurin die Schüssel aus der Hand, leerte die Flüssigkeit in einem Zug darüber und vermischte sie anschliessend mit einer Kelle aus Eisenholz.

„Ah … so“, sagte er befriedigt. Dann drehte er eine Sanduhr auf seinem Arbeitstisch um, setzte sich auf einen Holzhocker und stellte die Schüssel sorgfältig vor sich auf den Tisch.

Die graublaue Farbe hatte inzwischen eine orange Tönung erhalten und begann zu leuchten.

Pipin zog ein verklebtes Taschentuch aus seiner Kutte und tupfte sich damit die Schweissperlen von der Stirne.

Laurin hatte sich schon oft gefragt, wie alt Pipin sein mochte. Er schätzte ihn so zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Da er noch kein richtiger Bruder war, hatte er auch keine Tonsur oder eine Tätowierung über der linken Augenbraue wie die anderen Mönche. Er hatte verwuschelte, blonde Haare, die ihm bis zu den Augen herunterhingen, war von mittlerer Grösse, etwas beleibt, dazu ein kantiges Gesicht mit freundlichen, manchmal etwas verwirrt blickenden grauen Augen. Im Moment blickten sie hochkonzentriert auf die Sanduhr, die nur noch halbvoll war.

„Nur noch eine halbe Minute …“, murmelte er vor sich hin.

Laurin stand immer noch regungslos neben der Türe. Lange Erfahrungen mit Pipin hatten ihn gelehrt, sich absolut still zu verhalten, da Pipin völlig unberechenbar in seinem Verhalten und seinen Bewegungen war, speziell wenn er mit irgendeinem Experiment beschäftigt war.

Die Masse in der Schüssel begann zu blubbern und zu rauchen und nahm eine leuchtend grüne Verfärbung an.

Pipin nahm einen Luftsprung. „Es hat geklappt – es hat geklappt!!“, rief er voller Freude.

Dann nahmen seine Augen einen gehetzten Ausdruck an. Er liess sie im Zimmer herumschweifen, einen Moment lang wurde Laurin wie ein Stück Vieh gemustert, dann schweifte sein Blick weiter, als ob er ein Opfer suchte. Nachdem er das ganze Zimmer abgesucht hatte, schaute er ziemlich enttäuscht drein. Er öffnete eine Schublade und nahm ein langes Messer hervor. Dann zupfte er den linken Ärmel seiner Kutte zurück und schnitt sich mit dem Messer tief in den Unterarm.

Laurin starrte verblüfft und schockiert auf Pipin, dessen Gesicht inzwischen schmerzverzerrt und bleich geworden war. Pipin war verrückt geworden.

„Aaaah!! Was hast du gemacht, Bruder Pipin!!??“

Das Blut spritzte inzwischen rhythmisch aus Pipins Unterarm und tropfte auf die Tischplatte.

Pipin wurde immer bleicher und bleicher und sank langsam vom Hocker herunter. Laurin war für seine vierzehn Jahre ein kräftiger Junge und es gelang ihm gerade noch, Pipin aufzufangen, bevor dieser mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug.

Pipin verlor langsam die Besinnung. Es gelang ihm gerade noch, „Schnell … die Paste … auftragen …“ zu stammeln.

Laurin fand einen Löffel auf dem Tisch und schöpfte damit etwas von der grünen Paste aus der Schüssel. Inzwischen war der ganze Unterarm blutverschmiert. Laurin nahm Pipins verkrustetes Taschentuch, das auf dem Tisch lag, und wischte die Wunde etwas sauber, dann strich er die Paste mit dem Löffel in die Wunde.

Es fing an zu dampfen und zu blubbern, die Wunde glühte rötlich, dann stoppte die Blutung. Als das Glühen aufhörte, sah die Wunde aus, wie eine Schnittwunde nach einigen Tagen aussehen würde. Eine Kruste hatte sich gebildet.

Bruder Pipin lag immer noch bewusstlos auf dem Boden. Laurin tätschelte ihm vorsichtig die Wangen und rief immer wieder „Bruder Pipin!“, bis dieser schliesslich langsam blinzelte und die Augen öffnete.

„Und? Hat es geklappt?“ waren seine ersten Worte.

„Ich weiss es nicht – sieh selbst.“

Pipin setzte sich benommen auf und betrachtete enttäuscht seinen Unterarm.

„Könnte besser sein“, murmelte er. „Vielleicht sollte ich die Konzentration des Hasenwurzes noch etwas … Gib mir noch etwas von der Paste, mein Junge.“

Laurin gab ihm einen Löffel der Paste. Pipin strich sich damit noch einmal über die Wunde. Es blubberte und dampfte wieder, man sah einen rötlichen Schimmer, aber die Wunde sah danach genau gleich aus. Er schüttelte etwas enttäuscht den Kopf.

Der weitere Morgen war ziemlich ereignislos, ausser dass kurz vor der Mittagspause Bruder Ambrosius, der Abt des Klosters, hereinschaute.

Er bat sie, sich nach dem Mittagessen bei ihm im Büro einzufinden.

Laurin war überrascht. Was wollte wohl der Abt von ihnen?

Er hatte das Büro des Abtes erst einmal gesehen. Das war vor einigen Jahren gewesen, als er Bruder Anselm einen Streich gespielt hatte und dabei erwischt worden war. Bruder Anselm war schon damals der dickste Mönch im Kloster. Seine Kutte hatte kaum Falten, der Stoff war an gewissen Stellen ziemlich strapaziert.

Es war in der Nacht vor dem grossen Sommernachtsfest gewesen, bei dem es immer ein riesiges Festessen gab, als Laurin sich heimlich in Bruder Anselms Kammer schlich und seinen Gürtel gegen einen etwas engeren austauschte. Als Bruder Anselm am nächsten Tag seinen Gürtel anziehen wollte, gelang es ihm nur mit eingezogenem Bauch. So lief er den ganzen Tag mit hochrotem Kopf an all den aufgetischten Köstlichkeiten vorbei und winkte immer ab, wenn ihm jemand eine Kostprobe anbot.

Dem Abt fiel das merkwürdige Verhalten auf und er hatte den Schuldigen bald gefunden. Damals wurde Laurin ebenfalls ins Büro des Abtes zitiert. Er konnte sich nur noch schwach daran erinnern, aber irgendwie war es unheimlich gewesen.

Die Mittagsglocke rief sie zum Essen. Er ging mit Pipin, der noch etwas schwabbelig auf den Beinen war, in den grossen Speisesaal des Klosters. Er befand sich in einem Gewölbe, das an die Küche und den Gemüsegarten angrenzte. Das Kloster war ursprünglich für tausend Brüder gebaut worden, heute lebten noch 53 Brüder und elf Zöglinge im Kloster. Der grösste Teil des riesigen Gewölbes stand deshalb leer.

Die Brüder hatten sich in einer Ecke des Gewölbes in der Nähe des Durchlasses zur Küche mit einigen langen Klostertischen und Bänken eingerichtet. Es gab einen speziellen Tisch für den Abt und die Brüder der Verwaltung und dann weitere Tische für die Garten- und Kräuterbrüder, für die Feld-, Wald- und Wiesenbrüder usw. Etwas weiter entfernt stand auch der Tisch für die Schüler und Schülerinnen des Klosters.

Als sich Laurin dem Tisch näherte, hörte er gerade noch, wie Elvira in ihrer gehässigen Art sagte: „… der weiss ja nicht einmal, wer sein Vater oder seine Mutter ist.“ Sie wurde von ihrer Freundin Alice geschubst und sagte: „ Was ist denn …?“ Dann sah sie Laurin, verstummte und konzentrierte sich plötzlich auf ihr Essen.

Sein Freund Pankraz winkte ihn zu sich hinüber. „Hierher, Laurin, ich habe dir noch ein Stück Braten reserviert … Wo warst du bloss so lange?”

Laurin begann seinen Freunden von seinem Abenteuer mit Pipin zu erzählen. Als er dort angelangte, wo er Bruder Pipins blutverspritzten Unterarm beschrieb, wurde Elvira plötzlich sehr blass und konnte bloss noch mit einer Hand vor dem Mund sagen „ Ich glaube mir ist schlecht …“ und dann rannte sie schon Richtung Toilette, die in der Nähe des Ausganges neben dem Eingang zur Küche lag.

Pankraz prustete vor Schadenfreude. Elvira war nicht sehr beliebt.

Alle Schüler lebten seit zwei Jahren ohne direkten Kontakt zu ihren Eltern im Kloster, abgesehen von gelegentlichen Briefen. Denn vor zwei Jahren hatte König Sigismund, der Herrscher von Salvatien, den Befehl erteilt, das Kloster aus Sicherheitsgründen, wie er sagte, von der Umwelt abzuschotten. Natürlich war die Begründung nur vorgeschoben. Was er wirklich damit bezweckte, war, dass die Brüder den Kontakt mit der Bevölkerung der Stadt und ihren Mitbrüdern in den anderen Klöstern verlieren sollten.

Ebenso wie er die Tempel der Götter vor ein paar Jahren schliessen liess, indem er alle Priester zu Feldarbeit verdonnerte, damit sie ihr segensreiches Wirken, wie er sagte, zum Wohle der Gemeinschaft in der Mutter Natur vollbringen könnten. Nun – ohne Priester in den Tempeln konnten die Bürger auch nicht mehr beten gehen und arbeiteten länger. Dann erhob er eine spezielle neue Steuer zum Unterhalt der Tempel. Die Einnahmen wurden natürlich nie dafür eingesetzt, so verlotterten die Tempel langsam.

Offiziell hätte er sich nie getraut, sich gegen die Bruderschaft oder die Götter auszusprechen, denn einige andere der sieben Könige oder der Truchsess, der Statthalter des Kaiserhauses, wären davon nicht begeistert gewesen.

Die halbe Stadt Königsberg gehörte dem Kloster. Die Klostermauern umgaben den eigentlichen Klosterbesitz mit seinen Wäldern, Feldern und Teichen, zusätzlich wurde den Brüdern von Kaiser Anastasius I. der ganze Königsberg wegen ihrer aussergewöhnlichen Unterstützung des Kaisers überschrieben und das ewige Recht gewährt, im Rat der Könige Einsitz zu nehmen – das hatte zumindest Bruder Pipin Laurin in einer seiner Geschichtsstunden erklärt.

Laurin konzentrierte sich wieder auf sein Stück Braten.

Ein Gongschlag ertönte. Die Brüder erhoben sich.

Laurin stopfte sich noch schnell einen Bissen Braten in den Mund, bevor er sich ebenfalls mit den anderen Zöglingen zum Gebet erhob. Bruder Ambrosius, der Abt, war in diesen Dingen sehr streng. Er sagte ihnen immer: „Wenn wir beten, stehen wir vor dem Antlitz der Götter, also benehmt euch auch so.“ So standen sie denn mit ehrfürchtig gesenkten Häuptern um ihre Tische herum und lauschten dem Mittagsgebet des Abtes. Es war kurz, aber erfrischend und manche der Betenden fühlten sich, als ob ein kleiner göttliche Funke auf sie übergesprungen war.

Gestärkt von Mahlzeit und Gebet verliessen die Brüder und ihre Schüler den Speisesaal, während die Küchenbrigade bereits die Teller und Schüsseln einsammelte.

Jetzt kam eigentlich Laurins liebste Zeit. Die beiden Stunden nach dem Mittagessen waren für alle Schüler frei. Bei schönem Wetter gingen sie zusammen zum Klostersee baden oder in den Klosterwald spielen. Nur heute musste Laurin sich zum Büro des Abtes begeben. Bruder Pipin wartete schon am Ausgang auf ihn und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum ältesten Klostertrakt, wo sich das Büro des Abtes über den ganzen obersten Stock erstreckte.

Der alte Klosterteil war irgendwie unheimlich. Immer wenn Laurin dorthin musste, fühlte er sich beobachtet. Es schien ihm, als ob ihm die Statuen an den Säulen mit ihren Blicken folgten, ja, er hätte schwören können, dass sie sich sogar leicht bewegten, was natürlich völlig lächerlich war. Oder nicht?

Deshalb war er froh, dass er Bruder Pipin an seiner Seite hatte. Obwohl der heute merkwürdig wortkarg war. Normalerweise plapperte er über irgendeinen Nachtfalter, den er im Gemüsegarten gesehen hatte, oder schwärmte von seiner Lieblingsblume, der äusserst seltenen „Königin der Nacht“ – und das stundenlang. Nur heute schien er etwas niedergeschlagen. Laurin blickte ihn aus den Augenwinkeln an.

Da war es. Er hatte tatsächlich gesehen, wie sich eine der Steinschlangen am Sockel des heiligen Titokletian bewegt hatte.

Starr und mit offenem Mund blieb er stehen, bis ihn Pipin mit einem Schubs zum Eingang beförderte. „Nicht vor den Statuen stehen bleiben“, murmelte er. „Du solltest doch jetzt langsam wissen, dass sie zur Verteidigung des Klosters aufgestellt wurden.“

„Zur Verteidigung?“, fragte Laurin, völlig überrascht. „Statuen?“

Pipin lächelte leicht. „Nicht nur Statuen, das kannst du mir glauben …“

Sie kamen zur grossen Treppe, die zum Geschoss des Abtes führte.

Alles war sehr prunkvoll angelegt, aber man sah, dass das Kloster in den letzten Jahrzehnten an Einfluss verloren hatte. Es wirkte etwas vergilbt. Nur fiel Laurin jetzt auf, dass überall irgendwelche Statuen standen. Es mussten hunderte im ganzen Gebäude sein.

„Nun komm schon, wir können den Bruder Abt nicht warten lassen.“ Pipin schubste ihn erneut leicht die Treppe hoch.

Bruder Meinardus, der Sekretär des Abtes, sass wie üblich im Vorzimmer und war wohl in wichtige Dokumente vertieft, er schaute jedenfalls erst auf, als sich Pipin räusperte.

„Ach, Bruder Pipin und Laurin.“ Er lächelte sie freundlich an. „Ihr werdet bereits erwartet. Geht einfach rein.“ Er nickte mit dem Kopf auf die grosse, dunkle, prachtvoll verzierte Eisenholztür hinter sich.

Pipin schubste Laurin sanft zur Türe hin und öffnete sie.

Es war schon einige Jahre her, seit Laurin im Zimmer des Abtes gewesen war, und irgendwie hatte er sich damals die Umgebung gar nicht merken können, er war viel zu aufgeregt gewesen.

Der eine Teil des riesigen Raumes lag beinahe im Dunkeln, da die Fensterläden dort verschlossen waren. Man konnte trotzdem erkennen, dass alles sehr prunkvoll ausgestattet war. Alte, goldgerahmte Bilder hingen an der Wand und ein paar kleinere Handzeichnungen über der Sitzgruppe, die um einen kleinen, eleganten Tisch angeordnet war.

Ein riesengrosser Schrank mit vielen Verzierungen und Figuren, die sich bewegten … Die sich bewegten? Laurin blickte ein zweites Mal hin. Er musste sich wohl getäuscht haben. Er hätte schwören können, dass der Mönch mit dem Schwert gerade noch den Kopf bewegt hatte. Er schüttelte den Kopf und bemerkte, dass Pipin inzwischen bereits näher zum alten Arbeitstisch des Abtes getreten war, der im anderen helleren Teil des Raumes war. Hastig folgte er ihm und stellte sich neben ihn, um den Abt zu begrüssen.

Der Abt stand auf und nahm sie der Reihe nach in seine Arme, was höchst ungewöhnlich war, jedenfalls hatte das Laurin noch nie gesehen.

Bei hellem Licht betrachtet fiel Laurin auf, wie besorgt und fahl das Gesicht des Bruders Ambrosius war. Ein Abt hatte eine schwere Bürde zu tragen, die Verantwortung für das ganze Kloster, aber trotzdem hatte ihn Laurin noch nie zuvor in so einem schlechten Zustand gesehen.

„Bitte nehmt doch Platz, meine Lieben.“ Er deutete auf zwei komfortable Stühle, die in der Nähe des Arbeitstisches standen, und setzte sich hinter den Schreibtisch. Pipin und Laurin liessen sich gehorsam nieder und schauten Ambrosius erwartungsvoll an.

„Ich weiss gar nicht, wo ich beginnen soll“, sagte er und blickte etwas verzweifelt und abwesend aus dem Fenster hinaus zum Kräutergarten und dem dahinter liegenden See. Anscheinend gelang es ihm, sich zu sammeln, jedenfalls fuhr er fort: „Ich habe sehr schlechte Neuigkeiten.“ Er schluckte und rang mit seinen Händen. „Gestern Abend erhielten wir eine Botschaft von einem alten Freund, der inzwischen, wie ich vernommen habe, von den Gardisten des Königs, die ihn daran hindern wollten, das Kloster zu betreten, erschossen wurde. Es gelang ihm anscheinend, noch mit letzter Kraft einen Botschaftszylinder über die Klostermauern zu werfen. Jedenfalls wurde der Zylinder heute morgen vom Gärtnerbruder Plantanius gefunden und zu mir gebracht.“

Pipin und Laurin schauten sich schockiert an. Der Abt hatte sich inzwischen mit zittrigen Händen ein Glas mit einer undefinierbaren Flüssigkeit eingeschenkt und nippte vorsichtig daran. Das Getränk schien ihn etwas zu beruhigen und es kam auch wieder etwas Farbe in sein Gesicht zurück.

„Ooch, Bruder Konrad, ich werde dich sehr vermissen, du guter alter Freund. So viel haben wir zusammen durchgemacht, du und ich, und nun bist du in den ewigen Kreislauf zurückgekehrt.“ Eine Träne lief ihm die Wange herunter, er wischte sie sich beinahe nachlässig ab und ordnete die Dokumente vor sich.

„Entschuldigt meinen Gefühlsausbruch.“ Pipin und Laurin nickten betroffen und traurig. „Aber es ist, als ob ein Teil von mir gestern gestorben wäre. Wir waren Blutsbrüder, müsst ihr wissen, Konrad und ich.“ Einen Moment sass er einfach so da und schien auf eine innere Stimme zu hören. Dann sagte er: „Wir verdanken ihm sehr viel. Er hat sein Leben geopfert, um uns eine Warnung zu überbringen.“ Er nippte wieder an seinem Glas.

„Es ist so, dass wir neben der vom König zugelassenen, zensurierten Briefpost, etwa einmal im Monat Nachrichten von der Aussenwelt erhielten. Durch verschiede Kanäle gelang es uns, Kontakt mit den anderen Klöster aufrechtzuerhalten. Doch diese Nachricht war die schlechteste, die ich je erhielt.“ Er nahm einen grossen Schluck. „Anscheinend ist das Grosskloster der Bruderschaft in Lavinia bis auf die Grundmauern zerstört worden. Niedergebrannt durch die Gardisten des Königs. Keiner der Mönche, auch nicht unser Erzabt Felizius überlebte das Feuer.“ Er schüttelte den Kopf.

„Die Gardisten gaben an, dass sie das Feuer zu löschen versuchten, aber in Wirklichkeit sorgten sie dafür, dass es sich immer weiter in das Kloster hineinfrass. Das Grosskloster ist eines der ältesten Klöster … gewesen … und bestand zu einem grossen Teil aus Holz. Trotzdem, so etwas hätte nie passieren sollen. Es gab gewisse Schutzvorrichtungen, die nur ein Eingeweihter hätte ausschalten können. Wir müssen annehmen, dass ein Verräter die Gardisten informierte, wie sie sich Zutritt zum Kloster verschaffen konnten.“

Er schaute wieder zum Fenster hinaus.

Pipin und Laurin sassen angespannt auf ihren Stühlen.

„Aber es kommt noch schlimmer. Wie wir aus sicherer Quelle erfahren haben, wurden drei weitere Klöster in derselben Region ebenfalls durch Feuer zerstört. Von ihren Bewohnern weiss ich nichts, aber ich glaube, wir müssen das Schlimmste vermuten. Das heisst, dass von unseren zwölf Klöstern in diesem Land nur noch acht übrig sind, und wir wissen nicht, ob inzwischen nicht auch noch weitere Klöster zerstört wurden.

Ich bin nun als Abt des grössten noch verbleibenden Klosters der neue Erzabt der Bruderschaft, ein Amt, auf das ich gerne verzichtet hätte, das könnt ihr mir glauben. Ich bin verantwortlich für alle verbleibenden Klöster.“

Er stand ächzend auf und schritt etwas wankend zu dem riesigen Schrank hinüber. Dabei schien er ständig etwas vor sich hinzumurmeln und strich mit seinen Händen über die geschnitzten Figuren. Dann öffnete er die Schranktüre und somit konnte Laurin nicht mehr sehen, was er machte. Man hörte nur, wie er weiter vor sich hin murmelte und schlussendlich die Schranktüre wieder schloss und mit einer grossen alten Dokumentenmappe wieder zurückkam. Er legte sie vorsichtig auf seinen Schreibtisch und setzte sich. Er öffnete die Verschlüsse und öffnete die Mappe. Beinahe ehrfürchtig blätterte er in den Dokumenten, bis er das Gewünschte fand.

„Hier ist es, unsere einzige Chance.“ Laurin schaute sich das Dokument näher an. Auffällig waren die sieben kleineren und das grosse Siegel, die am unteren Ende des Dokumentes mit farbigen Bändchen angebracht waren. „Ihr müsst wissen, dass es sich dabei um ein ziemlich unbekanntes Dokument handelt, nur wenige Menschen wissen heute noch davon. Viele wissen, dass wir das ewige Recht haben, an den Sitzungen des Königsrates teilzunehmen, aber nur ein paar wissen, dass wir auch das ewige Recht haben, wie der Kaiser oder eine Mehrheit der Könige eine Sitzung des Königsrates einzuberufen.“ Er hielt inne und blickte wieder ehrfürchtig auf das Dokument. „Das Dokument von Kaiser Anastasius I., schaut es euch an, es sieht aus, als ob es gestern geschrieben worden wäre, dabei ist es 2250 Jahre alt. Es wurde mit einem Zauber belegt, der es vor dem Zerfall schützt.“ Laurin war fasziniert.

„Ihr werdet euch fragen, was nun das alles mit euch zu tun hat.“ Er hielt seine Hände hoch. „Ich komme gleich darauf.“ Er nahm noch einmal einen grösseren Schluck aus seinem Glas, dann sah er sie an.

„Ich möchte euch im Namen der ganzen Bruderschaft bitten …“ Laurin und Pipin schauten sich etwas betreten an, normalerweise befahl der Abt und bat nicht … Der Abt sah, wie sie ihre Blicke austauschten „… ja bitten, denn ich kann nicht von euch verlangen, dass ihr euer Leben aufs Spiel setzt, ohne dass ihr damit einverstanden seid.“

Laurin hörte, wie Pipin nervös schluckte.

„Meine Bitte an euch, oder euer Auftrag wäre es, dieses Dokument heimlich in die alte Kaiserstadt Palmina zu bringen und es zusammen mit diesem Brief“ – er zeigte auf einen dicken Briefumschlag, der mit dem Siegel des Klosters versehen auf dem Schreibtisch lag – „dem Truchsess zu übergeben und eine Sondersitzung des Königsrates einzuberufen.“ Er blickte sie fragend an.

„Aber natürlich, Bruder Abt“, sagte Laurin sofort und begeistert. Weniger freudig und etwas schwach tönte es ebenso von Pipin.

„Aber warum gerade wir?“, fragte Laurin.

„Es gibt verschiedene Gründe dafür, aber zwei sind ziemlich augenfällig. Pipin ist der einzige Erwachsene im Kloster, der kein richtiger Bruder ist und daher keine Kabila, die Halbmondtätowierung der Bruderschaft, über dem linken Auge und auch keine Tonsur hat. Und du, mein lieber Laurin, bist der Einzige, der keine Familie ausserhalb des Klosters hat, die ihn vermissen würde, wenn er auf eine längere Reise ginge. Bei den anderen Schülern würde es auffallen, wenn sie die Briefe ihrer Familien nicht mehr beantworteten. Ihr würdet also am wenigsten auffallen.“

Etwas enttäuscht lehnte sich Laurin in seinen Stuhl zurück. Er hatte gehofft, dass der Abt ihm vielleicht eine besondere Fähigkeit zuschrieb, aber trotzdem. Zum ersten Mal aus dem Kloster, das tönte sehr, sehr aufregend.

„Aber wie werden wir aus dem Kloster kommen?“, fragte er besorgt.

„Nun, ich habe da so meine Ideen. Aber ich will dich nun nicht länger von deiner Mittagspause abhalten, Laurin, wir werden später noch einmal darüber sprechen. Wir werden ein paar Tage Zeit brauchen, um alles zu organisieren. Doch versprich mir noch eins, erzähle niemandem vom Grund deiner Reise. Du kannst deinen Freunden sagen … ehmm, was wäre da eine gute Erklärung … nun ja, dass du Pipin auf einer Pilgerfahrt zum Berg der Götter begleiten wirst.“ Laurin nickte und Pipin errötete.

Sie standen auf, machten wie immer das Zeichen des ewigen Kreises und wollten das Zimmer verlassen.

„Du nicht, Pipin, mit dir habe ich noch etwas zu besprechen.“

Laurin sah, wie sich Pipin enttäuscht wieder setzte, und verliess das Zimmer.

Bruder Meinardus sass immer noch konzentriert über verschiedene Dokumente gebeugt und zuckte erst auf, als die Türe ins Schloss fiel.

„Ach du meine Güte, das habe ich ganz vergessen, der Bruder Abt wollte noch einen Auftrag für den Bruder Schneider unterzeichnen.“

Er nahm ein Blatt Papier und öffnete die Türe.

Laurin hörte, wie der Abt gerade zu Pipin sagte „… und unter keinen Umständen möchte ich, dass du Laurin …“, dann wurde die Türe wieder geschlossen und einen Moment später kam Meinardus strahlend mit dem unterzeichneten Blatt zurück, drückte es ihm in die Hand und erklärte ihm, dass er nach der Mittagspause zur Schneiderei gehen solle.

Laurin dankte ihm mechanisch und fragte sich dabei, was es wohl war, das Pipin ihm unter keinen Umständen … hmm, vielleicht erzählen sollte oder vielleicht antun sollte oder geben sollte? Laurin war so tief in Gedanken versunken, dass er erst bemerkte, dass er das alte Klostergebäude bereits verlassen hatte, als er einen lauten Pfiff hörte. Es war Pankraz, der wenig entfernt im Schatten eines Baumes auf ihn wartete und ihm jetzt zuwinkte. Laurin vergass alles andere, rannte zu seinem Freund hinüber und erzählte ihm aufgeregt, dass er mit Pipin auf eine Reise gehe. Dass er zum ersten Mal das Kloster verlassen werde.

„Wie ist denn die Welt da draussen so, Pankraz? Du hast ja früher draussen gewohnt bei deiner Familie. Was ist da so anders?”

Pankraz plusterte sich auf. „Nun ja … da gibt es viele, viele Menschen, riesige Gebäude und … na ja, so viel anders ist es auch nicht, es ist einfach viel weiter und du kannst hingehen, wo du willst. Da gibt es keine Mauern.“ Laurin hing an seinen Lippen, so spannend war alles für ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben würde alles neu sein.

***

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Im Kloster begannen die Mönche auf Befehl des Abtes mit beinahe hektischen Aktivitäten das Mittsommernachtsfest vorzubereiten, welches alle drei Jahre gefeiert wurde. Der Abt hatte König Sigismund in einem Brief gebeten die „Sicherheitsabsperrungen“ um das Kloster zu lockern, sodass die Besucher aus Königsberg wie üblich teilnehmen konnten. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten waren jeweils die kunstvollen Feuerwerke, für die die Mönche weitherum bekannt waren. Er wartete noch auf eine Antwort.

***

„Majestät, bitte entschuldigt die Störung.“ Der alte Kammerherr Gregor warf sich vor dem König Sigismund auf seine arthrotische Knie. Ooh, wie das schmerzte, aber er durfte sich nichts anmerken lassen, weil ihn der König sonst sofort entlassen würde. Also biss er sich auf seine Zähne, atmete tief durch und verharrte in der üblichen verbeugten Stellung, bis der König geruhte, von ihm Notiz zu nehmen.

Das würde wohl nicht so schnell geschehen heute, denn die Botschafterin von Kessinien, Gräfin Lollaluna von Hohenfels, war zur Audienz des Königs erschienen und hatte ihm einen Brief des Königs Miroslav IV. von Kessinien übergeben.

Und Gregor musste zugeben, dass sie eine äusserst attraktive Frau war.

Anscheinend genoss der König ihre Gegenwart. Sie war in ein duftiges, nach Gregors Empfinden etwas zu luftiges, zitronengelbes Sommerkleidchen gehüllt, das an der gesamten Vorderseite mit kleinen Knöpfchen versehen war, von denen verdächtig viele geöffnet waren.

Jedenfalls kam ihr schwellender Busen sehr gut zur Geltung, speziell wenn sie sich, wie sie es häufig tat, nach vorne beugte und dem König charmant zulächelte.

Sie sagte gerade mit ihrem etwas exotischen Akzent „Oh, aber bitte Eure Majestät, ich will Euch nicht von Euren Geschäften abhalten …“ und zupfte dabei spielerisch an einem der geöffneten Knöpfchen herum.

„Wie, was … oh …“ Erst jetzt hatte ihn der König bemerkt und zischelte ihn an: „Was willst du denn schon wieder, Gregor? Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“

„Bitte untertänigst um Verzeihung, Majestät, aber dieser Brief wurde soeben von der Ra… ich meine vom Stabsoffizier Kümmerling abgegeben. Es sei dringend …“ Er streckte mit gebeugtem Kopf die kleine Silberplatte mit dem Brief zum König hin, der den Brief mit einem entschuldigenden Blick zur Botschafterin entgegennahm.

Stabsoffizier Kümmerling oder „die Ratte“, wie ihn alle nannten, war der Geheimdienstchef. Sein Spitzname kam nicht von ungefähr. Er hatte ein paar struppige Schnauzhaare, Glubschaugen und ein hängendes Kinn, zudem war er ein schmieriger, unangenehmer Gesell.

Alle hassten ihn.

Der König stand von seinem Thron auf und entfernte sich ein paar Schritte, um den versiegelten Brief zu öffnen und durchzulesen.

„Ausgezeichnet“ war alles, was er sagte. Dann zu Gregor: „Sag ihm, er soll mich in einer halben Stunde im blauen Salon erwarten.“

„Zu Befehlt, Eure Majestät.“ Gregor rappelte sich dankbar und ächzend auf und entfernte sich.

„Probleme?“, fragte die Botschafterin zuckersüss.

„Oh nein, im Gegenteil“, lächelte der König einen Moment versonnen vor sich hin. „Aber ich bitte Sie, Gräfin, wo waren wir stehen geblieben …?“

Die Botschafterin lächelte ihn verführerisch an, gab sich einen Ruck und trank einen winzigen Schluck von dem katastrophalen Wein, den der König als seinen Lieblingswein bezeichnete.

„Hmmm, ein besonderer Tropfen.“

„Schmeckt er Ihnen auch so gut, Gräfin?”

„Wirklich ausgezeichnet, ich wünschte nur, ich dürfte mehr so köstlichen Wein trinken, aber ich muss auf meine Linie achten, sie verstehen.“ Dabei strich sie sich langsam mit den Händen von ihrem Busen zu der schlanken Taille hinunter. Der König folgte ihr fasziniert mit seinen Blicken.

„Aber Gräfin, Ihre Linie ist … hmmm, hervorragend“, sagte der König, nachdem seine Blicke wieder zum Busen hochgewandert waren.

Die Gräfin war mit ihrer Taktik zufrieden. Sie hatte sich lange überlegt, was sie anziehen sollte und wie sie sich darin bewegen sollte. Sie hatte ein paar Stunden in der Botschaft vor dem Spiegel verbracht und dabei die effektivsten Gesten eingeübt, bevor sie zur Audienz des Königs erschien. Dann hatte sie sich mit dem betörendsten Parfüm besprüht, das sie kannte.

Sie musste den Vertrag über die Wasserrechte mit Salvatien unbedingt abschliessen oder sie würde ihren Ehemann und ihre beiden Kinder nie mehr sehen. König Miroslav hatte ihr in einem seiner Briefe unmissverständlich mitgeteilt, dass sie herzlich zum Krönungsjubiläum in sechs Wochen eingeladen sei. Er hätte gerne, wenn ihr Gatte und ihre herzigen Söhne auch dabei sein könnten, aber das hänge ganz von dem Vertragsabschluss in Salvatien ab.

So wie sie Miroslav kannte, hiess das … liefern oder ich lasse töten. Miroslav war ein noch grösseres Monster als Sigismund, aber wenigstens liess sich Sigismund von Frauen bezirzen. Jedenfalls schien ihr Plan bis jetzt recht gut zu funktionieren.

„Was den Vertragsabschluss anbelangt, Eure Majestät, möchte ich Sie natürlich nicht drängen. Wir haben noch ein paar Wochen, bis ich König Miroslav meine Aufwartung machen muss, aber ich wünschte mir, dass mir auch noch ein wenig Zeit verbliebe, um Ihr wunderschönes Land UND seine Leute etwas näher kennenzulernen.“ Sie beugte sich einladend nach vorne.

„Aber natürlich, meine liebe Gräfin, dieser Vertrag ist ja nur eine Nebensächlichkeit, ich werde ihn gleich unterschr…“

„Siiiggiiilein!!“ Eine resolute ältere Dame mit graublauen Haaren betrat den Audienzsaal.

„Ooh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du Besuch hast, mein Junge.“ Sie musterte die Gräfin argwöhnisch von oben bis unten, vor allem die obersten paar Knöpfe, und tönte gar nicht so, als ob sie sich entschuldigen wollte.

„Mama, bitte, ich bin in einer Besprechung mit der Botschafterin von Kessinien.“ Der König blickte sie wie ein kleiner Junge an, der bei einer Sünde ertappt worden war.

„Von Kessinien, aha, freut mich Exzellenz.“ Sie schoss der Gräfin einen giftigen Blick zu. „Und was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?”

„Mama, bitte, das ist meine Angelegenheit.“

Seine Mutter blieb unverwandt stehen und wartete bis der König sagte: „Die Wasserrechte.“

„Sehr interessant und sehr wichtig.“

Die Gräfin biss sich auf ihre Zähne und knöpfte sich die duftige Bluse etwas zu. Das Blatt hatte sich soeben stark gewendet. Die Königinmutter war ein alter Drache und war nicht so leicht zu übertölpeln. Oder gab es vielleicht doch noch eine Möglichkeit?

***

Wenig später beendete König Sigismund die Audienz. Seine Mutter hatte ihm den ganzen Spass verdorben. Er vertagte die Vertragsverhandlung, worauf sich die Botschafterin ziemlich wortkarg und enttäuscht verabschiedete. Dann fragte er seine Mutter pflichtbewusst, weswegen sie ihn eigentlich gesucht hätte.

„Och, ich wollte dich nur um deinen Rat bitten, Sigi. Sollte ich lieber die Enziantulpen oder die Moosranunkeln neben dem Teich im Park pflanzen lassen?“

Innerlich kochte der König, doch er liess es sich kaum anmerken. Er wusste, dass seine Mutter sicher nicht wegen der Blumen zu ihm gekommen war. „Da verstehe ich wirklich zu wenig davon, Mutter, du bist die Expertin.“

„Na, dann vielleicht doch die Enziantulpen.“ Sie rauschte wieder davon und der König schritt zu einer Geheimtür, durch die er den blauen Salon betrat.

Die Ratte wartete bereits auf ihn und sprang auf, als er eintrat, und warf sich vor ihm auf die Knie.

„Eure Majestät.“

„Steh auf, Kümmerling. Ein interessanter Brief des Abtes. Ich hätte nie gedacht, dass uns das Kloster je so sehr entgegenkommen würde. Ein Feuerwerk sollen sie haben – wie die anderen vor ihnen … Hahaha.“ Er lachte abgehackt und bösartig und rieb sich triumphierend die Hände.

***

Inzwischen liefen im Kloster die Vorbereitungen für das Mittsommernachtsfest auf Hochtouren. Die Mönche wurden vom Abt in Arbeitsgruppen eingeteilt. Die Alchemisten waren für die berühmten Feuerwerkskörper zuständig, eine Gruppe alter Mönche wurde vom Abt zu geheimen Sitzungen empfangen. Laurin hörte nur jemanden sagen, dass es sich um Verteidigungsmassnahmen handelte.

Eine andere Gruppe der Mönche hatte eine Mauer gebaut, die den Eingangsbereich vom eigentlichen Kloster abtrennte. In der Klosterküche wurden allerlei Köstlichkeiten für das Fest vorbereitet.

Laurin und Pipin waren mit ihren Reisevorbereitungen beschäftigt. Der Tag des Festes rückte immer näher und war endlich da. Laurin wusste nicht, wie er sich fühlen sollte. Zu einem Teil freute er sich riesig auf das Abenteuer, das ihn erwartete, endlich einmal raus aus dem Kloster. Zum anderen Teil war er traurig alle seine Freunde, vor allem Pankraz, und die vertraute Umgebung zurückzulassen. Doch dieser tröstete ihn. Er solle einfach schnell wieder zurückkommen, er könne es kaum erwarten, zu hören, wie es ihm auf seiner Pilgerfahrt zum Berg der Götter gefallen hätte.

Der Abt hatte sie kurz vor dem Mittsommernachtsfest noch einmal zu sich gebeten und ihnen letzte Instruktionen, Briefe und Geld übergeben, die Pipin in einem Geheimfach seiner Ledertasche versteckte.

Doch Laurin sass nur da, ohne gross mitzubekommen, was der Abt von ihnen erwartete. Er war in seinen Gedanken bei seinen Freunden und vermisste sie schon, bevor er seine Reise überhaupt angetreten hatte.

Er schreckte erst auf, als er hörte, wie Bruder Ambrosius sagte: „… und was Laurin betrifft, so kennst du deine Aufgabe, Pipin.“

Pipin nickte bedächtig.

„So, aber jetzt genug. Es ist Zeit, um euch eine gute Reise zu wünschen. Ich werde euch beide vermissen, aber ich bin sicher, ihr seid die einzigen, die zum jetzigen Zeitpunkte unseren Klöstern noch helfen können.“

Pipin errötete leicht und Laurin schluckte gerührt.

Ambrosius sprach ihnen seinen persönlichen Segen aus und wünschte ihnen im Zeichen des ewigen Kreises ein langes Leben und viel Glück auf ihrer Mission.

Das war’s – die Stunde des Abschieds war gekommen. Laurin und Pipin umarmten alle im Kloster und warteten dann auf den Moment, dass die grossen alten Klostertore geöffnet wurden.

Es war am frühen Abend, als der Abt endlich den Befehl dazu gab.

Eine riesige Menschenmenge hatte sich vor den Klostermauern angesammelt und wartete gespannt darauf, was die Mönche für dieses Fest für sie vorbereitet hatten.