Die Brut - Das Ende naht - Ezekiel Boone - E-Book

Die Brut - Das Ende naht E-Book

Ezekiel Boone

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Beschreibung

Sie sind groß. Und es gibt kein Entkommen. +++ Die Menschheit befindet sich am Rande der Ausrottung. +++ Die zweite Welle der Spinnen ist größer, schwieriger zu töten und noch schrecklicher, denn die Tiere kommunizieren untereinander. +++ Die verzweifelte Reaktion des Militärs lässt nichts mehr übrig, was man retten könnte. +++ Shotgun ist es gelungen, die Kommunikation der Spinnen zu dekodieren. Das stärkste Signal kommt von den Nazca-Linien. +++ Der dritte und letzte Band der Thriller-Serie und der epische Showdown zwischen Menschen und Spinnen.

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Seitenzahl: 435

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Ezekiel Boone

DIE BRUTDas Ende naht

Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologMars Conquest Shuttle, erdnaher OrbitBethesda, MarylandUSS Elsie Downs, Atlantischer OzeanUniversität Osaka, Osaka, JapanSoot Lake, MinnesotaBoothton, South DakotaKearney Highschool, Kearney, NebraskaKatholische Kirche unserer lieben Frau von der Barmherzigkeit, Pistol Gap, OhioInvercargill, NeuseelandUSS Elsie Downs, Atlantischer OzeanUSS Elsie DownsUSS Elsie Downs, Atlantischer OzeanDelhi, IndienOxford, MississippiChincoteague Island, VirginiaDas Weiße Haus, Manhattan, New York, N.Y.Operation Safeguard, Ort unbekannt, Top SecretUSS Elsie Downs, Atlantischer OzeanNazca, PeruCàidh Island, Loch Ròg, Isle of Lewis, Äußere HebridenHigh Times Truck Stop & Family Fun Zone Restaurant and Gas Station/Taco Bell/Pizza Hut/Starbucks/Kentucky Fried Chicken/Burrito Barn/42 Flavors Ice Cream Extravaganza/Coast to Coast Emporium am Highway 80, NebraskaSoot Lake, MinnesotaChincoteague Island, VirginiaCentral Park, New York, N.Y.USS Elsie Downs, Atlantischer OzeanOxford, MississippiOslo, NorwegenOperation Safeguard, Ort unbekannt, Top SecretDas Weiße Haus, Manhattan, New York, N.Y.High Times Truck Stop & Family Fun Zone Restaurant and Gas Station/Taco Bell/Pizza Hut/ Starbucks/Kentucky Fried Chicken/Burrito Barn/42 Flavors Ice Cream Extravaganza/Coast to Coast Emporium am Highway 80, NebraskaBerlin, DeutschlandIm Luftraum über Buffalo, N.Y.USS Elsie Downs, Atlantischer OzeanCentral Park, New York, N.Y.Pleasure Paradise Casino, Atlantic City, New JerseyMoores Airport, Degrasse, N.Y.Das Weiße Haus, Manhattan, New York, N.Y.Im Anflug auf Manhattan, New York, N.Y.Krakau, PolenDas Weiße Haus, Manhattan, New York, N.Y.Nazca, PeruAmerican Museum of Natural History, New York, N.Y.USS Elsie Downs, Atlantischer OzeanDas Weiße Haus, Manhattan, New York, N.Y.C-17 Globemaster III, auf zwanzigtausend Fuß, im SteigflugBerlin, DeutschlandUSS Elsie Downs, Atlantischer OzeanEine Meile weit vor der Küste von MaineC-17 Globemaster III, Nazca, PeruNazca, PeruNazca, PeruNazca, PeruNazca, PeruEpilog NeujahrstagStornoway, Isle of Lewis, Äußere Hebriden, SchottlandOxford, MississippiBurlington, VermontWashington, D.C.Loosewood Island, MaineDanksagung

Für Zoey

Ich will versuchen, schneller zu schreiben.

Prolog

Mars Conquest Shuttle, erdnaher Orbit

Commander Reynard gebrauchte niemals unflätige Worte, das musste man wissen, aber das hier war wirklich eine erstklassige Bullenkacke. Wo zum Teufel war seine Parade?

Reynard war als Weizenfarmer in Saskatchewan geboren und aufgewachsen. Ein bisschen Raps und Linsen und Erbsen, aber hauptsächlich Durumweizen. Seine Mutter hatte die Farm mit eiserner Hand geführt. Sie war schnell dabei mit einem Kuss oder einem freundlichen Wort, aber sie konnte ein Fünf-Cent-Stück so hart quetschen, dass es zwei Vierteldollar-Münzen weinte. Reynards Dad war für die eigentliche körperliche Arbeit auf der Farm zuständig gewesen – für Säen und Ernten, für das Pflügen und die Beaufsichtigung der Landarbeiter, für Bodenuntersuchungen und Düngen. Aber seine Mutter war der Boss gewesen. Und eins der Dinge, die Reynard und seine Schwester immer wieder von ihr zu hören bekommen hatten, war dies: Meckern über das Wetter bringt weder Sonne noch Regen. Wenn du etwas nicht ändern kannst, beklag dich nicht, und wenn du es ändern kannst, ändere es. Und beklag dich trotzdem nicht. Schon in seiner Kindheit hatte er gelernt, dass man niemandem einen schlimmeren Vorwurf machen konnte als den, ein Meckerer zu sein. »Wer meckert, ist ein Hund, der den Wind anbellt«, hatte seine Mutter zu sagen gepflegt. Und wenn dieser Satz gegolten hatte, als er ein Junge auf einer Farm gewesen war, dann galt er jetzt erst recht, da er ein Astronaut war.

Trotzdem.

Bullenkacke.

Er hatte die Farm mit siebzehn verlassen, um zu studieren, und auch wenn er in den Ferien und an Feiertagen nach Hause gekommen war, hatte er eigentlich nie zurückgeschaut. In mancher Hinsicht, das wusste er, würden der weite Himmel vom Saskatchewan und die roten Feldwege seiner Kindheit ihn immer definieren, aber er hatte sein ganzes Leben als Erwachsener daran gearbeitet, diese Kindheit einzutauschen gegen den endlosen Himmel des Weltraums und die rote Erde eines ganzen Planeten.

Commander Brian Reynard. Der erste Mensch auf dem Mars.

Und das war es, was ihn bei seiner Rückkehr erwartete?

Mal nicht zu reden von den vielen Stunden, die er mit dem Studium verbracht hatte – Ingenieurwissenschaften und Biochemie als Doppelhauptfächer im Examen – oder in Flugsimulatoren im Rahmen der Ausbildung bei der Royal Canadian Air Force. Mal nicht zu reden von der Zeit, während der er auf der Edwards Air Force Base an einem Gemeinschaftsprogramm teilgenommen hatte, das ihm erlaubte, das Testpilotentraining der U.S. Air Force zu absolvieren, oder von der Zeit seines Masterstudiums der Luftfahrttechnik. Nicht zu reden von den Phasen seines Lebens, verbarrikadiert in den Kellerbüros bei der NASA und den Besprechungszimmern der Canadian Space Agency. Nicht zu reden von der Zeit, die er damit verbracht hatte, zu joggen und im Fitnessstudio zu trainieren, um besser in Form zu sein als die jungen und geschliffeneren Astronauten, die versuchten, ihn von dem Platz zu drängen, den er sich verdient hatte. Nicht mal zu reden von all den Jahren, in denen er sich speziell auf diese eine Mission vorbereitet hatte.

Es genügte, die Mission an sich zu betrachten: Achteinhalb Monate hatte er das Mars Conquest Shuttle geflogen und dabei den treibstoffsparenden, aber relativ langsamen Hohmann-Transfer-Orbit zum Mars genutzt, anderthalb Jahre hatte er gebraucht, um die erste Forschungsstation auf dem Mars aufzubauen und auf das Zeitfenster für den Rückstart zu warten. Wie wär’s damit? Fast drei Jahre seines Lebens. Gut, die Menschheit hatte einen Punkt erreicht, wo ein einfacher Raumflug nicht mehr genügte, um dich berühmt zu machen – Wikipedia enthielt eine absurd lange Liste von Menschen, die im All gewesen waren –, und selbst bei einem Spaziergang auf dem Mond kam man inzwischen ins Gedränge. Aber der erste Mensch auf dem Mars? Der Erste, der einen Fuß auf den Roten Planeten setzte? Der erste Mensch, der auf einer riesigen, kalten, staubigen Kugel wanderte, die zwischen den Sternen schwebte? Das musste doch etwas gelten, oder?

Als Kind hatte das schwarzweiße Bild von Neil Armstrongs kleinem Schritt auf dem Mond, der damals schon zu den Nachrichten von vorgestern gehörte, ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen lassen. Und selbst als Reynard die Leiter hinunterstieg und sich von der schwachen Anziehungskraft des Mars auf den Boden hinabziehen ließ, selbst als er die Worte sprach, die das Komitee, in dem die am Team des Mars Conquest Shuttle beteiligten sechs Länder vertreten waren, so sorgfältig vorbereitet hatte, hallte in ihm Armstrongs Stimme samt Rauschen und Knistern, und es fühlte sich an wie elektrischer Strom.

Deshalb fand Commander Reynard es angemessen, dass ihn bei seiner Landung eine Heldenbegrüßung erwartete. Er fand es angemessen, zu erwarten, dass er einen Platz unter den großen Forschern der menschlichen Geschichte einnehmen würde. Und verflixt nochmal, er fand es angemessen, bei seiner Rückkehr auf die Erde mit einer Konfettiparade zu rechnen.

Er wusste, er benahm sich albern. Selbst wenn er nicht von einer Mutter großgezogen worden wäre, die das Meckern für eine Todsünde hielt – dicht gefolgt von Angeberei und unflätiger Ausdrucksweise –, wäre ihm klar gewesen, dass es verrückt war, sich darüber aufzuregen, dass es keine Parade gab. Er hatte ganz andere Sorgen.

Vielleicht war er deshalb so fixiert auf seine Enttäuschung über den Ausfall der Parade. Es gab ihm Gelegenheit, an etwas anderes als das Undenkbare zu denken. Er und der Rest der Crew hatten es verfolgt, als die ersten Nachrichten über die Spinnen die Runde gemacht hatten – der Empfang war manchmal beschränkt, aber sie hatten Zugang zum Internet –, und sie hatten abwechselnd ungläubig und entsetzt reagiert. Es hatte schlimm genug ausgesehen, als sie sich der Erde näherten: Wie sich erwies, war ein Atomunfall in China kein Unfall gewesen, sondern ein Vorbote des Kommenden. Dann hatte es rund um den Globus Invasionen von Spinnen gegeben. Und es sah plötzlich so aus, als sei alles vorüber. Die Erde taumelte, aber sie drehte sich weiter wie immer. Als sie den erdnahen Orbit erreichten und die Vorbereitungen zur Landung trafen, dachte Commander Reynolds, wie leicht es für ihn und seine Crew gewesen wäre, nichts von dem mitzubekommen, was da unten vor sich ging.

Aus zweihundert Kilometern Höhe sah die Erde leuchtend und friedvoll aus, so verblüffend in ihrer Schönheit, dass Reynolds, der sich am Planeten seiner Geburt nie sattsehen konnte, manchmal bezweifelte, dass das, was er da sah, wirklich echt war. Wenn er nicht ein Mann der Wissenschaft gewesen wäre, hätte er auf den Gedanken kommen können, es sei so etwas wie ein Traum. Als Kind war er ein guter Protestant gewesen, aber als Erwachsener hatte er sich der Kirche der Wissenschaft angeschlossen. Er betete am Altar der Mathematik und der Technik, und so fiel es ihm schwer, an die Hand Gottes zu denken. Und doch, wenn er sah, wie die Sonne über der Erde aufging und sank und aufging und sank, während das Shuttle mit einer Geschwindigkeit von mehr als sieben Kilometern pro Sekunde durch den Orbit raste, fand Reynard es beinahe unmöglich, nicht an eine höhere Macht zu glauben.

Und dann war die zweite Runde der Ausbrüche gekommen.

Aber zunächst, in den Tagen zwischen dem Ende des ersten Ausbruchs und dem Beginn des zweiten, verbrachte die Crew eine Menge Zeit damit … Na, ganz gleich, wie er es drehen und wenden mochte, am treffendsten formulierte er es wahrscheinlich so, dass sie eine Menge Zeit damit verbrachten, auszuflippen. Die Wissenschaftlichen Offiziere Ya Zhang und Wassili Sokolow hatten höchst unterschiedliche Informationen von der chinesischen beziehungsweise der russischen Regierung erhalten, und das machte alle nervös. Sie waren Wissenschaftler, und sie waren es gewohnt, mit Daten zu arbeiten. Ya wurde gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, auch wenn China sich praktisch selbst zur Hälfte mit Atombomben zerstört habe, und Wassili sagte man, es gebe eine bedrohliche Spinnenplage, aber die sei dank des russischen Erfindungsreichtums unter Kontrolle.

Reynard hatte eine Besprechung einberufen, um die Situation zu klären; sie hatten stundenlang ihre Informationen hin und her verglichen und waren zu dem Schluss gekommen, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als auf Befehle zu warten. Also hatten sie getan, was sie konnten, um sich auf die Landung des Shuttles vorzubereiten, was schon unter normalen Umständen für genügend Beschäftigung und Nervosität gesorgt hätte.

Aber schnell wurde klar, dass die Umstände nicht normal waren, und als die zweite Runde der Ausbrüche begann, wurde Reynard bewusst, dass er damit die ganze Zeit gerechnet hatte. Als es schließlich geschah, war es fast wie eine Erleichterung.

Sie sahen die Ansprache, die Präsidentin Pilgrim an Amerika richtete, und hörten, wie sie ihren Plan erläuterte, Amerika zu zertrümmern, um es zu retten. Aus Respekt taten Reynard und die übrige Crew so, als sähen sie nicht, dass der Flugingenieur, Shimmie, weinte. Und dann brach nach allem, was sie mitbekamen, die Hölle los. Funksprüche von der Erde kamen nur sporadisch, und nach einigen mächtigen Lichtblitzen hörten sie ganz auf. Die Raumfahrer führten noch eine Diskussion – eine von der Sorte, die nur übermäßig ausgebildete Personen in Krisenzeiten führen können – über die Frage, ob die Kommunikation mit der Erde abgebrochen war, weil die Atomwaffen, die überall auf dem Territorium der USA explodiert waren, einen elektromagnetischen Puls ausgelöst hatten, der Satelliten und Relais auf eine Weise verschmort hatte, wie es die chinesischen Nuklearwaffen nicht getan hatten, oder ob es einfach daran lag, dass die Gesellschaft sich in Auflösung befand. Aber nach ein oder zwei Stunden brach Reynard die Sache ab.

»Es ist egal«, sagte er mit Blick auf die stecknadelkopfgroßen Lichtblitze von den drei Dutzend taktischen Nuklearwaffen, die sich über ganz Nordamerika verteilten. Sie hatten lange genug diskutiert und gestritten, um die Sonne zweimal auf- und wieder untergehen zu sehen, während das Mars Conquest Shuttle etwa alle zwei Stunden die Erde einmal umrundete. »Wir können genauso gut jetzt eine Entscheidung treffen. Wir haben Treibstoff, um noch zwei Monate hier oben zu bleiben. Wir können auf Anweisungen warten, bis unsere Reserven nahezu aufgebraucht sind, und wenn wir bis dahin nichts gehört haben, müssen wir so oder so auf eigene Faust handeln. Oder wir können zur Kenntnis nehmen, dass da unten alles im Eimer ist und dass wir niemals mehr wirkliche Anweisungen empfangen werden. Dann sagen wir einfach, zum Teufel mit allem, und bringen das Ding nun eigenmächtig runter.«

Obwohl die Mission als militärisches Unternehmen galt, ließ Commander Reynard abstimmen. Einer nach dem andern stimmten Wassili, Ya, Jimmie und sogar Jenny dafür, die Umlaufbahn zu verlassen.

»Okay«, sagte Reynard. »Also, ab nach Hause.«

Beim Wiedereintritt in die Atmosphäre bockte und rasselte das Schiff, als paarten sich zwei Ochsenfrösche auf einem Schlagzeug, aber als die Turbulenzen vorüber waren und er sich nicht mehr hin und her geworfen fühlte, stellte Commander Reynard überrascht fest, dass er weinte. Die Aussicht von seinem Captainssitz aus war atemberaubend. Ein sonniger Himmel über Florida. Ein so klares Blau, dass die wenigen Wolkenschleier es nur noch vollkommener aussehen ließen. Der Atlantik funkelte wie ein Edelstein. Zwei Jahre, neun Monate, drei Tage. So lange war er unterwegs gewesen, ohne einen Fuß auf die Erde zu setzen. Auch wenn er für alle Zeit der erste Mensch auf dem Mars gewesen sein würde, war die Erde sein Zuhause.

Die Landung selbst war beinahe ernüchternd. Sie benutzten dieselbe Landebahn am Kennedy Space Center, die auch für das Space Shuttle verwendet worden war, und obwohl das Mars Conquest Shuttle nicht wie ein Adler, sondern eher wie ein Laufschuh flog, setzten sie sanft auf dem Boden auf. Commander Reynard beanspruchte viertausend der fünftausend Meter langen Landebahn, ehe er das Schiff zum Stehen brachte. Alle Crewmitglieder arbeiteten ihre Checklisten ab, und schließlich stiegen sie aus. Wie es ihm als dem ersten Menschen auf dem Mars zukam, war Commander Reynard auch der Erste, der den Fuß wieder auf die Erde setzte.

Aber es war so still.

Niemand war da, um sie zu begrüßen.

Keine Parade.

Es würde nie eine Parade geben.

Commander Reynard seufzte. Totale, komplette, erstklassige Bullenkacke.

Bethesda, Maryland

Lance Corporal Kim Bock brauchte nicht mal fünf Minuten, um zu begreifen, dass sie auf sich selbst gestellt waren. Kurz bevor die Atombomben gefallen waren, hatten sie den Hubschrauber abfliegen sehen, der die fünf Wissenschaftler zusammen mit zwei Zivilisten, Amy Lightfoot und Fred Klosnick, und Amys großem, tollpatschigem schokoladenbraunen Labrador Claymore auf einen sicheren Flugzeugträger bringen würde. Amys Mann Gordo und Freds Mann Shotgun waren bei Kim und ihren Marines zurückgeblieben. Die Hubschrauberpilotin hatte versprochen, zurückzukommen und sie zu holen, aber auch wenn Kim gern an ihre Rettung glauben wollte, wusste sie, dass es eine leere Versprechung gewesen war. Der Hubschrauber war eh schon überladen gewesen. Dr. Guyer und die anderen Wissenschaftler mochten unentbehrlich sein, aber Kim und ihre Marines waren es sicher nicht. Nein, Kim sah es ziemlich realistisch: Sie waren auf sich selbst gestellt. Spinnen fraßen Menschen, die Regierung der Vereinigten Staaten zündete Kernwaffen auf eigenem Territorium, und die Kavallerie würde nicht kommen, um sie zu retten.

Anfangs hielten sie sich auf Trab. Eine Zeitlang arbeiteten sie daran, Professor Guyers Labor und die Bio-Quarantäneeinheit im National Institute of Health in einen Ort zu verwandeln, der sie vor den Spinnen schützen würde. Dieses Unternehmen gaben sie auf, nachdem Shotgun Staff Sergeant Rodriguez darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die Vororte von Washington D.C. vielleicht generell keine so sichere Gegend waren, selbst wenn sie sich vor den Spinnen abschirmten.

»Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt einen Bunker gebaut habe, war, um der Möglichkeit eines Atomangriffs vorzubeugen«, sagte er. »Natürlich habe ich aber nicht damit gerechnet, Schutz vor Atomwaffen zu brauchen, die eingesetzt würden, um uns vor Spinnen zu beschützen. Na ja, theoretisch zu beschützen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin nicht sicher, ob das die beste Strategie war. Aber die Tatsache bleibt bestehen: Die Erwartung liegt nahe, dass D.C. als Nächstes an die Reihe kommt. Die Gefahr, plattgemacht zu werden, wenn wir hierbleiben, ist größer als die Bedrohung durch die Spinnen. Im Rückschluss heißt das: Wir arbeiten zwar mit unvollständigen Informationen, aber ich an Ihrer Stelle würde trotzdem nicht hierbleiben und auf Befehle warten.«

Und sie arbeiteten tatsächlich mit unvollständigen Informationen. Alles um sie herum brach zusammen –  es gab Stromausfälle, die Mobilfunknetze waren überlastet oder ausgefallen, aus dem Radio kam nur noch Rauschen, und das Internet war eher eine Idee und keine Realität mehr –, aber sie hörten von den Atombomben: Denver, Minneapolis, Chicago, Kansas City, Cleveland, Memphis, Dallas, Las Vegas. Soweit sie es verfolgen konnten, waren es ungefähr dreißig Bomben, die alle größeren Metropolen, deren Verseuchung bekannt war, dem Erdboden gleichgemacht hatten. Nicht zu reden von den Hunderttausenden, vielleicht Millionen Tonnen von konventionellem Sprengstoff, die schon auf Haupt- und Nebenstraßen explodiert waren, um Amerika unpassierbar zu machen. Die Theorie dahinter war, je schwieriger es für Menschen wurde, zu reisen, desto schwieriger wäre es für die Spinnen, mit ihnen zu reisen.

»Na«, sagte Private Sue Chirp, »zumindest haben sie Disneyland verschont. Ich wollte da immer schon hin.«

Lance Corporal Kim Bock wollte sie korrigieren, ließ es dann aber bleiben. Was hatte es für einen Sinn, Sue zu sagen, dass Disneyland zusammen mit ganz Los Angeles und einem guten Teil der Westküste zerstört worden war? Kim wusste, dass Sue in Wirklichkeit nur plaudern wollte, damit es ihnen beiden besser ging. Außerdem meinte sie Disney World. Und nach allem, was Kim wusste, hatte Sue wahrscheinlich recht. Florida war wenigstens bisher von den Spinnen verschont geblieben.

Aus irgendeinem Grund musste Kim bei dem Gedanken an Florida und Disney World auch an den Unterschied zwischen den beiden Cartoon-Hunden denken, an Goofy und Pluto. Warum konnte der eine sprechen und auf zwei Beinen laufen, während der andere ein ganz normaler Hund war? Dann fiel ihr der Hund Claymore ein, und sie fing an zu weinen. Schon wieder. Das tat sie jetzt oft.

Obwohl Rodriguez sein Bestes tat, das Platoon zu beschäftigen, gab es eine Menge Leerlauf, und infolgedessen hatte Kim eine Menge Freizeit, um über diesen blöden Hund nachzudenken. Als Kind hatte sie sich immer einen Hund gewünscht, aber ihr Dad war allergisch gewesen. Plötzlich kam ihr der eigene Gedankengang abstrus vor. Sie waren jetzt nah bei der Gegend von Woodley Park, wo ihre Eltern nur einen Fußweg weit von der National Cathedral School entfernt wohnten, an der ihr Dad gearbeitet hatte, doch Kim hatte kaum an sie gedacht. Aber sie konnte nicht aufhören zu weinen, wenn sie daran dachte, wie Claymore mit dem Schwanz gewedelt hatte, als sie ihn in diesen Hubschrauber gehoben hatte.

Unterdessen lief Teddie, die bei CNN arbeitete, herum und filmte alles, und sie war anscheinend ganz aufgeregt bei dem Gedanken an den Dokumentarfilm, den sie drehen wollte. Während sie das tat, bastelten die beiden anderen Zivilisten, Shotgun und Gordo, fleißig an ihrer Maschine herum, der ST11, die angeblich ein Spinnenkiller sein sollte, anscheinend aber hauptsächlich bewirkte, dass die Arachniden schläfrig wurden. Das hinderte Shotgun nicht daran, regelmäßig Rodriguez zu sich zu rufen und seine Angst zu wiederholen, dass Washington vielleicht nicht mehr lange existieren würde. Immerhin hatte die Regierung der Vereinigten Staaten in all ihrer Pracht und Weisheit entschieden, zwei Dutzend Atombomben auf andere verseuchte Städte zu werfen, um sie zu zerstören. Und auch wenn das National Institute of Health formal gesehen nicht in Washington D.C. lag, schienen zwei Meilen nicht eben ein hinreichender Abstand zu sein, wenn es um Atompilze ging. Jedes Mal, wenn Shotgun davon sprach, sah Kim, wie Rodriguez damit zu kämpfen hatte. Rodriguez war nicht gerade ein unabhängiger Denker, und jetzt, wo alles durcheinander und das Platoon im Grunde ohne Befehle war, wusste der Staff Sergeant offensichtlich nicht mehr, was er tun sollte.

Man musste Rodriguez zugutehalten, dass er die Disziplin aufrechterhalten hatte, und er hatte sie auch auf Distanz zu den anderen bewaffneten Einheiten gehalten, die auf den Parkplätzen des NIH und in der Umgebung in Stellung gegangen waren. Trotzdem, als die Zeit verging, konnte Kim nicht mehr übersehen, dass einige der uniformierten Männer und Frauen von den Einheiten in der Umgebung verschwunden waren.

»Das bilde ich mir nicht ein, oder?«, fragte sie Honky Joe.

»Nein«, sagte Honky Joe. »Nicht so viele, wie man in Anbetracht der Lage annehmen möchte, aber es sind eindeutig einige desertiert. Wir haben es Rodriguez zu verdanken, dass unser Platoon noch zusammenhält. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch wir bluten.« Er musterte sie und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Du selbst denkst nicht daran. Das wüsste ich. Dafür bist du zu clever. Hätte auch wirklich keinen Sinn. Wo solltest du hin? Ich glaube nicht, dass irgendjemand einen Plan hat. Wenn es was anderes wäre – Russen, Nordkoreaner, selbst Terroristen –, ja, dafür haben wir Notfallstrategien. Aber Spinnen?« Er lachte und reichte ihr die Flasche Gatorade, aus der er trank. Das Zeug war warm, und das kränklich grüne Leuchten der zuckrigen Flüssigkeit verursachte ihr schon beim bloßen Anschauen Zahnschmerzen, aber das hinderte sie nicht daran, davon zu trinken. Die tröstende Süße erinnerte sie an ihre Kindheit. »Besser, wir bleiben zusammen, nicht wahr? Ist das nicht der Sinn, wenn man bei den Marines ist?«

Sie gab ihm recht. Es war einer der Gründe, warum sie dabei war. Ein Marine zu sein, bedeutete, ein Teil von etwas zu sein, das größer war als man selbst.

Sie behielt die Gatorade-Flasche und versuchte, möglichst unauffällig so nah wie möglich an Shotgun, Gordo und Teddie heranzuschlendern, die mit Rodriguez die Köpfe zusammensteckten. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um das Ende des Gesprächs zu hören. Shotgun teilte Rodriguez in unmissverständlichen Worten mit, dass die Zivilisten, was immer die Marines vorhätten, so schnell wie möglich aus Washington verschwinden müssten.

Als Rodriguez sie eine Stunde später zusammentrommelte, stellt Kim zum ersten Mal fest, dass in ihrer Einheit ein Mann fehlte. Garvey oder Harvey, oder wie er sonst heißen mochte. Ein stiller Junge mit einer so blassen Haut, dass es aussah, als habe er nie etwas anderes getrunken als warme Milch. Kim war dankbar gewesen, dass er nicht zu ihrem Fire Team gehörte. Aber obwohl Kim sah, dass Rodriguez beim Appell seine Abwesenheit bemerkte, kommentierte er es nicht. Allenfalls schien er erleichtert zu sein, und als er anfing zu reden, begriff Kim, dass er jetzt im Zugzwang war. Er konnte nicht länger auf der Stelle treten.

»Die Hauptfiguren im NIH« – damit meinte er die Wissenschaftler, die mit dem Hubschrauber ausgeflogen worden waren – »sind nicht mehr hier. Das bedeutet, unser ursprünglicher Befehl – nämlich, unsere zivilen Gäste zu Professor Guyer zu bringen – ist immer noch unser aktuellster Befehl. Wir werden nicht in der Lage sein, Shotgun oder Gordo auf die USS Elsie Downs zu bringen.«

Kim hörte, wie Honky Joe vor sich hin brummte: »Natürlich nicht, nicht ohne Hubschrauber.«

»Einstweilen besteht also unser oberstes Ziel darin, diese Zivilisten zu beschützen. Sie wurden uns als Subjekte von höchstem Wert zugewiesen, und dementsprechend werden wir weiterhin handeln. Ihre Sicherheit hat Prioritätsstufe eins. Angesichts der Befürchtungen, Washington D.C. könnte als potentielles Angriffsziel gelten, entscheide ich, hier abzuziehen.«

Während er behauptete, dass dies seine Entscheidung sei, sah Kim, wie sein Blick zu Shotgun und Gordo hinüberhuschte.

»Und wohin?«

Kim wusste nicht, wer die Frage gestellt hatte, aber es interessierte sie auch nicht. Entscheidend war, dass sie alle aufbrachen.

»Nach Chincoteague Island, Virginia«, sagte Rodriguez. Kein nach nationalen Maßstäben irgendwie bedeutender Ort, aber ein guter Ort zum Warten. Weit weg von Washington D.C., aber unmittelbar an der Küste. Wenn sie es schafften, den Kontakt wiederherzustellen und einen Helikopterflug zu ergattern, wären sie den sicheren Flugzeugträgern dort schon ein bisschen näher. Als Rodriguez ihnen den Plan darlegte, sah sie, wie ihre Kameraden zu den anderen Trupps in der Umgebung hinüberschauten, aber bei denen schien niemand ans Abrücken zu denken. Kim war es egal. Solange sie nur von hier verschwanden, war ihr alles recht.

Rodriguez bewältigte alles, so gut er konnte. Er gab seine Befehle und ließ keinen Zweifel daran, dass Teddie, auch wenn sie der ursprünglichen Gruppe nicht angehörte, jetzt als »Subjekt von höchstem Wert« unter dem Schutz stand, unter dem auch Gordo und Shotgun mit ihrem albernen kleinen Kasten standen. Während die Marines sich marschbereit machten, versuchte Kim, sich ein Bild von ihrem Trupp zu machen. Soweit sie sehen konnte, war Honky Joe der Einzige, der mitbekommen hatte, dass Shotgun und Gordo die Entscheidung für Rodriguez getroffen hatten.

Sie hatten keine Hummer und keine leichten taktischen Kampffahrzeuge, und so beschlagnahmten sie zivile Fahrzeuge von den Parkplätzen am NIH und in der Umgebung. Wie sich zeigte, war es mit der Kombination aus Private First Class Elroy Trotters Vergangenheit als jugendlicher Straftäter und Gordos und Shotguns Elektronikkenntnissen kein großes Problem, einen Haufen SUVs und Pick-ups kurzzuschließen. Ein paar der Männer – lauter Männer, keine Frauen – maulten, es sei doch eine Schande, nicht auch den glänzenden feurig-orangegelben Porsche 911GT3 »auszuborgen«, der anmutig schräg auf zwei Parkplätzen stand.

»Komm schon. Sieh ihn doch an. Das ist Sex auf Rädern«, sagte Private Hammit Frank zu Kim. »Weißt du, was so ein Ding kostet?« Mitts schüttelte den Kopf und machte traurige Dackelaugen. »Mit Vollausstattung wie der hier? Der hat Keramik-Karbon-Bremsen, allen möglichen Karbonfaserscheiß …« Er ließ den Satz unvollendet, als er mit der Fingerspitze über das Dach strich. Einen Moment lang dachte Kim, er habe tatsächlich Tränen in den Augen. »Zweihunderttausend Dollar. Mindestens. Und der steht hier nur rum.«

Aber Rodriguez hatte sich klar ausgedrückt: nur Fahrzeuge mit Allradantrieb und hoher Bodenfreiheit. Die Air Force hatte mit den Straßen und Brücken in den westlichen und mittleren Staaten der USA ganze Arbeit geleistet. Die Ostküste war zwar noch weitgehend unversehrt geblieben, aber das bedeutete nicht, dass sie leicht vorankommen würden. Rodriguez wollte, dass sie in der Lage waren, Felder und Kantsteine zu überwinden und im Notfall querfeldein zu fahren. Auch wenn er nicht befohlen hätte, sich auf Trucks und SUVs zu beschränken, war es eine gute Entscheidung, fand Kim. Außerdem, was hatten die Jungs nur mit ihren coolen Autos? Ihr persönlich wäre ein fetter Pick-up jederzeit lieber als irgendein Sportwagen.

Sie landete schließlich am Steuer eines Nissan Titan. Der Truck war eine Bestie, und er war entweder neu, oder der Eigentümer hatte ihn mit einer Zärtlichkeit behandelt, die Kim von einem Freund noch nie bekommen hatte. Alle drei Zivilisten saßen schließlich in ihrem Truck, auch wenn sie nicht wusste, wie es dazu gekommen war: Teddie mit ihrer Kamera vorn auf dem Beifahrersitz, Gordo hinter Kim und Shotgun hinter Teddie. Teddie hatte Shotgun angeboten, vorn zu sitzen, weil er so viel größer war als sie, aber er hatte abgewinkt und gesagt, es sei okay, wenn sie nur ihren Sitz nach vorn schob.

»Das war sauber. Sie haben Rodriguez in die Ecke gedrängt, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen«, sagte Kim zu Shotgun, als sie vom Parkplatz fuhren. Im Rückspiegel konnte sie ihm in die Augen sehen.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er, aber es war klar, dass er genau wusste, wovon Kim redete.

In den ersten ein, zwei Stunden blendete sie die Männer auf dem Rücksitz die meiste Zeit aus. Sie redeten von Gigahertz und Megahertz und Frequenzen und Langwellen- und Kurzwellen- und sogar Raumwellenübertragung, aber an der Stelle hatte sie schon längst den Faden verloren. Teddie stöpselte ihre digitale Videokamera in einen der Zwölf-Volt-Ports, um sie aufzuladen – Kim verstand nicht viel von Kameras, aber das Ding sah teuer aus –, und war im nächsten Moment eingeschlafen, so dass Kim Gelegenheit hatte, ihr Smartphone mit dem Bluetooth-System des Trucks zu synchronisieren und sich die Playlist mit Old School Rap anzuhören, die ihre beste Freundin auf der High School für sie zusammengestellt hatte.

Das Fahren selbst war nervenaufreibend. Rodriguez hatte seinen acht Fahrzeugen befohlen, dicht hintereinander zu bleiben, was wahrscheinlich kein großes Problem dargestellt hätte, wenn der Verkehr nicht gewesen wäre. Die Straßen waren verstopft. Es sah aus, als ob alle Welt gleichzeitig entweder nach Washington fahren oder Washington verlassen wollte. Ein paar Minuten lang fuhren sie im Schritttempo, dann hundert Meter weit mit normaler Geschwindigkeit, und dann ging es volle fünf Minuten lang überhaupt nicht mehr vorwärts. Wenn sich eine Lücke auftat, wurde man verrückt bei dem Versuch, alle acht Trucks und SUVs gleichzeitig hineinzuquetschen. Als Kim zwei Stunden nach der Abfahrt vom NIH bei »Rapper’s Delight« von Sugarhill Gang mitrappte, waren sie kaum vier Meilen weit gekommen.

Weshalb sie auf Shotguns Bitte besonders genervt reagierte.

»Oder bei Walmart«, sagte er. »Ehrlich gesagt, Radio Shack wäre ideal, aber wenn Ihr Smartphone nicht auf magische Weise noch funktioniert und wir herausfinden können, wo der nächste Radio Shack ist, genügt auch schon ein großer Computerladen.«

»Ein Walmart ist wirklich auch prima, wenn wir keinen Elektronikladen oder einen Radio Shack finden«, meldete Gordo sich zaghaft.

»Ein Radio Shack wäre mir lieber.«

»Wissen Sie denn, wo der nächste Radio Shack ist? Oder ein Walmart?«, fragte Kim.

»Nein.« Shotgun klang trübselig. »Wir haben beide ein Satellitentelefon, aber mit dem Internet läuft nichts. SMS, klar. Und Sprachtelefonie würde wohl auch gehen. Aber Google hat uns verlassen.«

Beinahe im Scherz versuchte Kim es mit ihrem eigenen Handy. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine Verbindung bekommen hatte. Sie wusste nicht, ob zu diesem Zeitpunkt das Netz einfach überlastet gewesen war oder ob es an den Atombomben lag, die man auf die Spinnen geworfen hatte. Aber als sie nun ihre Maps-App öffnete und »Radio Shack« eingab, erschien sofort eine Location, die nur ein paar Straßen weit entfernt war. Teddie, die gerade aufwachte, griff sofort nach dem Telefon, aber bevor sie einen Anruf tätigen konnte, war das Netz wieder weg.

»Macht nichts«, sagte Shotgun. »Ich habe die Karte gesehen. Ich kann uns hinbringen.«

Kim warf einen verstohlenen Blick auf Teddie und befürchtete, sie würde anfangen zu weinen, aber das Mädchen sah ganz gefasst aus. Sie wirkte ziemlich tough für eine reiche weiße Tochter vom Oberlin College, dachte Kim, aber ihr war klar, dass ihr kein Urteil zustand. In den Augen mancher Leute mochte sie auch tough aussehen, weil sie schwarz und fit war, aber ihre Mutter war pädiatrische Onkologin, und ihr Dad unterrichtete Geschichte an einer vornehmen Privatschule. Eine harte Kindheit hatte sie nicht gerade hinter sich.

»Ich habe Befehl, beim Platoon zu bleiben«, sagte sie. »Wir können nicht einfach abhauen und zum Radio Shack fahren.«

»Müssen wir aber.«

»Sorry. Befehle.«

Sie spürte Gordos Hand auf ihrer Rückenlehne, und dann beugte er sich nach vorn und kam nah an sie heran. Seine Stimme war leise und freundlich, man musste es ihm also zugutehalten, dass er nicht so dumm war, sie anzuschreien.

»Kim«, sagte er, »sehen Sie es mal so. Der einzige Grund, weshalb wir hier in diesem Truck sitzen, ist der, dass jemand sehr, sehr Wichtiges der Meinung ist, wir – na ja, genau genommen Shotgun – seien auch sehr, sehr wichtig. Wichtig genug, um Ihr ganzes Platoon weit hinaus nach Desperation, Kalifornien, zu schicken und Sie auf dem ganzen weiten Weg bis zur Ostküste den Babysitter für uns spielen zu lassen. Wichtig genug, um Soldaten –«

»Marines.«

»Sorry. Wichtig genug, um in einer Zeit des nationalen Notstands Marines und Flugzeuge und Hubschrauber umzuleiten und alle möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um Shotgun mit Professor Guyer zusammenzubringen, die, soweit ich es begriffen habe, die Frau ist, die von Präsidentin Pilgrim persönlich damit beauftragt wurde, herauszufinden, was zum Teufel mit diesen Spinnen los ist. Und als wir beschlossen haben, den Raum Washington zu verlassen, ist Ihr ganzes Platoon mitgekommen, um dafür zu sorgen, dass uns nichts passiert.« Er legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. »Also bedenken Sie das alles und betrachten Sie die Bitte dieses Mannes, einen kleinen Umweg zu machen, noch mal neu. Es geht nur um ein paar Minuten. Wir wollen keine Bonbons kaufen. Wir wollen nicht anhalten. Wir müssen anhalten.«

»Wir müssen zu einem Radio Shack?«

Shotguns Stimme klang weniger sanft. Nicht wütend, aber ungeduldig. Dringlich. »Ich brauche ein paar Teile für wichtige Modifikationen am ST11.«

»An Ihrem Waffendings?«

»Ja. Beziehungsweise nein. Das sind ja die Modifikationen. Es ist dann genau genommen keine Waffe. Es ist dann ein Werkzeug. Aber ein Werkzeug kann eine Waffe sein.«

Der Verkehr kam wieder zum Stehen. Sie hatten den Highway 495 vermieden, weil sie dachten, auf den Stadtstraßen würden sie schneller vorankommen, aber das Chaos war immer noch verrückt. Der Nissan Titan fuhr an der Spitze, aber deshalb kamen sie noch lange nicht schneller voran. Kim drehte sich um und schaute durch das Heckfenster zu dem SUV hinter ihnen, irgendeinem Ford-Modell mit Sue Chirp am Steuer. Sie hob grüßend die Hand, und Sue winkte. Hinter Sue sah Kim die silberfarbene Karosserie von Honky Joes Pick-up. Die übrigen Fahrzeuge konnte sie nicht mehr genau sehen, aber sie wusste, Rodriguez mit seinem SUV bildete die Nachhut.

Mist.

»Okay«, sagte sie und drehte sich so herum, dass sie erst Shotgun, dann Gordo ansehen konnte. »Schön. Wir fahren zum Radio Shack.«

»Wirklich?« Gordo klang so überrascht, dass Kim tatsächlich lachen musste. »Das war’s schon? Wir fahren hin?«

»Wenn Sie mir sagen, dass es notwendig ist und wir es tun müssen …« Sie wandte sich wieder nach vorn. Der Wagen vor ihr hatte sich nicht einen Zollbreit weiterbewegt. Sie legte die Stirn auf das Lenkrad. »Mein Gott. Wenn wir nur für eine Minute aus diesem Stau herauskommen. Außerdem«, sagte sie, »ich bin vielleicht ein Marine, aber ich habe immer noch die Blase einer Zivilistin. Und es dauert schon zwei Stunden.«

»Fabelhaft.« Shotgun klatschte in die Hände. »Biegen Sie hier scharf rechts ab. Wir können quer über den Parkplatz fahren, und dann sollte es nur zwei Straßen weiter sein. Ich glaube, ich sehe die Mall schon von hier aus.«

Kim schüttelte den Kopf, aber sie riss das Steuer nach rechts und gab Gas, so dass die Reifen des Trucks über den Bordstein sprangen. In der Kabine wurden sie hin und her geschaukelt, als der Nissan über das Gras und den Gehweg holperte und dann schwankend auf den Parkplatz rollte. Sie warf einen Blick in den Spiegel, und richtig: Die Kolonne der SUVs und Pick-ups folgte ihr. Die Marines benahmen sich wie brave kleine Entlein.

Gordo meldete sich wieder zu Wort. »Wollen Sie gar nicht fragen, warum wir ausgerechnet zu Radio Shack wollen? Oder was das für Modifikationen am ST11 sind?«

Kim überlegte kurz und versuchte, sich an die Gesprächsfetzen zu erinnern, die sie von den Männern mitbekommen hatte. »Hat es irgendetwas mit Raumwellenübertragung zu tun?«

Gordo war so aufgeregt, dass die Worte nur so aus seinem Mund sprudelten. »Ja! Ich meine, nicht genau, aber wir müssen lediglich mit dem Lötkolben –«

»Gordo.« Sie fiel ihm ins Wort. »Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich werde nicht fragen, was das für Modifikationen sind. Hören Sie, ich bin ein gescheites Mädchen. Ich war gut in der Schule, und meine Eltern waren außerordentlich angepisst, weil ich zu den Marines gegangen bin und nicht aufs Vassar College –«

»Vassar hat Sie angenommen?«

»Vassar hat mich angenommen. Colgate und Hamilton College haben mich auch angenommen. Wissen Sie, wie schwer es war, meine Eltern zu überzeugen, dass es die bessere Entscheidung für mich war, zu den Marines zu gehen? Herrgott nochmal. Darum geht’s aber überhaupt nicht. Es geht darum, dass ich intelligent bin. Ich bin ziemlich sicher, wenn Sie sich die Zeit nehmen, mir zu erklären, was ›Raumwellenübertragung‹ ist und warum es wichtig ist, werde ich es auch verstehen, aber im Moment habe ich nur das Ziel, Sie zum Radio Shack zu bringen. Okay?«

Sie stoppte an der Parkplatzausfahrt und vergewisserte sich, dass sie Platz zum Wenden hatten. Die Straße war atemberaubend frei, als wäre jeder Einzelne in dieser Gegend damit beschäftigt, die Highways und die Straße zu verstopfen, die sie eben verlassen hatten. Sie wusste, das war eine Illusion. Sobald sie auf dem Weg zur Stadt hinaus wären, würde alles wieder langsamer werden, aber im Augenblick tat es gut, mit annähernd normaler Geschwindigkeit zu fahren.

»Wollen wir nicht einfach bei Radio Shack rein- und wieder rausgehen und zusehen, dass wir wieder auf die Straße kommen? Schon ohne diesen kleinen Umweg sind es noch ungefähr hundertsiebzig Meilen bis Chincoteague Island«, sagte sie. »Unterwegs können Sie mir ja erklären, was Sie mit Ihrem kleinen Spielzeug vorhaben.«

USS Elsie Downs, Atlantischer Ozean

Die Seeleute waren jederzeit höflich. Manny nahm an, das musste man sein, wenn man auf einem Flugzeugträger lebte. Ein Offizier hatte ihm einen Überblick über Zahlen und Daten gegeben – der Flugzeugträger war etwa 335 Meter lang, länger als drei Footballfelder –, aber Zahlen wurden ihm nicht gerecht. Die USS Elsie Downs war eine schwimmende Stadt. Die älteren Flugzeugträger der Nimitz-Klasse benötigten eine größere Besatzung, aber die neuen Supercarrier der Ford-Klasse kamen normalerweise mit weniger Leuten zurecht. Unter gewöhnlichen Bedingungen waren das aber immer noch fast viereinhalbtausend Angehörige der U.S. Navy. Selbst auf einem solchen Giganten waren das sehr viele Seeleute, die unter beengten Verhältnissen zusammenleben mussten. Nicht so schlimm wie auf einem U-Boot, dachte Manny, aber Höflichkeit schien trotzdem eine gute Überlebensstrategie zu sein.

Natürlich waren dies aber keine gewöhnlichen Bedingungen. Die USS Elsie Downs hatte die Funktion des Weißen Hauses übernommen. In einem konventionellen Krieg wäre Präsidentin Pilgrim in irgendeinem Bunker verschwunden, aber jetzt sah es aus, als sei eine schwimmende Festung eine kluge Wahl. Vielleicht aber auch nicht, dachte Manny. Wenn hier Spinnen schlüpfen sollten, könnte man nirgends mehr hin.

Er schüttelte den Kopf. Er trieb seine Gedanken zu weit. Vorläufig gab es keinen Ort, der sicherer wäre als dieser. Er blieb vor der Kabine der Präsidentin stehen. Rechts und links neben der Tür standen zwei Agenten des Secret Service. Manny musste lächeln. Rechneten sie wirklich mit einem Attentatsversuch? Hier auf diesem Flugzeugträger?

»Morgen, Jungs«, sagte er. Wie der Weiße hieß, wusste er nicht, aber es war schwer, den anderen zu vergessen. Agent Tommy Riggs. Besonders hier erschien er übergroß. Manny fragte sich, wie oft Riggs sich wohl den Kopf am Türrahmen gestoßen haben mochte, seit sie auf der USS Elsie Downs waren. »Ist sie wach?«

»Ich muss Sie warnen«, sagte Riggs. »Sie hat eine Bombenlaune.«

Manny nickte, atmete tief durch und klopfte.

George Hitchens, der Präsidentinnengemahl, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte heraus. Er war ein guter Kerl, und Manny mochte ihn aufrichtig. George war gesellig und charmant, wenn die Situation es erforderte, aber er hatte nicht das Bedürfnis, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, wie es bei den meisten Politikern der Fall war. Er war der perfekte Gatte für eine Politikerin – geschliffen, höflich und doch irgendwie unbestreitbar nichtssagend. In den Nachrichten kam er immer nur im Zusammenhang mit Straßeneröffnungen oder Wohltätigkeitsveranstaltungen vor, als Besucher von Waisenhäusern und Veteranenkliniken. Sein einziger Wiedererkennungswert bestand darin, einen Cowboyhut zu tragen, wann immer er damit durchkam, weil er in Texas geboren und aufgewachsen war.

Aber es war lange her, dass George und Präsidentin Stephanie Pilgrim ineinander verliebt gewesen waren. Was nicht hieß, dass sie einander nicht liebten. Sie kamen wunderbar miteinander aus. Aber sie waren nicht verliebt. Manny stand der Präsidentin näher als irgendein lebender Mensch – ihren Ehemann eingeschlossen –, und er hatte nie erlebt, dass sie sich stritten, und nie gehört, dass Stephanie ein böses Wort über ihren Mann sagte. Außerdem war er sicher, dass George von der sporadischen Affäre wusste, die seit Jahrzehnten zwischen Manny und Steph bestand, nachdem Manny sich von seiner Frau Melanie getrennt hatte. Aber George hatte sich nie etwas davon anmerken lassen. Eine Zeitlang hatte eine von Mannys großen politischen Sorgen darin bestanden, dass George genug von dieser Ehe haben könnte, aber der Mann war standhaft geblieben. In erstaunlichem Maße.

»Manny«, sagte George und schüttelte ihm die Hand. Er hielt die Tür weit auf. Es war das Kapitänsquartier und nach den Maßstäben des Schiffs eine große Kabine, viel größer als Mannys, die man selbst im Vergleich mit einem Badezimmer in New York City als klein bezeichnet hätte. Aber natürlich war Steph die Präsidentin, und er war nur der Stabschef des Weißen Hauses, und außerdem befanden sie sich auf einem Flugzeugträger, und Atombomben fielen, und Spinnen fraßen die Menschen auf, und deshalb versuchte Manny, sich deswegen nicht anzustellen.

George war einen Blick auf Agent Riggs und flüsterte: »Hat Tommy es Ihnen gesagt?«

Manny senkte ebenfalls die Stimme. »Er sagt, sie hat eine Bombenlaune.«

George verzog das Gesicht. »So kann man es auch sagen. Ich bin sicher, wenn ich mich auf meine texanischen Wurzeln besinnen wollte, könnte ich mit einem großartigen umgangssprachlichen Ausdruck dienen, der etwas mit Klapperschlangen zu tun hätte. Aber, yeah. Seien Sie gewarnt.«

»Leider haben wir zu arbeiten«, sagte Manny und trat ein.

Und war schockiert. Er hatte damit gerechnet, Steph aufgebracht und wütend zu sehen, aber sie saß auf dem Bett, hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in die Hände gelegt. Sie starrte zu Boden und sah aus wie eine Besiegte, wie Manny fand.

Er drehte sich zu George um. »Äh, hey, wären Sie so nett …?«

»Kein Problem«, sagte George. »Ich dachte, ich gehe vielleicht mal runter in die Messe und sehe, ob ich ein Frühstück kriegen kann. Reicht eine halbe Stunde?«

Manny nickte und schloss die Tür, als George hinausgegangen war. Er durchquerte den kleinen Raum, blieb zögernd vor ihr stehen und setzte sich dann zu ihr. Er legte ihr den Arm um die Schultern, aber sie blieb starr, und das beunruhigte ihn.

Das war nicht die Stephanie, die er kannte. Sie war ein Bild des Jammers gewesen, als sie einmal eine Wahl verloren und bei ihrer Senatskandidatur um knapp fünfzehnhundert Stimmen gescheitert war. Und schlimmer noch: Nie hatte er sie trauriger gesehen als nach ihrer zweiten Fehlgeburt, nach der die Ärzte ihr gesagt hatten, sie und George sollten ihre Versuche einstellen. In der Öffentlichkeit hatte sie sich bei diesen beiden verheerenden Ereignissen stets gut gehalten, aber in privaten Situationen hatte sie immer wieder geweint – doch so wie jetzt hatte er sie noch nie gesehen. Geschlagen. Gebrochen.

Ihre Stimme klang hohl. »Ich kann es nicht. Ich kann nicht in dieses Meeting gehen. Mein Leben lang musste ich mich gegen die Annahme zur Wehr setzen, ich sei nicht stark genug für das Präsidentenamt, weil ich eine Frau sei. Und ich habe es getan. Ich habe all den doppelten Maßstäben die Stirn geboten und sie in Grund und Boden gestarrt mit ihrem ganzen Mist, die Old Boys, die es für eine gute Strategie hielten, mich von oben herab zu behandeln. Ich habe als Gouverneurin und als Senatorin schwere Entscheidungen getroffen, und ich habe schwere Entscheidungen getroffen, seit ich Präsidentin bin. Aber ich kann es nicht, Manny. Mein Gott, es war schwer genug, das Spanische Protokoll in Gang zu setzen, unsere Straßen und Brücken zu bombardieren und das ganze Land in Stücke zu reißen. Aber unsere eigenen Städte? Die Uniformen mögen den ganzen Tag lang mit dem Wort ›taktisch‹ um sich werfen, aber worauf läuft es am Ende hinaus? Ich habe Atomwaffen auf unserem eigenen Boden zum Einsatz gebracht. Denver. Chicago. Minneapolis. Wie viele Millionen Menschen sind durch meine Befehle gestorben? Und wie viele Millionen habe ich gerettet? Habe ich richtig entschieden, Manny? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich diese Karte wirklich ausgereizt habe.«

Manny schwieg. Sie hatte recht. Die Schäden durch die Kernwaffen waren unkalkulierbar, und die Entscheidung war nahezu unmöglich gewesen. Es war, als behandelte man einen aggressiven Tumor mit harter Chemotherapie. Tat man nichts, würde der Patient sterben. Aber setzte man auf die Therapie, würden die Chemikalien den Patienten vielleicht noch stärker quälen als der Tumor. So war es mit den Atombomben. Es war die schnellste Art, die Spinnen dort einzudämmen und zu vernichten, wo es Ausbrüche gab – oder wo sie vermutet wurden –, aber zu einem sehr hohen Preis.

Sie hatten versucht, vorsichtig zu sein. Wirklich. Es gab Möglichkeiten, Atomwaffen so einzusetzen, dass sie einen maximalen langfristigen Schaden anrichteten. Man konnte eine Region unrettbar verstrahlen. Aber sie hatten sich bemüht, das zu vermeiden. Es waren taktische Atomschläge gewesen. Natürlich konnte man eine Atomwaffe nicht wirklich »gefahrlos« einsetzen, aber das Militär hatte alles getan, um Fallout und Verstrahlung gering zu halten. Trotzdem waren die Wissenschaftler sich einig, dass sie ihr Glück schon jetzt auf eine harte Probe stellten. Würden sie weiterhin Nuklearwaffen einsetzen, wäre der Point of No Return für Amerika bald erreicht. Wenn die Spinnen eine Krebserkrankung waren, tja, dann musste diese Krebserkrankung ihren Lauf nehmen. Unter den Militärs gab es einige, die Steph mit Entschiedenheit zu einer Politik der verbrannten Erde drängten – der gottverdammte Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Ben Broussard, war wieder der alte, aggressive Drecksack, der er immer gewesen war – und die sämtliche Spinnen vernichten wollten, koste es, was es wolle.

»Was hatte es für einen Sinn, Manny? Glaubst du, Broussard hat recht?«, fragte Steph. »Zu wenig zu spät?«

Sie schwiegen beide. Er wusste, eigentlich wollte sie die Antwort nicht hören. Broussard hatte seine Argumente immer wieder eindringlich vorgebracht. Letzte Woche hatte er sich ein bisschen zurückgehalten, als sie das Spanische Protokoll genehmigt hatten, hatte sich bei Steph lieb Kind gemacht, um zu gewinnen. Aber jetzt versuchte er, Schuld von sich auf andere zu schieben. Er behauptete, ein großer Teil der Verheerungen durch die Spinnen hätte vermieden werden können, wenn Steph von vornherein aggressiver gehandelt hätte. Wenn sie den Kernwaffeneinsatz befohlen hätte, als die Spinnen in Los Angeles an Land kamen. Hätte sie es getan, erklärte Broussard immer wieder, wäre Amerika heute in Sicherheit.

Alle schwiegen, weil Broussard möglicherweise recht hatte.

Der Gedanke verzehrte Manny, seit sie auf der USS Elsie Downs gelandet waren. Was wäre passiert, wenn sie in dem Augenblick, als der Frachter in den Hafen von Los Angeles krachte, als sie wussten, dass die Spinnen in L.A. eingefallen waren – was wäre passiert, wenn sie in diesem Augenblick die ganze Stadt von der Landkarte gewischt hätten? Es war eine schreckliche Beschäftigung, sich im Nachhinein damit den Kopf zu zerbrechen. Später war man immer klüger. In jenem Augenblick hatte keiner von ihnen ahnen können, wie schlimm es werden würde. Niemand hatte wissen können, was in diesem Moment nötig war.

Steph brach das Schweigen. »Es ist nicht mehr zu ändern. Broussard kann reden, so viel er will. Es ist Gerede. Das ist mir schon klar. Er will sich herausmanövrieren, um sicher zu sein, dass man ihm keine Schuld gibt.« Sie lachte kurz – ein hartes, bitteres Lachen. »Immer wieder Politik, nicht wahr? Selbst jetzt, mitten in einer existentiellen Krise, treiben sie Politik.«

»Das musst du uns Menschen wenigstens lassen«, sagte Manny. »Niemand kann uns vor uns selbst retten. Vielleicht, wenn wir genug Zeit hätten –«

»Zeit!« Sie kläffte das Wort hervor und unterbrach ihn damit. Dann wurde ihre Stimme wieder leiser. »Gott, ich wünschte, wir hätten genug Zeit. Deine Ex-Frau erzählt mir, wenn ich ihr nur drei, vielleicht vier Tage Zeit geben kann, dann hat sie möglicherweise eine Antwort. Oder – und jetzt zitiere ich Melanie wörtlich –, ›oder annähernd so etwas wie eine Antwort‹. Etwas, das uns helfen wird, herauszufinden, wie wir überleben können, ohne uns selbst umzubringen. Denn was soll das alles sonst? Was hätte es für einen Sinn, sich zu wehren, wenn wir uns dabei nur schneller umbringen, als die Spinnen es tun können? Drei oder vier Tage! Glaubst du, wir haben noch drei oder vier Tage Zeit, Manny? Glaubst du das?«

Natürlich hatten sie die, wollte er gern sagen. Sie müsse nur Melanie vertrauen, der brillanten, hart arbeitenden Melanie, und dann würde schon alles gut werden. Aber das wusste er nicht, und das sagte er auch.

»Ja. Ich weiß es auch nicht«, sagte Steph und rutschte ein wenig zur Seite. »Aber ich muss in diesen gottverdammten Besprechungsraum gehen und versuchen, einem Haufen goldener Sterne diese Idee zu verkaufen und die ganze Bande davon zu überzeugen, dass wir jetzt nichts Besseres tun können, als abzuwarten. Ich werde Broussard zurückdrängen müssen, der glaubt, wir können nichts anderes tun, als weiterzubombardieren, und ich werde sagen müssen: ›Vertrauen Sie mir‹. Ich weiß nicht mal, ob ich mir selbst noch vertraue, Manny. Sie warten alle auf mich in diesem Besprechungsraum, und wenn ich hereinkomme, werden Sie aufstehen und mich Madam President nennen, und sie werden erwarten, dass ich weiß, was ich tue. Aber ich weiß es nicht mehr. Ich weiß es nicht. Vielleicht hat Broussard recht. Warum lassen wir nicht einfach sämtliche Bomben hochgehen? Das wird die Menschheit nicht überleben, aber zumindest nehmen wir diese Biester dann mit.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Nein. Nein, ist es nicht. Ich denke, wir müssen unsere Hoffnung behalten. Wir müssen uns die Chance geben, zu überleben. Wir müssen …«

Sie brach ab. Es war so still im Raum, wie es das auf einem Flugzeugträger nur sein konnte – das heißt, unter ihnen und um sie herum spürten sie immer noch ein solides Dröhnen der Energie. Die USS Elsie Downs machte keine Fahrt, aber sie hörte auf dem weiten, wogenden Ozean auch nie wirklich auf, sich zu bewegen, und daher war es nirgendwo an Bord richtig still. Es war ein Summen, wie man es draußen in der Natur hören konnte, wo es elektrische Leitungen gab. Das statische Rauschen des menschlichen Erfindungsreichtums.

Mannys Arm lag immer noch auf ihren Schultern, und jetzt endlich sank sie entspannt gegen ihn. Sie weinte. Nichts Dramatisches. Das war nicht ihr Stil. Ein leises Wimmern nur, und ihre Schultern bebten. Sie legte den Kopf an seine Brust.

Manchmal fragte er sich, ob sie beide hätten heiraten sollen. Sie war drei Jahre älter als er, aber auf dem College waren sie trotzdem ab und zu miteinander gegangen – na ja, »miteinander gegangen« war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber sie hatten viel Zeit miteinander verbracht. Und auch in all den Jahren seitdem.

Ob sie wusste, dass er daran gedacht hatte? Dass er erwogen hatte, ihr einen Antrag zu machen? Vielleicht hätte sie gelacht, wenn er das Knie gebeugt und ihr ein samtenes Etui mit einem Ring entgegengehalten hätte, aber ein paar Monate lang – bevor sie anfing, mit George zu gehen, und bevor Manny Melanie kennenlernte – hatte er das Gefühl gehabt, es sei eine gute Idee. Und vielleicht, wenn sie anders, wenn sie nicht so sehr von politischen Motiven getrieben gewesen wären, wenn sie nicht ständig eine Trophäe im Auge gehabt hätten – vielleicht hätte er sie dann gefragt, und vielleicht hätte sie ja gesagt. Vielleicht hätte es ihnen beiden dann genügt, einfach einander zu haben und aus ihren beiden Lebenswelten ein einziges Leben zu machen. Vielleicht hätten sie auf Politik und Macht verzichten können, auf die Kompromisse, die sie geschlossen hatten, um nach ganz oben ins Weiße Haus zu gelangen. Vielleicht wären sie mit einem kleineren Leben und kleineren Träumen glücklich geworden, und ihre Liebe hätte die Lücken gefüllt. Nur, schon damals, kaum älter als zwanzig, hatte er gewusst, dass diese Idee ein Trugbild war: Wenn sie anders gewesen wären, wenn sie Menschen gewesen wären, die ihr Glück in einem so einfachen Leben finden konnten, dann wären sie gar nicht erst zusammen gewesen.

Aber hier waren sie, nach so vielen gemeinsamen Jahren, und bei dem, was er hier zu tun hatte, ging es nicht um Macht. Es ging nicht darum, dass Stephanie die Präsidentin war. Es ging um einen Mann und eine Frau. Es ging darum, dass seine Liebe zu ihr die Lücken füllte.

Also hielt er sie noch eine Weile fest. Er drehte sich zu ihr um, schlang die Arme um sie wie eine warme Decke und ließ sie an seiner Brust weinen, und dabei wiegte er sie ein wenig.

Und als sie aufhörte zu weinen, tat er, was sie schon so lange miteinander taten. Er rief ihr in Erinnerung, dass sie nicht bloß das Mädchen aus seinem Wohnheim war.

»Okay«, sagte er, »das reicht jetzt. Du wirst dir das Gesicht waschen, du wirst dein Make-up auffrischen, und dann wirst du in diesen Raum gehen und Stephanie Pilgrim sein, die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika.«

Sie wischte sich über die Augen und brachte tatsächlich ein Lachen zustande.